Markus Frauchiger, lic.phil.
Eidg. anerkannter Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Falkenweg 8
3012 Bern
Tel.: 031 302 00 30 oder 079 745 47 39
e-mail: praxis-frauchiger@bluewin.ch
Homepage: http://www.psychotherapeut-bern.ch
Die Wiederkehr des Imaginären - Das narzisstische Selbstmodell
Vom Narzissmus zur Anerkennung - eine Synthese aus Narzissmus-, Resonanz- und Bezogenheitskonzepten
Materialien und Zitatesammlung zur Enstehung, Diagnostik und Behandlung von narzisstischen Spektrum-Störungen - zusammengestellt und kommentiert von Fachpsychotherapeut FSP Markus Frauchiger in CH-3012 Bern
Markus Frauchiger: CV, Lebenslauf, Vernetzung des Autors
Veröffentlichung und Reproduktion nur auf Anfrage beim Autor möglich - dies ist ein vorläufiges Arbeitspapier, welches kontinuierlich erweitert wird.
RESONANZ: Embodiment, Enactment und Focusing - Empathie, Intuition und Bezogenheit - Dialog, Kongruenz und Echtheit
- Ueber den Narzissmus hinaus: Vom Schein zum Sein - Selbstkonzepte
- "Von der Regulation des Narzissmus zum Anerkennen des Anderen"
- Intuition und Resonanz
- Balance, Rhythmus, Resonanz: Auf dem Weg zu einer Komplementarität zwischen »vertikaler« und »resonanter« Dimension des Unbewussten
Embodiment:
- Systemtheoretische Grundlagen des "psychologischen Selbst" (Tschacher/Storch)
- Felt Sense, Focusing, Experiencing (Eugene Gendlin)
- Now Moments (Daniel N. Stern)
- Psychoanalytisches Ereignis (Trimborn)
Enactment:
- Sinnlich (auditiv, taktil, olfaktorisch) statt bloss visuell wie im Narzissmus
- relationale-anerkennend statt bloss empathisch
- Audio statt Video
- Analog statt Digital
- Rogers' Variablen: Wertschätzung, Echtheit und Kongruenz
Empowerment:
- Resonanz statt blosse (narzisstische) Spiegelung
- Anerkennung statt blosse Aufmerksamkeit
- Anerkennung statt Narzissmus
- Real statt Fake
"Is there anybody out there?"
(Songtitel von "Pink Floyd" auf dem Album "The Wall", 1980)
RESONANZ: Emotion und Intuition - "Embodiment, Empowerment, Enactment"
Ueber den Narzissmus hinaus: Vom Schein zum Sein - Vom Echo zur Resonanz - Selbstkonzepte
Während ein Echo bloss wiederholt, wie die Nymphe Echo aus dem Kapitel 2 in Ovids Narcissus-Mythos tragisch zeigt, eine Kopie lediglich verdoppelt, wie wir in den Kapiteln 3 und 5 gesehen haben (zudem in Kap.2: Narzisstische Spiegelung und Entfremdung sowie im Diktum "alter Wein in neuen Schläuchen"), so ermöglicht Resonanz etwas Neues, vielleicht Verwandtes, aber immer etwas Anderes, Kreatives, Authentisches.
Meine These im Folgenden wird in den Worten Hartmut Rosas sein, „dass menschliches Leben dort gelingt, wo Subjekte konstitutive Resonanzerfahrungen machen, dass es dagegen misslingt, wo Resonanzsphären systematisch durch stumme, das heisst, rein kausale oder instrumentelle Beziehungsmuster verdrängt werden.“ (Hartmut Rosa (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Berlin, S...)
"Wenn daher die von Gerhard Schulze, Zygmunt Bauman und anderen gemachte Beobachtung zutrifft, dass die Spätmoderne gegenüber der 'klassischen Moderne' insbesondere auch durch eine Verschiebung vom Handlungsmodus des Einwirkens zu demjenigen des Wählens gekennzeichnet ist, dann könnte dies bedeuten, dass die von uns wahrgenommene Welt an Responsivität [hier als Resonanz bezeichnet] einbüsst.
Aus diesen Ueberlegungen ergibt sich nun schematisch – und nur sehr versuchsweise und vorläufig – die folgende, holzschnittartige Gegenüberstellung zweier Grundmodi der Weltbeziehung" [Tabelle rechts] (Rosa 2012 S.399).
Resonanz vs. Entfremdung - Dialektische Definitionen aus Hartmut Rosa (2016): Resonanz
Was ist Resonanz?
"Resonanz ist eine durch Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren.
Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung; sie setzt voraus, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies ist nur dort möglich, wo starke Wertungen berührt werden. Resonanz impliziert einen Moment konstitutiver Unverfügbarkeit.
Resonanzbeziehungen setzten voraus, dass Subjekt und Welt hinreichend „geschlossen“ bzw. konsistent sind, um je mit eigener Stimme zu sprechen, und offen genug, um sich affizieren oder erreichen zu lassen.
Resonanz ist kein emotionaler Zustand, sondern ein Beziehungsmodus. Dieser ist gegenüber dem emotionalen Inhalt neutral. Daher können wir traurige Geschichten lieben" (Rosa 2016 S.170).
Was ist Entfremdung?
"Entfremdung bezeichnet eine spezifische Form der Weltbeziehung, in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich (repulsiv) und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. Daher kann Entfremdung auch als Beziehung der Beziehungslosigkeit (Rahel Jaeggi) bestimmt werden.
Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die "Weltanverwandlung" misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint. Resonanz bildet daher „das Andere“ der Entfremdung – ihren Gegenbegriff.
Depression/Burnout heisst der Zustand, in dem alle Resonanzachsen stumm und taub geworden sind. Man „hat“ beispielsweise Familie, Arbeit, Verein, Religion etc. Aber sie „sagen“ einem nichts: Es findet keine Berührung mehr statt, das Subjekt wird nicht mehr affiziert und erfährt keine Selbstwirksamkeit. Welt und Subjekt erscheinen deshalb gleichermassen als bleich, tot und leer" (Rosa 2016 S.179).
Ulrich Schnabel in einem ZEIT-Interview zu Rosas neustem Buch: "Herr Rosa, die Psychologie erklärt uns, dass unser Ich-Gefühl zu weiten Teilen nur eine Art Konstrukt ist. Trotzdem haben wir intuitiv immer wieder den Eindruck, in bestimmten Situationen authentischer zu sein als in anderen. Was zeichnet diese Situationen aus?"
Hartmut Rosa: "In solchen Momenten spürt man: Hier kann ich ganz sein, wie ich bin; man fühlt sich in seinem innersten Wesen angesprochen. Dieses Gefühl hängt damit zusammen, dass sich zwischen uns und den jeweiligen Menschen oder Dingen so etwas wie eine Verbindung herstellt. Was uns als Spezies auszeichnet, ist ja unser sozialer Sinn und unsere Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen, uns in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen.
Und am beglückendsten ist es, wenn wir das Gefühl haben: Da antwortet mir etwas, wir schwingen sozusagen auf derselben Wellenlänge. Dieses Weltverhältnis beschreibe ich mit dem Begriff der Resonanz".
ZEIT: "Meinen Sie damit, dass man eine Art Widerhall spürt?"
Rosa: "Ja, aber nicht im Sinne eines Echos, sondern einer Antwort. Das ist wie bei einer Stimmgabel: Wenn sie mit dem rechten Ton angeregt wird, beginnt sie automatisch mitzuschwingen. Das Gefühl, lebendig und authentisch zu sein, ist für uns Menschen stark mit dieser Erfahrung verknüpft".
ZEIT: "Kommt diese Resonanz von aussen oder von innen?"
Rosa: "Beides ist möglich. Es kann von aussen kommen, zum Beispiel durch Menschen, die etwas Besonderes ausstrahlen, die Resonanz vermitteln und andere sozusagen anstecken. Diese Menschen erleben wir dann in der Regel als besonders "authentisch". Das Resonanzmoment kann aber auch von innen kommen, wenn mich eine Emotion bewegt, ich gewissermassen einen Draht zur Welt spüre und das Gefühl habe: Ich kann da draussen was erreichen! Resonanz meint also einen Zustand, in dem ich mich berührt oder bewegt fühle, aber zugleich auch die Erfahrung mache, selbst etwas oder jemanden berühren oder bewegen zu können. Interessanterweise fühlt man sich gerade dann am ehesten im Einklang mit sich selbst".
Quelle:
Rosa, Hartmut: "Hier kann ich ganz sein, wie ich bin" - Warum wir am glücklichsten sind, wenn wir mit anderen mitschwingen können. Ein Gespräch mit Hartmut Rosa von Ulrich Schnabel in der ZEIT vom 28. August 2014
Weiterführendes zu Resonanz und Weltbeziehungen:
Bauman, Zygmunt (2000). Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press.
Rosa, Hartmut (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Berlin: Suhrkamp
Rosa, Hartmut (2016). Resonanz. Berlin: Suhrkamp.
Schulze, Gerhard (1997). »Steigerungslogik und Erlebnisgesellschaft«. In: Politische Bildung 30, 2, S. 77-94.
Schulze, Gerhard (2003). Die Beste aller Welten - Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? München, Wien: Hanser.
Schulze, Gerhard (2005). Die Erlebnisgesellschaft - Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M., New York: Campus.
Selbstkonzepte: Das Selbst als Prozess und/oder als Struktur?
Nachdem wir im ersten Kapitel vielfältige Strukturtheorien kennengelernt haben, möchte ich in diesem Kapitel den dynamischen Aspekt des Selbst fokussieren und damit aufzeigen, dass es zur Strukturbildung des Selbst Erfahrungen, Begegnungen und Resonanzen bedarf um dergestalt quasi sekundär ein Selbst aufbauen und strukturieren zu können. Im Entwicklungspsychologie-Kapitel wurde diese Dynamik bereits aufgezeigt im Lacan'schen Spiegelstadium, aber auch bei Winnicott, bei Kohut und im Comeback der Bindungsforschung am Anna-Freud-Institut in London wo die Forschungsgruppe um Peter Fonagy viele der "alten" Postulate auch von Melanie Klein oder von Margarete Mahler empirisch festigen konnten.
Ich möchte als nächstes einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Ansatz vorstellen, der erstaunlicherweise zu weitgehend denselben Befunden und Konzepten kommt wie die eben genannten. Wissenschaftstheoretisch lässt sich anknüpfen an Kapitel 1 wo es um Kybernetik und Systemtheorie ging, um dissipative Strukturen, um Selbstorganisation und ähnliches mehr.
Das psychologische Selbst als Prozessgestalt - Wolfgang Tschacher et al., Bern
"Selbst" ist zunächst nur ein Wort; es bezeichnet keine feststehende Entität oder Substanz, sondern einen Operator, der allein in Verbindung mit einem logischen Prädikat Sinn ergibt. Anders in der psychologischen Literatur: hier wird "das Selbst" als ein Begriff für eine direkt nur der Introspektion zugängliche psychische, persönlichkeitsspezifische Struktur verwendet, der synonym oder verwandt zu vielen weiteren Begriffen ist: Ich, Bewusstsein, proprium, mind u.a. (vgl. James 1890; Menninger 1946; Mead 1934; Kohut 1971). Es gibt eine Fülle von Facetten des Selbst-Begriffs: die eher umfassende Bedeutung des sozialen Selbst (als Summe der sozialen Rollen, die eine Person übernimmt), die des materiellen Selbst, sowie die von James als "spirituelles Selbst" und "Ego" bezeichneten psychologischen Anteile. Es geht mir hier um die letztere Variante, das psychologische Selbst.
Man sollte sich dem Thema auf eine introspektive (endopsychologische) Weise nähern, um ein Gefühl für die Merkwürdigkeit des Konzepts "Selbst" zu bekommen.
Zunächst aber erscheint die Tatsache eines eigenen Selbst nicht als merkwürdig, sondern definitiv als eine Selbstverständlichkeit. Nichts scheint evidenter als das Vorhandensein des eigenen Bewusstseins. Diese Vertrautheit ist intuitiv und spontan vorhanden, und bildet gewissermassen den Hintergrund des täglichen Verhaltens und Denkens. Viele philosophische Systeme (z.B. die Philosophien Descartes' und Hegels) betrachten dies als unmittelbar evident, und wählen Selbstbewusstsein als Ausgangspunkt für alle weiteren Erkundungen. Diese Selbstverständlichkeit schwindet jedoch, wenn man etwa bedenkt, dass das Selbst offenbar das einzige Objekt in meiner Welt ist, das zugleich auch Subjekt ist — oder vor eben dieser Reflexion gerade noch war. Wer ist "ich", sobald ich mein Selbst bedenke? Ist meine Identität repräsentiert durch das Selbst, wie gerade eben noch als selbstverständlich empfunden? Oder ist "ich" das plötzlich hervorgetretene Subjekt, das über das Selbst kogniziert? [d.h. nachdenkt].
Im Moment der Metakognition differenziert sich mein Selbst also in Subjekt und Objekt; bei skrupulösem Nachdenken entsteht das Problem des infiniten Regresses, dem man in Endo-Zusammenhängen mit hohem Selbstmodellierungsgrad [SM] stets begegnet (Kampis 1994). Danach jedoch schliesst sich in der Regel diese Subjekt-Objekt-Grenze nahtlos wieder.
Im "unphilosophischen" Alltag empfinde ich diese Vorgänge (erstaunlicherweise) nicht als merkwürdig; ich störe mich nicht an den beteiligten logischen Paradoxien (bzw. unmöglichen topologischen Körpern: Mann 1992). Ich betrachte dieses logische "Monstrum" (im Sinne von Mandelbrot, 1987) des Selbst im Gegenteil als zentral und identitätsstiftend.
Offenbar aber gibt es Personen, denen das Selbst wirklich zum Problem wird. Viele Schizophrene etwa sind bezüglich seiner merkwürdigen Selbstverständlichkeit nicht so nachsichtig mit sich selbst. Sie berichten Gefühle der Depersonalisation, des
Zerfalls und der Fragmentierung der Identität; sie stellen sich (wie ja auch Kinder) schwere Fragen à la: "wenn ich derjenige bin, der in den Spiegel schaut, wer ist dann der im Spiegel?" (Kimura 1992).
Das Selbst im Bewusstsein seiner selbst führt eine Operation durch, bei der es sowohl aktiv als auch passiv, sowohl Subjekt als Objekt ist (Bohr 1963). Mit anderen Worten: wenn das Selbst versucht, über sich selbst nachzudenken, entsteht eine Menge, die sich selbst zum Element hat. Whitehead&Russell (1913) haben gezeigt, dass solche Mengen fast stets in nicht auflösbare logische Widersprüche führen, in Paradoxien." (Tschacher 1997 S.235-236)
A) Entwicklung des Selbst:
"Bei der ontogenetischen Entwicklung des Selbst weisen verschiedene Beobachtungen auf die entscheidende Notwendigkeit des sozialen Kontakts hin: Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbst-Bewusstsein ist die Interaktion mit anderen Individuen der (meist) eigenen Spezies (s. die sog. "Wolfskinder"); soziale Deprivation führt etwa bei Schimpansen dazu, dass sie sich nicht im Spiegel erkennen (Mahoney 1991). Ohne den anderen gibt es sozusagen kein Eigenes.
Das kognitive Muster "Selbst" ist in frühen Phasen seiner Entwicklung wenig ausgeprägt; es taucht in einer ersten Phase der unsicheren Identität nur unter bestimmten günstigen Umweltbedingungen, wie im Rahmen einer tragenden Bindung (Winnicott 1965), auf. Zudem kann man annehmen, dass weitere Prozessgestalten in einer sich formenden "Identitätslandschaft" existieren (...)." (Tschacher 1997 S.237-238)
B) Aufrechterhaltung des Selbst:
"Eine Reihe von Befunden spricht dafür, dass die Selbstdynamik in gewissen Abständen "aktiviert" werden muss, um als Prozessgestalt stabil zu bleiben. Diese Kalibrierung des Selbst bewahrt die attrahierenden Eigenschaften, die charakteristischen Muster einer Persönlichkeit. Auf das Vorhandensein der selbst-erhaltenden Prozesse kann man indirekt durch die Folgen schliessen, die sich bei Unterbrechung des Kalibrierungsprozesses einstellen: Reiz- und soziale Deprivation, langer induzierter Tiefschlaf, Folter und andere Traumata können bekanntlich zu (meist reversiblen) Depersonalisationsreaktionen bis hin zu psychotischen Zuständen führen.
Kalibrierende Funktion haben Kognitionen, die über soziale Interaktion vermittelt werden. Soziale Bindungen beziehen sich über einen Interaktionspartner rekursiv auf die eigene Person, die eigenen Emotionen und das eigene Verhalten. Die Widerspiegelung im andern Selbst hilft das Selbst stabilisieren. Die soziale Selbst-Kalibrierung geschieht durch Liebe, Mitleid und Empathie." (Tschacher 1997 S.238)
C) Störungen des Selbst:
"Die Störungen des Selbst bilden eine bunte Liste von Phänomenen und psychopathologischen Symptomen, wie Dissoziation, multiple Persönlichkeiten, familiäre Verstrickung, Störung des Körperschemas bei der Anorexia nervosa, um nur einige zu nennen. [Besonders hervorgehoben weil gut beforscht wird von WT auch die] Schizophrenie. (Tschacher 1997 S.239)
Man kann das Selbst gemäss dieser systemischen Sichtweise also als eine 'Prozessgestalt' verstehen, d.h. als ein Gleichgewichtsphänomen, das sich im sog. KES einstellt:
Definition KES aus Tschacher 1997: Kognitiv-Emotionales System, ein Individuum aus psychologischer Sicht. Ein KES ist konzeptualisiert als ein hierarchisches System mit einer komplexen Mikroebene (bestehend aus sehr vielen Verhaltenskernen) und einer daraus emergierenden Makroebene (kognitiv-emotionale Prozessgestalten, z.B. überdauernde kognitiv-emotionale Zustände und Handlungen).
Definition Verhaltenskern: Element eines KES, eine mikroskopische psychologische Variable. Ein hypothetisches Konstrukt, das eine rudimentäre Verhaltenstendenz oder -bereitschaft bezeichnet.
"Das Selbst ist also nicht eine Struktur oder Instanz, sondern vielmehr eine homöostatische Dynamik, die zur Aufrechterhaltung ihrer Stabilität regelmässiger "kalibrierender" Episoden bedarf. Als Opponent dieser Prozessgestalt agiert ein übermässiges SM (Selbstmodellierung durch reflexive Kognitionen), das die Diversifikation in Regionen treiben kann, in denen keine Netto-Komplexitätsabnahme mehr stattfinden kann: das Selbst wird nichtstationär und schliesslich stochastisch (Depersonalisation, Psychose). Kalibrierend wirkt dagegen das Sich-Widergespiegelt-Finden im sozialen Kontakt. Viele Befunde sprechen dafür, dass letzteres die zentrale Rolle bereits bei der ontogenetischen Entwicklung des Selbst spielt (Stern, 1983) [vgl. Kap.4].
Selbst-Bewusstsein kann nur durch die Erfahrung einer sozialen Bindung entstehen: das Selbst wird logisch möglich, ja notwendig, weil es ein Gegenüber gibt, in dem sich das Kind widergespiegelt findet. Das Kind muss sich dabei auf den Partner
einlassen und sich danach wieder von ihm lösen können. Dieser Doppelschritt besitzt auch für das erwachsene, selbst-bewusste Individuum eine wichtige, die Individualität aufrechterhaltende (kalibrierende) Funktion (Wurmser 1990). Liebe könnte man
entlang dieser Spur definieren: als Eigenschaft eines Systems zweier Individuen, die wechselseitig diesen Prozess (sich widergespiegelt finden und wieder lösen) mit positiv verstärkenden Affekten koppeln. Liebe ist ein gemeinsames (koevolutives, [vgl. Jürg Willis Ansatz in Kap. 6]) Distanzspiel, in dem es um die soziale Synchronisation des Abgrenzens und Oeffnens geht. Ein ganz ähnliches Spiel entsteht in einem System gegenseitiger "Uebertragung". Der Unterschied ist, dass in Psychotherapie das Ziel darin bestehen muss, die Interaktion durch Etablierung einer gemeinsamen Bedeutungsmetaebene schliesslich wieder auflösen zu können" (Tschacher 1997 S.241-242).
Quelle: Tschacher, Wolfgang (1997). Prozessgestalten. Bern: Huber & Hogrefe
Das digitale Selbst (äusseres, narzisstisches, "falsches" Selbst) vs. das analoge Selbst (inneres, privates, "wahres" Selbst)
ANALOG vs. DIGITAL:
- x-Achse: Resonanz statt Echo, analog statt digital, Antwort statt Wiederholung -> der kleine Unterschied: markierte Beteiligung mit starker Wertung
- y-Achse: Rhythmus statt Takt, analog statt digital, Abweichungen statt Zwanghaftigkeit, lebendig statt exakt -> kleine Abweichungen machen wach...
„Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen dagegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber die für eindeutige Kommunikationen erforderliche logische Syntax.“
Watzlawick in: Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 11., unveränd. Auflage 2007, Bern: Huber, S. 53–70.
Digitales, narzisstisches, äusseres Selbst
Mummendey/Sachse/Goffman: Impression Management
Strategien zum Impression-Management (Mummendey 2000), übersetzt in etwa "Selbstdarstellung" oder "Eindruckssteuerung", sind (nach: Sachse et.al. 2010 S.54f.):
Self-Promotion: Sich selbst in ein möglichst günstiges Licht setzen, eigene Vorzüge hervorkehren, sich als etwas Besonderes darstellen oder sich über (besondere) Kontakte und Beziehungen aufwerten - Ziel der Strategie ist es, Anerkennung zu erhalten, bewundert zu werden, gelobt zu werden.
Entitlement: Sich so darstellen, als hätte man besondere Entdeckungen gemacht, außergewöhnliche Leistungen vollbracht, sei der Erfinder besonderer Produkte, habe Rekorde aufgestellt (im Grunde eine Steigerung von „Self promotion“; vgl. Tedeschi et al. 1985) - Ziel dieser Strategie ist es, besondere Bewunderung zu erhalten, als etwas Außergewöhnliches angesehen zu werden („Call me number one!“).
Self enhancement: Sich selbst übertrieben positiv darstellen, massives Selbstwertgefühl zur Schau stellen, mit Leistungen, Besitz, Erfolg usw. angeben - Ziel dieser Strategie ist es, Lob und Anerkennung zu erhalten, aber auch, Neid auszulösen, sich von anderen abzuheben und abzugrenzen und damit auch, andere zu deklassieren.
Competence and expertise: Sich als besonders kompetent darstellen und/oder als Experte für bestimmte Sachgebiete (vgl. u.a. Anderson 1991) - Ziel der Strategie ist es, Anerkennung zu bekommen, aber auch Einfluss und u.U. Macht auszuüben.
Exemplification: Sich als besonders vorbildlich, besonders moralisch, besonders integer darstellen (Tedeschi el al. 1985) - Ziel dieser Strategie ist Anerkennung, aber vor allem das Gewinnen von Einfluss und Macht, auch: Andere abwerten können, sich von anderen abgrenzen können, sich über andere erheben zu können.
Attraktivität herstellen: Sich selbst attraktiv zurechtmachen, schminken, gut stylen (vgl. Grammer 1990) - Ziel dieser Strategie ist vor allem, Aufmerksamkeit zu erhalten.
Status und Prestige betonen: Sich selbst als jemanden darstellen, der einen hohen sozialen Status einnimmt und über ein hohes soziales Prestige verfügt (besonders gekleidet sein, über besondere Statussymbole verfügen, einen „besonders einfachen Geschmack haben: Nur das Beste nehmen“ (Oskar Wilde) - Ziel dieser Strategie ist Bewunderung, aber auch: sich deutlich von anderen abheben zu können, zu "den Besonderen" zu gehören.
Self disclosure: Sich als besonders offen darstellen, anderen Einblicke in die eigene Person geben, als besonders selbstreflektiert erscheinen, dabei in der Informationsgabe aber hoch selektiv sein, um ein "pabbie image" aufzubauen (Tedeschi et al. 1985) - Ziel dieser Strategie ist Anerkennung, aber auch der Aufbau von personalem Vertrauen, schnell in Kontakt zu anderen zu kommen.
Einschmeicheln: Anderen in hohem Ausmass zustimmen, andere loben, positive Eigenschaften anderer hervorheben, eigene Bewertungen zurückstellen (vgl. Watt 1993) - Ziel dieser Strategie ist die Herstellung von Beziehung, die Vermeidung von Konflikten und das Erhalten von Anerkennung.
Die bisher dargestellten Strategien können als „positive Strategien“ bezeichnet werden (Mummendey 1995): Sie stellen die Person positiv dar und dienen dazu, bei Interaktionspartnern positive Reaktionen auszulösen.
Mummendey (2000) macht aber deutlich, dass auch negative Strategien erfolgreich sind: Bei diesen stellt sich die Person eher negativ dar: Als schwach, hilflos, inkompetent, eingeschränkt usw. Diese Strategien erscheinen aber nur auf den ersten Blick als selbstschädigend: Sie dienen vielmehr in effektiver Weise dazu, dass die Person sich negativen Effekten entziehen kann: Stellt sie sich als hilflos dar, dann kann sie geschont und entlastet werden; stellt sie sich als gehandikapt dar, dann kann sie Hilfe erhalten; stellt sie sich als nicht verantwortlich dar, dann kann sie entschuldigt werden usw. Daher machen "negative Impression-Management-Techniken" durchaus interaktionell Sinn: Ihr Hauptziel ist es, eine Person vor negativen Effekten (z.B. Kritik, Abwertung, Strafe usw.) zu bewahren oder aversive Handlungen nicht ausführen zu müssen (von Dingen „entlastet“ werden, die man nicht gerne tut).
Solche negativen Strategien sind:
Abstreiten von Verantwortung: Betonen, dass man für bestimmte Effekte nicht verantwortlich ist, nichts dafür kann: sich rechtfertigen, Verhalten zu begründen, sich entschuldigen usw - Ziel der Strategie ist es, sich vor Kritik, Abwertung und Strafe zu schützen: Wenn man für einen Fehlschlag „nichts kann“, wenn „höhere Gewalt“ im Spiel war, dann ist man deutlich exkulpiert!
Hinweisen auf zu erwartende Schwierigkeiten: Steht man vor einer schwierigen Aufgabe, dann kann man vorsorglich auf zu erwartende Schwierigkeiten hinweisen: Man könnte von anderen sabotiert werden, große Probleme könnten eintreten usw. (Schlenker&Leary 1982) - Ziel dieser Strategie ist es, Kritik abzuwenden und auch selbstwertbedrohliche Information „zu entschärfen“.
Self handicapping: Man macht deutlich, dass man bestimmte Dinge nicht kann, dass man unter Krankheiten und Behinderungen leidet, dass man nicht fit ist, nicht ausgeschlafen, Kopfschmerzen hat usw. und dass deshalb auch nicht erwartet werden kann, dass man volle Leistung bringt, erfolgreich sein wird, die Prüfung schaffen kann usw. - Ziel der Strategie ist es, sich vor unangenehmen Aufgaben "zu drücken", sich aber auch für das "Drücken" sowie für Scheitern und Misserfolge zu rechtfertigen und die Verantwortung auf Faktoren abzuwälzen, die mit der eigenen Person nichts zu tun haben. Dazu kann man sich sowohl sozial rechtfertigen, als auch den eigenen Selbstwert schützen.
Funktionalisieren psychischer Störungen: Auch psychische Störungen können (offenbar sowohl in vorgetäuschter, als auch in tatsächlich vorliegender Form) funktionalisiert werden, um interaktionelle Effekte zu erzielen. Jones&Berglas (1978) haben in diesem Zusammenhang Alkohol und Drogenmissbrauch als langfristige Strategie zur Flucht aus der Verantwortung interpretiert:
Misserfolge und Versagen lassen sich nicht nur leichter ertragen, sondern auch effektiv der Droge bzw. der „Krankheit“ zuschreiben.
Baumgardner (1991) hat vermutet, dass auch Depressionen in diesem Sinne strategisch eingesetzt werden können: Man kann Untätigkeit Scheitern, „Verweigerung“ usw. auf eine Krankheit attribuieren und dadurch Zuwendung und Entlastung erhalten (vgl. auch Kelly et al. 1991). Auch Hill et al. (1986) haben depressive Symptome interpretiert als Versuche, interpersonale Beziehungen zu kontrollieren. Dafür gibt es auch empirische Hinweise (Hill el al. 1986; Kelly et al. 1991). Smith et al. (1982) machen deutlich, dass Personen durch Aengstlichkeit ähnliche Effekte erzielen können: Auch dadurch kann man sich vor Aufgaben (z.B. Prüfungen) drücken und auch post hoc schlechte Ergebnisse auf Aengste attribuieren.
Hilfsbedürftig erscheinen: Man kann systematisch den Eindruck erwecken, dass man hilfsbedürftig und schwach ist: Man macht damit auch deutlich, dass man (in hohem Masse) auf die Hilfe anderer Personen angewiesen ist. Dadurch kann man Zuwendung, Pflege und Entlastung erfahren (Mummendey 1995) - Ziel dieser Strategie ist es, Zuwendung und Aufmerksamkeit zu erhalten, aber auch, sich unangenehmer Aufgaben effektiv zu entledigen.
Abwertung anderer: Man wertet andere Personen, deren Erfolge, Leistungen, Charakter usw. ab - Ziel dieser Strategie ist es, sich durch „Abwärtsvergleiche” aufzuwerten, sich aber auch deutlich von „anderen“ abzugrenzen.
Die Forschung zum „impression-management“ eignet sich sehr gut, um Aspekte der „Spielebene“ klarer herauszuarbeiten und um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist. Sie eignet sieh aber auch sehr gut dazu, deutlich zu machen, dass wir mit „Manipulation“ und „Spiel“ keine „pathologischen“ Prozesse oder Handlungen meinen, sondern normalpsychologische Vorgänge, die von Klienten mit Persönlichkeitsstörung lediglich übertrieben genutzt werden und die ihnen deshalb Kosten erzeugen. Manipulatives Handeln ist, gut und dosiert eingesetzt, ein Aspekt sozialer Kompetenz (Sachse 2006a).
Quellen:
Barnow, S. (2007 Hrsg.), Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlungen. Bern: Huber.
Berne, E. (1970). Spiele der Erwachsenen. Hamburg: Rowohlt.
Dutton, K. (2012). Psychopathen – Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Förstl, H. (2007). Theory of Mind – Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Heidelberg: Springer.
Forgas, J.P. (1999). Soziale Interaktion und Kommunikation. Weinheim: Beltz PVU.
Mummendey, H.D. (1995). Psychologie der Selbstdarstellung. Göttingen: Hogrefe.
Mummendey, H.D. (2000). Psychologie der Selbstschädigung. Göttingen: Hogrefe.
Mummendey, H.D. (2006). Psychologie des »Selbst«. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung. Göttingen: Hogrefe.
Sachse, R. (1999,2.Aufl.). Persönlichkeitsstörungen. Psychotherapie dysfunktionaler Interaktionsstile. Göttingen: Hogrefe.
Sachse, R. (2006a). Persönlichkeitsstörungen verstehen – Zum Umgang mit schwierigen Klienten. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Sachse, R. (2006b). Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. In: 'Psychotherapie' 11 (2), 241–246.
Sachse, R. (2013). Persönlichkeitsstörungen: Leitfaden für eine psychologische Psychotherapie (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Sachse, R., Sachse, M. & Fasbender, J. (2010). Klärungsorientierte Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Hogrefe.
Schulz von Thun, F. (2000). Miteinander reden – Störungen und Klärungen: Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Eltville: Bechtermünz.
Tedeschi, J.T. & Norman, N. (1985). Social power, self-presentation, and the self. In: B.R. Schlenker (Ed.). The self and social life (p.293–322). New York: McGraw-Hill.
--> Sozialer Konstruktionismus - Kenneth Gergen
--> Sozialer Konstruktivismus - Paul Watzlawick
--> Postmoderne Theorien des Konstruktivismus
Das 'Leib-Seele' bzw. das 'Gehirn-Geist' -Problem
QUALIA - Lücken der Erkenntnis
Das sog. 'Qualia-Problem' bildet eine Teilmenge des 'Leib-Seele-Problems', das seit einiger Zeit dem Bewusstseinsbegriff wieder Beachtung schenkt.
Das neue Interesse am Bewusstsein, das lange Zeit nur noch eine Nebenrolle spielte, tendiert auf der einen Seite dazu, den ehemals philosophisch und psychologisch zentralen Begriff „ins Gehirn zu packen“; auf der anderen Seite provozierte dieser naturalistische Trend Kritik, die die Wissenschaft in eine „Erste-Person-Perspektive“ und in eine „Dritte-Person-Perspektive“ spaltete. Der ambivalente Status erzeugte, als Folge der naturwissenschaftlichen Progression, eine betont positivistische Wissenschaftsauffassung, die sich innerhalb der amerikanischen „Philosophie des Geistes“ zu einem Materialismus zuspitzte, der darauf abzielt, Mentales restlos auf die es verursachenden Gehirnmechanismen zu reduzieren und künftig auf Psychologie zu verzichten, sie als unwissenschaftliche „folk-psychology“ oder „Alltagspsychologie“ zu entlarven und definitiv zu verabschieden.
Der in den 1970erjahren von dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel ausgehende anti-reduktionistische Impetus (Nagel 1974, s.u.) regte allererst die Qualia-Diskussion an, hielt aber zugleich an einem materialistisch gedeuteten Welt- und Menschenbild fest (Nagel 2013).
Eine Alternative vertritt derzeit der amerikanische Philosoph John R. Searle (Searle 2001, 2010), der an Franz Brentanos Begriff der Intentionalität als substanzielles Merkmal von Bewusstsein anschliesst. Allerdings nimmt Searle gravierende Veränderungen an Brentanos Intentionalitätslehre vor, teilt auch nicht den Substanz-Dualismus Brentanos. Searle plädiert für eine ursprünglich biologische Grundlage des Bewusstseins.
Die antipsychologische Einstellung in der sogenannten „Philosophie des Geistes“
"Das Leib-Seele-Problem hat zahlreiche theoretische Facetten, deren Einschätzung von der Behauptung eines bloßen Scheinproblems bis zur Lösung durch quantenphysikalische Spekulationen reicht. Unter dem Einfluss positivistischer und behavioristischer Doktrin geriet das Leib-Seele-Problem wie das Bewusstseinsprobem im vergangenen Jahrhundert unter den pauschalen Verdacht eines wissenschaftsunfähigen und sogar eines bloßen Scheinproblems (vgl. Carnap 1938/1979, Ryle 1949). Die generelle Ablehnung und das Desinteresse an dem Problem sind heute mit Erstarken der Neurowissenschaft einer veränderten Diskussionsgrundlage gewichen. Zwei Seiten des Problems tangieren seine ontologische und seine epistemologische Seite; zwei Aspekte werden vorzüglich behandelt: das Problem des Bewusstseins in neurologischer und in philosophisch-sprachanalytischer Sicht sowie das sogenannte Qualia-Problem, Letzteres in der Gegenüberstellung einer „Erste-Person-Perspektive“ mit einer „Dritte-Person-Perspektive“. Die moderne Allianz zwischen Neurologie und „Philosophie des Geistes“ erscheint auf den ersten Blick sonderbar und erfolgte nicht zuletzt aus einer pointiert verneinenden Opposition gegen erkenntnistheoretische Grundlagen von Seiten der Philosophie und der Neurowissenschaft" (Margret Kaiser-el-Safti: Das QUALIA-Problem S.2).
Das Problem des qualitativen Charakters der Erfahrung (das sog. "Qualia-problem"):
"Empfindungen besitzen qualitative Merkmale, die sich prinzipiell nicht in das reduktive Programm eines Funktionalismus einzufügen scheinen: Das reduktive Programm des Funktionalismus besteht prinzipiell aus zwei Schritten. Für ein mentales Phänomen M werden im ersten Schritt die charakteristischen funktionalen Rollen aufgezeigt, d.h. was das Phänomen M in einer Situation normalerweise bewirkt. Der Wunsch, einen Kaffee zu trinken, bewirkt normalerweise, dass ich etwas in der Situation Angemessenes tue, um den Wunsch zu erfüllen, z.B. in die Cafeteria zu gehen und einen Kaffee zu holen. Wir können hier auch von einer Disposition, einer Handlungsneigung sprechen. Im zweiten Schritt wäre dann zu untersuchen, wie diese funktionalen Rollen realisiert sind, d.h. man kann fragen, welche neuronalen Zustände beim Menschen die Handlungsneigung realisieren, in die Cafeteria zu gehen und einen Kaffee zu holen.
Das scheint für alle mentalen Phänomene eine plausible Strategie, solange sich überhaupt funktionale Rollen (also typische Wirkungen in Situationen) zuordnen lassen. Doch genau hier stellen phänomenale Qualitäten eine Herausforderung dar: Auch wenn sich für Wünsche, Ueberzeugungen und andere Einstellungen funktionale Rollen angeben lassen, so scheint dies für die phänomenalen Qualitäten gerade schwierig oder gar unmöglich. Welche funktionale Rolle hat meine Roterfahrung als ein Aspekt bei meiner Wahrnehmung eines Objekts, das de facto rot ist? Hier gehen zumindest die Intuitionen auseinander:
Kritiker des Funktionalismus sehen jedenfalls die Suche nach funktionalen Rollen für phänomenale Erfahrungen auf verlorenem Posten und damit eine prinzipielle Lücke für die Erklärung dieser Phänomene. Hier kann man sich natürlich auf den intuitiven Standpunkt stellen, dass typische phänomenale Erfahrungen, wie z.B. Schmerzen, gerade als phänomenale Erfahrungen doch eine typische funktionale Rolle haben, die sich im Schmerzverhalten beobachten lässt. Diese Sichtweise wird von vielen mit folgender Ueberlegung bestritten: Die funktionale Rolle des Schmerzes besteht darin, dass ich meine Hand sehr schnell von der Herdplatte nehme; Grundlage ist ein superschnelles neuronales Signal an das Bewegungssystem, aber damit wird nicht verständlich, warum sich zusätzlich ein Schmerzempfinden einstellt; zunächst einmal akzeptiere ich diese Kritik am Funktionalismus und untersuche, was man dann als Naturalist noch tun kann". (Newen 2013 S.33-34
Mit 'Qualia' "bezeichnen wir in der Philosophie also die bewussten Sinneserfahrungen, z.B. ein Geschmackserlebnis, eine Farbwahrnehmung oder eine Schmerzempfindung" (Newen 2013 S.64).
"Thomas Nagel (1974) hat zur sprachlichen Bezeichnung der Qualia die Redeweise «wie es ist, F zu sein» [s.u. wo F eine Fledermaus ist] eingeführt; das Geschmackserlebnis, das mit dem Trinken eines trockenen Rieslings einhergeht, enthält demgemäß einen Aspekt der bewussten Erfahrung, der mit den Worten «wie es ist, einen trockenen Riesling zu schmecken» bezeichnet werden kann. Das Phänomen bewusster Erlebnisse prägt unsere Alltagserfahrungen in starkem Maße, und es wäre absurd, dieses Phänomen zu leugnen. Keine der vielen Theorien tut dies, aber es gibt einen umfassenden Streit darüber, ob wir in einer adäquaten Theorie unserer bewussten Erlebnisse die Annahme benötigen, dass es Qualia als eigenständige Entitäten gibt, die von den physischen Zuständen verschieden sind. Hier knüpft die Debatte um Bewusstsein direkt an die obige allgemeine Debatte um die Beziehung zwischen mentalen und physischen Phänomenen an. Es geht damit im Kern um eine Debatte, ob wir eine dualistische Position benötigen, um bewussten Erfahrungen gerecht zu werden, oder ob wir das auch innerhalb einer naturalistischen Theorie tun können.
Allerdings sind eigenständige Argumente in der Debatte um bewusste Erfahrungen entwickelt worden, die über die obige Grundsatzdebatte hinaus gehen. Dabei ist auch von einigen Dualisten das Zugeständnis gemacht worden, dass die naturalistischen Theorien vielleicht ganz gut sein mögen, um Einstellungen wie Wünsche, Überzeugungen, Befürchtungen usw. zu analysieren, weil es dabei vor allem um funktionale Rollen (wie Verhaltensneigungen) geht. Wenn man etwa glaubt, dass Bochum eine sehr gute Universität hat, dann hat man die Neigung, die Universität den Schülern zu empfehlen, usw. Aber auch diese mentalen Phänomene haben eine Bewusstseinskomponente, die z.B. bei einem Geschmackserlebnis in sehr deutlicher Form zu Tage tritt. Daher spricht David Chalmers (1996) davon, dass das «harte Problem des Bewusstseins» mit den bewussten sensorischen Erfahrungen verknüpft ist. Wenn wir Bewusstsein verstehen wollen, müssen wir verstehen, was es heisst, bewusste Erfahrungen zu haben, z.B. ein bewusstes Geschmackserlebnis, wie es ist, Kaffee zu schmecken, oder ein bewusstes Wahrnehmungserlebnis, wie es ist, rote Tomaten zu sehen". (Newen 2013 S.64-65
Def. Reduktionismus:
Bezeichnungen für die Auffassung, dass ein komplexes Ganzes (Ding oder Prozess) auf seine Teile und die Beziehungen zwischen ihnen reduziert werden kann oder von ihnen her verstanden werden kann. Der Reduktionismus besteht entweder in der Elimination von Theorie und/oder Dingen, in ihrer Konsolidierung oder in ihrer Transformation (Speck 1980 S.548ff)
Def. Physikalismus:
Alle chemischen, biologischen und psychologischen Phänomene könn en mit einer physikalischen Naturbeschreibung charakterisiert werden: es sei nicht erforderlich, sich
auf ausserphysikalische Dinge wie die Seele zu beziehen. (Speck 1980 S.480)
Thomas Nagel – Wie ist es, eine Fledermaus zu sein
"Es geht nicht um darum, dass Erlebnisse für denjenigen der sie hat privat sind. Die Perspektive, um die es mir geht, ist nicht etwas, das nur einem einzelnen Individuum zugänglich ist, es handelt sich eher um einen Typus. Es ist oft möglich, eine andere als die eigene Perspektive einzunehmen, so daß das Erfassen von solchen Tatsachen nicht auf den eigenen Fall beschränkt ist. Es gibt einen Sinn, in dem phänomenologische Tatsachen völlig objektiv sind: Eine Person kann von einer anderen Person wissen oder sagen, welche Qualität das Erlebnis des anderen hat. Dennoch ist sie in diesem Sinne subjektiv, dass diese objektive Zuschreibung von Erlebnissen nur für jemanden möglich ist, der dem Objekt der Zuschreibung ähnlich genug ist, um dessen Perspektive einnehmen zu können – um sozusagen die Zuschreibung in der ersten Person ebenso gut zu verstehen wie die in der dritten. Je verschiedener das andere Wesen von einem selbst ist, desto weniger Erfolg kann man von diesem Vorhaben erwarten. In unserem eigenen Fall nehmen wir die maßgebliche Perspektive ein; wir werden aber dann, wenn wir uns ihr von einer anderen Perspektive nähern würden, ebenso viele Schwierigkeiten haben wie dann, wenn wir versuchten, die Erlebnisse anderer Spezies zu verstehen, ohne deren Perspektive einzunehmen (Nagel 2007 S.266f)."
"Es mag leichter sein, als ich annehme, die Schranken zwischen den Arten mithilfe der Phantasie zu überschreiten. Zum Beispiel können Blinde Objekte in ihrer Nähe durch eine Art von Radar erkunden, indem sie Laute ausstoßen oder Stöcke aneinanderschlagen. Wenn man wüßte, wie das wäre könnte man sich vielleicht durch Erweiterung vorstellen, wie es wäre, das viel feinere Radar einer Fledermaus zu besitzen. Die Distanz zwischen einem selbst und anderen Personen sowie anderen Arten kann irgendwo innerhalb eines Kontinuums bestehen. Selbst für andere Personen ist das Verständnis davon, wie es ist, sie zu sein, nur bruchstückhaft. Und wenn man sich zu einer Art hinbewegt, die von einem selbst sehr verschieden ist, mag ein noch geringerer Grad bruchstückhaften Verstehens erworben werden können. Die Phantasie ist bemerkenswert flexibel. Worauf es mir ankommt, ist jedoch nicht, daß wir nicht wissen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Ich formuliere kein epistomologisches Problem. Eher kommt es mir darauf an, daß man die Perspektive einer Fledermaus übernehmen muß, um eine Konzeption davon zu entwickeln, wie es ist, eine Fledermaus zu sein (und a fortiori zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein). Wenn man sie nur annähernd oder teilweise einnehmen kann, dann wird auch die Konzeption nur annähern oder teilweise sein. So scheint es sich wenigstens bei unserem derzeitigen Stand in Bezug auf dieses Verständnis zu verhalten (Nagel 2007 S.273)."
Quellen:
Bertram, Georg (2012). Philosophische Gedankenexperimente - Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart.
Nagel, Thomas (2007). Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? In: Bieri, Peter (Hrsg.). Analytische Philosophie des Geistes S.261-275.
Newen, Albert (2013). Philosophie des Geistes. München: CH.Beck.
Speck, Josef (1980). Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Stuttgart.
https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Denken-mit-Leib-und-Seele/Qualia-Schwarmwesen-und-eine-erstaunliche-unterbewusste-Komponente/posting-30457237/show/
EMERGENZ bei Hilarion PETZOLD: Differentieller emergenter materialistischer Monismus
"Wir vertreten in der Integrativen Therapie für ihre klinische Praxis prinzipiell eine materialistisch-monistische Position (Bunge 1980; Bunge, Mahner 2004; Petzold 2002j;
2009b; Walde 2006). In der Philosophie ist der Monismus die Position, wonach sich alle Phänomene und Prozesse in der Welt auf ein einziges Grundprinzip zurückführen lassen
(Heil 1998)). Er nimmt damit eine Gegenposition ein zum Dualismus (zwei Grundprinzipien) und Pluralismus (viele Grundprinzipien). In einem materialistischen Monismus liegen allen
Gedanken, Ideen, Gefühlen, Willensakten zerebrale Prozesse mit ihrer materiellen Basis zugrunde, die als biologisches (biochemisches, bioelektrisches) Geschehen zu begreifen
sind. Diesen Monismus kann man aus einem rigorosen theoretischen Standpunkt heraus im Sinne eines „schwachen Emergentismus“ (Stephan 1999, 2006) vertreten, schwach, weil
er in der physikalisch geschlossenen Wirkwelt der Naturgesetzte verbleibt (Edelman 2004 S.139f) – eine für uns recht überzeugende Position. Damit verbunden ist natürlich ein
„funktionaler Reduktionismus“. Aber kommt man mit einer solchen Sicht in der Psychotherapie aus? Mit einer solchen Frage steht man mitten in den Diskussionen um das
Konzept der „Emergenz“, das sich der Sache nach schon in der Metaphysik des Aristoteles (Buch VIII.6.1045a: 8-10) findet.
In der Systemtheorie, der modernen Philosophie und den Naturwissenschaften wird unter Emergenz die Art und Weise verstanden, wie neue informationale Muster aus einer Vielfalt
konnektiverter Interaktionen – auf der physiologischen aber auch auf der mentalen Ebene – hervorgehen.
Goldstein (1999) definierte den Begriff als „the arising of novel and coherent structures, patterns and properties during the process of self-organization in complex systems".
Es geht um das Phänomen, dass sich bestimmte Eigenschaften eines Ganzen nicht aus seinen Teilen erklären lassen, eine Annahme, die sich vom Goetheschen Gestaltverständnis
über Christian Ehrenfels dann als Grundposition der Gestaltpsychologie findet, aber auch in der Chemie als Auftreten neuer, nicht voraussagbarer Eigenschaften beim Zusammenwirken
mehrerer chemischer Elemente. In der Biologie haben Ernst Mayr oder Konrad Lorenz mit seinem Fulgurationskonzept der Evolution eine emergenztheoretische Position vertreten. Die
Diskussionen in den verschiedenen Disziplinen sollen hier nicht nachgezeichnet werden (Clayton 2008; Holland 1999; Krohn, Küppers 1992; Laughlin 2007; Stephan 1999, 2001).
Sie haben zu keinen abschließenden, allgemein anerkannten Modellen geführt, sondern reichen von der Ablehnung des Konzeptes bis zur Auffassung, dass Emergenz ein
„unverzichtbares Grundprinzip von Naturerscheinungen“ darstellt Laughlin (1998). Die Wahl des Standortes – etwa einer starken oder schwachen Emergenz – hängt zumeist von
Herkunftsdisziplin der Autoren und vom Aufgabenfeld für diesen Arbeitsbegriff ab. Die Psychotherapie als klinische Disziplin und rechtlich geregelte Heilkunde ist in dieser Qualität
unverzichtbar als Naturwissenschaft zu sehen, weil nur auf biochemischer, neurobiologischer, immunologischer, empirisch-psychologischer Basis Krankheitsursachen
aufgekärt werden können. PatientInnen haben überdies – wie insgesamt in der Medizin aus heilkunderechtlichen und ethischen Gründen – das Recht, mit Methoden behandelt zu
werden, deren Wirkungen empirisch erforscht und bestätigt sind, und die nebenwirkungsfrei oder -arm sind. Alles, was wirkt, kann ja auch schaden, und auch in der
Psycho- und Körpertherapie gibt es leider „Risiken- und Nebenwirkungen“, ein Bereich, der bisher sträflich vernachlässigt wurde (vgl. aber Petzold 1977l, Märtens, Petzold 2002) und
die Notwendigkeit für die Psychotherapie deutlich macht, bei ethischen, epistemologischen, anthropologischen Fragen mit den Geisteswissenschaften ins Gespräch zu treten, wie
andere Naturwissenschaften auch, oder eigene Diskurse der „Kulturarbeit“ (Freud 1933a StA I,516) zu entwickeln. Eine Geisteswissenschaft wird sie dadurch nicht, wie neuerlich in
Verkennung ihres wissenschaftssystematischen Status (Fischer (2007) argumentiert wird, denn sie ist eine differentiell zu betrachtende bio-medizinische, psychologische und
sozialinterventive „angewandte Humanwissenschaft“, ausgerichtet am biopsychosozialen Modell (Egger 2007; Lurija 2007; Orth, Petzold 2000; Petzold 2001a), das „Wissenschaftlichkeit, Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit“ verpflichtet ist – so die klassische Triade, der ich noch die „Unbedenklichkeit“ hinzugefügt habe (ders. Petzold, Märtens 2002).
Nach unserer Auffassung, die sich an Derrida (1985) orientiert, sind „Positionen Standorte ,auf Zeit’ in Kontexten und Geschehnissen/Prozessen, und sie sind mit Dingen/Themen
verbunden, mit denen man noch beschäftigt ist, bis sich andere Erkenntnisse, Interessen, Aufgaben, Herausforderungen ergeben, die uns die Position wechseln lassen oder die eine
vorhandene Position qualitativ verändern“ (Petzold 2005ö).
Für die Probleme psycho- und leibtherapeutischer Praxeologie und Praxis (Orth, Petzold 2004) bietet die Annahme der Emergenz eines „Geistigen“ aus dem Materiellen, das
allerdings an die materielle Grundlage gebunden bleibt (also keinen Dualismus vertritt), eine nützliche Position, die – so lange die Frage nach dem „Wie“ dieses Emergierens und das
„Wie“ dieser Bindung nicht beantwortet werden kann, nur als „Heuristik auf Zeit“ anzusehen ist. „Positionen“ stehen im Spektrum von schwacher bis starker „Emergenz“ bzw. auch
„Supervenienz“ (Beckermann 2001, 2008, Kim 1993, 2000) zur Wahl, die m.E. alle zu rechtfertigen sind, wo eine gewählte Heuristik einen begründeten praktischen Nutzen bietet
und die aufgezeigte Problematik im Bewusstsein bleibt.
Auf dem Boden unseres Konzeptes eines „multipositionalen Möglichkeitsspektrums“ (Petzold 2008f) der Theorienutzung – man kann unterschiedliche Theorien zur Bearbeitung eines
Problems nutzen (Petzold 2007a; Petzold, Sieper 2007c) –, das wir im Integrativen Ansatz als heuristischen theoretischen Standpunkt und als Arbeitsmodell für die therapeutische
Praxeologie vertreten, haben wir eine differentielle, emergenztheoretisch Position ausgearbeitet, die eines „differentiellen, interaktionalen Monismus“ (Petzold 1988i;
Petzold, van Beek, van der Hoek 1994). Dieser hat der Sache nach eine lange Tradition und bietet für viele Annahmen der Praxis eine heuristische Explikationsfolie, um deren
Schwächen man weiß, die aber dennoch konsistentes Handeln in der Praxis mit einer Konzeption von hinlänglicher wissenschaftlicher Solidität unterstützt.
Ein differentielles Emergenzmodells geht davon aus, dass in komplexen Systemen mit hoher Konnektivierung der Systemkomponenten Emergenzphänomene von unterschiedlicher
Komplexität und Dichte auftreten können, die übergeordnete Qualitäten (Trans-Qualitäten, Synergeme, Synthesen, vgl. Petzold 1998a/2007a, 199) hervorbringen (Uebersummativität
der Gestalttheorie). Das ist mit moderner klinisch-therapeutischer Theorienbildung zur Pathogenese, Psychosomatik und zudem auch mit der integrativen anthropologischen
Position des „informierten Leibes in Kontext/Kontinuum“ (Petzold 2003e) gut kompatibel" (Petzold 2011 S4-7).
Quellen:
Petzold, Hilarion G. (2011). Körper-Seele-Geist-Welt-Verhältnisse in der Integrativen Therapie – Der „Informierte Leib“, das „psychophysische Problem“ und die Praxis. In: Polyloge 08/2011
ZEIT - vom Takt zum Rhythmus - Karlheinz Geissler und Hartmut Rosa
Den eigenen Rhythmus finden
Die Griechen hatten zwei unterschiedliche Begriffe für unser heutiges Wort Zeit.
Damit wiesen sie auf den Unterschied zwischen der äußeren, auferlegten und der inneren, persönlichen Zeit hin.
Mit „Chronos“ meinten die Griechen die gleichförmig ablaufende, exakte Zeit, die heutzutage Bezug hat zu Uhren und Kalendern.
Für den „Verein zur Verzögerung der Zeit“ ist damit der Takt gemeint, der die Menschen fremdsteuert und den wir versuchen, zu beschleunigen.
„Kairos“ nannten die Griechen die unregelmäßig ablaufende innere Zeit. Diese Vorstellung von Zeit zielte darauf, den Takt von Ruhe und Aktivität im eigenen Körper zu beschreiben. Laut „Verein zur Verzögerung der Zeit“ bestimmt heute das Chronos-Denken unseren Alltag.
Die innere Zeitperspektive hätten viele Menschen ausgeblendet, obwohl beide Zeitauffassungen gemeinsam für unser Zusammenleben wichtig und notwendig seien.
„Es kommt darauf an, sie in Balance zu halten und zu schauen, wann welche Zeitauffassung angemessen ist“, schreibt der Verein auf seiner Webseite.
Wenn selbst die Freizeit keine Zeit sei, über die wir frei bestimmen können, dann habe „Chronos“ die Zeit-Regie übernommen.
Quelle: www.zeitverein.com
(..............)
Hartmut ROSA:
"Ursprünglich, so analysiert Rosa, hat Beschleunigung viel mit zwei wesentlichen Eigenschaften unserer Gesellschaft zu tun: dem Kapitalismus und der Säkularisierung. In modernen, kapitalistischen Gesellschaften wird Wettbewerb als das fairste Prinzip zur Verteilung von sozialen Positionen angesehen. Wer leistet, erhält Status und
Privilegien. Da Status und Privilegien aber knapp und auch bei der Konkurrenz begehrt sind, heißt das für jeden: Wir müssen pro Zeiteinheit immer mehr leisten.
In modernen, säkularisierten Gesellschaften gibt es weder den erlösenden Himmel noch die strafende Hölle. Das Leben vor dem Tod ist zentral. Und das sollen und wollen wir reich und erfüllt führen, sprich: möglichst viele Optionen nutzen. Neue Technik bietet aber immer mehr Optionen. Um also im Vergleich mit anderen ein erfülltes Leben zu haben, heißt das für uns: Wir müssen pro Zeiteinheit immer mehr erleben.
Heute haben sich diese Prozesse verselbstständigt, sagt Rosa. Moderne Gesellschaft ist für ihn ein rasanter werdendes Perpetuum mobile: Um unsere knappe Zeit besser zu nutzen, entwickeln wir neue Technik. Weil aber alle diese Technik haben, müssen wir ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen, um im Wettbewerb nicht zurückzufallen.
Quelle: OLIVER HOLLENSTEIN: "Momentan ist echt stressig". In: TAZ vom 11. Jan. 2014
Fehlende Resonanz und die Entwicklung eines "falschen" Selbst
Als theoretischen Einstieg ins zentrale Resonanz-Kapitel, in welchem so langsam aber sicher der Schritt von der Kritik am Bestehenden zu konstruktiven Konzepten für die Zukunft vollzogen werden soll und die Theoriebildung abgeschlossen wird, möchte ich wieder den Philosophen und Soziologen Hartmut ROSA (Stichwort: Entschleunigung) zitieren, wie er Charles TAYLOR würdigend (im Sammelband "Unerfüllte Moderne" sowie Kap. 3 und 7), dessen resonante "Weltbeziehungen" (ein wichtiger Begriff in Taylors Denken, vgl. Kap. 9) als (musikalisches) Resonanzphänomen vorstellt; dies dialektisch der cartesianisch-naturwissenschaftlichen Sicht (Kap. 1) gegenüberstellend und damit sehr gut in mein hier zu entwickelndes Konzept des "echt vs. inszeniert" oder eben "resonant vs. narzisstisch" bzw. "regulativ" vs. "relational" passend:
"Ein Subjekt um 1500 lebt nicht nur (angesichts des konstitutiven Charakters der Selbstinterpretation: buchstäblich) in einer ganz anderen Welt als eines um 2000, sondern es ist auch in einer völlig anderen Weise auf die Welt bezogen. Dies ist meines Erachtens die vielleicht interessanteste, wenngleich in der Diskussion kaum beachtete Erkenntnis [von Charles Taylors genialem Alterswerk] "Ein säkulares Zeitalter" [aus dem Jahre 2012].
Die gedachte, vor allem aber die gefühlte und gelebte Selbst-Welt-Beziehung ist in der mittelalterlichen Welt von der heutigen so radikal verschieden, dass es gewaltiger hermeneutischer Anstrengungen bedarf, sie hinter propositionalen Differenzen sicht- und spürbar zu machen. Das kognitive Weltverständnis bildet dann gleichsam nur die bewusste >Spitze eines Eisbergs<. In dieser Auffassung liegt der Grund dafür, wieso Taylor in seinen jüngeren Arbeiten immer wieder Versuche unternimmt, gleichsam die >soziomoralischen Landkarten der Moderne< nachzuzeichnen.
Sein jüngeres Werk [...] zielt implizit und explizit darauf ab, das heterogene und widersprüchliche Geflecht an Selbstdeutungen und 'starken Wertungen' [ein weiterer zentraler Taylor-Begriff, siehe Kap. 9], das den modernen Institutionen, Praktiken und Subjektivitätsformen - und daher der modernen >Weltbeziehung< - zugrunde liegt, offenzulegen.
Tatsächlich aber galt Taylors philosophisches Augenmerk von Beginn an und gleichsam >monomanisch< der Frage, >was es heißt< bzw. wie es sich anfühlt, als handelndes Subjekt in die Welt gestellt zu sein, insbesondere in die moderne Welt gestellt zu sein.
Versucht man nun, Taylors Gesamtwerk unter dieser Fragestellung zu überblicken, so fällt auf, dass er in nahezu allen Aspekten und Momenten seines Schreibens und Denkens immer wieder von der (nahezu zwanghaften oder eben "monomanischen") Gegenüberstellung zweier verschiedener, wenn auch gleichermaßen moderner Weisen der gedachten und gefühlten Selbst-Welt-Beziehung motiviert wird.
Deren eine - man kann sie mit Taylor die 'naturalistische' Weltbeziehung nennen [entspricht dem cartesianischen, regulativen Weltbild aus Kap. 1] - erscheint in der modernen Gesellschaft zwar als dominant, für Taylor jedoch als geradezu furchteinflößend und selbstzerstörerisch defizitär, während die andere — die 'romantisch-expressivistische' [entspricht dem humanistischen, relationalen Weltbild aus Kap. 1] — eher sekundär oder komplementär bleibt, aber letztlich im Blick auf die Frage nach einer 'gelingenden' Weltbeziehung weit angemessener scheint.
Um an dieser Stelle nun mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich möchte behaupten, dass Taylors Werk motiviert ist von der Furcht vor oder vom Kampf gegen eine Welterfahrung, Welthaltung und Weltbeziehung, in der sich das handelnde Subjekt als abgetrennt und isoliert von einer Welt erfährt, die ihm als indifferent, stumm oder feindlich gegenübertritt und zu der es nur instrumentell oder kausal in Beziehung steht, und dass er dieser Welterfahrung das Modell einer >Resonanzbeziehung< entgegenzusetzen versucht, dem zufolge sich das Subjekt gleichsam als in einem organischen Austauschprozess befindlich erfährt, in dem Selbst und Welt wechselseitig konstitutiv und >responsiv< werden, dem zufolge das Selbst also gleichsam einen konstitutiven >Widerhall< in seinen Weltbeziehungen findet". (aus: Rosa, H. (2011). Is there anybody out there? Stumme und resonante Weltbeziehungen. In: Kühnlein/Lutz-Bachmann (Hrsg.) Unerfüllte Moderne? Berlin: Suhrkamp, S. 17-18)
Da für dieses Buch nebst er Anerkennungstheorie Honneths ebendiese "Resonanztheorie"
Taylors und deren Weiterentwicklung durch Rosa (siehe: Rosa, H. (2016). Resonanz) sehr zentral ist, scheint mir folgende beschriebene Abgrenzung bzw. deren wechselseitige Ergänzung zwischen den beiden Konzepten wesentlich:
"Ganz im Einklang etwa mit der Sozialpsychologie George Herbert Meads und sogar in Uebereinstimmung mit jüngeren Erkenntnissen einer beispielsweise an der Konzeption und Funktion von >Spiegelneuronen< orientierten Entwicklungspsychologie setzt Taylor damit soziale >Resonanzbeziehungen<, Momente des Widerhalls und des affirmativen Einklangs, aber auch des widersprechenden Antwortens an den Ausgangspunkt menschlicher Subjektivität; und er lässt keinen Zweifel daran, dass die Subjekte ohne solche Resonanzbeziehungen auf Dauer auch als Erwachsene nicht zu (über)leben vermögen. Schon deshalb sind sie gezwungen, nicht nur kausal oder instrumentell zur Sozialwelt in Beziehung zu treten, sondern konstitutive Austauschbeziehungen zu pflegen.
Weil Taylor das menschliche >Antwortverlangen< aber keineswegs als auf die soziale Welt beschränkt sieht, scheint mir der Begriff der Selbst-Welt-Resonanz gegenüber dem Anerkennungskonzept weiter reichend und nicht nur Taylors Werk, sondern auch der von ihm analysierten Problematik der Weltbeziehung und Welterfahrung in der Moderne angemessener, weil umfassender zu sein.
So können auch und gerade tiefschürfende religiöse (die Teilnahme am Abendmahl für einen Gläubigen), ästhetische (die kontemplative Versenkung in eine Symphonie) oder naturbezogene Erfahrungen (der Sonnenaufgang auf einem Berggipfel) als Resonanzerfahrungen, kaum jedoch als Anerkennungsbeziehungen gedeutet werden." (ebenda S. 21).
Resonanz und Musik: auch bei Taylor und Rosa liegt hier das Auditive näher als das Visuelle, was im Koordinatensystem des ersten Kapitels als Antagonismus zwischen dem digitalen Sinn des Visuellen und dem analogen Sinn des Auditiven verortet werden kann.
Wenn der Narzissmus eine visuelle Tragödie (des Verkennens und der Täuschung) darstellt, kommen wir hier mit dem Resonanzprinzip zu einem Wiederverzauberungs-Versuch des Hörens und der verbindenden, also relationalen (siehe Kap. 6) Weltbeziehung, wie der nächste Abschnitt aus Rosas Taylor-Würdigung sehr schön zeigt:
"Wogegen Taylor daher in seinen wissenschaftstheoretischen ebenso wie in seinen kulturphilosophischen oder politiktheoretischen Ueberlegungen in wechselnder Gestalt immer wieder von Neuem ankämpft, ist das Schreckgespenst einer Welterfahrung, in der das gleichsam zu einem ausdehnungslosen Punkt geschrumpfte Selbst sich wie durch eine Mauer von allem Lebendigen abgetrennt findet, indem es außerhalb seiner Selbst keine Antwort mehr auf sein naturgemäßes In-die-Welt-Rufen findet.
Eine überaus beeindruckende popästhetische Manifestation findet diese (scheiternde) Weltbeziehung in der von Roger Waters bzw. Pink Floyd konzipierten Rockoper 'The Wall', die 1982 unter der Regie von Alan Parker auch als Musikfilm mit Bob Geldof in der Hauptrolle erschien.
Ihren vielleicht erschütterndsten Moment findet sie dort, wo der nur noch medial mit der übrigen Welt verbundene Protagonist, der Musiker Pink, am Rande des Wahnsinns, halbnackt, sich mit blutenden Fingern an der überaus dichten, undurchdringlichen und unüberwindbaren Wand aus schwarzen Blöcken entlangtastet, während über einem unheimlich-düsteren musikalischen Motiv monoton die immer gleiche Frage — "Is There Anybody Out there?!" — wiederholt wird. Die einzige Resonanz aber scheint aus Pinks Innerem zu kommen: Die Trennung zwischen Subjekt und Welt hat sich verabsolutiert." (ebenda, S. 24)
Musikalisch geht es weiter, wenn im nun folgenden Abschnitt vom Verstummen der Welt bei zwar weit geöffneten Ohren aber gefüttert mit dem "nährstoffarmen Trash" der kommerziellen Muzak-Wahrenhauswelt [vgl. Kap. 3 und 7] die Rede ist:
"Das Verstummen der Welt für die inneren 'Ohren' der Subjekte könnte, so die Befürchtung, eine nicht intendierte, paradoxe Nebenfolge des modernen Autonomie-, Effizienz- und Selbstwirksamkeitsstrebens sein. Diese Angst kommt in Rousseaus Entfremdungsdiagnose der >Eigenliebe< ebenso zum Ausdruck wie in Marx’ Entfremdungs-Konzept (und überhaupt in der ihm folgenden Tradition der Entfremdungstheoretiker), aber sie scheint ebenso deutlich auch in Max Webers >Entzauberungsnarration<, in Lukacs’ Verdinglichungs-Vorstellung oder in Adornos Konzeption der total werdenden instmmentellen Vernunft mitzuschwingen, und vermutlich ist sie sogar noch in Habermas’ Vorstellung einer >Kolonialisierung< der (resonanten) Lebenswelt durch die >kalten< Systemimperative der Bürokratie und der Wirtschaft präsent; für Axel Honneths grundlegende Unterscheidung zwischen Anerkennungs- und Missachtungsbeziehungen scheint sie ohnehin geradezu konstitutiv zu sein.
Zentral aber ist das Resonanzverlangen und dessen Scheitern auch in den Werken der Existentialisten, insbesondere in. Albert Camus’ Idee der Geburt des Absurden aus dem Schweigen der gleichgültigen und unvernünftigen Welt angesichts des anthropologisch unvermeidbaren menschlichen In-sie-hinein-Rufens. Die Furcht vor einer Resonanzkatastrophe scheint indessen bei näherem Hinsehen nicht nur das abendländische Denken, sondern auch die Alltagskultur der (Spät-)Moderne zu prägen:
Die technisch vermittelte >Musikalisierung< der Welt, die sich in Fahrstühlen und Supermärkten ebenso wie in Wohnungen, Kaufhäusern und Bahnhöfen beobachten lässt, mag in diesem Sinne als Symptom des verzweifelten (und in der Wirkung eher kontraproduktiven) Versuches verstanden werden, das Weltverstummen zu verhindern, die Resonanzkatastrophe zu vermeiden und die Subjekte zumindest in [narzisstischer, M.F.] >Eigenresonanz< zu halten. Weil diese die dingliche ebenso wie die soziale und womöglich auch die subjektive Welt als nichtresonant erfahren, flüchten sie sich immer häufiger und immer länger unter Kopfhörer, die ihnen das Resonanzversprechen gewissermaßen mechanisch >einzuhämmern< versuchen." (ebenda S. 40-41)
Der Kanadier Charles Taylor kontrastiert in seinem dritten opus magnum, "A Secular Age", zwei Grunderfahrungen menschlicher Existenz. Er eröffnet das Buch mit einer eindrucksvollen Gegenüberstellung dieser sich diametral gegenüberstehenden Momente oder Modi der Welterfahrung, welche zwar die Extrempunkte auf einer Skala menschlichen ,In-die-Welt-Gestelltseins‘ markieren, aber dennoch, so vermutet Taylor, in ihren Grundzügen zum Erfahrungsrepertoire der meisten Menschen gehören. Auf der einen Seite stehen Momente des ,Einklangs‘ mit dem Strom des Lebens, die Taylor stets (auch schon in früheren Arbeiten) als Momente der Fülle und der Er-füllung beschreibt, die nicht durch kognitive Einsichten, sondern eher durch eine emotional oder existentiell berührende ,Ahnung‘ eines großen und tiefen Zusammenhangs alles Seienden charakterisiert sind. Als paradigmatisch für diese Erfahrung [kann man] durchaus passend die biblische Metapher der ,Oase‘ verwenden. (Rosa, H. (2014). Wüste und Oase als Gründungsmetaphern des Sozialen - Charles Taylors Beitrag zur Soziologie. In: Farzin, Sina, Laux, Henning (Hrsg.). Gründungsszenen soziologischer Theorie. Wiesbaden: Springer VS, S.189.
Diesen (seltenen) Momenten eines Einklangs zwischen Subjekt, physischer Welt und metaphysischem Horizont stellt Taylor nun diametral eine Welterfahrung der Geworfenheit gegenüber, in der sich das Subjekt als ausgesetzt in einer kalten, harten, gleichgültigen oder feindlichen Welt – oder, wie in Pinks Fall in 'The Wall', als eingekerkert hinter kalten Mauern – erfährt. Auch solche Momente, für die ich hier die Metapher der ,Wüste‘ einführen möchte, finden sich eindrucksvoll in den poetischen Weltverhältnissen der deutschen Romantik – etwa in den Herbstgedichten Nietzsches oder Rilkes. Bei beiden steht der gefrorenen, abweisenden Welt ein bleiches und blasses, beziehungsloses Subjekt gegenüber: „nach jedem Sonnenuntergange bin ich verwundet und verwaist, ein Blasser, allem Abgelöster, und ein verschmähter jeder Schar; und alle Dinge stehn wie Klöster, in denen ich gefangen war“, heißt es etwa in Rilkes Stundenbuch. (ebenda S.191).
Dieser grundlegende Kontrast zwischen ,Oase‘ und ,Wüste‘ als Möglichkeiten menschlicher und moderner Welterfahrung zieht sich nicht nur durch das ganze Buch ,A Secular Age‘ hindurch, sondern ist, so glaube ich zeigen zu können, konstitutiv für Taylors Werk insgesamt, er findet sich auch an zahlreichen anderen Stellen seines Schreibens. (ebenda S.192)
Die ,Verheißung‘ der Moderne, so lässt sich aus der in dieser Skizze entworfenen Sicht behaupten, liegt in dem romantischen Versprechen, die Welt ,zum Singen‘ zu bringen, in eine Oase zu verwandeln. Deshalb ist es kein Zufall, dass Taylor der ,naturalistischen‘ Weltbeziehung des Atomismus, Instrumentalismus und Individualismus gerade ein romantisch-expressivistisches Konzept als kulturwirksames Gegenmodell der modernen Weltbeziehung entgegensetzt: Den Kern der romantischen Weltbeziehung macht auch Taylor in der Idee, oder vielmehr: in der ästhetischen und bisweilen religiösen Erfahrung, eines tieferen Einklangs oder Uebereinstimmens, kurz: in einer Resonanzerfahrung des Subjekts in der Natur bzw. in der Welt als Kosmos aus, d.h. in einer Erfahrung, welche die Spaltungen zwischen Selbst und Welt, Individuum und Gesellschaft, Verstand und Gefühl, Körper und Geist insbesondere in Momenten expressiver Erfüllung zu überwinden vermag.
Ausschlaggebend ist dabei meines Erachtens nicht eine bestimmte philosophische Doktrin oder Ueberzeugung, sondern eine andere Art der Welterfahrung, die etwa im magischen Idealismus Novalis’ oder in Eichendorfs 'Wünschelrute' ihren prägnantesten Ausdruck findet. Daher ist es kein Zufall, dass Taylor zur philosophischen Entwicklung und narrativen Entfaltung der romantisch-expressivistischen Position immer wieder auf literarische und künstlerische Erfahrungen zurückgreift. (ebenda S.197)
Das "wahre" Selbst - positive Selbstkonzepte
Das Selbstkonzept bei Charles Taylor
„Ein Selbst bin ich nur im Verhältnis zu bestimmten Gesprächspartnern: Ich spreche hier von »Geweben des sprachlichen Austauschs«, und nur in diesen existiert das Selbst. Diese Ausgangslage ist es, die unserem Begriff »Identität« Sinn verleiht, indem sie durch Bestimmung des Ortes der Aeußerung und des Angeredeten eine Antwort liefert auf die Frage, wer ich denn eigentlich bin. Die vollständige Angabe der Identität einer Person beinhaltet daher normalerweise nicht nur ihren Standort im Hinblick auf moralische und spirituelle Angelegenheiten, sondern auch eine Bezugnahme auf eine definierende Gemeinschaft.“ (Charles Taylor in "Quellen des Selbst" - Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S.71.)
Als praxisbezogenen Zwischenteil habe ich einen Text aus einem Coaching-Seminar von Klaus Eidenschink ausgewählt in dem m.E. sehr treffend die "Tragik des Narzissten" im wirtschaftlichen Umfeld beschrieben wird:
Keine Resonanz auf das eigentliche Wesen
Wenn wir Menschen sagen: »So bin ich!«, dann können wir uns irren. Wir lernen in einem gewissen Ausmaß, wie wir sind. Dieser Lernvorgang kann gelingen, indem er weitgehend unserer Persönlichkeit, unserem Wesen und unserem Temperament entspricht. Aber er kann auch scheitern, indem wir lernen, wie wir für andere sein sollten. Alle seelischen Beeinträchtigungen erwachsen aus gescheiterten Kontakt- und Beziehungserfahrungen.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie kommen als eher ruhiges, versonnenes und vorsichtiges Kind auf die Welt und landen bei einer Mutter, die Ihnen in jedem Moment des Zusammenseins vermittelt, was für ein lustiger und wilder Racker Sie sind, weil die Mutter sich immer einen solchen Jungen gewünscht hat! Ihr Selbsterleben und das, was Ihnen rückgespiegelt wird, klaffen von der ersten Sekunde Ihres Lebens ständig auseinander, weil die Mutter nicht mit Ihnen, sondern mit ihren eigenen Wünschen beschäftigt ist.
Wenn so etwas passiert – und das passiert sehr oft –, wenn Kinder also keine oder wenig Resonanz auf ihr Wesen bekommen, dann lernen sie früh, sich so zu geben, wie sie sein sollen. Dabei verlieren sie nach und nach die Fähigkeit, sich selbst zu spüren und wahrzunehmen.
Sie vergessen gleichsam, wer sie sind. Sie finden auf die Frage »Wer bin ich?« keine Antwort mehr, die in der Selbstwahrnehmung gründet, sondern nur noch eine, die aus der Orientierung an anderen erwächst: Wenn die Frage »Wer muss ich sein, um Aufmerksamkeit bei anderen zu bekommen?« zum Kern des täglichen Erlebens wird, nennt dies die Psychologie eine »narzisstische Problematik«. Im Gegensatz zu einem verbreiteten Missverständnis, das im Alltagsgebrauch des Wortes liegt, sind »Narzissten« nicht selbstbewusst oder von sich eingenommen (das ist nur die äußere Schale). Sie sind im Gegenteil (innerlich) sehr verunsichert, depressiv und labil. Sie wissen nicht, wie man anderen Menschen nahe kommen kann.
Ihr Problem ist mangelnde Bindung. Die fehlende Liebe für das verlorene Selbst wird durch Bewunderung für das gestylte Ich ersetzt.
Narzissten sind gleichsam wie Westernstädte im Film. Eine Fassade, hinter der die Wüste lebt. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer solchen Stadt – ziemlich ungemütlich, oder? Die Freude, die einem bleibt, ist, zunächst die Fassade möglichst hübsch zu machen. In der narzisstischen Innenwelt wird die Not der fehlenden Häuser mit dem Versuch bekämpft, sich attraktive Fassaden zu bauen. Frei nach dem Motto: Wenn ich schon die Wahl habe, suche ich mir zumindest etwas aus, das attraktiv ist.
Der psychologische Druck, dieses als attraktiv empfundene Ideal zu erreichen, ist hoch: Denn, wenn nichts dahinter ist, dann müssen die Fassaden umso beeindruckender sein. Aeusserer Erfolg wird zum Ersatz innerer Substanz. Daher finden sich unter narzisstisch beeinträchtigten Menschen eine große Zahl, die es tatsächlich schafft, in einem Umfeld zu leben, in dem sie als schön, erfolgreich, reich, umschwärmt, klug und beeindruckend angesehen werden. An ihrem gebastelten Selbstideal (= Fassade) müssen solche Personen unerbittlich festhalten (siehe Beispiel 3), droht doch andernfalls die Wahrnehmung der eigenen inneren Leere, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit (= Wüste). Sie werden also vom jeweiligen Umfeld sehr abhängig, da sie es als Spiegel brauchen, der ihnen täglich sagt, wer der oder die
Schönste und Klügste im Lande ist. Erfolg und seine Attribute werden zum Suchtmittel.
Da narzisstisch beeinträchtigte Menschen ihre innere Realität verloren und durch eine künstliche ersetzt haben, beginnt zwangsläufig auch in der äußeren Realität ein Verlust an Wahrnehmung und eine Leugnung von störenden Elementen einzusetzen (siehe Beispiel 2 weiter unten).
So können Rückmeldungen, Feedback, Spiegelungen, die dem Selbstideal nicht entsprechen, schlecht akzeptiert werden (siehe Beispiel 4). Alles, was das Ideal der eigenen Person gefährdet, ist bedrohlich. Soziale Ereignisse, wie Prüfungen, Beförderungen, Partnerwahl und Aehnliches, werden nicht als solche behandelt, sondern als Urteil darüber, wer man ist. Sie werden in Erfolgs- und Misserfolgsereignisse eingeteilt.
Erfolg bedeutet dann: »Ich bin toll, gut und richtig.« Misserfolg bedeutet: »Ich habe versagt.« Alles Geschehen wird dadurch in einem hohen Ausmass selbstwertrelevant. Innerhalb des narzisstischen Erlebens ist es nicht möglich, sich mit seinen Verhaltensfehlern zu beschäftigen, ohne sich als Versager zu fühlen. Es entsteht ein starker Druck, sich eine Umwelt zu basteln, die einen vor Fehlern beziehungsweise vor Kritik verschont.
Verlust an Wahrnehmung
Der daraus resultierende Druck, bewundert werden zu müssen, führt dazu, dass alle Personen, die kritisch sind oder abweichende Meinungen vertreten, in ein feindliches Lager sortiert werden.
Kritiker werden abgewertet oder aus dem Beziehungsfeld entfernt (siehe Beispiele 1 und 4). Die äussere Welt spaltet sich auf in »Gute« und »Schlechte«. Die enorme Kränkbarkeit solcher Menschen erwächst aus diesem Kontext und lässt es ihnen schwer fallen, erfahrene Kränkungen zu verarbeiten. Ein Narzisst vergisst nie.
Aus dem gleichen Grunde wird Hilfe kaum akzeptiert. Sie wird rundweg abgelehnt. Dies liegt zunächst einmal darin begründet, dass mit dem Eingestehen der eigenen Hilfsbedürftigkeit auch das Ich-Ideal bedroht ist. Die damit verbundene Kränkung und Scham wird so vermieden.
Weiterhin besteht meist Angst vor der neuerlichen Erfahrung, dass im Zusammensein mit anderen es immer um den anderen, nie um einen selbst geht. »Alle wollen immer etwas von mir und haben irgendwelche Absichten. Ich selbst bin ihnen doch gar nicht wichtig!«, ist ein Ausspruch, den man dann häufig hören kann, wenn Narzissten anfangen, sich wieder selbst zu spüren. Diese Angst vor Ausbeutung und Uebersehenwerden verhindert das Zustandekommen wirklich enger und emotional naher Beziehungen.
Niemand darf wirklich wichtig werden. Bisweilen wird erst nach extremen Lebenssituationen (Krankheiten, berufliches Scheitern, Unfälle, Beziehungsabbrüche)
Hilfe gesucht.
Chronische innere Einsamkeit
Das Nicht-Suchen von Hilfe steht in scheinbar direktem Widerspruch zu der enormen inneren Not, die solche Menschen quält. Die innere Leere, die sich einstellt, wenn man sich selbst nicht wirklich spüren kann, führt zu Kompensationsmitteln: Konsum, Statussymbole, Drogen, Oeffentlichkeitssuche, permanente Suche nach dem ultimativen Kick sind nur einige davon. Der Mangel an Beziehungsfähigkeit führt zu chronischer innerer Einsamkeit. Verdeckte Formen des Suizids, etwa extrem schnelles Autofahren, sind daher immer wieder zu beobachten. In der narzisstischen Erlebniswelt entwickelt man fast zwangsläufig intensive Neidgefühle auf alle Menschen, von denen man spürt, dass diese »wirklich« sind. Man spürt genau, wenn jemand aus inneren Kraftquellen und kreativen Potenzialen schöpft und nicht nur nachahmt oder einen Schein erzeugt.
Quelle: Klaus Eidenschink, senior Coach DBVC (2004). »Mann, bin ich gut!« – Die Not narzisstischer Manager. In: "wirtschaft & weiterbildung" 12/04, S. 43-45
Ich möchte nach diesem Quereinstieg via die praktische Coaching-Arbeit mit "Narzissten" zu den resonanten Selbstkonzepten kommen um so dem Phänomen des "wahren Selbst" näher zu kommen; dies, nachdem in den vergangenen Kapiteln bereits viel vom "falschen Selbst", vom inszenierten und vom narzisstischen Ich die Rede war.
Etwas überraschend vielleicht, habe ich mich im folgenden für eine Sichtweise entschieden, die aus der systemisch-behavioralen Psychiatrie-Forschung kommt, dem kybernetischen Selbstkonzept-Ansatz von Prof. Wolfgang Tschacher und MitarbeiterInnen:
Das Selbst als Attraktor: das psychologische Selbst aus systemtheoretischer und achtsamkeitsbasierter Sicht
Quelle: Tschacher, W., Munt, M. (2013). Das Selbst als Attraktor: das psychologische Selbst aus systemtheoretischer und achtsamkeitsbasierter Sicht. In: Psychotherapie 18-2, S. 18-37.
"In dieser theoretischen Arbeit vertreten wir die Position, dass das psychologische Selbst mit den Begriffen der Theorie dynamischer Systeme modelliert werden kann. Die zentrale Intuition ist, dass das Selbst als Attraktor angesehen werden kann, also als eine aus einem Prozess durch Selbstorganisation emergierende Struktur.
Wir stellen Analogien zur Gestaltpsychologie fest, bei der ebenfalls eine Struktur aus einem zunächst ungeordneten komplexen Zustand hervortritt. Die wichtigsten Parameter, die solche Emergenzprozesse antreiben, entstammen dem Körper (Propriozeption, Embodiment) und der Situation (Affordanzen, Situiertheit).
Wir diskutieren Zusammenhänge, unter denen das Selbst geschwächt wird, wie etwa psychische Störungen.
Achtsamkeitsinterventionen werden ausführlich diskutiert und gezeigt, dass Achtsamkeit in spezifischer Weise zur Kalibrierung und Stabilisierung des Selbst beitragen kann [hierzu vgl. Kap. 10: MBSR].
Der Selbstattraktor
Wir haben bisher herausgearbeitet, dass das psychologische Selbst als ein Attraktor verstanden werden kann. Wir wollen an dieser Stelle das bisher Gesagte zusammenfassen, um zu zeigen, dass diese systemtheoretischen Modellannahmen in die richtige Richtung weisen. Unsere Liste für die These vom Selbstattraktor umfasst bislang folgende Punkte:
- Das prozessuale Selbst: Das Selbst ist insofern Prozess, als eine Person „sich nicht immer gleich“ ist. Das Selbst ist keine feste, kristalline Struktur, es verändert sich flexibel in Bezug auf unterschiedliche Anforderungen und Umgebungen. Diesem prozessualen Charakter des Selbst entspricht der Bewusstseinsstrom des Erlebens (James 1890!).
- Das strukturelle Selbst: Das Selbst hat auch bei ständiger Prozesshaftigkeit eine Gleichgewichtsstruktur, die als Attraktor beschrieben wurde [vgl. obige Abbildung]. Bei unterschiedlichen Anforderungen und Umgebungen stellt sich die charakteristische Gestalt des Selbst wieder her. Wenn man einmal „außer sich“ war, kommt man doch wieder „zu sich“.
Ein wichtiger Aspekt der Selbststruktur ist die Sprache, denn durch sprachliche Zuschreibungen werden Eigenschaften der Person überdauernd fixiert.
- Die Wiederherstellung der Selbstgestalt nach vorheriger Deformation geschieht nicht wie eine Handlung durch bewusste Intention, Planung und Ausführung (Heckhausen, 1987).
Die Rekalibrierung des Selbstattraktors erfolgt in der Art einer Gestaltbildung gemäß der Selbstorganisationstheorie „von selbst“. Dabei wird die Gestalt des Selbst wieder prägnant.
- Umfeld und Körper können als Kontextvariablen verstanden werden, die das Selbst beeinflussen. Das bedeutet in systemischen Begriffen: Situation [sog. Situertheit] und Leib [der gefühlte, resonante (!) Körper] fungieren als Kontrollparameter.
Entwicklung und Aufrechterhaltung des Selbst
Wodurch entsteht das Selbst, und wie erfolgt die Stabilisierung des Selbst? Die Kontextvariablen des Körpers und sozialen Umfelds erscheinen uns hier von zentraler Bedeutung.
Auf einer grundlegenden Ebene macht jedes Individuum die Erfahrung der Körperwahrnehmung und sensomotorischen Kopplung. Wenn das Kind den Arm bewegt und einen
Gegenstand berührt, entsteht eine Rückmeldung durch den Tastsinn und eine Kopplung zwischen motorischem Akt, sensorischem Ergebnis und der visuellen Verfolgung der
eigenen Armbewegung. Wenn das Kind die eigene andere Hand berührt, geschieht dasselbe, jedoch mit doppelter Rückmeldung durch den Tastsinn. Die dadurch gegebene
Unterschiedlichkeit von eigenem Körper und anderen Gegenständen ist hochgradig konsistent und beliebig wiederholbar" (Tschacher/Munt 2013, S. 25/26).
Im folgenden Abschnitt machen die beiden Autoren aus der systemischen und behavioralen, quasi "harten" wissenschaftlich orientierten Psychologie soviele bemerkenswerte Anleihen bei Autoren aus dem psychodynamisch orientierten Feld, dass ich mir Direktvergleiche erlaube und den originalen Text um dort nicht-genannte Quellen ergänze (zentrierte Zeilen), was zugleich einer kurzen Repetition des Bisherigen (v.a. Kap. 4: Entwicklung) gleichkommt:
FREUD: Das Es und das Ich
"Freud (1923) meinte: „Das Ich ist vor allem ein körperliches.“
STERN: Propriozeption und auftauchendes Selbst
Dieses körperliche Selbst, die korporale Identität ist also in der Propriozeption verankert: “What is more important for us, at an elemental level, than the control, the owning and operation, of our own physical selves?” (Sacks, 1985). Propriozeption trägt zur Erstellung des Körperschemas auch bei, indem sie kontinuierlich die Lage des Körpers im Raum abbildet [hier könnte man den Tanzpädagogen Laban als Quelle ergänzen: Kinesphäre].
Sacks beschreibt Fälle neurologischer Patienten wie den der „disembodied lady“, die unter einer viralen Infektion des Rückenmarks litt und bei der das zunehmende Ausbleiben der propriozeptiven Rückmeldung zu einer Identitätsstörung führte. Der Körper ist somit die Grundlage für das Bewusstsein, da auch das Erleben und Wahrnehmen von Emotion das Wahrnehmen innerer Prozesse (Interozeption: Herbert & Pollatos, 2012) voraussetzt: „sensing awareness of internal processes, i.e. the feeling and experience of emotion, seems to be essential to the ability to feel engaged in the ‘hereness, nowness, and me-ness’ of the experience of the moment“ (Izard, 2009). Körperwahrnehmung im Sinne von Proprio- und Interozeption trägt also fundamental zur Entwicklung und Aufrechterhaltung des Selbstattraktors bei.
HABERMAS: Kommunikationshandeln - BEDORF/DELEUZE/TAYLOR: Alterität
Bei der ontogenetischen Entwicklung weisen verschiedene Beobachtungen weiterhin auf die entscheidende Funktion des sozialen Kontakts hin: Voraussetzung für die Entwicklung von Identität und Selbst-Bewusstsein ist die Interaktion mit anderen Individuen; soziale Deprivation führt etwa bei Schimpansen dazu, dass sie sich nicht im Spiegel erkennen (z.B. Mahoney 1991) [ergänzen könnte man hier: René Spitz (Kleinkindforcher) und Harlow (Behaviorist) mit seinen traurigen Deprivationsexperimenten].
BENJAMIN: Anerkennungsparadoxon und Ubuntu - MITCHELL: Relationale Matrix
Ohne den anderen entsteht kein Eigenes. Das kognitive Muster des Selbst ist in frühen Entwicklungsphasen noch wenig ausgeprägt; es taucht in einer ersten Phase der unsicheren Identität nur unter bestimmten günstigen Umweltbedingungen, besonders im Rahmen einer tragenden Bindung [vgl. Bowlby, Stern, Fonagy, ...], auf.
Man beobachtet bei Kleinkindern nach dem Spracherwerb etwa Verwechslungen von „ich“ und „du“ im Sinne einer Identifikation und Verschmelzung mit anderen Personen.
Verwechslungen können zu einem weit späteren Zeitpunkt wieder aktiviert werden, z.B. als Dissoziationsphänomene oder in psychotherapeutischen Situationen. Ein weiterer zentraler Prozess bei der Entwicklung des Selbst ist also die Entdeckung des anderen. Zumindest in der Ontogenese sind die Entdeckung des anderen und die Entstehung des Selbst spiegelbildliche Prozesse [hierzu insb. Altmeyer/Thomä 2006]. Man könnte sagen, dass die Liebe das Selbst entfaltet. Damit das Selbst entsteht, bedarf es also zusätzlich zur Körperwahrnehmung auch der sozialen Interaktion (Tschacher 1997: Prozessgestalten).
STERN: Affective Atunement - Gegenwartsmomente
Eine Reihe von Befunden spricht dafür, dass die Selbstdynamik in gewissen Abständen aktiviert und „kalibriert“ werden muss, um als Attraktor stabil zu bleiben und um die charakteristischen Muster der Persönlichkeit aufrechtzuerhalten. Das Vorhandensein selbst-erhaltender Prozesse kann man indirekt aus den Folgen ableiten, die sich bei Unterbrechung des Kalibrierungsprozesses einstellen: Reiz- und soziale Deprivation, wie z.B. langer induzierter Tiefschlaf oder der Aufenthalt im Samadhi-Tank, können zu Depersonalisationsreaktionen führen. Kalibrierende Funktion haben zum einen die Prozesse, die über soziale Interaktion vermittelt werden. Soziale Bindungen beziehen sich über einen Interaktionspartner rekursiv auf die eigene Person und das eigene Verhalten.
WINNICOTT/KOHUT: "Der Glanz im Auge der Mutter"
Die Widerspiegelung im anderen Selbst hilft auch auf emotionaler Ebene das eigene Selbst zu stabilisieren. Die gefühlsbezogene Selbst-Kalibrierung geschieht im Rahmen von Liebe, Mitleid [? M.F.] und Empathie.
Selbst-Bewusstsein kann also durch die Erfahrung einer sozialen Bindung entstehen: Das Selbst wird logisch möglich, ja notwendig, weil es ein Gegenüber gibt, in dem sich das Kind widergespiegelt findet [vgl. auch Ubuntu in Kap. 9: "Ich bin weil Du bist"]. Das Kind muss sich dabei auf den Partner einlassen und sich danach wieder von ihm lösen können. Dieser Doppelschritt besitzt auch für das erwachsene, selbst-bewusste Individuum eine wichtige, die Individualität aufrechterhaltende (kalibrierende) Funktion.
BENJAMIN: Anerkennungsparadoxon - WILLI: Ko-Evolution - GRIESER: Triangulierung
Liebe könnte man entlang dieser Spur definieren: als Eigenschaft eines Systems zweier Individuen, die wechselseitig diesen Prozess (sich widergespiegelt finden und wieder lösen) mit positivem Affekt koppeln (distinction und participation: Kyselo 2011). Liebe ist ein gemeinsames (koevolutives) Nähe-Distanz-Spiel, in dem es um die soziale Synchronisation des Abgrenzens und Oeffnens geht. Ein ähnliches Spiel entsteht in einem System gegenseitiger „Uebertragung“ [hierzu: Kap. 10] in Psychotherapien" (Tschacher/Munt 2013, S. 26/27).
Den nächsten Abschnitt aus dem sehr lesenswerten Artikel "Das Selbst als Attraktor" gebe ich unkommentiert wider. Es geht u.a. um die Themen "Psychose und Identität", vgl. meine Ausführungen zu esoterischen Verschwörungstheorien in Kapitel 5:
Störungen des Selbst [Paradoxien, M.F.]
Jeder der obigen Punkte ist im Attraktorkonzept befriedigend berücksichtigt. Dennoch fehlt noch ein wichtiges Bestimmungsstück des psychologischen Selbst in unserer bisherigen Diskussion, nämlich die Selbstreferenz in Form von „Selbstreflexion“: das Bewusstsein, ein Selbst zu haben und/oder zu sein (Tschacher & Rössler, 1996).
Das „Selbst im Bewusstsein seiner selbst“ führt eine Operation durch, bei der es sowohl aktiv als auch passiv, sowohl Subjekt als auch Objekt ist. Karl Jaspers (1919) bezeichnete dies als die Subjekt-Objekt-Spaltung, einen „Grundbefund unseres denkenden Daseins“. Wenn nun aber das Selbst versucht, über sich selbst nachzudenken, entsteht eine Menge, die sich selbst zum Element hat. Whitehead und Russell (1913) haben gezeigt, dass solche Mengen fast stets in nicht auflösbare logische Widersprüche führen, in Paradoxien. Ist also das bewusste Selbst paradox?
Nicht notwendigerweise. Paradoxien sind nur möglich, wenn sprachliche Begriffe und Symbole sowie logische Verknüpfungen (wie zum Beispiel der Operator „Negation“)
vorhanden sind. Das bedeutet, dass ausschließlich das strukturelle Selbst von Problemen der Selbstreferenz betroffen sein kann. Ein Fluss von Ereignissen, wie er im prozessualen Selbst beschrieben ist, kann nicht paradox sein, da potenzielle Widersprüche in der zeitlichen Abfolge aufgelöst werden. Die Aussage „A und nicht-A sind gleichzeitig gegeben“ (strukturelles Selbst) ist paradox, nicht jedoch die Aussage „ und sind gegeben“ (prozessuales Selbst).
Selbstreflexion erhöht die Komplexität und Diversifikation des Selbst, mit anderen Worten labilisiert sie das Selbst. Dies gilt allgemein für alle selbstreferenten Systeme, die in Tschacher (1997) als Endosysteme bezeichnet werden. Das Ausmass der Selbstreferenz kann in verschiedenen Endosystemen unterschiedlich ausfallen, es handelt sich also nicht um eine Alles-oder-nichts-Eigenschaft. So sind etwa manche soziale Systeme, beispielsweise Märkte und Börsen, hochgradig „endosystemisch“, was dazu führt, dass in ihnen keine stabilen Musterbildungsprozesse zu erwarten sind (Tschacher/Tröndle 2011) und naturgemäß Vorhersagen über künftiges Verhalten erschwert sind.
Ein anderes Beispiel liefern die bisherigen Versuche zur künstlichen Intelligenz, denen gänzlich die Fähigkeit zur Gestaltbildung fehlt (Tschacher in Storch et al., 2010) [siehe auch mein eigener Beitrag zur "Visualität und Künstlichkeit" weiter unten in diesem Kapitel]: Letztendlich scheiterten diese Versuche daran, dass Maschinen nicht erleben. Sie sind gänzlich im Symbolischen und Strukturellen gefangen, ohne dass die Symbole auf Erlebtes verweisen [m.E. durchaus vergleichbar dem "falschen Selbst", siehe unten im "Embodiment"-Abschnitt].
Mit anderen Worten, es fehlt dem künstlich-intelligenten System die Öffnung zum Prozessualen, zum Erlebten. Aber erst das Erleben füllt die Symbole mit Sinn; das Erleben kann verstanden werden als der Inhalt des Strukturellen.
Am anderen Ende des Kontinuums „sprachlich-strukturell“ versus „prozessual“ stünde ein System mit geringen strukturellen Aspekten. Wir können annehmen, dass Tiere, die den Spiegeltest nicht bestehen, solche Systeme sind. Sprachlich basierte Selbstreflexion ist ausgeschlossen, auch wenn ein phänomenologisches Bewusstsein den Strom des im Hier und Jetzt Erlebten erfasst; strukturelle Elemente wie Sprache oder andere Symbolhandhabung fehlen (Heylighen, 2009). Erst das selbstreflektierende Bewusstsein (access consciousness) ermöglicht die Entwicklung der Sprache und damit das Reflektieren von Erlebtem sowie die Entwicklung des Ich-Bewusstseins als eine durch Vergangenheit und Zukunft kontinuierliche Gestalt.
Das Entstehen des selbstreflektierenden Bewusstseins kann somit als Vertreibung aus dem Paradies verstanden werden, wie es das alte Testament andeutet: Erkenntnis, also die Fähigkeit des Reflektierens, verbaut das sorglos-sinnliche Hier-und-jetzt-Erleben. Mehr noch, die daraus resultierende Selbstreferenz, wenn übermäßig betrieben, schafft die Grundlage zu depressogener Rumination [in etwa: zwanghaftes Grübeln], macht also potenziell krank. Auf psychologischer Ebene geht es also darum, ein gesundes Gleichgewicht zu finden zwischen prozessualen und sprachlich-strukturellen Selbstanteilen.
In aller Regel verbleibt als Charakteristikum des Selbst, obgleich als Endosystem destabilisierbar und sprachlich-strukturell durch Subjekt-Objekt-Spaltung gefährdet, seine attrahierende Eigenschaft:
das Selbst erzeugt Ordnung in Gestalt eines überdauernden Erlebens von „Identität“.
Diese kontinuierliche Musterbildung findet trotz der grossen Komplexität zu verarbeitender Umgebungsinformationen sowie intern erzeugter kognitiver Ereignisse statt. Offensichtlich muss also ein Ordnungsprozess den Komplexitätszuwachs des sich seiner immer wieder bewussten Selbst austarieren – wir stossen hier also wieder einerseits auf die selbstorganisierende Funktion des kognitiven Selbstsystems, andererseits auf die kalibrierende Funktion der Körper- und Sozialwahrnehmung.
Störungen des Selbst [Psychosen, M.F.]
Wenn sich das Selbst nicht optimal entwickeln konnte, wenn die Selbstkalibrierung unterbrochen wird oder gar strukturelle Selbstelemente durch Traumata zerstört werden, kommt es zu Störungen des Selbst. Diese finden sich in zahlreichen psychopathologischen Symptomen, bei Dissoziation, Persönlichkeitsstörungen, familiärer Verstrickung, Essstörungen (Körperschema bei der Anorexia nervosa); inbesondere für Erkrankungen des Schizophreniespektrums sind Ich-Störungen kennzeichnend (Scharfetter 1995).
Verschiedene Möglichkeiten einer Labilisierung des Selbst in der Psychopathologie der Psychose sind nach der Theorie des Selbstattraktors möglich. Wenden wir die in Abbildung 1 [siehe weiter oben] beschriebene Schüssel-Ball-Metapher an, dann könnte man sich bei unterschiedlichen Psychopathologien unterschiedliche Schüsselkrümmungen vorstellen: etwa bei Persönlichkeitsstörungen mit rigider und wenig anpassungsfähiger Persönlichkeitsstruktur eine spitz zulaufende Schüssel, oder bei Schizophrenien eine flache Schüssel.
Bei den Schizophrenien hat dies zur Folge, dass bei Einflüssen von außen der Ball sehr lange braucht, um zurück zum Gleichgewichtszustand zu finden. Das Selbst als Attraktor hat zu wenig attrahierende Kraft. Die betroffene Person könnte versuchen, diesem Gleichgewichtsverlust vorzubeugen oder für ihn zu kompensieren, indem sie sich gegenüber Einwirkungen von aussen isoliert. Dies aber führt unter Umständen zu einem erhöhten endosystemischen Anteil, also zu angeheizter Selbstreferenz, was die Fragmentierung im kognitiven System noch erhöht und die Attraktorstabilität weiter reduziert. Funktionen, die nur durch ein integriertes, einheitliches Selbst aufrechterhalten werden können (z.B. die Selbst-Fremd-Erkennung), können verloren gehen. Die Sensibilität Schizophrener gegenüber Kommunikationsstilen, die Unklarheiten und Vermengungen der logischen Bezugsebenen enthalten (Inkongruenz bis hin zum sogenannten Double-Bind) fügt sich in dieses Bild, denn gerade logisch-sprachliche 'binds' erzwingen eine selbstreferente Endo-Perspektive.
Ein weiterer Hinweis auf eine angeheizte Selbstreferenz ist, dass sich im Verlauf einer psychotischen Episode die kognitive Musterbildung mehrmals verändert; im präpsychotischen Zustand wird oft ein Zerfall der Bedeutungshaftigkeit („Gestaltverlust“, Derealisation) der Welt berichtet (Sass/Parnas 2003). Manchmal findet sich auch eine Verschiebung der Bedeutung auf zuvor unbeachtete Details. Den Derealisationsprozessen in prodromalen Zuständen folgt häufig ein selbstorganisierter Aufbau neuer wahnhafter und bizarrer Bedeutungen.
Diese neue, für eine gewisse Zeit wieder kohärentere Welt des Individuums im Wahnzustand ersetzt den „normalen“ Selbstattraktor. Wahninhalte wirken dann besonders bizarr, wenn das Selbst im Rahmen der wahnhaften Bearbeitung wieder auftaucht. Häufig wird das extrem angstauslösende Erlebnis der Depersonalisation zu Beginn des psychotischen Schubs in der neuen Selbstgestalt thematisiert (der Betroffene kann sich für jemand anders, für tot, für eine Maschine usw. halten; halluzinierte Stimmen kommentieren in der Regel den Betroffenen selbst). Charakteristischerweise ist der neue Selbstattraktor weniger stabil und adaptiv als das prämorbide Selbst.
Zudem funktioniert die soziale Kalibrierung des Selbst bei Personen mit Schizophrenie unzureichend. In der Interaktion mit Betroffenen finden sich viele Hinweise auf ein verändertes Sozialverhalten und -erleben als zentrales Merkmal der psychotischen Funktionsweise. Die soziale Kognition ist entsprechend zunehmend zu einem zentralen Thema der Schizophrenieforschung geworden (Schmidt/Mueller/Roder 2011). Ein solches Phänomen weist eine Verwandtschaft zur „Entgrenzung“ und zur Labilisierung des Selbst auf: Schizophrene können die eigene Selbst-Perspektive schnell verlassen, es gelingt ihnen in der Regel leicht, sich in andere Menschen hineinzufühlen und sich zu identifizieren, zu „verschmelzen“. Man mag sich das soziale Netz einer Person als Aneinanderreihung schüsselähnlicher Vertiefungen des Phasenraumes vorstellen. Im Falle des schizophrenen Verschmelzens hat der Ball den eigenen, allzu flachen Attraktor verlassen und Gleichgewicht in einer benachbarten „Schüssel“ gefunden. Es scheint daher, als führe das soziale Mitgehen nicht mehr zur Selbst-Kalibrierung. So ist die Vermeidung sozialen Kontakts überhaupt bei psychotischen Zuständen häufig. Auch diese Vermeidung ist mit der Labilisierungshypothese kompatibel: Der andere ist potenziell gefährlich, wenn das eigene Selbst gefährdet ist. Beide Formen von „Bewältigung“ (Verschmelzen und Rückzug) haben zur Folge, dass die soziale Kalibrierung des Selbst unterbleibt und in der Art eines Circulus vitiosus ein schon vulnerables Selbst auf Dauer dysfunktional wird. (Tschacher/Munt 2013 S.27-30, Literaturangaben siehe weiter unten im Embodiment-Unterkapitel).
Bedürfnisbefriedigung und psychische Gesundheit - Menschliche Grundbedürfnisse
Ich schliesse mich im folgenden dem leider viel zu früh verstorbenen Prof. Klaus Grawe an [er war mir ein wichtiger und geschätzter Hochschullehrer], der sich in seiner Konsistenztheorie des Selbst stark an Seymour Epsteins „Cognitive-Experiential Self-Theory (CEST)" (1990, 1993) angelehnt und orientiert hat. Deshalb zuerst kurz zu Epsteins postulierten Grundbedürfnissen und danach wie diese in Grawes Konsistenztheorie (siehe auch Kapitel 5: "kognitive Dissonanz und deren Reduktion") eingebaut werden:
Seymour Epstein (1990) unterscheidet vier Grundbedürfnisse:
- ein Bedürfnis nach Orientierung, Kontrolle und Kohärenz
- ein Bedürfnis nach Lust
- ein Bedürfnis nach Bindung
- ein Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung.
Das Bedürfnis nach Bindung war im ersten Entwurf seiner Theorie noch nicht enthalten [Hierzu mehr in Kapitel 4: "Entwicklung und Bindung"]. Er fügte es erst später zu und das war gut so, denn es gehört zu den am besten belegten Grundbedürfnissen. Ich halte Epsteins Konzeption der Grundbedürfnisse in einem Punkt für veränderungsbedürftig. Dieser Punkt ist allerdings recht essenziell, denn er hängt mit einem ganz zentralen Prinzip des psychischen Funktionierens zusammen, das man nicht einfach einem der vier auf geführten Grundbedürfnisse zuordnen kann. Er betrifft das, was Epstein als Bedürfnis nach Kohärenz bezeichnet und was ich nachfolgend als Konsistenzprinzip bezeichnen werde.
Konsistenzregulation als Grundprinzip des psychischen Funktionierens
Der Begriff Konsistenz bezieht sich auf einen Zustand des Organismus. Er meint die Uebereinstimmung bzw. Vereinbarkeit der gleichzeitig ablaufenden neuronalen/psychischen Prozesse. Die Grundbedürfnisse beziehen sich auf Erfahrungen, die der Organismus in seiner Interaktion mit der Lebensumgebung macht. Ihnen können bestimmte Wahrnehmungen zugeordnet werden, die im Hinblick auf das jeweilige Bedürfnis eine positive oder negative Bedeutung haben. Das ist bezüglich Konsistenz nicht der Fall.
Konsistenz bezieht sich auf die Relationen intrapsychischer Prozesse und Zustände untereinander. Bedürfnisse werden befriedigt oder verletzt durch einschlägige sensorische Erfahrungen. Es gibt aber keine spezifischen sensorischen Erfahrungen, die ein Bedürfnis nach Konsistenz befriedigen. Obwohl der menschliche Organismus Zustände von Konsistenz stark bevorzugt und viele Mechanismen entwickelt hat, um Inkonsistenz zu vermeiden, obwohl also das psychische System sich so verhält, als ob es nach Konsistenz strebe und obwohl dauerhafte Zustände von Inkonsistenz Wohlergehen und Gesundheit stark beeinträchtigen, kann Konsistenz nicht einfach neben die anderen Grundbedürfnisse gestellt werden. Man könnte eher von einem grundlegenden Prinzip der innerorganismischen Regulation sprechen, das allen Einzelbedürfnissen übergeordnet ist. Wenn man Grundbedürfnisse als Erfordernisse der menschlichen Existenz ansieht, als Bedingungen dafür, dass ein Mensch gut gedeihen kann, dann könnte man auch ein „Streben nach Konsistenz" als ein menschliches Grundbedürfnis bezeichnen. Ich ziehe es aus den genannten Gründen jedoch vor, bei der Konsistenz von einem Grundprinzip des psychischen Funktionierens zu sprechen. Sie ist eine Anforderung oder Bedingung für ein gutes psychisches Funktionieren und damit auch eine Bedingung für eine gute Befriedigung der Grundbedürfnisse. Wenn diese Bedingung schwer verletzt wird, hat das weitreichende Folgen für das Wohlergehen des betreffenden Menschen.
Dass Konsistenzregulation eine sehr wichtige Rolle im psychischen Geschehen spielen muss, ist mir im Rahmen der Arbeit an meinem letzten Buch „Psychologische Therapie" (Grawe, 1998) klar geworden. Schon dort war ich auf Grund der vorliegenden neurowissenschaftlichen und psychologischen Befunde davon ausgegangen, dass dem psychischen Geschehen sehr viele parallel ablaufende Prozesse zu Grunde liegen und dass sich damit die Frage der Vereinbarkeit dieser Prozesse miteinander stellt. Nachdem ich erst einmal. angefangen hatte, mir diese Frage zu stellen, wurde mir immer klarer, dass die Regulation der gleichzeitig ablaufenden neuronalen Prozesse von ganz grundlegender Bedeutung für die Sichtweise des psychischen Funktionierens ist. Diese Frage hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Heute kann ich wesentlich mehr empirisch fundierte Argumente für die Bedeutung der Konsistenzregulation im psychischen Geschehen, für die psychische Gesundheit und letztlich auch für die Psychotherapie anführen, als es mir damals möglich war.
Die Konsistenzregulation kann nicht losgelöst von der zielorientierten Aktivität des Organismus betrachtet werden und diese ist wiederum maßgeblich auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse ausgerichtet. Deshalb hängen Konsistenzregulation und Bedürfnisbefriedigung eng miteinander zusammen. Das Bindeglied zwischen ihnen ist das Konstrukt der Kongruenz, die Uebereinstimmung zwischen aktuellen motivationalen Zielen und realen Wahrnehmungen. Um Klarheit zu schaffen, wie ich diese Konstrukte verstehe und voneinander unterscheide, werde ich im nächsten Abschnitt zunächst einmal die Rolle der Grundbedürfnisse und der Konsistenzregulation im psychischen/neuronalen Geschehen zueinander ins Verhältnis setzen und konzipieren, in welcher Weise sie das Erleben und Verhalten eines Menschen bestimmen. Erst nachdem ich diesen Ueberblick gegeben habe, werde ich die einzelnen Teile dieser Konzeption ausführlich begründen.
Grundbedürfnisse, Konsistenzregulation, motivationale Schemata und Inkongruenz
Die nachfolgende Darstellung knüpft an eine Sichtweise des psychischen Funktionierens an, die ich in meinem letzten Buch „Psychologische Therapie" (Grawe, 1998) entwickelt habe. Diese Sichtweise ist hergeleitet aus Befunden und Modellen, die in der empirisch ausgerichteten Psychologie weite Akzeptanz besitzen. Sie beinhaltet u.a., dass die psychische Aktivität von Zielen bestimmt ist, dass sich im Verlaufe der psychischen Entwicklung Schemata herausbilden, die gewissermaßen als Ordnungsmuster der psychischen Aktivität angesehen werden können, und dass die zielgeleitete psychische Aktivität hierarchisch organisiert ist. Diese Auffassungen stellen sozusagen „Mainstreampsychologie" dar. Nicht ganz so sehr im Mainstream ist die Auffassung, dass die Ziele, die ein Mensch im Laufe seines Lebens herausbildet, letztlich der Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse dienen. Diese Sicht und die Festlegung auf bestimmte Grundbedürfnisse hebt sich etwas aus der Mainstreampsychologie ab, bewegt sich aber durchaus in ihrem Rahmen. Beispiele für solche Konzeptionen sind Epsteins (1990) „Cognitive-Experiential Self-Theory" und die „Self-Determination Theory" von Deci und Ryan (2000).
Dass im psychischen System gleichzeitig immer sehr viele Prozesse parallel ablaufen, wird wahrscheinlich von den wenigsten PsychologInnen bestritten, aber was für Konsequenzen sich daraus für das psychische Funktionieren ergeben, ist nur in wenigen psychologischen Ansätzen ausdrücklich thematisiert worden. Eine Ausnahme davon sind konnektionistische Ansätze, die die Annahme einer massiv distributiv-parallelen Informationsverarbeitung zur Grundlage ihres theoretischen und methodischen Zugangs gemacht haben (z.B. Caspar 1992). Das Konstrukt der Konsistenz stellt den Aspekt der Vereinbarkeit der vielen gleichzeitig ablaufenden psychischen Prozesse ins Zentrum und stellt damit eine Verbindung von konnektionistischen Grundannahmen und solchen Modellen her, die sich mit der Konflikthaftigkeit und Dissonanz psychischer Prozesse befassen. Solche Ansätze haben in der Psychologie eine lange Tradition (z.B. Festinger 1957). Sie gehören gegenwärtig aber nicht zu den besonders virulenten Forschungsgebieten.
Die spezifische Sicht von Konsistenz, die ich nachfolgend über den in meinem letzten Buch ausgeführten Stand hinaus entwickle, ist in dieser Art neu und kann insofern als ein eigener theoretischer Ansatz angesehen werden. Wenn ich im Folgenden von Konsistenztheorie oder konsistenztheoretisch spreche, meine ich die nachfolgend entwickelte Sicht des psychischen Funktionierens. Diese Sicht hat viele Elemente mit anderen theoretischen Ansätzen gemein, von denen sie meist auch übernommen wurden. Als ganze ist sie jedoch neu. Bei der Entwicklung dieses Ansatzes hat von Anfang an eine neurowissenschaftliche Sicht des psychischen Geschehens Pate gestanden (Grawe 1998), aber die neurowissenschaftliche Begründung dieser Sichtweise erschien mir selbst zu wenig detailliert und in die Tiefe gehend ausgearbeitet. Nachdem ich in den vorangegangenen Kapiteln die Grundlage dafür gelegt habe, werde ich in diesem Kapitel nun die konsistenztheoretische Sicht des psychischen Funktionierens unter möglichst engem Bezug auf seine neuronalen Grundlagen detailliert elaborieren, um sie am Ende dieses Kapitels auf die Entstehung psychischer Störungen anzuwenden und im nächsten Kapitel auf die Problemstellungen der Psychotherapie.
Bevor ich ins Detail gehe, gebe ich in diesem Abschnitt zunächst einen Ueberblick über die wichtigsten Konstrukte der Konsistenztheorie und ihre Zusammenhänge miteinander. In Abbildung 4.1 ist der Kern des konsistenztheoretischen Modells im Ueberblick dargestellt. Das Erleben und Verhalten eines Menschen wird unmittelbar von seinen motivationalen Schemata bestimmt. Die motivationalen Schemata sind die Mittel, die das Individuum im Laufe seines Lebens entwickelt, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen und sie vor Verletzung zu schützen. Entsprechend gibt es annähernde und vermeidende motivationale Schemata. Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, die ganz auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse eingestellt ist, wird er hauptsächlich annähernde motivationale Ziele entwickeln und erwirbt viel Erfahrung mit ihrer positiven Befriedigung. Dazu gehören entsprechende Erwartungen und ein differenziertes Verhaltensrepertoire zur Realisierung der Ziele unter verschiedenen Bedingungen. W ächst ein Mensch dagegen in einer Umgebung auf, in der seine Grundbedürfnisse immer wieder verletzt, bedroht oder enttäuscht werden, entwickelt er Vermeidungsschemata, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. In einer tatsächlich verletzenden Umgebung kann Vermeidung als angepasstes Verhalten angesehen werden. Stark ausgeprägte Vermeidungsschemata verstellen jedoch später den Weg zur positiven Bedürfnisbefriedigung auch in Situationen, die eigentlich dafür geeignet wären, weil die Situationen eher die besser gebahnten vermeidenden als annähernde Tendenzen aktivieren.

Quelle: Grawe, Klaus (2005). Neuropsychotherapie, S. 189
Auf der untersten Ebene des Modells, der des situativen Erlebens und Verhaltens, entstehen im Verlaufe der Interaktionen des Individuums mit seiner Umgebung kontinuierlich Wahrnehmungen darüber, inwieweit die jeweils aktivierten motivationalen Ziele erreicht oder verfehlt werden. Diese Rückmeldungen werden in Übereinstimmung mit Powers' Kontrolltheorie (1973) als Inkongruenzsignale bezeichnet. Zielerreichung geht mit positiven Emotionen, Inkongruenz mit negativen Emotionen einher.
Ueberwiegt die Vermeidung die Annäherung, d.h. hemmen die stärker gebahnte Vermeidungstendenzen die gleichzeitig aktivierten, aber schwächer gebahnten Annäherungstendenzen, entstehen Inkongruenzsignale bezüglich der unerfüllten Annäherungsziele. In diesem Fall besteht eine Annäherungsinkongruenz. Wenn es nicht gelingt, die befürchteten Erfahrungen zu vermeiden, wenn also das Schlimme wirklich eintritt, entsteht Vermeidungsinkongruenz.
Annähernde und vermeidende Tendenzen können auch gleichzeitig aktiviert werden und sich gegenseitig hemmen. In diesem Fall kann von einem motivationalen Konflikt oder von motivationaler Diskordanz gesprochen werden. Es kommt zu Inkongruenzsignalen bezüglich beider, also annähernder und vermeidender Ziele. Motivationale Konflikte führen also zu Inkongruenz. Diskordanz kann auch zwischen gleichzeitig aktivierten Annäherungszielen (Annäherungs/Annäherungs-Konflikten) oder gleichzeitig aktivierten Vermeidungszielen (Vermeidungs/Vermeidungs-Konflikten) bestehen.
Diskordanz und Inkongruenz stellen zwei besonders wichtige Formen von Inkonsistenz im psychischen Geschehen dar. Diskordanz meint die Nichtvereinbarkeit zweier oder mehrerer gleichzeitig aktivierter motivationaler Tendenzen, Inkongruenz die Nichtübereinstimmung der realen Erfahrungen mit den aktivierten motivationalen Zielen. In beiden Fällen sind gleichzeitig neuronale Erregungsmuster aktiviert, die nicht miteinander vereinbar sind. In Abschnitt 4.8 werden wir weitere Beispiele für Inkonsistenzen im psychischen Geschehen kennen lernen. Diskordanz und Inkongruenz sind für die psychische Gesundheit deswegen besonders wichtig, weil sie mit der Aktivierung wichtiger motivationaler Ziele verbunden sind, und die Aktivierung wichtiger Ziele geht immer mit starken Emotionen einher.
Die zielorientierte Aktivität, die Inkongruenzsignale und die sie begleitenden Emotionen können im expliziten und im impliziten Funktionsmodus, also bewusst und unbewusst, ablaufen. Eine kontinuierliche oder sich andauernd wiederholende Verfehlung der Annäherungs- und Vermeidungsziele führt zu einem hohen Inkongruenzniveau. Das geht einher mit einem andauernd erhöhten Pegel negativer Emotionen. Wenn diese Emotionen bewusst erlebt werden, können das etwa Angst, Enttäuschung oder Ärger sein. Wir wissen aus den Ausführungen zu Angstreaktionen in Kapitel 2, dass sich Emotionen nicht nur als subjektiv erlebtes Gefühl äußern, sondern dass ihre Aktivierung zu einer ganzen Kaskade physiologischer, hormoneller und neuronaler Reaktionen führt, unabhängig davon, ob ein subjektiv klar erlebtes Gefühl eintritt. Ein erhöhtes Inkongruenzniveau ist daher als ein höchst komplexer Stresszustand anzusehen. Den negativen Auswirkungen eines dauerhaft zu hohen Stresslevels sind wir schon an mehreren Stellen begegnet. Ich werde in Abschnitt 4.5.2 auf das Verhältnis von Inkongruenz und Stress ausführlich eingehen.
Wenn wir das Modell in Abbildung 4.1 als ganzes betrachten, gibt es zwei „Beweger" des psychischen Geschehens: das Streben nach Kongruenz und das Streben nach Konsistenz. Das psychische Geschehen ist fortwährend darauf ausgerichtet, Wahrnehmungen im Sinne aktivierter motivationaler Ziele zu machen. Hinter den motivationalen Zielen stehen die Grundbedürfnisse. Sie nehmen nicht direkt auf das Verhalten Einfluss, sondern über die motivationalen Ziele, die sich um sie herum entwickelt haben. Ziele und Verhalten sind im Unterschied zu Grundbedürfnissen auf konkrete Situationen oder Klassen von Situationen bezogen. In ihnen unterscheiden sich die Menschen auf Grund ihrer Lebenserfahrungen voneinander, in den Grundbedürfnissen jedoch nicht. Wie jeder Mensch zwei Arme und zwei Beine hat, hat jeder Mensch die gleichen Grundbedürfnisse.
Wie sich die Arme und Beine von Menschen unterscheiden, können sich Menschen in der absoluten und relativen Ausprägung der Grundbedürfnisse unterscheiden. Während der Organismus damit befasst ist, Wahrnehmungen im Sinne aktivierter Ziele herbeizuführen, kommt es wegen der Vielzahl der daran beteiligten Prozesse immer wieder zu Konstellationen, in denen gleichzeitig miteinander unvereinbare neuronale Prozesse aktiviert sind. Solche immer wiederkehrenden Zustände aktueller Inkonsistenz sind unvermeidlich. Inkonsistenz ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die gleichzeitig aktivierten Prozesse in ihrem Ablauf gegenseitig behindern. Deshalb beeinträchtigt Inkonsistenz die Wirksamkeit der Auseinandersetzung mit der Umgebung. Inkonsistenz, die längere Zeit aufrechterhalten bleibt, resultiert daher zusätzlich in Inkongruenz und damit in einer beeinträchtigten Bedürfnisbefriedigung.
Inkonsistenz ist ein Zustand, der vom Organismus stark vermieden wird. Das menschliche psychische System hat alle möglichen Mechanismen herausgebildet, um Inkonsistenz zu vermeiden oder zu beseitigen. Diese Mechanismen haben, wie alle anderen psychischen Abläufe, eine neuronale Grundlage. Darauf gehe ich in Abschnitt 4.8 ein. Wenn man Inkongruenz als eine spezifische Form der Inkonsistenz betrachtet, weil gleichzeitig miteinander unvereinbare psychische Prozesse, nämlich Ziele, Erwartungen und reale Wahrnehmungen aktiviert sind, kommt man zur Formulierung, dass das Streben nach Konsistenz die eigentliche bewegende Kraft im neuronalen/psychischen Geschehen ist.
Das Streben nach Konsistenz, bzw. das Verhindern oder die Reduktion von Inkonsistenz, wird nur ausnahmsweise als bewusstes Ziel oder Motiv erlebt. Konsistenzregulation findet ganz überwiegend unbewusst statt und durchzieht so sehr das ganze psychische Geschehen, dass es angemessen erscheint, von einem obersten oder pervasiven- Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen.
Die Grundbedürfnisse definieren nach dieser Sicht die Kriterien, nach denen sich Konsistenz im psychischen Geschehen zu bemessen hat. Sie sind gewissermaßen Vorgaben, welche die Evolution dem menschlichen psychischen System gemacht hat. Wenn es diese Vorgaben erfüllt, gedeiht der Mensch, fühlt sich wohl, ist bei guter Gesundheit und wird sich mit höherer Wahrscheinlichkeit reproduzieren.
Eine gute Befriedigung der Grundbedürfnisse kann nur erreicht werden, wenn das Individuum flexible, erfolgreiche Mechanismen der Konsistenzregulation entwickelt. Aus dieser Sicht sind auch die motivationalen Schemata eines Menschen Mittel der Konsistenzregulation. Immer wenn ein Zustand von Inkongruenz auftritt, werden mit den betreff enden Zielen auch die Mittel, Pläne, Verhaltensweisen aktiviert, die sich bisher als geeignet erwiesen haben, Inkongruenz unter den gegebenen Bedingungen herabzuregulieren.
Umgebungsbezogenes, zielorientiertes Verhalten ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Inkonsistenz herabzuregulieren. Weil systeminteme Inkonsistenz einer guten Bedürfnisbefriedigung abträglich ist, kann man davon ausgehen, dass ein psychisches System im Verlaufe seiner Entwicklung Mechanismen herausbildet, die drohende Zustände zu großer Inkonsistenz verhindern oder, wenn sie eingetreten sind, herabregulieren. Für solche Konsistenzsicherungsmechanismen sind in der Psychologie unterschiedliche Begriffe gebildet worden, wie etwa Abwehrmechanismen, Coping, Emotionsregulation usw. Es handelt sich um Mechanismen, die ganz überwiegend automatisiert und ohne Bewusstsein ablaufen. Auch psychische Störungen bilden sich nach dieser Betrachtungsweise im Zuge der Konsistenzregulation heraus. Diese für die klinische Bedeutung der Konsistenztheorie zentrale Annahme wird in den Abschnitten 4.8 und 4.9 behandelt.
Traumatische Inkongruenzerfahrungen haben dauerhafte schädliche Auswirkungen. Sie führen zu einem Überwiegen von Vermeidungsschemata. Diese behindern die Möglichkeiten der positiven Bedürfnisbefriedigung und können so zu einem permanent erhöhten Inkongruenzniveau führen. Dieses geht mit schlechtem Wohlbefinden und schlechter psychischer Gesundheit einher. Traumatische Inkongruenzerfahrungen können darüber hinaus zu strukturellen und funktionellen Schäden im Gehirn führen und damit die Fähigkeit des Individuums einschränken, spätere Belastungen im Leben positiv zu bewältigen. Abschnitt 4.9 behandelt, wie diese Folgeschäden früherer Inkongruenzerfahrungen in späteren aktuellen Situationen erhöhter Inkonsistenz im psychischen Geschehen zur Ausbildung psychischer Störungen führen können.
In den nachfolgenden Abschnitten werden die einzelnen Teile dieser theoretischen Sichtweise detaillierter ausgeführt. Ich beginne mit einer genaueren Begründung der Wichtigkeit der oben aufgeführten Grundbedürfnisse für die inhaltliche Ausrichtung des psychischen Geschehens und für die psychische Gesundheit".
Quelle: Grawe, Klaus (2005). Neuropsychotherapie, S. 186-192
Wege zu einer interpersonellen Theorie des Selbst und der Persönlichkeit
Quelle: Fiedler, Peter (2007). Persönlichkeitsstörungen (6te Aufl.). Beltz, S. 79-89
Um das Triumvirat der Selbstkonzept-Forscher abzuschliessen, folgt nun noch der bereits im Narzissmus-Kapitel vorgestellte Prof. Fiedler, welcher die interpersonellen (so werden im Kognitiv-behavioralen Bereich die intersubjektiven Theorien benannt) Persönlichkeitstheorien sehr schön zusammenfasst:
"Es waren die Nachfolger von Harry Sullivan, die sich in den USA schon bald nach seinem Tod um eine Verankerung der Psychoanalyse an den Universitätskliniken und psychologischen Instituten bemühten. Gleichzeitig hatten sie damit begonnen, ihre Art Psychoanalyse einer empirisch orientierten wissenschaftlichen Erforschung zu unterziehen. Und immer wieder haben sich in den Jahrzehnten nach Sullivans Tod durch die Arbeiten aus dem Kreis der empirisch forschenden Psychoanalytiker auch die Forscher anderer Grundorientierung (vor allem der Verhaltenstherapie, der Kognitiven Therapie und der psychiatrischen Grundlagenforschung) durch seine interpersonelle Theorie anregen lassen (vgl. Safran, 1984). So ist u.a. aus einer Integration psychiatrischer Forschungsergebnisse und der interpersonellen Theorie Sullivans die Entwicklung der Interpersonellen Therapie der Depression hervorgegangen (Klerman et al., 1984)
Circumplex-Modelle
Angeregt durch die Arbeiten von Fromm und Sullivan versuchte als einer der Ersten Timothy Leary (1957) ein Strukturmodell für die Diagnostik interpersoneller Probleme zu begründen und dieses empirisch zu untermauern (-> Abbildung 4.1).
In diesem von Leary entworfenen Interpersonal Circle werden zwischenmenschlich bedeutsame Persönlichkeitseigenarten auf einer Ebene kreisförmig angeordnet und dabei von zwei Achsen (Dimensionen) abhängig betrachtet: auf einer vertikalen Statusachse können die Personeigenarten zwischen Dominanz und Unterwürfigkeit dimensioniert werden, auf einer horizontalen Achse zwischen Hass und Liebe. Je weiter die einzelnen Eigenarten in Richtung auf den Aussenkreis hin extremisieren, umso mehr nehmen sie die Qualität einer Charakter-bzw. Persönlichkeitsstörung an.
Persönlichkeitstypen und Persönlichkeitsstörungen
Learys Ordnungsversuch führt zu acht Persönlichkeitstypen, die im Originalkreismodell hinsichtlich einer milderen bzw. extremeren Ausprägungsform differenziert werden. Leary wählt jeweils zwei Begriffe zur Typenbezeichnung, wobei der erstere für die mildere und adaptivere Persönlichkeitseigenart eingesetzt wurde. Seine Persönlichkeitstypen lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
- Rebellisch-misstrauische Persönlichkeit: wird beherrscht von Gefühlen des Ressentiments und der Deprivation; Angst und Frustrationserfahrungen werden durch aktive Distanzierung von anderen bewältigt; neigt zu Zynismus, Bitterkeit und passivemWiderstand.
- Bescheiden-masochistische Persönlichkeit: zeichnet sich durch eine mäßigende und unprätentiöse Zurückhaltung aus, mit einer Tendenz, nicht greifbar und vertrauenswürdig erscheinen zu wollen.
- Gefügig-abhängige Persönlichkeit: ist primär submissiv und zeigt in ihrem Verhalten Freundlichkeit und Zuneigung.
- Kooperativ-förmliche Persönlichkeit: sehnt sich danach, von anderen geliebt und akzeptiert zu werden; dem entspricht eine extravertiert-histrionische Neigung zur Freundlichkeit und Geselligkeit.
- Verantwortlich-hypernormale Persönlichkeit: scheint ständig bemüht, ihre persönliche Integrität sowie selbstaufopferndes Verhalten und ständige Besorgtheit um andere beweisen zu müssen; strebt danach, einem inneren Ideal zu entsprechen oder vermeintlichen sozialen Ansprüchen Genüge zu tun.
- Führend-selbstherrliche Persönlichkeit: ist erkennbar an einem „Flair“ von Strenge und Selbstvertrauen, mit dem sie sich umgibt; in Gruppen betont sie ihren Anspruch auf Führerschaft und verlangt Respekt und Gehorsam.
- Konkurrierend-narzisstische Persönlichkeit: wird als stolz, unabhängig und sich selbst überhöhend beschrieben; Menschen ihrer Umgebung werden herablassend behandelt und in submissive Positionen gedrängt.
- Aggressiv-sadistische Persönlichkeit: bezeichnet einen Menschen, der mit kalter Härte und vorrangig strafend auftritt – immer bereit, andere zu verspotten; diese Art provoziert nicht selten Angst bei anderen Menschen, wenn die eigene, jedoch nur scheinbare Macht ausgespielt wird.
In der zirkulären Anordnung korrelieren benachbarte Kategorien hoch positiv miteinander, während zwischen im Kreis entgegengesetzten Kategorien hohe negative Korrelationen bestehen. Diese Zusammenhangsbeziehungen hat Leary selbst bereits empirisch zu untermauern versucht (1957). Kritisch eingewandt wurde, dass das Modell die gegebene Komplexität interaktioneller und charakterlicher Eigenarten zu sehr vereinfache, indem diese auf (nur) zwei oder drei Grunddimensionen hin in eine Anordnung gebracht würden.
Nachfolgestudien. Insgesamt haben jedoch alle Nachfolgeuntersuchungen, die sich zumeist faktorenanalytischer Designs bedienten, ausnahmslos die semantische Struktur von Learys Modell rekonstruiert (z.B. Schaefer 1959; Becker/Krug 1964; Horowitz 1979; Wiggins 1979; Conte/Plutchik 1981; Kiesler 1983; Benjamin 1986; Paddock/Novicki 1986; zusammenfassend Wiggins/Broughton 1985). Immer wieder fand sich bestätigt, dass jene zwei Dimensionen des Status („Dominanz“ versus „Unterwürfigkeit“) und der Zuneigung („Liebe“ versus „Hass“) die größten Anteile der Varianz der Beurteilung von interpersonellen Persönlichkeitsmerkmalen aufklären konnten.
Nachfolgend sollen diese Fortentwicklungen anhand dreier ausgewählter Beispiele kurz beschrieben und illustriert werden. Es handelt sich um den sog. Interpersonellen
Zirkel von Kiesler (z.B. 1983), um das Inventory of Interpersonal Problems von Horowitz et al. (z.B. 1988/1994) und schließlich um die Structural Analysis of Social Behavior von Benjamin (z.B. 1995) – drei Verfahren, deren Konzept und Methodik zwischenzeitlich weltweite Verbreitung und Anerkennung gefunden haben.
Der Interpersonelle Zirkel (IPC) von Kiesler
Das Circumplex-Modell von Kiesler (1983, 1986) schliesst unmittelbar an die Vorgaben von Leary an (?Abbildung 4.2). Wie Sullivan (1953) geht Kiesler davon
aus, dass die Entwicklung von Persönlichkeitseinseitigkeiten und Persönlichkeitsstörungen auf einer interpersonellen Dynamik aufbaut, die Menschen dazu
führt, maladaptive Beziehungen zu wiederholen. Obwohl diese maladaptiven Beziehungsmuster häufig als schmerzhaft erlebt werden, bleiben sie bestehen, weil
Alternativen nicht oder nur unzureichend gelernt wurden und damit prinzipiell eine Bedrohung des Selbst(bildes/-konzeptes) darstellen.
Kiesler geht bei seinen Überlegungen von zwei Postulaten aus, die sich zwischenzeitlich in der Forschung bestätigt haben:
- Postulat 1 besagt, dass alle interpersonellen Verhaltensweisen entlang der beiden Hauptachsen eines zweidimensionalen Raumes beschreibbar sind: Die
eine Dimension (der Zuneigung und Fürsorge) reicht von feindseligem bis zu freundlichem oder liebevollem Verhalten, die zweite (Macht, Kontrolle, Dominanz)
reicht von unterwürfigem bis zu dominantem Verhalten.
- Postulat 2 besagt, dass zwei miteinander interagierende Personen ihr Verhalten gegenseitig beeinflussen. Dieses Prinzip trägt dazu bei, dass die im Circumplex einzuordnenden Handlungen spezifische Reaktionen bei anderen Personen herausfordern oder hervorrufen.
Komplementarität: Gewöhnlich besteht eine Komplementarität. Damit ist gemeint, dass sich die Handlungsmuster ähnlich sind im Hinblick auf die Zuneigungsdimension
(freundlich–feindselig) und reziprok im Hinblick auf die Kontrolldimension (dominant–unterwürfig) des interpersonellen Zirkels. Konkret in das Modell übertragen führt dominant-feindseliges Verhalten (z.B. „konkurrierend, verachtend-rivalisierend“) zu submissiv-feindseligen Reaktionen („unsicher, demütig-hilflos“); und dominant-freundliches Verhalten (z.B. „gesellig“) führt zu eher submissiv-freundlichen Reaktionen („warmherzig-akzeptierend“). Komplementarität scheint die zwischenmenschlichen Bedürfnisse der Interaktionsteilnehmer am ehesten zu befriedigen. Andererseits bestehen unflexible Komplementaritätsverschränkungen, die in einen hilflos machenden Circulus vitiosus entgleiten können. [Hierzu gibt es konkrete Beispiele im Psychotherapie-Kapitel 10]
Das Inventar zur Erfassung interpersoneller Probleme (IIP-C/-D) von Horowitz
Entsprechend der Modellvorgaben des interpersonellen Zirkels von Leary bzw. Kiesler aufgebaut ist auch das Circumplex-Modell von Leonard Horowitz, der seit Anfang der 1980er-Jahre an der Fortentwicklung eines Fragebogeninventars zur Erfassung interpersoneller Probleme arbeitet (vgl. z.B. Horowitz et al. 1988). Inzwischen gilt dieses Inventory of Interpersonal Problems (IIP-C/-D) u.a. wegen seiner Akzeptanz durch Patienten als eines der brauchbarsten Selbstbeurteilungsverfahren zur Diagnostik und Bewertung interaktioneller Probleme und Persönlichkeitseigenarten (Horowitz et al. 1993; -> Abbildung 4.3).
Das Circumplex-Modell von Horowitz unterscheidet interaktionelle Persönlichkeitszüge und deren extremisierte Eigenarten (als Persönlichkeitsstörungen).
Das Fragebogeninventar interpersoneller Probleme ermöglicht es, spezifische Beziehungsmuster wie deren Problemaspekte zu identifizieren. Da es recht sensitiv auf persönliche Änderungen anspricht, erlaubt es weiter, deren Verlaufseigenarten zu überprüfen, weshalb dieser Fragebogen für eine Therapieverlaufskontrolle eingesetzt werden kann (vgl. Grawe/Braun 1994). In den testtheoretischen Prüfungen dieses Verfahrens fand sich wiederholt bestätigt, dass sich die interaktionellen Eigenarten von Probanden bzw. Patienten (u.a. faktorenanalytisch mit einer Gesamtvarianzklärung von jeweils mehr als 75 Prozent) den zwei zentralen Faktoren zuordnen lassen (Horowitz et al. 1988, 1993).
Persönlichkeitsstörungen: Es sind inzwischen einige Versuche unternommen worden, die prototypischen Interaktionseigenarten der DSM-Persönlichkeitsstörungen innerhalb des zweidimensionalen IIP-Modells zu verorten (vgl. Widiger/Frances 1985; McLemore/Brokaw 1987; Soldz et al. 1993; Pilkonis et al. 1996). Relativ gut gelingt dies beispielsweise für die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, deren feindselig-unterwürfige Verhaltensmuster in den Kategorien des linken unteren Circumplex-Bereiches einzuordnen wären (sozial-vermeidend und zurückweisend). Eindeutig zuordnen lassen sich weiter die schizoide (sozialvermeidend und zurückweisend), die paranoide (konkurrierend, zu streitsüchtig), die narzisstische (arrogant-rigide-selbstsicher), die dependente (nachgiebigausnutzbar) und die histrionische Persönlichkeitsstörung (aufdringlich-expressiv).
Andere Persönlichkeitsstörungen jedoch lassen sich nicht ganz so direkt innerhalb des Circumplexes verorten (vgl. Livesley/Jackson 1986; Romney/Brynner 1989; Soldz et al. 1993). Beispielsweise gelingt dies nicht sehr gut für die schizotypische Persönlichkeitsstörung, deren interpersonelle Eigenarten möglicherweise aus verschiedenen Dimensionsaspekten zusammengesetzt sind (sozialvermeidend und aufdringlich). Aehnliche Schwierigkeiten ergeben sich für die dissoziale Persönlichkeitsstörung, die offensichtlich eine Mischung unterschiedlicher Interaktionskategorien impliziert (kalt-abweisend, zu streitsüchtig und aufdringlich-expressiv).
Gewisse Probleme mit einer eindeutigen Zuordnung finden sich auch bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (vordergründig dem Bereich „sozial-vermeidend, introvertiert“ zuzuordnen), zu der Alden und Capreol (1993) jedoch zwei differenzierbare Untergruppen der „zu introvertierten, sozial-vermeidenden“ versus „zu ausnutzbaren, nachgiebigen“ (selbstunsicheren) Persönlichkeitsstörung identifizieren konnten.
Screeningverfahren: Schliesslich wurde der Versuch unternommen, das Horowitz-IIP als mögliches Screeningverfahren zur Identifikation von Persönlichkeitsstörungen
zu validieren (Pilkonis et al. 1996). Als Ergebnis wurden drei Subskalen aus dem Itempool des Verfahrens extrahiert, mit denen sich das Risiko des Vorhandenseins von Persönlichkeitsstörungen im Sinne eines Screenings recht gut voraussagen lässt. Besonders sensitive Einzelitems des IIP wurden in einer späteren Publikation mitgeteilt (Yookyung/Pilkonis 1999)
Die Strukturanalyse sozialer Beziehungen (SASB) von Lorna Smith Benjamin
Ein Nachteil der zweidimensionalen Anordnung liegt darin, dass innerpsychische Aspekte und Prozesse (wie Interessen, Selbstkonzept, Identität, Reziprozität der Beziehung) keine weitere Beachtung finden. Sie gehören jedoch ebenfalls zur genauen Diagnosestellung bei Persönlichkeitsstörungen zwingend dazu. Diese Nachteile der zweidimensionalen Circumplex-Modelle versuchte Lorna Benjamin (1974) mit ihrem Modell der Structural Analysis of Social Behavior (SASB) aufzuheben.
Benjamin hatte früh erkannt, dass sich die innerpsychische und interpersonelle Regulation von Beziehung dadurch bestimmt, wie die Betroffenen ihre interpersonelle Aufmerksamkeit verteilen. Die „Kontrolle“ (der Statusdimension) kann sich nämlich entweder auf den anderen oder auf sich selbst oder auf beide Aspekte beziehen. Das Gleiche gilt für „Liebe“ und „Hass“ (der Zuneigungsdimension), die eine Person jeweils gegenüber anderen und/oder gegenüber sich selbst zeigen und entwickeln kann. Benjamin differenziert innerhalb ihres Ansatzes also zusätzlich nach dem interpersonellen Aufmerksamkeitsfokus (Selbst- versus Objektbezogenheit). Zugleich erweitert sie ihr Beurteilungssystem noch um den Aspekt der innerpsychischen Regulation (-> Abbildung 4.4).
Fokus, Dimension, Cluster: Interaktionsmuster lassen sich mit der SASB nach drei Perspektiven des interpersonellen Verhaltens beurteilen, die als „Fokus“ bezeichnet werden: jeweils dimensional auf einer Zuneigungsdimension (jeweils horizontale Achse) und auf einer Statusdimension (jeweils vertikale Achse). Ihre Einordnung im Circumplex-Raum ergibt die entsprechende Zuordnung zu einem der Cluster. So führt beispielsweise die gleiche positive Ausprägung auf der Zuneigungs- und auf der Statusdimension im Fokusbereich „1“ (Andere) zum Cluster „1/2“: bestätigen, verstehen.
- Fokus 1 (Andere): Hier ist die interaktionelle Aufmerksamkeitsrichtung in der Interaktion auf den Interaktionspartner bezogen, die Haltung ist transitiv. Auf der Zuneigungsdimension kann sie zwischen „feindselig“ (extrem: „angreifen“) versus „freundlich-zugeneigt“ (extrem: „aktiv lieben“), auf der Statusdimension zwischen „Autonomie gewährend“ („emancipate“) und „Kontrolle ausübend“ („control“) beurteilt werden.
- Fokus 2 (Selbst): Die dem Verhalten der zu beurteilenden Person zugrunde liegende Aufmerksamkeit ist selbstbezogen und intransitiv. Die Selbstbezogenheit ist ebenfalls interpersonell gedacht und kann sich dabei (auf der Zuneigungsdimension) „feindselig-zurückgezogen“ oder „hingebungsvoll-genießend“ darstellen sowie auf der Statusdimension „autonom-unabhängig“ versus „nachgiebig-unterwürfig“ geben.
- Fokus 3 (Introjekt): Introjekt ermöglicht zusätzlich zur Beziehungsanalyse eine Beurteilung der innerpsychischen Regulation und Normierung (Inhaltsaspekt der Beziehung). Registriert werden zeit- und situationsstabile Grundhaltungen der Betroffenen sich selbst gegenüber (in der Regel handelt es sich dabei um lebensgeschichtlich vermittelte Normen des Umgangs mit sich selbst). Introjekte werden ebenfalls auf einer Zuneigungsdimension (zwischen „Selbstablehnung“ und „Selbstliebe“) und einer Statusdimension (zwischen „Spontaneität“ und „selbstkontrollierender Einschränkung“) eingeschätzt.
Mithilfe der SASB-Beurteilung lassen sich nicht nur die persönlichkeitsbedingten Interaktionsauffälligkeiten beurteilen und einordnen, sondern selbst höchst komplexe und fluktuierende Interaktionsmuster werden einer genauen Erfassung und Rekonstruktion zugänglich. Inzwischen wurde von der Autorin dem SASBBeobachtungsverfahren ein Fragebogeninventar zur Selbstbeurteilung hinzugefügt (L.S. Benjamin 1983; Kurzform: 1987).
Persönlichkeitsstörungen
L.S. Benjamin hat nun in einer Buchpublikation (1995) auf der Grundlage empirischer Befunde und konzeptueller Ueberlegungen den Versuch unternommen, die für Persönlichkeitsstörungen zentralen Interaktionstypiken in das SASB-Modell zu übersetzen und als hypothetische Vorgabe für die weitere Erforschung bereitzustellen. Nachfolgend sollen diese Rekonstruktionsversuche der Persönlichkeitsstörungen mittels SASB kurz dargestellt werden. Zwei von diesen – den Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen – hat Benjamin eigene Forschungsarbeiten gewidmet (L.S. Benjamin 1987, 1992). Die nachfolgenden Störungskennzeichnungen entsprechen den Zusammenfassungen der Autorin im Anhang ihres Buches über Persönlichkeitsstörungen (L.S. Benjamin 1995 S. 393–416; eingefügt wurden von uns beispielhafte Rückübersetzungen in das SASB-Modell der -> Abbildung 4.4, wobei die erste Zahl für den Fokus und die zweite Zahl für das gemeinte Cluster steht):
Borderline-Persönlichkeitsstörung: Beobachtbar ist eine fast krankhaft anmutende Angst vor dem Verlassenwerden und ein Bedürfnis nach protektiver Behütung, das vorzugsweise durch konstante physische Nähe befriedigt wird (zum Liebhaber oder zum Lebenspartner). Das interpersonelle Muster ist eine freundliche Abhängigkeit (2/4), die jedoch in beschuldigende Feindseligkeit umschlägt (1/6), wenn ihr nicht in ausreichendem Maße vom Liebhaber oder Lebenspartner entsprochen wird (und es kann ihr nie in ausreichendem Maße entsprochen werden). Die Betreffenden sind fest davon überzeugt, dass der (Lebens-)Partner diese Abhängigkeit und Bedürftigkeit mag – wenn nicht offen bekundet, dann doch wenigstens heimlich.
Narzisstische Persönlichkeitsstörung: Es liegt eine extreme Verletzlichkeit gegenüber Kritik und Zurückweisung vor, und zugleich besteht ein Wunsch nach Liebe, Unterstützung und bewundernder Rücksichtnahme durch andere. Dieses zwischenmenschliche Grundmuster beinhaltet uneingeschränkte Selbstliebe (3/3) wie zugleich die Kontrolle anderer Personen (1/5). Wenn andere die Unterstützung versagen oder wenn eigene Schwächen offenkundig werden, kippt das Selbstkonzept in Richtung massiver Selbstvorwürfe (3/6). Fehlt ihnen Empathie (ohne 1/2), dann strafen die Betroffenen andere mit Verachtung (1/8) und betrachten sich selbst als überlegen und ohne Fehl und Tadel.
Histrionische Persönlichkeitsstörung: Es liegt eine extreme Angst vor, nicht beachtet zu werden. Diese Angst ist gepaart mit dem interpersonellen Wunsch, von einer starken Person geliebt und umsorgt zu werden, die zugleich jedoch durch die eigenen charmanten und unterhaltsamen Eigenarten kontrollierbar bleibt.
Das Grundmuster ist freundschaftliches Vertrauen (2/4), das eher versteckt von einem Verlangen nach strikter Einhaltung von Umsorgung und Liebe gesteuert wird. Unangemessenes verführerisches Verhalten (2/3) und parasuizidale Handlungen (3/7) sind Beispiele für die Zwanghaftigkeit solcher Interaktionsmuster.
Antisoziale Persönlichkeitsstörung: Es findet sich ein unangemessenes und nicht angepasstes Bedürfnis, andere zu kontrollieren (1/5), das in distanzierte Personeigenarten integriert ist (2/8). Es gibt ein Verlangen nach Unabhängigkeit (2/1) und einen Widerstand gegenüber Kontrolle durch andere, die gewöhnlich mit Verachtung gestraft werden (1/8). Es besteht eine Neigung zu ungezügelter Aggression (1/7), um das Kontrollbedürfnis oder die Unabhängigkeit zu sichern. Dennoch verfügt die antisoziale Persönlichkeit über ausgesprochen freundliche und sozial akzeptable Eigenarten, aber die Freundlichkeit wird ständig begleitet von einem Bemühen um Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Distanz (2/8). Die Betreffenden interessiert nicht, was mit ihnen oder anderen langfristig geschieht.
Dependente Persönlichkeitsstörung: Eine extreme Nachgiebigkeit (2/5) gegenüber dominierenden anderen Personen (diese zeigen 1/5) ist unverbrüchlich mit der Hoffnung auf nicht endende Umsorgung und Unterstützung verknüpft. Der Wunsch nach Aufrechterhaltung einer solchen Beziehung bleibt auch auf die Gefahr hin unverändert, Missbrauchserfahrungen tolerieren zu müssen. Menschen mit dependenter Persönlichkeitsstörung halten sich selbst für unfähig und inkompetent (3/6) und sind deshalb der Auffassung, nicht allein und ohne eine dominierende Bezugsperson überleben zu können.
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: Die Betroffenen befürchten, etwas falsch zu machen oder wegen eigener Unzulänglichkeiten angeschuldigt zu werden. Die Orientierung an allgemeinen Ordnungsvorgaben führt zu einem Interaktionsmuster der Beschuldigung (1/6) und der rücksichtslosen Kontrolle anderer (1/5). Dieses Kontrollbedürfnis geht zumeist einher mit einem blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten oder Prinzipien (2/5). So findet sich eine exzessive Selbstdisziplin bei gleichzeitiger Unterdrückung eigener Gefühle, strenge Selbstkritik und eine Vernachlässigung eigener Bedürfnisse (3/5 bis 3/6).
Negativistische (passiv-aggressive) Persönlichkeitsstörung: Jede Form der Macht anderer wird als rücksichtslos und verachtenswert betrachtet. Diese Neigung tritt zusammen mit dem Glauben auf, dass Autoritäten oder Bezugspersonen inkompetent, unfair oder grausam sind. Eine negativistische Person stimmt den Wünschen oder Vorschlägen anderer grundsätzlich zu (2/5), scheitert jedoch, ihnen wirklich zu entsprechen (2/7). Die Betreffenden beschweren sich häufig über eine ungerechte Behandlung und beneiden andere oder nehmen es diesen übel, wenn diese besser zurechtkommen (1/6). Mit ihrem Leiden klagen sie die angebliche Nachlässigkeit einer Bezugsperson oder einer Autorität an. Die negativistische Persönlichkeit fürchtet Kontrolle jeder Art und verlangt grundsätzlich eine fürsorgliche Wiedergutmachung für vermeintlich zugefügtes Leiden.
Aengstlich-vermeidende (selbstunsichere) Persönlichkeitsstörung: Die Betreffenden haben eine intensive Furcht vor Demütigung und Zurückweisung. Um eine befürchtete Verlegenheit zu vermeiden, zieht und hält sich die selbstunsichere Person grundsätzlich und überall zurück (2/6). Die Betreffenden haben ein großes Bedürfnis nach Liebe und Akzeptiertwerden, und sie gehen intimere Beziehungen mit nur wenigen Personen ein, die den strengen Maßstäben an eine erwartete Sicherheit entsprechen (2/4). Gelegentlich kommt es vor, dass selbstunsichere Personen die Kontrolle verlieren und in wütender Entrüstung explodieren
können.
Paranoide Persönlichkeitsstörung: Die Betreffenden fürchten, von anderen angegriffen oder beschuldigt zu werden. Ihr interpersonelles Bedürfnis ist darauf ausgerichtet, bestätigt und verstanden zu werden. Wird diese Erwartung nicht erfüllt, hoffen die Betreffenden, dass die anderen sie entweder verlassen oder dass sie sich unterwerfen. Das vorrangige interpersonelle Muster besteht in einem Sichverschließen (2/8), einem Abseitsstehen und in sorgsamer Selbstkontrolle (2/1). Werden sie angegriffen, neigen paranoide Persönlichkeiten entweder dazu, in feindseliger Art zurückzuschrecken oder mit einer Art Gegenkontrolle anzugreifen oder aber auf Distanz zu gehen.
Schizoide Persönlichkeitsstörung: Die Betreffenden zeigen keinerlei Furcht oder Bedürfnisse gegenüber anderen Personen. Das Grundmuster besteht in aktiver oder passiver Unabhängigkeit (2/1; 2/8). Da die Betreffenden gewöhnlich einen beträchtlichen Entwicklungsrückstand in der sozialen Wahrnehmung und in sozialen Fertigkeiten haben, verfügen schizoide Personen kaum über hinreichende Kompetenzen, die den Erwartungen an formale soziale Rollenfertigkeiten entsprechen. Die Betreffenden können durchaus verheiratet sein, entwickeln jedoch keine Intimität.
Quelle: Fiedler, Peter (2007). Persönlichkeitsstörungen (6te Aufl.). Beltz, S. 79-89
"Back to Freud" - Es, Ich und Ueber-Ich bzw. "vom Narzissmus zum Ich-Ideal"
Als kurze Repetition gebe ich hier die beiden Persönlichkeitsmodelle Freuds wieder:
Topik I: Bewusst, Unbewusst, Vorbewusst
In "Die Traumdeutung" von 1899, beschreibt Freud ein erstes Mal drei wichtige Bewusstseinszustände des Menschen, welche als sog. "erste Topik" bekannt geworden ist:
- Bewusst = wach, klar, sofort und jederzeit beschreibbar
- Vorbewusst = bewusstseinsfähig, nur mittels tiefenpsychologischer Methoden zu erkennen
- Unbewusst, inkl. verdrängt, nur mittels psychoanalytischer Methoden zu erkennen
Der aus dieser Dreigliederung abgeleitete wichtigste Abwehrmechanismus ist die Verdrängung (von ehemals Bewusstem ins Unbewusste "hinunter").
Topik II: "Wo Es war, soll Ich werden"
Da Sigmund Freud, seine Konzepte einerseits aus der praktischen Arbeit gewann, andererseits diese auch wieder anhand konkreter Begebenheiten immer wieder überprüfte, modifizerte er seine Theorie des Unbewussten allmählich und es entstand folgendes, zweites Schichtenmodell (sog. zweite Topik (1923) oder Instanzenlehre):
- ICH: bewusstseinsfähige Werkzeuge wie Sprache, Rechnen, Feinmotorik
- ES: unbewusste, lebenswichtige Antriebe des Menschen (v.a. Sexualität, Aggression, später: Todestrieb)
- Ueber-ICH (Ich-Ideal): von den Eltern bzw. Gesellschaft unbewusst übernommene Normen
Beide Modelle kombiniert (er hat die erste Topik nie aufgegeben!), ergeben nebenstehendes Bild:
ICH-IDEAL
[englisch: ego ideal, französisch: ideal du moi.]
Freud benuzte den Ausdruck Ich-Ideal, um den Bezugsrahmen des Ich [s.o.] näher zu bezeichnen. Das Ich-Ideal ist dabei gleichzeitig als Ersatz für den aufgegebenen kindlichen Narzissmus (Idealisierung des Ich) zu verstehen und als Identifikation mit den Eltern sowie deren sozialem Bezugssystem.
Der Begriff Ich-Ideal ist ein wesentlicher Bezugspunkt in der Entwicklung des Freud'schen Denkens vom Beginn der Ueberarbeitungen des ersten topischen Modells [s.o.] an bis zur Einführung des Ueber-Ich (ebenda) im zweiten topischen Modell (Strukturtheorie, s. Ausführungen zu Topik I und II in Kap. 1).
Die Dimension eines Ideals als Bezugspunkt des Ich taucht bei Freud 1914 in "Zur Einführung des Narzissmus" auf (vgl. Kap. 2).
(...............)
Christopher BOLLAS - Lügen und das falsche Selbst
Sozusagen im Uebergang zwischen den eher traditionellen freudianischen und kleinianischen Ansätzen und den neueren Konzepten der "Interpersonalisten" (vgl. Kap.6) befinden sich die Objektbeziehungstheorien (siehe auch: www.relationale-psychotherapie.ch), hier vertreten durch Christopher Bollas und einem Auszug aus seinem wunderbaren Buch "Schatten des Objekts":
Das wahre und das falsche Selbst
Jeder Lügner hat offensichtlich das Gefühl, dass die Lüge für seinen Selbstschutz unerläßlich ist. Er ersinnt Fiktionen, zu denen er dann in Beziehung tritt, als seien sie real, und zieht den anderen als einen ahnungslosen Komplizen in das Leben der Lüge mit hinein. Andere Lügner lügen durch Weglassen und sparen die Wahrheit aus. Sie leben in einem Raum, der dem der negativen Halluzination gleicht, und ziehen es vor, nicht zu sehen oder zu erzählen, was sie eigentlich als wahr erkennen.
Bei beiden Formen des Lügens aber treibt der Lügner sein falsches Spiel, um einen schwerwiegenden Mangel in seiner Selbst-Struktur wettzumachen. Sein Lügen ist derart kunstvoll, dass es zu einer zweiten Haut wird, die aus den Grundstrukturen der Phantasie besteht:
Die Lüge wird zu einer Funktion des falschen Selbst.
Die Fragen: „Wer ist der wirkliche Jonathan [Fallbeispiel in Bollas Buch]? Wo unter den vielen Spielarten seiner selbst ist er zu finden?“ sind nicht zu beantworten. Oft hat Jonathan mir gesagt, alles, was er zu verlieren habe, sei der inkonsequent handelnde Andere.
Einen solchen Menschen zu verlieren sei ohne Bedeutung für ihn. Ich halte das zwar nur für die halbe Wahrheit, doch wenn er sein Empfinden so überspitzt darstellt, bringt er damit klar zum Ausdruck, dass er den anderen vergessen will, um mit den eigenen Phantasie-Objekten zu leben. Indem er inmitten falscher Objekte lebt, die von demjenigen Aspekt seiner selbst erzeugt sind, der als falsches Selbst fungiert, geht er Uebergriffen auf sein wahres Selbst aus dem Weg. Durch sie würde er, davon ist er überzeugt, sein wahres Selbst verlieren, aber er hat keine Phantasien darüber, wie das vonstatten gehen würde. Daß er also keine Gründe für seine Ueberzeugung anführen kann, ist, wie er sagt, das einzige objektive Anzeichen seines Wahnsinns, das er kennt. Er kann allerdings auch auf die unbestreitbare Tatsache verweisen, daß ihn jedesmal, wenn er nahe daran ist, von jemandem verstanden zu werden (dazu zählen auch seine Ansätze, sich selbst besser zu verstehen), das eindringliche Gefühl einer nahe bevorstehenden Katastrophe befällt.
Ein solches Gefühl reproduziert durch Uebertragung unbewußt jenen Wahnsinn und jene Katastrophe, die seinerzeit real, aber vollkommen undurchschaubar waren. Es bildet das „ungedachte Bekannte“. Der Lügner lügt, um zu verhindern, daß die seine Phantasie übersteigende Katastrophe Gestalt annimmt und Wrklichkeit wird. Zum einen verschwindet er damit vom Schauplatz der Wahrheit, ganz wie der Lügner, der die Wahrheit ausspart und damit jenes Stückchen seiner selbst, das mit der ausgesparten Wahrheit zusammenhängt, dem Untergang preisgibt; so will er das Selbst vor dem Trauma bewahren, das sich für ihn mit der Vorstellung verbindet, die Wahrheit zu sagen. Zum anderen erschafft er kunstvolle Lügengespinste, um eine Welt erstehen zu lassen, die völlig anders ist als die reale Welt.
Ich glaube, wir irren uns, wenn wir die Lüge nur als einen Akt des Verheimlichens betrachten. Sicherlich hat jeder Lügner ein Geheimnis - er kennt die Wahrheit und weiß, daß der andere von ihr ferngehalten wird. Dieses omnipotente Verhältnis zur Wahrheit kann zwar der Anlaß für manche Lügen des Lügners sein, ist aber nicht deren primäre Ursache, sondern ein kompensatorisches Phänomen: Das aus dem Lügen entspringende Gefühl der Verstohlenheit kann also durchaus bewirken, daß der andere zum Ziel sadistischer Impulse und grausamer Manipulationsmanöver wird. Es kann zudem mit einer leicht manischen Schadenfreude einhergehen und mit paranoider Häme (darüber, daß der andere sich hat narren lassen) gekoppelt sein. Diese Gefühle und Handlungen bieten auf der Vorstellungs- und Affektebene Kompensation dafür, daß ein entwickeltes Selbstgefühl fehlt, und schützen den Lügner vor tiefer Verwirrung hinsichtlich seiner Sicherheit und der Verläßlichkeit und Stabilität der Objektwelt.
Das Lügen des Lügners fußt auf einer stillschweigenden Annahme: Das wahre Selbst ist unannehmbar. Weil die innere Realität unannehmbar ist muss etwas, das real erscheint, ohne es zu sein, ihren Platz einnehmen. Für den Lügner ist dies natürlich die Lüge. Sein Lügen ist als eine Funktion jenes falschen Selbst zu sehen, das ein wahres Selbst verbirgt und beschützt. Jonathan zum Beispiel glaubt, daß weder sein Vater noch seine Mutter es jemals überleben würden, wenn er ihnen seine wahren Gefühle offenbart. Davon ist er völlig überzeugt.
Steckt hinter dieser Vorstellung nun eine projektive Identifizierung kompensatorischer Omnipotenz, oder kaschiert sie ein Gefühl der Impotenz und spiegelt seinen Neid auf die Potenz des anderen wider? Weder das eine noch das andere, denke ich. Es ist ein Axiom seiner Existenz, daß seine Eltern es nicht ertragen könnten, seine Wahrheit zu vernehmen. Diese Ueberzeugung ist weder ein Triebabkömmling noch eine Angst, die in einem Trieb gründet. Vielmehr steht dahinter ein Weltbild, das in seiner Kindheit den Fakten entsprach. Es war damals eine Tatsache, daß sich aus jeweils unterschiedlichen Gründen weder Mutter noch Vater in die Bedürfnisse ihres Kindes einfühlen konnten. Sie konnten mit den Schuldgefühlen nicht umgehen, die sich in ihnen hätten regen können, wenn sie sich in die Nöte ihres Sohnes hineinversetzt und erkannt hätten, auf welch herzlose Weise sie seine psychischen, körperlichen und existentiellen Bedürfnisse mißachteten. Ein derartiger Betreuungsstil ist selbst schon psychopathisch, weil die Eltern ihren eigenen inneren Realitäten ausweichen müssen, um psychischem Schmerz aus dem Weg zu gehen.
Dass der psychopathische Lügner reflexhaft davor zurückweicht, die Wahrheit zu sagen, weist also auf den Wesenskern seines Wahnsinns hin. Er lenkt sich und andere von der Wahrheit ab, weil das Aussprechen der Wahrheit für ihn einer nicht näher bestimmbaren Vernichtung seiner selbst gleichkommt. Der Wahnsinn des Lügners kommt, auch wenn ihm das nicht bewußt wird, in dem traumatischen Augenblick zum Vorschein, wenn der andere entdeckt, daß die vom Lügner entworfene Welt nicht real ist. In diesem Moment des Wahnsinns durchlebt der andere die vollkommen abgespaltene Erinnerung des Lügners daran, wie seine traumatisierenden Primärobjekte einst mit ihm verfuhren.
Wenn die Mutter bei ihm war, bedeutete das in der Realität, einer starken Ueberdosis einer Präsenz ausgesetzt zu sein, die nicht lange genug anhielt, als dass sie sich verwandeln und in eine miteinander geteilte Realität hätte entwickeln können. Ebenso verheerende Wirkungen hatte das häufige Fernbleiben der Mutter, das ihrer objektiven Gegenwart im Rückblick etwas halluzinatorisch Flüchtiges gab.
Quelle:
Christopher Bollas (1997, orig. 1987). Der Schatten des Objekts: das ungedachte Bekannte - zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung. Klett-Cotta, S. 196-198
Wahres und falsches Selbst
Zuerst eine Definition wie sie im bekannten Wörterbuch der Psychoanalyse von Elisabeth Roudinesco vorliegt:
SELBST (WAHRES UND FALSCHES)
[englisch: self (false and true), französisch: self (faux et vrai).]
Der Ausdruck falsches Selbst wurde 1960 von Donald Woods Winnicott [s.u. Karen Horneys noch früheres Konzept!] entworfen, um eine Persönlichkeitsstörung zu bezeichnen, die das Subjekt schon in der frühen Kindheit dazu bringt, ein falsches Selbst als Abwehr zum Schutz des wahren Selbst zu konstruieren.
Das falsche Selbst ist dann ein Mittel, durch welches das Subjekt nicht [sich] selbst sein will, und es kann unterschiedliche bis zur schizoiden Pathologie führende Formen annehmen, in welchen das falsche Selbst als ausschliessliche Realität herrscht und dadurch die Abwesenheit des wahren Selbst bedeutet.
Winnicott sprach zum ersten Mal von falschem Selbst in seinem 1960 erschienenem Artikel "Ego Distorsion in Terms of True and False Self", ein Ausdruck, der dann grossen Erfolg in der Psychoanalyse erlebte. Wie häufig erklärte er seinen Begriff zuerst auf der Grundlage einer Fallgeschichte (Geschichte einer Frau, die dachte, sie hätte nie existiert). Dann widmete er sich den theoretischen Erklärungen und definierte die allgemeine existentielle Bedeutung des wahren und falschen Selbst im Hinblick auf die zentrale Rolle der Mutterbeziehung.
Donald W. Winnicott zog aus diesem Fall wichtige Hinweise für die psychoanalytische Behandlung und zeigte, wie man in der Uebertragung [vgl. Kap. xy (Relation)] den vielen Tricks entkommen kann, die das falsche Selbst verwendet, um das wahre Selbst so weit zu verdecken, dass es die Behandlung zum Misserfolg führen kann.
Literatur: Winnicott, Donald W. (1960). "Ego Distorsion in Terms of True and False Self" in: The Maturational Processes and the Facilitating Environment. Studies in the Theory of emotional Development, London, 1990; Gets, Claude, Winnicott, Editions universitaires, Paris, 1981.
Deutsch: Ich-Integration in der Entwicklung des Kindes. In: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, S. 182-199, München: Kindler, 1974, Frankfurt.a.M.: Fischer 1984, Göttingen: Psychosozial 2008.
Karen Horney - Neo-Psychoanalyse
Von Theodor W. Adorno stammt der oft zitierte Satz aus seinen Minima Moralia (1951): »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Damit bezog er sich auf die prinzipielle Unmöglichkeit, sich in den damaligen faschistischen Verhältnissen irgendwo heimisch oder häuslich einzurichten. Ein richtiges, also behagliches und zugleich aufrecht-authentisches Dasein sei unter den Gegebenheiten des Totalitarismus schlechterdings nicht vorstellbar.
In Anlehnung an Adorno kann man sich im Hinblick auf zentrale Gedanken aus dem Werk Karen Horneys fragen, wie denn Menschen ein wahres Selbst entwickeln und die falschen Facetten ihres Daseins hinter sich lassen. Mit der Theorie vom wahren und vom falschen Selbst zählte Karen Horney zur Gruppe der Neopsychoanalytiker, zu der unter anderen auch Erich Fromm, Harry Stack Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann und Harald Schultz-Hencke gehörten. Diese Psychoanalytiker standen für eine Umgestaltung und Neuorientierung der orthodoxen Lehre von Sigmund Freud. (aus: Danzer, Gerhard (2015). Europa, deine Frauen - Beiträge zu einer weiblichen Kulturgeschichte, S.208).
Horneys Konzept des Selbst und der Selbstverwirklichung
Grundsätzlich streben Menschen danach, gemäss ihren Anlagen zu wachsen. Dieses Wachstum nennt Horney "Selbstrealisation", sie wird von einer inneren Kraft veranlasst, die vom "wahren Selbst" ausgeht, eine Kraft ähnlich Henri Bergons (1907/1912) "elan vital": Wächst ein Kind unter günstigen Bedingungen auf, kann es seine angeborenen Fähigkeiten entfalten. Voraussetzungen sind Wärme, Ermutigung, "gesunde Reibung" mit den Eltern. Es ist zu vermuten, daß Horney den Begriff des "wahren Selbst" von Rank übernahm, der bereits 1926 schrieb: "Das 'wahre Selbst' des Individuums verrät sich in keiner dieser Sphäre, sondern nur das andere Selbst, das wir sein wollen, weil wir es nicht sind, im Gegensatz zu dem, was wir geworden sind und nicht sein wollen" (Otto Rank 1926 S. 116).
Karen Horney (1950/1985 S.176) selbst nennt William James, dessen Begrifflichkeit sie z.T. übernimmt. Sie unterscheidet ein "empirisches Selbst" (wie James), das sie auch "wirkliches Selbst" nennt und trennt von diesem das "wahre Selbst" und das "idealisierte Selbst" ab. "Das wirkliche Selbst ist ein umfassender Begriff für alles, was ein Mensch zu einer gegebenen Zeit ist: Körper und Seele, gesund und neurotisch. Daran denken wir, wenn wir sagen, daß wir uns kennenlernen wollen, d.h. wissen wollen, wie wir sind" (1950/1985, 176).
Das "wahre Selbst", das sie dem "reinen Ich" bei William James gleichsetzt, beschreibt sie als "das, was ich wirklich fühle, was ich wirklich möchte, was ich wirklich glaube, was ich wirklich entscheide. Es ist das lebendigste Zentrum des Seelenlebens oder sollte es sein" (1942/1984, 220).
An anderer Stelle beschreibt sie das "wahre Selbst" als "die ursprüngliche Kraft, die uns zur persönlichen Entwicklung und Erfüllung drängt und mit der wir eine volle Identifikation erlangen können, wenn wir von den lähmenden Fesseln der Neurose befreit sind". Es ist mehr eine Zielvorstellung, "ein mögliches Selbst", dem wir uns annähern können.
Ein Mensch, der einen Zugang zu seinem wahren Selbst hat, erlebt sich als "ein organisch Ganzes" (1950/1985, 175). Aus seinem wahren Selbst, seinen Potentialen, schöpft der Mensch seine Energie, Lebensfreude und Spontaneität.
Es ist die Quelle des Gefühls der Integrität und der Ganzheit, trotz aller Veränderung im Laufe des Lebens. Der Prozeß der Selbstverwirklichung wird durch das "wahre Selbst" ermöglicht, durch die Entfaltung und Entwicklung von individuellen Anlagen.
Horney entwickelt also eine biologische/organismische Sichtweise, die sich fundamental von der Konflikttheorie Freudscher Psychoanalyse unterscheidet. Bei Horney sind Gedanken zu finden, die an das Konzept der Intentionalität von Schultz-Hencke und an Bowlbys Bindungstheorie erinnern: Ein sich gesund entwickelndes Kind wendet sich dem anderen voller Vertrauen zu. Erst durch die Erfahrungen von Isolation, Hilflosigkeit und Bedrohung durch eine feindselige Umwelt entwickeln sich Neurosen. Konflikte, Ängste, Neurosen entwickeln sich aus dem Zwischenmenschlichen (ein Gedanke, der später bei Kohut wieder auftauchen wird und durch die Kleinkindforschung Bestätigung findet.
In ihrem zweiten Buch "Der neurotische Mensch unserer Zeit" (1939) führt sie aus, wie die Neurose in der Kindheit entsteht. Sie weist auf den schädlichen Einfluß neurotischer Eltern hin, die ihre eigenen Ambitionen über das Kind zu realisieren trachten [diesen Einfluss hat Alice Miller 1979 popularisiert]. Der Oedipus-Konklikt ist nach Horney (s. auch Jung und Adler, sowie später Kohut) ebenfalls die Folge einer Fehlentwicklung.
Die Grundangst (Einsamkeit, Hilflosigkeit) versucht das Kind durch drei mögliche Maßnahmen zu bewältigen: es versucht Liebe und Anerkennung zu erlangen, es kann sich mit Aggression und Feindseligkeit schützen oder mit Rückzug reagieren. In ihrem dritten Buch "Unsere inneren Konflikte" (1945) baut Horney ihre Theorie der drei Hinwendungsformen des Menschen (Charaktertypen) aus: "Hinwendung zu" (Typus der Hilflosigkeit), "Wendung gegen" (Aufbau von Feindseligkeit) und "Abkehr von" (Isolation). Meist herrscht einer der drei Bewegungstypen vor; die anderen, widerstrebenden Impulse werden ins Unbewußte verdrängt, von wo aus sie wirken und aufreibende Spannungen und starken Druck erzeugen: So entstehen Grundkonflikte.
Aus den Hauptanpassungstechniken entwickelte Horney eine Liste von zehn neurotischen Bedürfnissen, die als eine Erweiterung einer Theorie der Abwehrmechanismen zu verstehen ist. Es handelt sich um den immerwährenden Wunsch nach Zuneigung und Anerkennung, dem Wunsch nach einem dominierenden Lebenspartner, eng gezogene Lebensgrenzen zu haben, Macht ausüben zu können, andere auszubeuten, Prestige zu haben, persönliche Bewunderung zu erzielen, Ehrgeiz nach persönlichen Erfolgen, Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit, Vollkommenheit und Unangreifbarkeit.
In ihrer Monographie von 1939 spricht Horney vom "wahren Selbst", welches das Kind zugunsten elterlicher Erwartungen aufgeben muss. Es schafft sich als Schutzmechanismen ein falsches Bild von sich selbst (Prozess der Selbstidealisierung). Die Schaffung eines unbewußten, irrationalen, idealisierten Selbstbildes entsteht durch Harmonisierung von tatsächlichen oder bewunderten Eigenschaften, die der Betreffende anstrebt. Während anfänglich das idealisierte Selbstbild nur einer von drei Hauptabwehrmechanismen bei Horney war, baute sie 1950 die Bildung des irrationalen Selbstbildes zum Kernprozeß neurotischer Entwicklung (bei allen Neurosen) aus.
In der frühen Kindheit - als reaktive Abwehrmassnahme - bildet sich als erstes Stadium ein phantastisches, idealisiertes Selbstbild heraus (noch als bewusster Prozess), im zweiten Stadium identifiziert sich das Individuum mit dem Bild, das zum idealisierten Selbst wird.
Der neurotische Mensch erwartet, von anderen wie ein grandioses Selbst behandelt zu werden. Im Bemühen, das idealisierte Bild der eigenen Person aufrechtzuerhalten, treibt sich das Individuum mit "Sollte" und "Müsste" voran, so daß es unter einer 'Als-ob-Fassade' [vgl. Helene Deutsch] lebt. Alle Kräfte werden eingesetzt, zwanghaft das idealisierte Selbstbild aufrechtzuerhalten. Trotzdem bleibt die Person schlecht integriert, instabil und entfernt sich immer mehr vom aktuellen (wahren) Selbst, das oft als armselig erlebt wird und zum "verachteten Selbst" wird. Je größer diese Diskrepanz zwischen dem idealisierten und aktuellen (wahren) Selbst ist, desto grösser ist die Spannung im Individuum [vgl. Carl R. Rogers, der um diese Gedanken Horneys seine Theorie der Persönlichkeit aufbaute].
Der Kernprozess der Neurose ist in diesem Werk Horneys eine Entfremdung vom Selbst, eine Entfremdung von den spontanen, echten Gefühlen, Wünschen und Wertvorstellungen. Der Neurotiker versucht, sein Pseudo-Selbst zu aktualisieren, anstelle seines wahren Selbst, d.h. seine ihm mitgegebenen Fähigkeiten zu realisieren. Die Errichtung eines idealisierten Selbstbildes dient der Abwehr von Gefühlen der Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Nach Horney handelt es sich um einen sekundären Narzissmus, dessen Ziel es ist, Beeinträchtigungen des Selbsterlebens, entstanden aus zwischenmenschlichen Beziehungen, zu kompensieren. Das idealisierte Selbstbild ist in seiner Omnipotenz ein Ersatz für echtes Selbstvertrauen. Die negativen Auswirkungen beruhen in der übermäßigen Anfälligkeit für Kritik und Zweifel, die von Bewunderungen durch andere kompensiert werden muss [in vielem gleichen diese Beschreibungen der von Kohut beschriebenen "narzißtischen Persönlichkeit"].
Sich auf Kierkegaard beziehend (in "Die Krankheit zum Tode") beschreibt sie den Selbstverlust: "Es ist Verzweiflung - Verzweiflung darüber, daß man sich nicht bewußt ist, ein Selbst zu haben, oder Verzweiflung darüber, daß man nicht Willens ist, man selbst zu sein" (1950/1985, S. 176).
Ende 1947 hielt Horney einen Vortrag, in dem sie das Konzept der Entfremdung vom Selbst ausführte; Gedanken, die sie im Frühjahr 1949 im Konzept des "wahren" Selbst ausbaute. Horney unterscheidet Selbst-Aktualisierung von Selbst-Realisierung. Selbst-Aktualisierung bezieht sich auf die Aktivierung des idealisierten Selbst und Selbst-Realisierung auf das "wahre Selbst" (Wassel, 1980, 334).
Der Begriff "Selbst" wird hier zunehmend als Ersatz des Libido-Begriffs genommen.
Bis 1950 baute sie ihr Konzept der Selbst-Realisation aus; Gedanken, die sie in ihrem vierten Buch, "Neurose und menschliches Wachstum" (1950/1985) niederlegt. Ihre bereits 1931 geäußerte positive Sicht des Menschen vertritt sie jetzt vehement: Jede Person besitzt inhärente konstruktive Kräfte, die das vorhandene Potential zur Entwicklung drängen. Das Selbst ist "Eingeborenes"; das "wahre Selbst" eine zentrale innere Kraft, die allen menschlichen Wesen gemeinsam und dennoch einzigartig bei jedem und die tiefe Quelle des Wachstums ist (Horney 1950/1985 S. 226): "Für mich dagegen ist das wahre Selbst die Triebfeder der emotionalen Kräfte, der konstruktiven Energien, der richtungweisenden und kritisch urteilenden Kräfte" (Horney 1950/1985 S. 194).
Sie setzt sich in diesem Werk deutlich von der Freudschen Sicht des Menschen ab und kann als Vorläuferin der Selbstpsychologie [vgl. Kap. 2] bezeichnet werden.
Während Karen Horney in ihren frühen Werken den kulturellen Einfluß auf die Entwicklung der invidivuellen Persönlichkeit gewichtete, konzentriert sie sich in ihrem letzten Werk auf innerpsychische Konflikte, die sie freilich in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu Kulturellem und Zwischenmenschlichem in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt. Aber es ist weniger der Konflikt des Menschen mit seiner sozialen Umwelt, welcher die Neurose verursacht, sondern der zentrale innere Konflikt zwischen den konstruktiven Kräften des wahren Selbst und den Kräften des Stolzes, mit dem sich das idealisierte Selbst in der sozialen Wirklichkeit zu behaupten sucht.
Ziel der Psychotherapie ist die Heranführung des Menschen an sein wahres Selbst. Dieses ist, wie sie betont, kein spekulatives Phänomen, sondern kann "unter günstigen Bedingungen - wie z.B. konstruktiver analytischer Arbeit - wieder zu einer lebendigen Kraft werden" (1950/1985 S.195). Danach gehört es zur Pflicht des Psychoanalytikers, seinen Patienten bei der Selbstverwirklichung zu helfen. "Wir wollen dem Patienten helfen, sich selbst und damit die Möglichkeit zu finden, auf seine Selbstverwirklichung hinzuarbeiten" (1950/1985 S. 375). Ein therapeutischer Schwerpunkt liegt in der Selbstanalyse des Patienten. Die Aufgabe des Psychotherapeuten liegt lediglich darin, dem Patienten zu helfen, seine verlorengegangenen oder verschütteten Kräfte zu mobilisieren, damit er sich selbst heilen kann.
"Ich meinerseits glaube daran, daß der Mensch die Gabe und den Wunsch hat, seine Fähigkeit zu entwickeln und ein anständiges Geschöpf zu werden, und daß diese Fähigkeiten sich abschwächen, wenn seine Beziehung zu anderen und dadurch zu sich selbst gestört werden und bleiben. Ich glaube daran, daß ein Mensch sich ändern kann, solange er lebt. Und dieser Glaube ist mit meinem tieferen Verständnis immer mehr gewachsen" (Horney 1945/1984 S.16).
Das letzte Buch von Karen Horeny wurde von Vertretern der Freudschen Psychoanalyse kaum noch beachtet, aber um so mehr von "Randständigen" der Wissenschaft gelobt, wie Ashley Montagu und Vertretern der späteren Humanistischen Psychologie. Das erste Kapitel (1950/1985, S.15) liest sich wie eine Theorie der Humanistischen Psychologie:
"Daneben verfügt das Kind aber auch über Kräfte, die nicht erworben oder durch Lernen entwickelt werden können. Es ist nicht nötig, ja nicht einmal möglich, eine Eichel zu lehren, wie ein Eichbaum wird. Gibt man jedoch einer Eichel die Chance, so werden sich die ihr eigenen Möglichkeiten entfalten.
Aehnlich verhält es sich mit dem menschlichen Individuum: Wenn man ihm die Chance gibt, strebt es danach, seine spezifischen menschlichen Möglichkeiten zu entwickeln. Der Mensch wird dann die einzigartigen Kräfte seines wahren Selbst entfalten: die Klarheit und Tiefe seiner eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche und Interessen; die Fähigkeit, seine eigenen Möglichkeiten zu erschließen; die Stärke seiner Willenskraft; die besonderen Fähigkeiten oder Begabungen, die er unter Umständen besitzt; die Möglichkeit, sich selbst zu offenbaren und sich mit seinen spontanen Gefühlen zu anderen Menschen in Beziehung zu setzen. Dies alles wird ihn mit der Zeit befähigen, seine Wertmaßstäbe und Ziele im Leben selbst zu finden. Kurz gesagt, wenn der Mensch im wesentlichen nicht abgelenkt wird, entwickelt er sich zur Selbstverwirklichung hin. Aus diesem Grunde spreche ich in an dieser Stelle und das ganze Buch hindurch vom wahren Selbst als der zentralen inneren Kraft, die - allen menschlichen Wesen gemein und dennoch einzigartig in jedem - die tiefe Quelle des Wachstums ist".
Die Kritik an ihrem Konzept des "wahren Selbst" entspricht der generellen Kritik an der Selbstpsychologie; sie wendet sich gegen die Annahme eines "Homunkulus", eines kleinen Menschen im großen, der darauf wartet, entdeckt, entfaltet und gefördert zu werden.
Quelle: Ludwig-Körner, Christiane (1992). Der Selbstbegriff in Psychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: DUV.
Idealisiertes oder falsches Selbst bei Karen Horney
"Die Tyrannei des Sollens und der neurotischer Stolz (der oft mit neurotischem Selbsthass korrespondiert) verweisen nach Horney auf ein innerlich tragisches Geschehen, das sich mit Selbstentfremdung und Selbstverlust umschreiben lässt. Aeusserlich betrachtet erscheinen die betreffenden Menschen nicht selten als intakt und gesund. Blickt man jedoch genauer hin, mangelt es ihrem Selbst an Konsistenz, Echtheit und wirklicher Lebendigkeit.
Als einen Hinweis auf das Vorliegen von Selbstentfremdung wertete Horney die affektive Abstumpfung und Verflachung einerseits oder das übertriebene Erleben von Gefühlen andererseits.
Wenn Menschen eine mittlere emotionale Wohltemperiertheit kaum oder nie realisieren, steht zu vermuten, dass sie den Dynamiken eines idealisierenden Selbst und der Tyrannei ihres Sollens ausgeliefert sind. Ein seinem Selbst entfremdeter Mensch imponiert darüber hinaus wie abgeschnitten und blockiert. Hinter einer Oberfläche von angeblicher Spontaneität und Vitalität verbergen sich häufig Hemmungen und Aengste. Geraten solche Personen in Situationen, in denen nichts Sensationelles, Neues und Abenteuerliches geschieht, erliegen sie rasch den Empfindungen von Leere und Langeweile.
Die Selbstentfremdung macht sich auch auf dem Terrain der zwischenmenschlichen Beziehungen bemerkbar. Mangel an Empathie, emotionale Uebergriffe oder soziale Ungeschicklichkeiten aller Art gehören mit zum Syndrom des Selbstverlusts. Statt Einfühlung in die Mitmenschen dominiert der narzisstische Selbstbezug, der umso intensiver zelebriert werden muss, je weniger ein wahres Selbst vorhanden ist, auf das sich der Betreffende beziehen könnte. Wenngleich Selbstentfremdung und Selbstverlust mit beruflichem Erfolg und sozialem Prestige einhergehen können, versah Horney solche Zustände mit dem Begriff der Verzweiflung.
In diesem Zusammenhang verwies sie auf den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, auf dessen Schriften sie durch Carl Müller-Braunschweig während ihres Medizinstudiums aufmerksam gemacht worden war. In seinem Buch Krankheit zum Tode (1849) erachtete Kierkegaard die Verzweiflung als Indikator für eine Erkrankung des Selbst:
»Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen (Kirkegaard 1849, 1962, S. 15).
Wie aber sieht im Gegensatz zu einem falschen Selbst mit neurotischem Stolz und Selbstentfremdung ein wahres Selbst mit stabilem Selbstwert aus?
In "Neurose und menschliches Wachstum" beschrieb Horney, wie eine authentische und echte Existenzweise beschaffen ist und zur Entwicklung und Verwirklichung des Selbst beiträgt:
»Der Mensch wird dann die einzigartigen Kräfte seines wahren Selbst entfalten: die Klarheit und Tiefe seiner eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche und Interessen; die Fähigkeit, seine eigenen Möglichkeiten zu erschließen; die Stärke seiner Willenskraft; Dies alles wird ihn mit der Zeit befähigen, seine Wertmaßstäbe und Ziele im Leben selbst zu finden. Kurz gesagt, wenn der Mensch im Wesentlichen nicht abgelenkt wird, entwickelt er sich zur Selbstverwirklichung hin. Aus diesem Grund spreche ich an dieser Stelle und das ganze Buch hindurch vom wahren Selbst als der zentralen inneren Kraft, die – allen menschlichen Wesen gemein und dennoch einzigartig in jedem – die tiefe Quelle des Wachstums ist (Horney 1950, 1975, S. 15).
Quelle: Quelle: Danzer, Gerhard (2015). Europa, deine Frauen - Beiträge zu einer weiblichen Kulturgeschichte. Berlin: Springer, S. 217f. (Karen Horney – Es gibt kein wahres Selbst ohne ein falsches).
2. Ronald W. Winnicott: Wahres vs. Falsches Selbst
--> Winnicott: Wahres und Falsches Selbst --> Dammann et al. 2012, S. 25: "Falsches Selbst" als schützende Hülle um das wahre, das Kern-Selbst -> Fortsetzung des Horney-Ansatzes!
3. Heinz Kohut: Selbstpsychologie
4. Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes

Soziologische, sozialphilosophische sowie weitere psychoanalytische und psychiatrische Selbst-Konzepte
Christian Scharfetter - Ich-Bewusstsein und das Selbst
Als „falsches Selbst“ bezeichnete der Kinderpsychoanalytiker Winnicott 1965 klinische Typen von Persönlichkeitsstörungen, die heute zum Bedeutungsfeld der narzisstischen Charakterstörungen, der sog. frühen (prägenitalen) Selbstpathologien, auch zur Borderline-Pathologie gehören. Die klinische Bezeichnung (Jargon) hebt die zentrale Störung der Entwicklung eines autonomen,
autarken, authentischen Selbst hervor.
Der Begriff des „wahren Selbst“ ist als Kontrast zum „falschen Selbst“ entstanden: er skizziert ein (nur annähernd erreichbares) Idealbild von Ganzheit, Echtheit, Eigentlichkeit.
Narzissmus
Narzissmus hat eine lange und sich verzweigende Begriffsgeschichte seit Freuds Bezug auf den griechischen Mythos von Narziss, welcher Selbstverliebtheit und in diesem Egozentrismus Isolation und Alienation von den Mitmenschen ansprach.
Als nichtpathologisch gelten der hypothetische primäre Narzissmus des Kleinkinds und im Erwachsenenalter ein psychohygienisch gesunder Narzissmus im Sinne von Selbstachtung, -akzeptanz, -liebe.
Pathologischer Narzissmus hingegen erscheint in den gegenwärtigen Diagnoseinstrumenten (DSM-IV, ICD-10) unter der Bezeichnung narzisstische Persönlichkeitsstörung. Dabei wird auf Grandiosität, Ich-Inflation, egozentrischrücksichtslose, unempathische, andere entwertende Charaktereigenschaften abgestellt. Diese Narzissten sind (deskriptiv) einheitlich: kohärent.
Andererseits wird Narzissmus aber auch mit Ich-Schwäche, Verletzbarkeit, Kränkbarkeit, Unselbständigkeit, Abhängigkeit in Beziehung gebracht – und wird in vielfältigen Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensweisen (z.B. Suizid, Sucht, Dissozialität) interpretativ „gesehen“.
Bei einer Gruppe schwerer gestörter Persönlichkeiten (heute Borderline-Persönlichkeitsstörungen genannt) wird eine schlecht integrierte, uneinheitliche, segmentierte Persönlichkeitsstruktur angenommen: nonkohärente narzisstische polymorphe Charakterpathologie (Tab. 3.5). Kernbergs Bild von untereinander unverbundenen Persönlichkeitssegmenten, die je nach Situation
das Erleben und Verhalten bestimmen, ohne dass es zu einer Auflösung des Ich kommen muss, ist anschaulich.
Entsprechend der zentralen Stellung des Ich im Tages-Wach-Bewusstsein kann man die psychiatrische Nosologie einer Pathologie des Ich in verschiedenen Schichten zuordnen (Tab. 3.6).
George Herbert MEAD: Me, Myself and I
Das 'Subject' bei Jacques Lacan - "Je vs. Moi" statt "Ego vs. Self"
Jacques Lacan kritisierte die Ich-Psychologie, als er das zweite Freud'sche topische Modell (s.o. und Kap.1) neu interpretierte. Er führte unter anderem in die Freudsche Theorie ein nicht-phänomenologisch definiertes Subjekt ein, das es ihm erlaubte, anstatt ein "ego" vom "self" ein "je" von einem "moi" [i.e. die beiden verschiedenen Ich-Formen des Französischen] zu unterscheiden und auf diese Weise ein "sujet representé" zu definieren, das durch einen Signifikanten dargestellt wird: a [klein a].
"Das Bewohnen der Sprache bewirkt, dass der Mensch seine Unmittelbarkeit verliert, er in die Kultur eingebunden wird, so dass ihm die Natur als verloren erscheint. Bis in die
Sexualität, in die intimsten Bereiche, erweist sich das, was man das Seelische nennt, als von Sprache strukturiert; Sexualität ist nicht reine Natur, sondern geprägt von
diesem Riss zwischen Kultur und Natur, der im Akt des Sprechens erfahrbar wird.
[S=Symbolisches:] Weil die Sprache den Menschen von der Natur trennt, fasst Lacan sie als Instanz des Symbolischen auf. Sie bewirkt, dass sich die unmittelbaren Gegebenheiten in menschliche Realität verwandeln [oben (Kap.1+3) von mir 'Wirklichkeiten' genannt], in der die einzelnen Teile voneinander abhängig sind und für die Menschen etwas bedeuten. Das Symbolische kann auch Gegenständliches umfassen, über sprachliche Elemente hinausgehen. Ein einfaches Beispiel finden wir in den Namengebungen – was wären die Dinge, was wären die Menschen ohne Namen? Die Kultur könnte ohne Bezeichnungen nicht existieren. Die symbolische Ordnung bildet jedoch keine Totalität, sie ist begrenzt.
[R=Reales:] Was nicht von ihr aufgenommen wird, nennt Lacan das Reale, das von dem, was er Realität nennt, zu unterscheiden ist. Das Reale ist nicht sagbar. Viele Bemühungen umkreisen es, versuchen, es begreifbar und benennbar zu machen: als Es, Sein, Natur, sogar als Göttliches. In lacanianischer Sicht ist hier das Imaginäre am Werk, das danach trachtet, die Unvollständigkeit des Symbolischen aufzufüllen.
[I=Imaginäres:] Ist das Symbolische das, was trennt und das Reale das, was ist, so lässt sich das Imaginäre als das bezeichnen, was verbindet. In menschlichen Beziehungen, vor allem in der Verliebtheit, in den Idealen und in den Phantasien, kurzum: im Streben nach Ganzheiten erkennen wir die Macht des Imaginären. Doch auch das Imaginäre stösst an Grenzen, vermag das durch das Bewohnen der Sprache verursachte Rätsel des Realen nicht zu lösen" (Widmer 2007 S.43).
"[SUBJECT:] Das menschliche Sein situiert sich in allen drei Registern, es ist symbolisch, imaginär und real, wobei dem Symbolischen durch die Wirkung des Sprechens eine besondere Bedeutung zukommt. Lacan spricht deshalb vom Subjekt, wobei er «sub-iectum» (Unterworfensein) auf die Sprache bezieht, die den Menschen umtreibt und ihn selbst dort nicht in Ruhe lässt, wo er sich ausruht, im Schlaf, wie jeder Traum immer wieder zeigt. Die Sprache erweist sich als strukturierende Macht der Traumbilder, was aus Freuds Beispielen klar hervorgeht. Gleichwohl geht es in der Analyse darum, die Grenzen der Sprache erfahrbar zu machen und das Subjekt zu öffnen.
[DESIR:] Dies zeigt sich im «désir» so der Begriff Lacans, der gewöhnlich mit «Begehren» übersetzt wird. Der Wunschbegriff Freuds wird so präzisiert; es gehört zum Begehren, dass ihm kein Objekt ganz entspricht. Von dieser Einsicht her eröffnen sich Perspektiven auf Pathologien, wie etwa die Unersättlichkeit von Süchten, die mit Kategorien der Biologie nicht zu begreifen sind.
['Der Andere':] Lacans Konzept des Subjekts ist kein psychologisches, sondern verdankt sich den Strukturen des Anderen: der Sprache, die jedem Subjekt vorhergeht. Da das menschliche Sein durch den Mangel geprägt ist, der vom Symbolischen ausgeht, ist es eigentlich nicht sagbar. An die Stelle des Mangels treten Objekte, die wir nun als Wirkungen des Imaginären zu erkennen vermögen. In ihnen suchen die Menschen Halt.
Ein Blick eines anderen Menschen, der einem viel bedeutet, lässt die menschliche Unvollkommenheit vergessen, erst recht eine Gabe, ein gutes Wort, eine Anerkennung. Aber das Begehren gibt sich damit nicht zufrieden, es will mehr, einen anderen Menschen besitzen, oder ihm alles geben, sich für ihn hergeben, seinen Mangel füllen. Leicht gerät man hier in die Psychopathologie, die dort ihren Ursprung hat, wo die menschliche Begrenztheit nicht hingenommen wird – wer könnte sich davon freisprechen?" (Widmer 2007 S.44).
Quellen:
Widmer, Peter (2007). Das Lacan Seminar Zürich - Fokus 2007: Zürich, Stadt der Seelenkunde. In: Schweizer Monatshefte, Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band 87, Heft 11
Miller, Filippo (2010-2014). Cahiers III - Memorabilia, Erlesenes und Erdachtes
Selbstpathologien bei Ronald D. Laing
Eric Lippmann (2013)
Identität im Zeitalter des Chamäleons: Flexibel sein und Farbe bekennen
Wie aber entstehen derart umfassende und an die Wurzeln des eigenen Seins gehende Unsicherheiten? Der Antipsychiater R.D. Laing verwies zur Beantwortung dieser Frage auf das Konzept vom wahren und falschen Selbst (Karen Horney). Wenn Kinder in bedrängenden, verwahrlosenden, unzuverlässigen und deprivierenden Verhältnissen aufwachsen, entsteht in ihnen häufig der Impuls, sich aus diesen unangenehmen Situationen zurückzuziehen. Gleichzeitig bemerken sie, dass sie aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Erziehern und wegen ihrer allgemeinen Hilflosigkeit diesen Rückzug nicht wirklich zuwege bringen.
In diesem Dilemma greifen die betreffenden Kinder oft zu einem Trick. Sie halten gleichsam Anteile ihrer Seele und ihres Bewusstseins aus dem zwischenmenschlichen Bereich heraus und belassen nur noch ihren Körper in der jeweiligen Situation, nach dem Motto: Die biologische Basis meiner Existenz muss ich der Bedrängnis ausliefern, aber mein Fühlen, Denken und Empfinden und damit mein eigentliches Selbst wird niemand erreichen können.
Wer diesen Mechanismus bei sich häufig anzuwenden gezwungen war, lebt nicht mehr vollständig in seinem Körper und ist somit nicht mehr inkarniert . Diesen Begriff verwendete der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty , um den Menschen zu beschreiben. Er sprach in diesem Zusammenhang von inkarniertem Geist oder vom Leib als einem Ankerplatz der menschlichen Existenz. Wird der Körper jedoch häufig im Stich gelassen, bedeutet er nach einiger Zeit keine Heimat mehr. Stattdessen wird er als fremd oder falsch bewertet und vom wahren Selbst (die zurückgezogene Seele, das Bewusstsein) geschieden:
»Das Selbst in einer solchen schizoiden Organisation ist gewöhnlich mehr oder weniger unverkörpert. Es wird als geistige Entität erfahren. Es tritt in den Zustand, der von Kierkegaard Verschlossenheit genannt wurde. Die Aktionen des Individuums werden nicht als Ausdruck seines Selbst empfunden. Seine Aktionen, all das, was ich vorgeschlagen habe, sein falsches Selbst-System zu nennen, werden dissoziiert und autonom (Laing 1994, S. 90).«
In Nuancen kennen die meisten Menschen Zustände, in denen sie nicht vollständig inkarniert sind. Jede Form des Eine-Maske-Tragens oder Eine-Rolle-Spielens geht mit einer gewissen Differenz zwischen wahrem und falschem Selbst einher.
Bei der Erkrankung der Hysterie kommt es zu stärkerer Dissoziation von Person-Anteilen bis hin zur »belle indifférence«. Obwohl der Körper unangenehme Symptome erleidet (gestörte Sinneswahrnehmungen bis hin zu dissoziativer Blindheit oder Taubheit, motorische Lähmungen, Störungen der Sensibilität), scheint die Stimmung des Patienten im Sinne seines falschen Selbst als ausgeglichen und beinahe heiter.
Je umfänglicher Menschen die Daseinsvollzüge ihrem falschen Selbst überlassen, umso welt- und realitätsärmer werden sie im Laufe der Zeit. Damit wachsen ihr Angstpotential und ihre ontologische Unsicherheit bei jedem neuerlichen Kontakt mit ihrer Umwelt und bestärken sie in ihrer misstrauisch-vorsichtigen und zurückgezogenen Grundeinstellung.
Solche Prozesse können schließlich in psychotische Erkrankungen einmünden.
Menschen mit psychotischen Erkrankungen lassen sich daher als heimatlos in einem umfänglichen Sinne begreifen. Weder empfi nden sie sich in ihrem eigenen Körper zu Hause, noch erleben sie ihre Mitmenschen als zugewandt und Halt gebend.
Aufgrund dieser doppelten Fremde kann man nachvollziehen, dass vielen dieser Kranken kaum oder nie Sexualität mit einem Du gelingt. Sie sind – wie die französische Sprache sie charakterisiert – »aliénés «, also Fremdlinge, die zwar die Sehnsucht nach Nähe und Heimat mindestens so sehr wie alle anderen kennen, zugleich aber aufgrund ihrer ontologischen Unsicherheit fast stets jene Situationen phobisch meiden, in denen sich Intimität und Hingabe ereignen könnten.
Quelle: Danzer, Gerhard (2011). Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen - Anthropologie für das 21. Jahrhundert - Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte. Berlin: Springer, S. 314 im Kapitel über Ronald D. Laing
C.G. JUNG: Person und Persona
C.G. Jung bezeichnete das 'falsche Selbst' mit dem Begriff der Persona im Gegensatz zur Person, welche das wahre Selbst verkörpert.
Die Zürcher Jungianerin Kathrin Asper spricht von narzißtischer Störung in Abgrenzung zum Narzißmus: „Narzißmus bedeutet Selbstliebe im Sinne des Bibelwortes ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (Matthäus 19,19).
Kurz gefaßt kann die narzißtische Störung als eine Beeinträchtigung der Selbstliebe verstanden werden, bedingt durch emotionale Verlassenheit
des Kindes." (Asper, K, Verlassenheit und Selbstentfremdung, S. 63.)
Selbstliebe im christlich-religiösen Kontext
"Schwerpunkt dieser Arbeit ist das Phänomen der Selbstliebe, weshalb der Schritt von der Betrachtung des Narzißmus hin zur Liebe zum eigenen Sein gemacht werden muß. Dies geschieht anhand einer Identifikation von Selbstliebe und gesundem Narzißmus.
Vorab wurde 'gesunder Narzißmus' in Anlehnung wie Abgrenzung zu den verschiedenen Narzißmustheorien in seiner Bedeutung für Selbst- und Fremdbezug zu definieren versucht. Es werden jedoch bei verschiedenen Autoren Anfragen an eine positiven Verwendung des Wortes Narzißmus durch den Zusatz 'gesund' oder 'reif' geäußert, da der in den Köpfen der Menschen weitverbreitete negative Bedeutungshorizont stets erhalten bleibt" (H. Wahl "Der Weg vom Narzißmus zum Selbst", S.22).
Eine deutliche Trennung wird hier forciert, um den Begriff ,Narzißmus' auf den Bereich der Pathologie und Störungen des Selbsterlebens zu beschränken. In Anlehnung daran sollte gleichsam im Gegenzug die positive Bedeutung des Wortes ,Liebe' und somit der ,Selbstliebe' nicht auf die negativen Aspekte eines pathologischen Narzißmus bezogen werden. Aus diesem Grunde wird zwischen Narzißmus und Selbstliebe eine deutliche Trennlinie gezogen. Dies geschieht im Sinne Kembergs, der die pathologische Entwicklung des Narzißmus scharf von dessen gesunder Ausprägung abgrenzt (im Gegensatz zur Theorie Kohuts). .Narzißmus' besagt die pathologische Erscheinungsform, wogegen gesunde oder reife Ausprägungen unter ,Selbstliebe' laufen. Narzißmus ist somit gerade nicht gleichbedeutend mit Selbstliebe, sondern stellt vielmehr das Fehlen von oder einen Mangel an Selbstliebe dar. Gleichsam liebt sich der narzißtische Mensch nicht zu viel, sondern gerade zu wenig. (aus: Hoffmann 2002, S. 84 Kapitel I. Psychoanalytische Betrachtungen)
Quellen:
Hoffmann, Monika (2002). Selbstliebe - Ein grundlegendes Prinzip von Ethos. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Wahl, Heribert .......................
Erich Fromm: Die Kunst des Liebens
Zusätzlich zu den bereits oben angeführten religions-psychoanalytischen Ueberlegungen ist auf Erich Fromm als einem der größten Verfechter der Selbstliebe hinzuweisen, der zwischen der Liebe zu sich selbst und zu anderen keinen Gegensatz erkennen kann. Liebe ist für ihn unteilbar und nicht 'entweder' auf sich selbst 'oder' den anderen gerichtet (Fromm in "Die Kunst des Liebens", S. 71).
Deshalb ruft Fromm zur Selbstliebe auf: „Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich haßt er sich. Dieser Mangel an Freude über sich selbst und an liebevollem Interesse an der eigenen Person, der nichts anderes ist als Ausdruck einer mangelnden Produktivität, gibt ihm ein Gefühl der Leere und Enttäuschung. Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig darauf bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu entreißen, die er sich selbst verbaut hat: "Es stimmt zwar, daß selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch nicht fähig, sich selbst zu lieben" (ebenda S. 73).
Dies liegt daran, daß der Narzißt nur als existent und real erkennen kann, was seinem Selbstbild entspricht und Teil seines Selbst ist. Die Außenwelt repräsentiert für ihn nur, was für ihn von Nutzen sein kann. „Das Gegenteil von Narzißmus ist Objektivität; damit ist die Fähigkeit gemeint, Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie sind, also objektiv, und in der Lage zu sein, dieses objektive Bild von einem Bild zu trennen, das durch die eigenen Wünsche und Ängste zustande kommt." (ebenda S. 130).
Diese Objektivität betrifft auch das eigene Selbstbild. Wird es objektiv und realistisch erkannt, können Beständigkeit des Selbst und Identitätsgefühl aufgebaut werden. Der Glauben an und das Wissen um die eigene Beständigkeit befähigt den Menschen zu verantwortlichem und kongruentem Verhalten (Fromm, E., Die Kunst des Liebens. 135f.).
(...) In gleicher Weise bedeutet diese Objektivität, daß der andere als eigenständige unabhängige Person erkannt wird und nicht als Teil des Selbst. Dadurch wird es auch möglich, die gesamte Person anzunehmen und nicht nur deren für das Selbst nützliche Teile. Nur auf der Basis dieses Getrenntseins ist wahre Liebe zweier Individuen möglich (Vgl. Fromm, E., Die Seele des Menschen, S. 95).
Erich Fromm weist darauf hin, daß aus der Forderung nach Nächstenliebe zugleich folgen muß, daß man sich selbst liebt. Soll es eine Tugend sein, den Nächsten als Mensch und Person zu lieben, dann darf davon das eigene Sein als Mensch und Person nicht ausgeschlossen werden. Der Begriff des Menschen umfaßt immer auch das eigene Dasein. „Die im biblischen Gebot: 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst' ausgedrückte Idee impliziert, daß die Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit, die Liebe zum eigenen Selbst und das Verständnis dafür nicht von unserer Achtung vor einem anderen Menschen, von unserer Liebe zu ihm und unserem Verständnis für ihn zu trennen sind. Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden." Fromm erkennt einen unlösbaren Zusammenhang zwischen Selbst- und Nächstenliebe, die sich gegenseitig begründen und bedingen. „Daraus folgt, daß ich selbst prinzipiell ebenso Objekt meiner Liebe sein muß wie ein anderer Mensch. Die Bejahung des eigenen Lebens, des Glückes, des Wachstums und der Freiheit wurzelt in meiner eigenen Liebesfähigkeit: in meiner Fürsorge, meiner Achtung, meinem Verantwortungsgefühl und meiner Erkenntnis.
Ein Mensch, der produktiv lieben kann, liebt auch sich selbst. Kann er nur andere lieben, so kann er überhaupt nicht lieben." (Fromm, E., Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München 1985, S. 105.)
Daneben ist interessant, daß Fromm einen Hinweis auf die Beziehung des Menschen zu Gott im Rahmen des Narzißmus ausspricht, wenn er die Gottesidee als Gegenpol zum Narzißmus betrachtet (dabei verweist er auf das Alte Testament und im besonderen die Lehre der Propheten), da hierbei Gott und nicht der Mensch die Allmacht in sich konzentriert (Vgl. Fromm. E., Die Seele des Menschen, S. 97.)
Zur Darstellung der Differenz zwischen Narzißmus und wahrer Selbstliebe und -Verwirklichung empfiehlt sich auch ein Blick auf die Unterscheidung Erich Fromms zwischen ,Haben' und ,Sein' als zwei gegensätzlichen Möglichkeiten von Existieren und Erleben der Menschen, wobei ,Haben' Besitzergreifen und Besitzen, ,Sein' jedoch Lebendigkeit und authentische Bezogenheit zur Welt im Gegensatz zu 'Schein' meint (vgl. Fromm, E., Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 1997.).
Liebe bedeutet nun im Bereich des 'Habens', das geliebte Objekt besitzen zu wollen und zu kontrollieren (Fromm, E., Haben oder Sein S.52.). Dadurch wird eine Beziehung im Sinne eines lebendigen Zu- und Miteinanders unmöglich. Selbstsucht definiert entsprechend die Existenzweise des Habens, wie dies für den Narzißmus mit seiner Besonderheit, daß der andere nicht als reales Gegenüber erkannt wird, typisch ist. Es ist Zeichen der Existenzweise des in sich selbst verliebten Narzißten, daß er alles auf sich und seine Selbsterhaltung bezieht (Fromm 'Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung').
Zugleich beherrscht die 'Haben'-Haltung das Subjekt selbst, dessen Identität und Selbstwert abhängig von Aeusserlichkeiten sind (Fromm, Haben oder Sein S.80). Das Subjekt ist stets angstvoll an Besitz und Prestige gebunden (Nidetzky, W. Mensch werden im Glauben. Bd.I.43.).
Dem gegenüber ist die Haltung des 'Seins' geprägt von Unabhängigkeit und Freiheit auf der Basis eines gesunden Selbststandes. 'Sein' besteht nicht in statischem Besitzen, sondern im Tätigsein entsprechend der erkannten eigenen Möglichkeiten und Talenten, was Willen zu Wachstum und Selbsttranszendenz einschließt (Fromm, E., Haben oder Sein. 89.).
Das Sein bezieht sich „auf das wirkliche im Gegensatz zum verfälschenden, illusionären Bild. In diesem Sinn bedeutet jeder Versuch, den Bereich des Seins auszuweiten, vermehrte Einsicht in die Realität des eigenen Selbst, der anderen und unserer Umwelt. (...) Zum Sein gelangt man, wenn man durch die Oberfläche dringt und die Wirklichkeit erfaßt." (ebenda S.99). Das eigene Selbst ist Träger des Selbstwertes und Mitte des eigenen Seins - nicht äußere Objekte (Fromm, E., Leben zwischen Haben und Sein, S.104). Der Mensch ist nicht, was er besitzt, sondern was er ist und tut (Fromm, E., Vom Haben zum Sein, S.157).
Quellen:
Fromm, E. (1976). Haben oder Sein - Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv.
Fromm, E. (1980 [1956]). Die Kunst des Liebens. Frankfurt: Ullstein.
Fromm, E., Vom Haben zum Sein
Fromm, E. (1985). Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie. München
Fromm, E., Die Seele des Menschen
Analytische Körperpsychotherapie: Peter Geissler, Tilmann Moser und andere
..........................
Agency und Communion in der IBP-Körperpsychotherapie
--> Honneth: Soziale Pathologien
--> Taylor et al.: Integration von Moderne mit der Postmoderne: Freiheit, aber mit Mass, Moral und in einer Konsens-Demokratie (-> Kap. 9)
Dialektik (vgl. Kap. 1) von Merksätzen, Stichworten und Gegensatzpaaren:
- Resonanz statt blosse (narzisstische) Spiegelung
- Anerkennung statt blosse Aufmerksamkeit
- Anerkennung statt Narzissmus
- Sein statt Schein
- Real statt Fake
- Sinnlich (auditiv, taktil, olfaktorisch) statt bloss visuell wie im Narzissmus
- relationale-anerkennend statt bloss empathisch
- Audio statt Video
- Analog statt Digital
"Von der Regulation des Narzissmus zum Anerkennen des Anderen - durch Empathie, Intuition und Resonanz in Dialog und Bezogenheit".
- Rogers' Variablen: Echtheit, Kongruenz und .......
- Felt Sense, Focusing, Experiencing (Eugene Gendlin)
- Now Moments (Daniel N. Stern)
- Psychoanalytisches Ereignis (Trimborn)
"Langeweile ist die notwendige Konsequenz
einer Intimität, die als
Tausch funktioniert."
Richard Sennett in
"Verfall und Ende des öffentlichen Lebens
Die Tyrannei der Intimität"
1983, S. 24
Postnarzissmus: Das "neue Zeitalter der Hysterie"?
Genau so fühlt sich Narzissmus an: "Niemals, niemals vorher ist einem Menschen solches Leid widerfahren wie mir, nichts, gar nichts, kann diese Kränkung wieder heilen lassen, kein Gefühl ist zu übersteigert, zu pathetisch, um meiner einzigartigen Seelenqual Ausdruck zu verleihen. Ich habe jedes Recht, von wem auch immer zu verlangen, dass dieses Leid wieder gut werden muss. Ich selbst habe ganz sicher nichts falsch gemacht, mir widerfährt wieder einmal unfassbar tiefes Unrecht".
Das hört sich von aussen unpassend, übersteigert, unecht, peinlich, falsch an. In seinem Inneren erlebt das der narzisstische Mensch als die einzige und berechtigte Möglichkeit, er oder sie selbst zu sein: ich kann gar nicht anders, als das zu denken, zu fühlen, zu tun, was ich gerade tue, denke, fühle.
Es ist die einzige Möglichkeit in der gegebenen Situation. In der gegebenen kränkenden Situation, muss dazu ergänzt werden, denn: nach all dem, was ich für den anderen Menschen getan habe, tut er oder sie mir das an. Ich habe alles gegeben, was ich konnte und hatte, ist es da nicht mehr als begreifbar, wenn ich so verletzt bin? Erlebte und befürchtete 'Kränkung' ist schlechthin das ausschlaggebende Movens in der Welt des narzisstischen Menschen.
Quelle: Klaus Sejkora (2010). Narzissmus: Das Falsche und das wahre Selbst. Hannover: Institut Inita
(...)
Drei Aspekte finden sich in meiner Gegenübertragung:
- eine Ambivalenz zwischen Sympathie und Antipathie
- ein Gefühl der Unechtheit und der Peinlichkeit
- und schließlich, überraschend plötzlich, eine empathische Berührtheit
Alle drei sind Hinweise darauf, dass wir es tatsächlich mit einer narzisstischen Persönlichkeit zu tun haben
Statt eines wahren, sich allmählich differenzierenden und relativierenden Selbst, ist der narzisstisch gekränkte Mensch gezwungen, ein falsches, sich den Erwartungen des Gegenübers anpassendes Selbst zu entwickeln.
Stephen Johnson, ein amerikanischer Psychoanalytiker, formuliert: "Wenn das, was ich bin, zu viel oder zu wenig ist, wenn ich zu viel oder zu wenig Energie habe oder zu sexuell oder nicht sexuell genug bin, zu stimulierend oder nicht stimulierend, zu frühreif oder zu langsam, zu unabhängig oder nicht unabhängig genug... dann kann ich mich nicht frei selbst verwirklichen. Das ist die narzisstische Kränkung. Der Versuch des Kindes, so zu sein, wie die Umwelt es haben möchte, ist das falsche Selbst" (Johnson 1988, S.56).
Dabei, sich den Vorstellungen ihres Gegenübers anzupassen, ein seinen Wünschen entsprechendes falsches Selbst zu präsentieren, entwickeln Menschen mit narzisstischer Problematik eine hohe Intuition und ein hohes Fingerspitzengefühl.
Das lässt sie oft charmant, sympathisch, manchmal sogar beeindruckend charismatisch erscheinen (bei nicht wenigen Menschen des öffentlichen und des veröffentlichten Lebens zu beobachten).
Dieser Aspekt findet sich wieder in der anfänglich positiven Gegenübertragungsreaktion auf Frau B.: Sie hat ein instinktives Gespür dafür, wie sie sich im Erstkontakt mit einem Psychotherapeuten gibt. Noch mehr: wie ich es mir im positiven Fall von einer neuen Klientin wünschen würde. Das spielt sie nicht als Rolle, das wird in diesem Moment zu einem von ihr (und auch mir) als durchaus authentisch empfundenen Selbst.
Doch diese Identität ist höchst fragil: spürt der narzisstisch verwundete Mensch, dass sie (er) nicht in dem Ausmaß auf die begeisterte Anteilnahme stößt, die er (oder sie) sich wünscht, dann bröckelt die Fassade: dahinter wird dann eine überempfindliche, latent aggressive und oft als übertrieben, unecht und theatralisch empfundene Person sichtbar.
Dementsprechend wechselt die Gegenübertragungsreaktion rasch zu Ärger, Ablehnung, Distanziertheit, einem Gefühl, da sei etwas Unechtes, Unpassendes im Gange, etwas, das darauf hinauslaufen würde, selbst benützt zu werden.
Frau B.: „Dort, wo andere Menschen eine Mutter haben, dort ist bei mir nur eine grosse Leere.“
Das falsche Selbst soll helfen, diese Leere zu überdecken und dafür zu sorgen, dass sie endlich gefüllt wird. Im Akzeptieren dieses Nichts, im Trauern um all das, was war und um das, was niemals sein durfte, wird allmählich das wahre, das echte Selbst sichtbar. Es ist ein verletztes und zutiefst gekränktes Selbst, aber eines, dass all das überstanden und ertragen hat, ein Ich, dass sich all dessen bewusst sein darf und das auf sich selbst stolz sein kann.
Ein letztes Zitat von Frau B. zum Schluss:
„Heute Morgen habe ich mich lange im Spiegel angesehen, ganz ungeschminkt, so, wie ich aus dem Bett gekommen bin. Was für traurige Augen sind das, habe ich mir gedacht, was für ein trauriges Mädchen bin ich doch. Was für ein liebes Mädchen bist du, hab‘ ich dann zu mir gesagt, aber keiner hat das gesehen. Und dann hab‘ ich so sehr weinen müssen – und hab‘ mir gedacht, was das Leben doch für ein merkwürdiges Ding ist, aber es ist mein Leben, und ich will es genauso haben, wie es ist!“
Quelle: Klaus Sejkora (2010). Narzissmus: Das Falsche und das wahre Selbst. Hannover: Institut Inita
----> Texte zur Gegenübertragung!
Visuelle Wende
Narzissmus hat also in erster Linie mit den Augen zu tun, mit dem Sichtbaren, Visuellen und als Gefahr bzw. Steigerung dessen mit Künstlichkeit, Unechtheit, Kitsch, "Fake" und Manipulation.
Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, dass es die sog. "bildgebenden Verfahren" sind, welche in den 90er Jahren die Welt der Medizin und auch der Psychiatrie erobert und erändert haben - also auch visuelle Medien, auf denen in der Folge mehr und mehr abgestützt wurde und "Wahrheiten" reklamiert wurden, weil etwas zuvor Unsichtbares scheinbar sichtbar wurde, d.h. sichtbar wurde es tatsächlich, nur ist die Frage, ob dies gleichbedeutend ist mit Wahrheit.
Das Modewort "Transparenz" kann gut und gerne als Maximum, als Optimum und Optimierung des Visuellen gedeutet werden, die maximal mögliche Sichtbarkeit des zuvor Unsichtbaren.
„Nur eine Maschine ist transparent“
Transparenz und Wahrheit sind aber nicht identisch, behauptet der Philosoph Byung-Chul Han, von dem auch obige Ueberschrift stammt. Er erläutert dies in seinem fulminanten Buch „Transparenzgesellschaft“ (vgl. z.B. Hartmann 2013, S. 18) und führt diese Sicht(!)weise bis zum aktuellen Buch "Psychopolitik" fort.
Byung-Chul Han schreibt dazu weiter: "Transparent ist nur die Maschine. Spontaneität, Ereignishaftigkeit und Freiheit, die das Leben überhaupt ausmachen, lassen keine Transparenz
zu.“ (Han 2012)"
„Auch das Erotische setzt das Geheimnis voraus. Wo es ganz verschwindet, beginnt die Pornografie.“
(........)
Entscheidende therapeutische Veränderungsprozesse vollziehen sich auf eine unserem Bewusstsein nur schwer zugängliche Weise. Jede Anpassung an Lebensumstände hängt fundamental von impliziten, nicht bewussten, präreflexiven und automatisierten Prozessen ab, die jenseits des Denkens und der Sprache liegen. Deshalb ist in den letzten Jahrzehnten das implizite Beziehungswissen immer stärker ins Blickfeld der interdisziplinären Forschung geraten. Es erweist sich als Bindeglied zwischen Psychologie und Biologie.
Empowerment, Embodiment, Enactment
Es scheint so, dass nach dem "relational turn" bereits die nächste Wende bzw. Erweiterung bzw. "Comeback" sich vollzieht: Im Anschluss an Stern, Buchholz, Gödde und viele andere und sehr gut passend zu den beziehungsorienterten Ansätzen in der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren ein starkes Interesse am Körper, an Bewegung, an Expression, an Resonanzphänomenen, also auch an Musik und Tanz, gebildet. Zahlreiche Konferenzen (z.B. die Sandler-Konferenz in Frankfurt am SFI oder die Lindauer Psychotherapietage) bezeugen diese Erweiterung psychodynamischen Interesses.
Michael B. Buchholz beschreibt diese "neuen" Dimensionen sehr treffend in seinem 2013 im "Forum für Psychoanalyse" erschienen Aufsatz "Embodiment - Konvergenzen von Kognitionsforschung und analytischer Entwicklungspsychologie":
(...) Was kränkt, macht krank. Es kann keinen Gegensatz des Sprechens und des Körperlichen geben; wir müssen die Gegenwärtigkeit des Körpers in der Sprache, besser: im Sprechen und damit in der Konversation, nicht etwa „hinter“ der Sprache suchen. Diese räumliche Metapher führt schwer in die Irre. Die These des Autors ist die von der Kontinuität der Konversation (Buchholz 2011).
Passend zum Thema RESONANZ tauchen wir nun ein in das etwas blumig gehaltene Vorwort zum zweibändigen Werk von Gödde/Buchholz (2012) und treffen dort auf eine Dialektik, sehr ähnlich derjenigen wie ich sie in diesem Buch immer wieder als Figur und Orientierungsrahmen verwendet habe:
(...) "Wer Psychotherapie handhaben will und den Besen der Manuale anwendet, dem könnte es wie dem Zauberlehrling ergehen – er wird die Geister nicht mehr los, die er rief. Ein Besen ohne den Meister taugt nur zum Reinemachen.
Eine Hexe aber ohne einen Ordnung schaffenden Besen produziert nichts als Verwüstung und Verführung. Hexe und Besen müssen sich so vereinigen, dass jener symbolische Flug ermöglicht wird, der große Zusammenhänge zu überschauen gestattet, der sich aus sinnlichen Befangenheiten löst und sie zugleich vertieft, der den Bund mit dem Teufel wagt, ohne ihm zu verfallen. Denn der Teufel ist, sogar dem Evangelium nach, Luzifer. Also, wie sein lateinischer und mit symbolischem Bedacht gewählter Name sagt, der Lichtbringer. Ohne seine Verführung, die Wahrheit zu erkennen, hätte nach der Genesis die ganze Geschichte nicht beginnen können (Villeneuve 1991).
Noch im Märchen taucht er auf in der Formel »Das hat Dir der Teufel gesagt...«, und da bringt er die Wahrheit, die das Rumpelstilzchen ärgert (Baals-Garduhn 1995).
Weil er die Wahrheit bringt, hatte er als Lichtbringer jenen Namen erhalten, der das englische Wort für die Aufklärung, »enlightenment«, vorwegnimmt. Aufgeklärt aber, so wusste schon Diderot, konnte nur werden, wer selbst einen Funken in sich spürte. »Sie können zu jemandem, der nichts fühlt, predigen, solange Sie wollen; Sie werden auf erloschene Kohlen blasen. Wenn es einen Funken gibt, kann man ihn beleben, aber der Funke muss zuerst da sein« (zit.n.Blom 2011 S.301)."
Quelle: Günter Gödde, Michael B. Buchholz (2012 Hrsg.). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt, Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Band I S.13-14.
Empathie, Intuition und die Dialektik von Innen und Aussen
"Wir (Gödde & Buchholz 2011) haben deshalb eine »vertikale« (in die Tiefe gehende) und eine »horizontale« (sozial-interaktive) Dimension des Unbewussten voneinander unterschieden und gehen davon aus, dass beide einer gesonderten Darstellung bedürfen. Auch muss man von solchen Fragen andere unterscheiden, etwa die, ob eine »horizontale« Diskussion den »Trieb« vernachlässige. Man kann durchaus diskutieren, ob Sexualität am besten durch eine Triebtheorie in einer letztlich biologischen Fundierung repräsentiert ist (Slavin 2012; Stein 2012). Sexualität bleibt von solcher theoretischen Fundierung unabhängig und dennoch ebenso vorrangiges wie immer auch abgewehrtes Thema.
Aehnliche Ueberlegungen gelten für solche Essentials wie Identität, ödipaler Konflikt, Narzissmus usw. Die Themen sind da, aber die Art, wie sie konzeptualisiert werden, ist sehr unterschiedlich.
Man sollte aber nicht einer Erörterung über das eine Thema vorhalten, dass nicht über das andere gesprochen und es so »ignoriert« oder gar »verdrängt« werde.
In der Psychoanalyse haben schon viele Autoren wie etwa Michael Balint, Harold Searles oder Frieda Fromm-Reichmann von solchen Synchronisationen und Resonanzphänomen gewusst und sie beschrieben, von Verschränkungen und den Weiten der Räume gesprochen, die wir heute, neurowissenschaftlich inspiriert, neu zu entdecken meinen. Wir sind immer, wie Ferro (2003) es ausdrückt, in einem bipersonalen Feld.
Ferro hält eine hübsche Metapher für das analytische Tun bereit: Der Analytiker ist in der Küche und bereitet seinem Patienten die Mahlzeit so zu, dass es ihm schmeckt – eben für jeden Patienten anders. Wie der Analytiker das freilich wissen kann, bleibt bei ihm etwas rätselhaft und das ist auch der Anlass für unsere Arbeit. Die Resonanz der sozialen Dimension des Unbewussten ist aufklärungsbedürftig.
Quelle: Günter Gödde, Michael B. Buchholz (2012 Hrsg). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt, Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Band II S.9-10.
Biologische Grundlagen: Spiegelneuronen und Metonymie:
Bei der Entdeckung der Spiegelneuronen wurde beobachtet, wie die gleichen Neuronen bei einem beobachtenden Tier feuern, wenn es eine bestimmte Handlung eines anderen Tieres nur beobachtet. Ihr Entdecker, Vittorio Gallese, publiziert sowohl gemeinsam mit Psychoanalytikern (Gallese et al. 2007) als auch mit dem Hauptvertreter der Kognitiven Linguistik, George Lakoff (Gallese & Lakoff 2005). Das ist eine Verbindung in die Welt der cognitive science.
Gallese (2001; Gallese, Eagle & Migone 2007) publiziert mit Psychoanalytikern seine »shared manifold«-Hypothese. Dabei geht es um Folgendes. Ein Schimpanse beobachtet einen anderen. Der Beobachtete kommt in den Raum und wirft einen schnellen Blick auf eine Tasse mit einem leckeren Getränk. Die Tasse aber steht hoch oben auf einem Tisch. Er kann sie nur erreichen, wenn er umständlich einen Stuhl aus einer Befestigung löst, den Stuhl heranzieht, auf ihn hinaufklettert und schließlich, nach einer Anstrengung von etwa 12 bis 15 Sekunden Dauer, aus der Tasse trinkt. Beim Beobachter aber leuchten die entsprechenden Hirnareale für »Trinken-aus-einer-Tasse« bereits von dem Moment an auf, in dem er den Blick des anderen auf die Tasse bemerkt hat. Dieser Blick »steht für« die gesamte Handlungsgestalt, die noch vor der Ausführung der eigentlichen Handlung erkannt wird. Erfasst wird also zunächst die Absicht. Der Beobachter ist in der Lage, die Handlungsgestalt samt Folgen zu antizipieren, »auch wenn wir eine Handlung nicht selbst ausführen, sondern sie nur beobachten« (Gallese et al. 2011, S. 326). Die Zuschreibung von Absichten und die Voraussage von Handlungen gehören, so betrachtet, nicht zu unterschiedlichen kognitiven Bereichen, »sondern sind beide Produkte verkörperter Simulationsprozesse« (ebd., S. 328). Wir müssen also nicht den aufwendigen Umweg über die »theory of mind«-Theorie gehen, sondern Simulation (Goldman 2006) liegt gleichsam eine Etage darunter; auf dieser Ebene einer affektiven Kommunikation baut sich eine symbolisch vermittelte, reflexionsfähige Konversation erst auf.
Biologische Grundlagen: Spiegelneuronen und Metapher:
Michael Tomasello hat viele Jahre die Entwicklung von Primatenbabys mit der von menschlichen Babys verglichen. Er ist ein sorgfältiger Beobachter auch der eigenen Kinder, so wie viele Entwicklungspsychologen vor ihm (Tomasello 1992, 2002, 2009). Ihm verdanken wir eine Studie über »First Verbs«. Tomasello beobachtet, wie Kinder in der vorsprachlichen Phase die Arme ausbreiten und dazu brummen – sie spielen Flugzeug. Andere kippen einen Stuhl um, mit dem sie etwas anderes spielen.
Sie nehmen einen Schlüsselbund, fahren damit über den Tisch und machen dabei »brumm, brumm« – sie spielen Auto. Sie kreieren eine Metapher: »Der Schlüsselbund ist ein Auto.« Die Mutter aber belehrt sie jetzt nicht über falschen Sprachgebrauch, sondern sie nimmt ihrerseits eine Gabel und lässt diese als Fußgänger herumstolzieren. Sie antwortet als »resonating mind« mit einer anderen Metapher. Aus diesem Spiel entwickelt sich dann über viele Zwischenschritte der normale Sprachgebrauch.
In der klinischen Praxis verhält es sich kaum anders. Wenn ein Patient im Erstgespräch etwas von seiner Mutter erzählt, habe ich keine Ahnung, was er mit diesem Wort meint; ich verstehe nur, dass er damit eine bestimmte Position im familiären Hierarchiegefüge bezeichnet. Versuche ich, mit dieser Annahme mitzuspielen, kann es sein, dass ich sein Spiel störe, denn er spricht vielleicht von seiner toten Mutter, von seiner Stiefmutter oder von einer Lehrerin, die diese emotionale Bedeutung für ihn hatte. Ich muss nicht sein Wort, sondern sein Spiel verstehen. Und schließlich irgendwann die Person, die dieses Spiel spielt. Diese erfahre ich aber in einer anfänglichen Resonanz, deren Bedeutung ich noch nicht verstehen kann, sondern die sich während des Prozesses erschließt. Hier kommen vertikale und horizontale Linie zu einer Art Kreuzungspunkt, in dessen Mitte das Selbst steht. Das Selbst ist kein Ding, sondern ein Punkt, der – wie in der Mathematik – keinen Ort hat, aber durch vertikale und horizontale Koordination genau bestimmt werden kann.
Er ist der Gravitationspunkt des Emotionalen, an dem sich entscheidet, was stimmt, was wahr ist und was nicht.
Quelle: Günter Gödde, Michael B. Buchholz (2012, Hrsg.). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt, Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Band II, S. 14-15.
Biologische Grundlagen: Spiegelneuronen und Resonanz:
(...) "Konversation präferiert Zustimmung, das ist die eine Beobachtung. Die andere ist: Konversation basiert auf Resonanz. Nach Freuds Auffassung ist das psychoanalytische Gespräch nichts anderes als ein »Austausch von Worten«; in der »Laienanalyse« erläutert er die Einführung der Grundregel mit dem Wort »Konversation«. Konversation fließt so, dass ein Gespräch nur dann geführt werden kann, wenn wir uns auch von ihm führen lassen können, wie Gadamer (1960) es philosophisch begründet hatte. Das militärische Wort »Intervention« wäre so gesehen ein Resonanzunterbrecher. Unterbrochen wird die Strömung affektiver Konversation, welche beständig bei symbolvermittelter Konversation mitläuft. Freuds Anweisung an das analytische Paar, dem freien Einfall mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu lauschen, könnte genau diese beiden Dimensionen gemeint haben. Das Schwebende und Strömende des Affektiven wird, wenn der Analytiker spricht, unterbrochen; die gleichschwebende Aufmerksamkeit lässt sich nieder, wie Thomä und Kächele (1985) es so schön formuliert hatten. Dies sind dann immer Wendepunkte für das Umschalten von affektiver auf symbolvermittelte Konversation – jedoch in beide Richtungen!
Das Sprechen des Therapeuten unterbricht die affektive Resonanz, was nicht nur zu Reflexion und Symbolbildung, sondern durchaus auch zu affektiver Intensivierung führen kann. Kandidaten könnte hier beigebracht werden, ihre Kompetenz darin zu stärken, indem sie sensibilisiert werden, darauf zu achten, welche Wirkung das eigene Sprechen jeweils hat.
Wir wollen das Phänomen der sozialen Resonanz aufsteigend beschreiben.
Wir gehen von Beobachtungen der präverbalen Entwicklung unter Bezugnahme auf einige Befunde der Säuglingsforschung aus und steigen dann langsam auf zu Resonanzen, die sich im symbolvermittelten System der Konversation finden und dokumentieren lassen.
Soziale Resonanz:
Resonanz ist selbst in den Naturwissenschaften ein großes Thema (Cramer 1996). Innerhalb der Sozialwissenschaften und der Psychologie ist diese Metapher als wertvoll für die Beschreibung zwischenmenschlicher »Schwingungen« empfunden worden (Feldmann-Sbrisny 1999; Franke 2007); in der Psychoanalyse sind Patienten, die »keine Resonanz« aufbringen können, beschrieben worden (Joseph 1993), wobei zugleich eine besondere Behandlungstechnik vorgeschlagen worden ist (Maier 2008; Krejci 2009).
Das schon klassisch zu nennende Paradigma sozialer Resonanz in der Entwicklungspsychologie der Säuglingsforschung ist die experimentelle »stillface«-Prozedur, wie sie von Ed Tronick (2007) umfänglich untersucht und entwickelt worden ist:
Eine Mutter und ein etwa vier Monate alter Säugling werden in einer ersten Versuchsphase beim Spiel mit Blicken und Gurre-Lauten gefilmt, sie lachen sich an und vokalisieren in zeitlich enger rhythmischer Synchronisation; Initiativen gehen von beiden aus und werden von beiden resonant beantwortet. Die Stimmen der »shared emotion« finden sich auch im interkulturellen Vergleich (Powers & Trevarthen 2010). So ließ sich klären, was in der älteren Terminologie als »Rapport« bezeichnet worden war (Tronick 1990).
In einer zweiten Versuchsphase verhält sich die Mutter instruktionsgemäss zwei Minuten lang vollkommen starr und verweigert die Reaktion auf die kindlichen Initiativen. Sie blickt am Kind vorbei, reagiert auf dessen Versuche, die Lächelspiele wieder aufzunehmen, ausdrücklich nicht, und verweigert sich somit der kindlichen Initiative. In einer dritten Phase nimmt die Mutter nach diesen zwei Minuten das normale Spiel mit ihrem Kind wieder auf.
Es gibt Videoaufzeichnungen von dieser Prozedur, die sehr bewegend sind.
In der eigentlichen experimentellen zweiten Phase, wenn die Mutter Resonanz verweigert, wird das Kind übermäßig aktiv, zeigt mit dem Finger auf etwas, worüber man eben noch gemeinsam gelacht hat; das Kind ergreift vielerlei Initiativen, um die plötzlich so veränderte Mutter wieder zur Teilnahme am Spiel zu gewinnen, und wenn das nicht gelingt, kann man die interaktive Vorform der Verleugnung erkennen: Das Kind wendet, nach einer Phase des lärmenden Protests, aktiv den Kopf zur Seite und will erkennbar das erstarrte Gesicht der Mutter nicht mehr ansehen. Tronick (2007, S. 403) sieht darin einen Vorläufer der Verleugnung und stellt Bezüge zu André Greens Beschreibung der »toten Mutter« her. Diese Mutter ist nicht wirklich »tot«, sondern sie verleugnet die Dimension der Resonanz, ihr Verhalten »precludes the creation of a dyadic state of consciousness« (ebd.).
Ein solcher »dyadischer Bewusstseinszustand« ist Tronicks Bezeichnung für jene besondere Form der Resonanz, die Menschen brauchen, wenn sie der Hilfe anderer bedürfen. Das gilt sowohl für Patienten, aber insbesondere auch für kleine Kinder, die etwa für die Temperaturregulation ihres Körpers auf die Mutter angewiesen sind. Temperatur wird ebenso wie der emotionale Zustand dyadisch reguliert. Das ist die Pointe dieses Experiments. Die Affekte der Kinder sind keineswegs diffus oder chaotisch, wie eine ältere Theoriebildung noch meinte. Die Videographie ermöglicht es, zu erkennen, wie genau Kinder ihren Zustand kommunizieren. Kinder haben keineswegs nur ein »Reptiliengehirn«, das lediglich »Erregung« kommuniziert, sondern sie sind aktive Partner in einer vorsprachlichen affektiven Konversation, die gegenseitig präzise reguliert wird. Chaotische Affekte entstehen in genau jenem Augenblick, in dem die affektive Konversation – durch die experimentelle Instruktion induziert – abgebrochen oder unterbrochen wird. Dann bemühen sich die Säuglinge intensiv und in beschreibbaren Aktionen darum, die affektive Resonanz wiederherzustellen. Das nämlich können sie nicht allein:
Sie bedürfen zur Regulierung der Hilfe der Mutter und diese erkennt, wenn alles gut geht, an den differenzierten kindlichen Reaktionen, wie das Kind den Zustand ihrer gemeinsamen Interaktion »evaluiert«: als gelingend oder reparaturbedürftig, als befriedigend oder alarmierend, als geteilt oder unrettbar voneinander getrennt.
Dieses so aufschlussreiche experimentelle Paradigma lässt uns ahnen, was Kinder erleben, die eine wirklich depressive Mutter haben.
Quelle: Günter Gödde, Michael B. Buchholz (2012, Hrsg.). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt, Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Band II, S. 17-20.
Balance, Rhythmus, Resonanz: Auf dem Weg zu einer Komplementarität zwischen »vertikaler« und »resonanter« Dimension des Unbewussten
Günter Gödde und Michael B. Buchholz in: Psyche – Z Psychoanal 67, 2013, 844–880
"Neue, v.a. musikalische Metaphern eignen sich am ehesten, um die intensive Erfahrung der therapeutischen Situation zu beschreiben. Die vertikale Dimension behält ihr Recht in der Rekonstruktion einer Geschichte, die aber immer eine intersubjektive Aktualgenese (zwischen Analytiker und Patient) hat. Diese kann, unter Rückgriff auf neuere Befunde, durch Metaphern der Balance, des Rhythmus und der Resonanz beschrieben werden. Mit solcher Umstellung ihrer Leitdifferenzen könnte die Psychoanalyse die Illusion aufgeben, dass sie je den Binnenraum »ohne Welt« untersuchen könnte. Psychoanalyse findet in einer Welt statt, die phänomenologisch leichter erfahrbar wird (statt introspektiv verschlossen zu werden). Das resonante Unbewusste im Zusammenspiel mit der vertikal-historischen Dimension zu erforschen dürfte eine der größeren Zukunftsaufgaben der Psychoanalyse werden.
Der Körper in der Sprache
Der Beschreibung der Fähigkeit, pianistische Improvisation zu lernen, verdanken wir wesentliche Impulse. Es war der Pianist David Sudnow (1978), der in seinem Buch
sehr anschaulich beschreibt, wie der „sound“ in die Finger kriecht. Noten verlieren den Status einer Repräsentation; vielmehr ist es das Erlebnis der Finger, die plötzlich etwas spielen wollen, das in ihnen steckt. Der Klang war schon im Ohr, bevor das Klavier ihn erzeugte. Sudnow beschreibt genau, dass das „Wissen“ aus diesem Rückkopplungssystem ein anderes war als das kontextfreie und repräsentative musikalische Wissen, das er vorher aus den Noten hatte. Sein Wissen ist „embodied“ und zugleich „situiert“ – es ist flüchtig und realisiert sich nur genau in dem Moment (vgl. Sterns "Now-Moment" in Kap. 4) des Spiels.
Das gilt auch für andere Spiele. Eine der großen und klassischen Studien der Sozialpsychologie war die Untersuchung von „street gangs“ durch Homans (1960).
Darin werden Szenen der folgenden Art beschrieben: Ein Junge will Mitglied in einer Gang werden. Er muss sich dazu bewerben, aber nicht durch eine Bewerbungsmappe mit Foto und Lebenslauf, sondern indem er zeigt, was er kann, etwa beim Billardspiel. Er muss gegen den bisher Besten der Gang antreten. Homans beschreibt nun ganz detailliert, wie bereits die anfänglichen Reaktionen der umstehenden Gangmitglieder entscheidende Hinweise geben, wie das alles ausgeht. Können sie den Neuen gut leiden, wird er angespornt; wenn nicht, schon in den ersten Sekunden durch Kopfwegdrehen, verächtliches Schnauben bei einem Fehler oder Ähnliches niedergemacht. Und die Gruppenmitglieder lesen am Gesicht des „gang leader“ ab, ob sie ihn leiden mögen oder nicht. So genau kann man beobachten, wie der Körper – Miene und Blicke, Atem und Körperdrehung – den Status eines neuen Gruppenmitgliedes festlegt. Und das Bestürzende ist: Der Neue spielt genauso so gut oder schlecht, wie sich das aus den ersten Sekunden bereits vorhersagen lässt. Jedenfalls dann, wenn er diesem Druck nicht widersteht – das schaffen immerhin einige.
Wer also mitspielt, improvisierend in der Musik oder rituell beim Billard, zeigt nicht nur ein bestimmtes, nonrepräsentationales Wissen, das ihn als einen ausweist, der die Regeln akzeptiert und beherrscht, sondern er erwirbt auch eine bestimmte soziale Position. Das neue Stichwort heißt deshalb „embodied knowledge“. Es ersetzt die kartesianische Vorstellung der Repräsentation, inkludiert den Körper mitsamt der flüchtigen Situation. Eine weitere, für die Psychoanalyse wichtige Konsequenz:
"Embodied Knowledge" verändert die Stellung des Subjekts; es ist nicht mehr hinter seiner Praxis als ein Wesen sui generis präsent, sondern nur in seiner Praxis.
Wie bloß konnte man diesen Ort des Subjekts so lange nicht erkennen? Die Antwort lautet: Einerseits wegen des gewaltigen Ueberhangs an philosophischen Traditionen, die das Subjekt immer schon in einer Zuschauerontologie (Slunecko 2012) verorteten, sodass es nie zum Handeln kam, weil es ständig nur beobachtete; philosophisch nur wenig in psychoanalytischen Territorien zur Geltung kommende Phänomenologen wie Merleau-Ponty (1966, S. 234) hatten die veränderte Stellung des Subjekts so formuliert: „So bin ich selbst mein Leib und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt, wie ein vorläufiger Entwurf meines Seins im ganzen“.
Andererseits wurde die Stellung des Subjekts aus einer methodischen Grundposition heraus übersehen, die meinte, alles folge deduzierbaren Regeln. Die genannten Beispiele und viele weitere Forschungen zeigen nun übereinstimmend, dass nur im Nachhinein methodische Schlaumeier kommen und die Regeln rekonstruieren konnten, denen ein Improvisateur, Schillers Liebende, Taubstumme, Billardspieler oder andere Körperkönner wie Tänzer, Stimmkünstler oder stimmlich Trost Spendende (Poettgen-Havekost 2010) oder „poetry slammer“ usw. folgen. Will man diese Regeln dann nach vorne anwenden, gerät jeder sofort in die Lage des zerstreuten Professors, der Fahrradfahren lernen möchte, indem er die Gesetze des freien Falls und der schiefen Ebene „anwendet“. Für die psychoanalytische Praxis hatte Gill einmal prägnant formuliert: Wer in der psychoanalytischen Situation eine Theorie anwenden wolle, erzeuge sich Schmalz im Dritten Ohr!
„Anwendung“ ist das Wort, das zu einem repräsentationalen, kartesianischen Bezugsrahmen gehört; es ist – unpraktisch. Offenbar, so die durchgängige Erfahrung, müssen wir diese Dinge ganz anders denken. Es geht nicht um repräsentationales Wissen, sondern um Embodied knowledge, das situiert ist und flüchtig, das durch Beschreibung leicht verfälscht wird und das nur der angemessen beobachten kann, der es am eigenen Leib erfahren hat. Wer aber in labilen sozialen Konstellationen erfolgreich handeln will, muss auf ein präreflexives Können der sozialen Kompetenz („performed knowledge“) zurückgreifen, worin sich eine praktische Logik des situativen Moments, des voranschreitenden Prozesses und des „gekonnten“ Umgangs mit Unsicherheit dokumentiert. Verkörpertes Wissen ist also Bedingung einer kompetenten Praxis.
Bourdieu (1990) sprach hier vom „praktischen Sinn“, von Goffman (1964) können wir hinzu fügen, dass das immer auch „a sense for one’s place“ sei und dass sich durch verkörpertes Wissen somit immer auch „ein Sinn für die Grenze“ (Bourdieu 1990) manifestiere. Damit kommt in jede Form sozialer Praxis, und ich rechne v.a. die psychotherapeutische Konversation zu einer solchen sozialen Praxis, eine neue Möglichkeit vor, die Situation selbst verschieben und verändern zu können und ihr so innovative Gehalte abzuringen. Wiederum Bourdieu hatte hier vorgeschlagen, die Frage zu sondieren, „wie sich konkrete operative Praxisgegenwarten zu ihren Kontexten verhalten“. Damit war gemeint, dass professionelle Praxis gerade nicht kontextdeterminiert ist, sondern Praxis sich Spielräume (Weymann 1989) erobert jenseits der Determination durch ihre Kontexte. Das Neue ist, dass wir Subjekte nicht mehr nur als von sozialer Struktur determiniert sehen müssen, sondern als Improvisateure, die in jene Strukturen des Sozialen mit Sinn für Körperlichkeit und Situiertheit Neues hineintragen können. Der Strukturdeterminismus ist radikal aufgesprengt.
Personen sind nicht mehr „Opfer“ ihrer Determination aus Umständen, sondern haben die Chancen, Alternativen. Die werden nur in repressiven politischen Systemen beschnitten. Improvisation, das sich vom englischen „to improve“ ableitet, muss als „Verbesserung“ eingedeutscht werden; der Jazzmusiker und Psychoanalytiker Steven Knoblauch (2000, 2012) sieht „improvising and accompagniment in jazz as a metaphor for clinical technique“ und führt seine Überlegungen, im Wechselgesang mit psychoanalytischen Theorietraditionen zu einem Konzept des „resonant minding“ (ebd., S. 95) fort.
Wie der Körper sich im Sprechen artikuliert, dazu bietet die kognitive Linguistik eine Menge Ueberlegungen an (Johnson 1987; Lakoff und Johnson 1999). Die Wichtigste dürfte sein, dass bereits auf körperlicher Erfahrungsebene dynamische, aber abstrakte Schemata die Organisation der Erfahrung bewerkstelligen. Für die Psychoanalyse interessant ist, dass die Rede von einem „Container“-Schema ist.
Das Kind liegt „in“ einem Bett, das Bett steht „in“ einem Zimmer, das Zimmer ist „Teil eines“ Hauses, das Haus „gehört zu“ einem Dorf usw. Jedes Mal ist etwas in etwas enthalten. Diese abstrakte Struktur wird dynamisch durch ihre Projektion in andere intellektuelle Domänen, etwa in die Inklusionslogik, wonach A < B < C < D und dann auch gilt, A < C bzw. D > A . Die Präposition „in“ bzw. die hier in Anführungszeichen gesetzten Worte indizieren das Container-Schema ebenso wie die Vorsilbe „ent-“ in „enthalten“. Das Container-Schema ist derartig analog zu Bion gedacht, dass man sich wundert, wie wenig es zur Kenntnis genommen wurde. Aber die kognitive Linguistik hat noch weitere, nun über Bion hinausgehende Schemata bereit. Hier soll es nunmehr um die Beziehung zwischen Körpern gehen, und dafür schlägt Buchholz, Daniel Stern überschreitend, den Begriff des „resonating alignment“ vor.
Resonating alignment
Was kann man sich also unter solchem „resonating alignment“ (Aron 1996; Buchholz 2013; Mergenthaler 2008) vorstellen? Galatzer-Levy (2009) berichtet ein wahrscheinlich typisches Beispiel aus der Behandlung eines jungen Mannes, der auf Äußerungen seines Analytikers regelmäßig mit längerem Schweigen reagierte und dann mit einem anderen Thema weitermachte. Darauf angesprochen, habe er gesagt:
„I admit and go on.“ Diese Wendung, „admit and go on“, hat der Analytiker dann vor sich hin sinnierend wiederholt, und daraus sei dann allmählich eine immer mehr ins Humorvolle sich wendende Äußerung beider geworden, die bei verschiedenen Gelegenheiten gebraucht werden konnte. Das Entscheidende aber sei die Rhythmisierung gewesen, die durch die Wiederholung entstand.
In der Tat, das erinnert an manche musikalische Momente. Auch hier haben wir es mit dem Anspielen eines Themas zu tun, das von einer anderen Instrumentengruppe aufgenommen, im Rhythmus wiederholt, aber in der musikalischen Phrase leicht verändert wird (Berkowitz 2010; Sudnow 1978; Tüpker 2006). Condon und Sander (1974) haben bereits vom „Hörtanz“ gesprochen: Neugeborene bewegen sich rhythmisch mit dem „baby talk“, dem Singsang ihrer Pflegepersonen, mit; es kommt durch die Synchronisation der Rhythmen zu Momenten der Begegnung.
Trevarthen (1977) betonte, wie dadurch, dass etwas wiederkehrt, die Fähigkeit geschaffen und bestätigt wird, etwas zu erwarten – ab den ersten Lebenstagen!
Neuerdings interessieren sich einige Forscher für die spezifische Form der „Intelligenz“, die beim Tanz gebraucht wird: Sie ist nicht schlussfolgernd, sondern improvisiert aus dem Moment; sie folgt nicht Regeln, sondern eher körperlichen Gefühlen der Balance – nicht nur des eigenen Körpers, sondern auch des koenästhetischen Gemeingefühls mit dem Körper des Anderen (Schwerdt 2009).
Wir finden eine ähnliche Beschreibung auch bei den Säuglingsforschern (Trevarthen 2002, 2005), die beobachten, wie Mütter sich im Rhythmus dem Gezappel ihres Kindes anpassen und minimale kleine Veränderungen vornehmen – nach einer langen Reihe geduldiger Wiederholungen. Das kindliche Pendel, wenn ich mir diesen Schlenker hier erlauben darf, und das mütterliche Pendel synchronisieren sich miteinander.
Diese Synchronisation geht über verschiedene Sinnesmodalitäten hinweg; der Rhythmus eines Rufes kann durch die Armbewegung oder das Antippen der Nase des Kindes aufgenommen werden. Stern (1985) bezeichnete solche Synchronisation als „transmodal“.
Nach solcher Synchronisation kann die Veränderung des einen Pendels Veränderungen beim anderen nach sich ziehen, und beide zusammen evolvieren in neue Beziehungsmuster. Tronick (2007) hat gezeigt, dass es hier nicht um Beruhigung, sondern um den Aufbau von Komplexität geht, den ein Bewusstsein für sich alleine nicht erreichen könnte. Auf der Grundlage rhythmisch synchronisierter Koppelung können sich andere Muster auflagern; das eine gibt Sicherheit, das andere ermöglicht Veränderung.
Tatsächlich ist das, was Säuglinge brauchen, ein „dyadic state of consciousness“, wie der von Tronick (2007) gebrauchte Ausdruck lautet. Ein dyadischer Bewusstseinszustand, Synchronisation zweier individueller Bewusstseine so, dass der Abhängigere und Bedürftigere von beiden wissen kann – in einem nonrepräsentationalen Sinn –, dass der Andere ähnlich fühlt, denkt, erlebt, teilt und aufgrund dessen das Hilfreiche tun wird. Solche Zustände werden in der analytischen Situation gesucht, können lange nicht geschaffen und nie lange aufrechterhalten werden, aber sie haben zu wenig Würdigung gefunden, am ehesten unter dem Stichwort der „guten Stunde“. (...)
Psychotherapie heisst, dem Neuen Platz einräumen
Diese Möglichkeit des Neuen muss Psychotherapeuten mit Nachdruck interessieren.
Embodiment ist ein solches neues Moment, aber es ist nur Teil einer viel umfassenderen großen Revolution in den Cognitive sciences, das mittlerweile mit Sinn für Ironie als „4EA“-Paradigma (Choudhury und Slaby 2012) bezeichnet wird – was gemeint ist, ergibt sich sofort.
Die ältere Annahme, dass menschliches Problemlösen durch eine Computeranalogie am besten zu modellieren sei, also eine Art mathematischer „general problem solver“ (GPS) hatte sich als unhaltbar erwiesen (Shapiro 2011). Der Einschluss des Körpers in den Problemlösungsakt, die Resonanz mit menschlicher und Nutzung symbolischer Umwelt haben nachdrücklich klargestellt, dass die alleinige Fokussierung auf den GPS zu erheblichen Verkürzungen führe. Seitdem hat die Cognitive science eine Wendung genommen, die Psychoanalytiker interessieren muss. Sie schließt Körper, Umwelt und Ausdehnung des Selbst(gefühls) ein. Der neue Titel dafür heißt „situated cognition“ (Robbins und Aydede 2009), und unter diesem Titel werden Phänomene studiert, die direkte Relevanz für therapeutische Praxis haben, etwa das Konzept einer „distributed cognition“ – Wissen ist nicht nur in einem, sondern in vielen Köpfen verteilt, kooperiert situativ gesteuert und fein kalibriert und aktualisiert sich flüchtig, nämlich von Situationen solcher Einstimmung abhängig. Das affektive „attunement“ bekommt damit für die Leistungen der Kognition eine Rolle zugewiesen, wie man es in der Therapeutik seit vielen Jahren beschrieben findet. Es geht (hier folgen neben dem Affektiven nun die vierfachen „E“) um die im Folgenden beschriebenen Entwicklungen.
Die Embodiment-These
Die Embodiment-These besagt, dass Denken nicht nur Angelegenheit des Gehirns ist, nicht nur im Kopf geschieht, sondern der ganze Körper daran beteiligt ist (Fuchs 2008; Shapiro 2011). Diese Richtung der Kognitionsforschung verläuft, wenn auch in ganz anderen theoretischen Rahmungen, parallel zu den Anregungen, die innerhalb der Psychoanalyse Lorenzer (1988) als „Hermeneutik des Leibes“ vorgebahnt hatte und die heute als Einbeziehung des Körpers klinisch große Beachtung finden (Buchholz 1995, 2002a; Scharff 2010). Psychoanalytische Untersuchungen können gut an sozialwissenschaftliche Forschungen anschließen und dabei insbesondere die Forschungen zur „multimodalen“ Metapher einschließen.
Die „Embedding“-These
Die Embedding-These besagt, dass Denken keineswegs nur mit symbolisch-repräsentationalen Mitteln operiert, sondern auch Umwelten aktiv nutzt bzw. sogar ausbeutet; dafür werde ich später ein schönes Beispiel nennen. Auch hier finden sich psychoanalytische Ansätze (Gerson 1996; Jacobs 1994), die mit anderen (Millikan 2009; Spivey und Richardson 2009) kompatibel scheinen, zumindest daraufhin geprüft werden könnten.
Die Extensionsthese
Die Extensionsthese besagt, dass die Grenzen der Kognition über die des individuellen Organismus weit hinausreichen (Überblick bei Robbins und Aydede 2009). Dass zu Objekten Umwelten und affektiv hoch besetzte Gegenstände zählen, ist beständige klinische Erfahrung. Die Psychoanalyse hat in ihrer Narzissmustheorie einen Ansatz entwickelt, die Ausdehnung des Selbst über die Grenzen des Organismus hinaus zu denken (Kohut 1973; Stein 1979).
Die „Enaction“-These
Die Enaction-These besagt etwa so viel wie das, was ich hier unter dem Stichwort der Improvisation vorgestellt habe.
Wir haben es also mit vier plus einer neuen Entwicklung zu tun, und diese lassen uns verstehen, wie der Weg vom Körper zur Konversation vorgestellt werden kann.
Ich begnüge mich hier mit einer Skizze.
Quelle online: link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs00451-013-0141-4.pdf
- Selbstbemächtigung des Subjekts: Empowerment
In meiner langjährigen therapeutischen Arbeit entwickelte ich therapietechnisch gesehen immer mehr eine Kombination aus Gesprächs-/Gestalttherapie (z.B. Offenheit, Transprenz) und Psychoanalyse (z.B. Arbeit mit Widerstand, Narzissmuskonzept, Gegen-/Uebertragung), sodass ich heute eine auf jeden einzelnen Klienten abgestimmte Arbeitsweise anbieten kann, die sich aus ebendiesen Quellen nährt.
Konkret bedeutet dies, dass ich beim einen Patienten streng und konsequent bin als Grundhaltung und beim anderen Menschen gewährend und tolerant in meinem Kommunikationsverhalten und Beziehungsstil - gerade so wie es eine relational verstandene Grundhaltung ermöglicht.
Schematisch kann man sich die Kombination der Psychotherapie-Richtungen etwa so vorstellen:
- Humanistische Grundhaltung der Gesprächsttherapie nach Carl Rogers: Transparenz, Offenheit, Partnerschaftlichkeit
- Analysetechniken und Beziehungsgestaltung der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und NachfolgerInnen
- "Technische" Umsetzung der Erkenntnisse ergänzend und punktuell auch mithilfe der Gestaltherapie (Perls) und Kognitiven Verhaltenstherapie (z.B. Klaus Grawe)
Die gesellschaftskritische, kulturpessimistische, kapitalismuskritische und politische Position
vgl. ausführlich Kapitel X und Y.
.
.

Quelle: Altmeyer, Martin (2014). Vortrag über Intersubjektivität an den Lübecker Psychotherapietagen 2014
Das Generieren von neuen Konzepten
Das Mentalisierungskonzept wird von Allen at al. (2008) als ein „generischer“, d.h. neue Aspekte generierender Ansatz der Psychotherapie aufgefasst. Der mentalisierungsbasierte Ansatz enthält dabei vieles, was als Fundus erfolgreicher therapeutischer Interventionen bekannt ist. Die Autoren sind davon überzeugt, dass unterschiedliche Therapien, von der Psychoanalyse bis zur kognitiven Verhaltenstherapie und systemischen Therapie, die Mentalisierungsfähigkeit fördern – solange sie den generellen und situativen Mentalisierungsfähigkeiten des Patienten angepasst sind. Deutungen können dabei sehr erfolgreich sein – allerdings nur, wenn sie vom Patienten mentalisierend verarbeitet werden können.
Das Konzept der Mentalisierung hilft, die eigene Theorie über das, was man als Therapeut tut, zu klären. Es verstärkt die Kohärenz und die Prägnanz im Prozess. Vielleicht erhöht dies schon allein – so die Autoren – die therapeutische Wirksamkeit auf subtile Weise (Brockmann & Kirsch 2010a).
Die Konzepte des Kontaktes (Perls 1976, Fuhr et al. 1999), der Begegnung (Moreno 1914, Buber 1954) des Dialoges und insb. des Polyloges (Buber 1954 überschreitend: Bakhtin (1981) und Levinas (1983), vgl. Petzold 1996k und Petzold 2002c), sowie des sozialen Netzwerks (begründet von Moreno (1934), vgl. ausführlich Hass, Petzold (1999).
Gerade Gruppen haben ja den Vorteil, dass es im "geschichtsbewussten Erleben gegenwärtiger Situationen" (man spricht hier oft seminaiv und ahistorisch vom "Hier & Jetzt", das aber als ein perspektivisches gedacht werden muss; vgl. Petzold (1981e)) mehrere konkrete Gegenüber gibt.
Mit ihnen tritt der Einzelnen in Kontakt – und diese mit ihm, so dass Polyloge entstehen. Er kann dann in einem geschützten Rahmen Neues oder längst Vergessenes ausprobieren, lernt dadurch ganz verschiedenerlei Menschen kennen, mit denen er/sie sonst vielleicht nie Kontakt hätte, andere Meinungen, Kulturen, Präferenzen etc. Somit wird beim Individuum Flexibilität und Toleranz, auch für eigene Schwächen, gefördert. Erweitert werden auch die soziale Kompetenz (das Wissen um, die Fähigkeiten für soziale Situationen) und die soziale Performanz (das Können, die Fertigkeiten in sozialen Situationen "souverän zu sein", s.o.) und das Gefühl des Verbundenseins und der Solidarität.
(..........)
Der Göttinger Psychoanalytiker Michael Buchholz beschreibt dies in einer Würdigung des leider viel zu früh verstorbenen Stephen Mitchell so: „Hier wird gelitten und nach Worten gerungen, hier wird gekämpft, geweint, getrotzt, verführt und beeinflusst. Das alles geschieht, geschieht und geschieht, und am Ende steht manchmal eine Einsicht, eine hilfreiche Klärung, manchmal aber auch nur ein beruhigendes Wort.“ (Buchholz M (2003). Vorwort zur deutschen Ausgabe von Stephen Mitchells „Bindung und Beziehung“, Psychosozial-Verlag, Giessen, S. 9).
Natürlich ist der Analytiker auf Grund seiner/ihrer spezifischen Ausbildung und Kenntnisse, ihres theoretischen Wissens immer auch in einer Sonderrolle. Die analytische Beziehung ist daher zugleich symmetrisch und asymmetrisch. Das ist das Paradox, das in der Behandlung ertragen werden muss.
Die psychoanalytische Behandlung zielt im Kontext der intersubjektiven Psychoanalyse darauf ab, subjektive Bedeutungen zum Tragen kommen zu lassen, die zwischen Patient und Analytiker ausgehandelt werden, und im Hier und Jetzt zu ergründen. Die Uebertragung spielt dabei insofern eine besondere Rolle, als sie die emotionale Anknüpfung an früh verschüttete Erlebnisstränge erlaubt und damit neue Entwicklungen in Gang setzt. An frühere Erfahrungen anzuknüpfen wird dabei zu einer Quelle neu belebter Vitalität. Diese Uebertragungsfunktion ist den Intersubjektivisten wichtiger als die Rekonstruktion von Erfahrungen als Quelle von Einsicht.
Die Begegnung/Beziehung im Hier und Jetzt dominiert also die Beobachtung und die Wahrnehmung, wogegen die Bezugnahme auf die Entwicklung, also auf die Biografie, keine grosse Rolle mehr spielt.
Ein Wesensmerkmal dieser Behandlungstechnik ist die selektive Offenlegung persönlicher Erfahrungen und Gefühle, also selektive Mitteilungen nach sorgfältiger Reflexion der Gegenübertragung.
Dieses Mittel der Behandlung erzeugt ein Klima von beteiligtem Miteinander. Es ist jedoch etwas völlig anderes als eine unkontrollierte Selbstenthüllung. Es ähnelt dem „Prinzip Antwort“ in der interaktionellen Methode, die etwas früher in Deutschland von Annelise Heigl-Evers und Franz Heigl beschrieben worden ist.
Selektiv heisst, dass der Analytiker nicht unkontrolliert seine/ihre eigene Beteiligung preisgibt, sondern nur in dem Masse, wie er/sie es nach Beurteilung der Gesamtsituation für nützlich bzgl. des/der PatientIn hält. Die Idee dahinter ist, dass auf diese Weise neue Beziehungskonstellationen erfahren und verinnerlicht werden können und der Patient an der Begegnung reift.
Magische Momente, "Now-Moments"
Wir kennen alle die “magischen Momente” in Begegnungen. Es ist ein besonderes Gefühl von Zusammen-Treffen, von Verbundenheit, von Verstanden- und Angenommensein, was uns in diesen Momenten so glücklich berührt. Diese Momente, die wir in dem oben genannten Fallbeispiel als „Wendepunkte“ beschrieben haben, ereignen sich u.a., wenn der feine affektive Abstimmungsprozess in der Interaktion gelingt. Wir können sie demnach auch beschreiben als Phänomene affektiver Resonanz.
"Now Moments" – ein Blick hinter die Kulissen eines faszinierenden Phänomens
Warum sehnen sich die Menschen so sehr nach einem Zustand emotionaler Verbundenheit und Intersubjektivität – und warum hat das Scheitern dieser emotionalen Verbundenheit so fatale Auswirkungen auf die seelische Gesundheit des Kindes?
Mit dieser Frage beschäftigte sich Tronick von der Process-of-Change-Study- Group, Boston (Tronick, Stern, Bruschweiler-Stern, Lyons-Ruth, Morgan, Nahum & Sander) – im Folgenden Boston-Group genannt - im 19. Band des Infant Mental Health Journals. Er entwickelte als Hypothese die „Dyadic Expansion of Consciousness Hypothesis“, die “Hypothese der dyadischen Bewusstseins-Erweiterung” (Tronick, 1998). Diese Hypothese beschreibt einen mikro-regulativen, sozial-emotionalen Prozess der Kommunikation, der dyadische, intersubjektive Zustände geteilten Bewusstseins schafft. Jedes Individuum – Mutter und Kind – stellt ein sich selbstorganisierendes System dar, welches seinen eigenen Bewusstseinszustand (Zustand der neuronalen Organisation) herstellt. Dieser kann sich in Zusammenwirken mit anderen selbst-organisierenden Systemen zu kohärenteren und komplexeren Zuständen ausbreiten. Die Bedeutung des Miteinander-Teilens für das Entstehen dyadischer Bewusstseinszustände begegnet uns in den lateinischen Wurzeln des Wortes Bewusstsein: con-scire bedeutet hier “gemeinsam wissen”.
Jene Momente, in denen dieses Zusammenwirken zweier selbstorganisierender Systeme gelingt, nannte die Boston-Group “now-moments”. Walter J. Freeman gebrauchte diesen Ausdruck bereits (1994, zit. in Morgan, 1998), als er beschrieb, wie sich das Gehirn als Antwort auf neue Stimuli verändert: Seine Messungen von elektrischen Mustern im Geruchszentrum von Kaninchen zeigten, dass ein neuer Geruchsstimulus nicht nur ein neues Muster hervorruft, sondern die bereits vorher existierenden Muster verändert und ein neues Ganzes organisiert.
Klang, wie wohl alle Phänomene der Sinneswahrnehmung, folgen den gleichen Prinzipien wie das Freeman-Experiment:
Hören wir den Ton (beispielsweise einer Flöte) und es kommt ein anderer Ton dazu, werden beide nicht einfach nebeneinander bestehend wahrgenommen.
Indem beide zusammen klingen, die Obertöne miteinander verschmelzen, verändert sich der Höreindruck: Im Zusammenklingen entsteht etwas anderes, wir hören nicht 2 Einzeltöne, sondern eine neue Gestalt und ein „Etwas mehr“, nämlich die Beziehung (z.B. die Konsonanz oder Dissonanz) zwischen den beiden Tönen.
Was in sich der Natur selbstverständlich ereignet – dass verschiedene Aspekte zusammenkommen und ein neues „Ganzes“ schaffen – erscheint in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht ganz so einfach. Stress, Irritationen, Voreingenommenheiten können die Bereitschaft und Offenheit für den „now-moment“ und damit die Möglichkeit zur Veränderung blockieren.
Auf den eben beschriebenen Grundlagen aufbauend entwickelte die Boston-Group ein Modell, wie sich tiefgreifende Veränderungen während eines psychotherapeutischen Prozesses gestalten. In der folgenden Abbildung (Stern et al., 1998, p. 306) ist beschrieben, wie es zu diesem „moment now“3 kommt, welche Bedingungen ihm vorausgehen und welche daraus folgen:
Der Prozess beginnt mit dem „moving along“, einer bestimmte Atmosphäre vergleichbar mit der „freischwebenden Aufmerksamkeit“ des Therapeuten in der psychoanalytischen Sitzung. Stern hat später den Begriff des „moving along“ durch „relational move“ ersetzt, um den Aspekt der Bezogenheit herauszustreichen.
Der „relational move“ „...ist in seinem Charakter ähnlich dem Prozess der Mutter-Kind-Interaktion, in dem es Momente gibt, in denen etwas „passt“ und „nicht passt“, in dem es Beziehungsbrüche gibt, die auch wieder in Ordnung gebracht werden.
Dies wird besonders in freien Spielsituationen deutlich, in denen es kein spezifisches Ziel gibt, außer miteinander Spaß zu haben.... Dies ist reine Improvisation.... Diese sich immer wiederholenden Sequenzen werden zu äußerst vertrauten Mustern, die unsere Erwartungen prägen, wie sich das Zusammensein mit dieser oder jener Person anfühlt. In dieser Form werden Momente im Jetzt zu „Schemata des Miteinander-seins“ (Stern et al. 1998, S. 303, Übersetzung durch die Autorinnen).
Diese Schemata werden im „implicit relational knowing“ abgebildet.
Während des “moving along” taucht auf einmal ein qualitativ anderer und völlig unerwarteter Augenblick (ein „now moment“) auf. „Es ist ein „heißer“ augenblicklicher Moment, eine Art „Moment der Wahrheit“, der affektiv hochbesetzt ist. Er ist potenziell äußerst wichtig für die unmittelbare oder längerfristige Zukunft. Dieser Moment - in Anlehnung an den Griechischen „Gott des Richtigen Augenblicks“ auch „Kairos“ genannt - muss ergriffen werden, damit das eigene Schicksal eine neue Wendung nimmt. Es ist ein Moment, der die beiden Beteiligten voll in Bann zieht....
Der „now moment“ als auftauchende Potenz bringt das normale, vorhersagbare Miteinander durcheinander. Das kindliche Entwicklungsprogramm sowie das gegenseitigen Regulierungssystem ist offen angelegt für diese Veränderungen im Miteinandersein.“ (Stern 1998, p.304, Übersetzung durch die Autorinnen).
Ein „now-moment“ ist also nur eine Chance für Veränderung. Dieser Moment muss ergriffen werden, damit er ein „moment of meeting“, ein Augenblick der Begegnung werden kann - und beide Partner müssen darin beteiligt sein.
Stern bezeichnet das Teilen von Gefühlen, die „Affektansteckung“, als die Grundlage intersubjektiver Intimität. Beebe (1994) nennt solche Erfahrungen von Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit „Schlüsselmomente“ von Interaktion: etwas ist zusammengekommen, eine wirkliche, tiefe Begegnung ist möglich geworden.
Wie eine negative emotionale Spirale in der Interaktion durch einen „now-moment“ durchbrochen werden kann, zeigte sich auch an dem Beispiel von Michael am Beginn unserer Ausführungen.
Resonanz und Synchronisation
Wie wir im Verlauf der bisherigen Ausführungen gesehen haben, taucht in den „besonderen Momenten“ eine ganz spezielle Beziehungsqualität auf. Sie entsteht ähnlich wie in den ganz frühen Abstimmungs- und Interaktionsprozessen zwischen Mutter und Kind mittels Synchronisation und Resonanz.
Resonanz ist nach Cramer (1998) das Mittel der Natur, verschiedene Elemente, Individuen ohne Energieverlust zu vereinen. Dieser Prozess verbraucht nicht Energie, sondern setzt Energie frei; er bedeutet mehr Kohärenz, Gerichtetheit und Bündelung von Energie. Nach Cramer stehen alle Zyklen der Natur in dieser Weise miteinander in Verbindung und streben nach reibungslosem Ablauf.
In menschlichen Beziehungen ist der Prozess etwas komplexer, wie im Modell der „now-moments“ der Boston-Group geschildert. Die Voraussetzung, dass ein solcher Moment auftauchen kann, ist das vorher entstandene „moving along“ oder „relational move“. Der now-moment taucht auf, kann aber genauso fehlschlagen; der wirkliche Wandel tritt ein, wenn es zum „moment of meeting“ kommt. „Wenn sich z.B. Mutter und Kind gegenseitig anschauen, anlächeln und miteinander lautieren, freuen sie sich aneinander im spielerischen Miteinander. Sie befinden sich im Zustand des „moving along“. Dann geschieht etwas Unerwartetes (z.B. ein witzige Grimasse oder ein unerwarteter Moment von Synchronisation im Blick- oder Lautspiel) – und plötzlich lachen beide lauthals. Die Interaktion wurde auf ein neues, höheres Niveau von Aktiviertheit und Glück katapultiert - ein Niveau, welches das Baby bisher noch nie erreicht haben mag und welches beide vorher noch nicht im gemeinsamen Erleben geteilt haben“ (Stern et al., 1998, S. 305 Übersetzung durch die Autorinnen).
Der moment of meeting ist ein Augenblick, der uns auf eine andere Ebene hebt. Wir erleben dabei, dass sich etwas auf einmal ganz anders anfühlt. Es können Gefühle von Glück, Lebendigkeit, Leichtigkeit, Bewegtheit auftauchen – und dies selbst in Situationen von Trauer, wenn diese Trauer geteilt werden kann.
Welche Rolle Synchronisationsprozesse beim Herstellen tiefer emotionaler Bezogenheit spielen, wurde weiter oben dargestellt. Sie dienen dem Aufbau einer sicheren Bindung. Wir finden sie bei Kindern und auch in der Tierwelt.
Synchronisation herzustellen scheint ein „natürliches“ Bedürfnis zu sein, wie wir auch in unserer Arbeit öfter beobachten können:
Georg, den wir anfangs schon kennengelernt haben, versucht im Alter von 7 Monaten den Rhythmus aufzunehmen, den seine Mutter auf dem Xylophon spielt. Es gelingt ihm nicht. Frustriert wendet er sich mir zu und beginnt ein vokales Spiel, das ich gerne mitspiele. Er wird aufgeregt, ist schließlich ganz begeistert ... hat aber sein ursprüngliches Ziel nicht vergessen. Er nimmt seine Rassel wieder auf, dreht sich zu seiner Mutter und begleitet sie im Rhythmus.
Sie wendet sich ihm zu, beide schauen sich an – er hat sie „erreicht“. Danach ist er vollkommen befriedigt und spielt lange ganz alleine vor sich hin, wendet sich den Instrumenten zu, probiert diese aus, freut sich.
Wir sind der festen Überzeugung, dass solche Momente von Synchronisation zum Aufbau einer sicheren Bindung beitragen. Nach Daniel Stern dienen menschliche Beziehungen vor allem der gegenseitigen Regulation. Auf welchem Niveau sich die gegenseitige Regulation abspielt, wird wiederum von der Qualität einer Beziehung bestimmt. Gerade am Anfang des Lebens spielt die Qualität des „Miteinander“ und die mehr oder weniger gelungene Regulation eine entscheidende Rolle.
Bei Natur-Völkern spielen musikalische Elemente eine wichtige Rolle, um Synchronisation und Verbundenheit herzustellen, aber man muss nicht weit fahren, um auch in Europa diese Prozesse zu beobachten:
Ein Dorf in der Toskana: Die Alten und Älteren sitzen gemeinsam auf der Bank, die Frauen aus dem Lebensmittelladen und der Metzgerei setzen sich dazu, wenn keine Kunden da sind. Man schwatzt und schweigt. Jüngere Bewohner bleiben kurz stehen, Kinder spielen in den Gassen, nur selten ein Auto.
Eine Frau kommt vorbei, sie trägt ihre ungefähr 6 Monate alte Tochter auf dem Arm. Schnell ist sie umringt von Kindern und den Jüngeren aus der Gruppe. Einige der Alten bleiben sitzen.
Lebhaft wird über die Dinge des Täglichen gesprochen - da fängt das Kind an zu quengeln. Die ganze Gruppe - die Alten wie die Jungen – wendet sich dem Kind zu und nimmt unisono seine Unmutsäußerungen auf. Es entsteht ein Wechselspiel - die Gruppe moduliert die „Melodie“ des Kindes - ein dynamisches „Hin und Her“ und dann beruhigt sich das Kind.
Faszinierend in diesem Beispiel ist, wie die Gruppe als „ein Ganzes“ im Kontakt, wie auch in Tonhöhe, Rhythmus und Phrasierung perfekt auf das Kind abgestimmt ist, als hätte ein Dirigent den Einsatz gegeben. Sie war fähig, sich aus dem Moment heraus, im „richtigen Augenblick“ und in einer für uns verblüffenden Stimmigkeit aufeinander einzuschwingen. Hier zeigt sich das Potential auch einer Gruppe, Spannungen zu regulieren.
Quelle: Gisela M. Lenz & Dorothee von Moreau. Resonanz und Synchronisation als regulative Faktoren von Beziehung. In: Monika Nöcker-Ribaupierre (2003, Hrsg.). Hören - Brücke ins Leben, Vandenhoeck&Ruprecht.
EMBODIMENT
Embodied Communication und Spiegelneurone
Das Zusammenspiel von relationalen, also kommunikativen Prozessen, welche in Kapitel 6 bereits ausführlich dargestellt wurden, mit den hier zu entwickelnden Embodiment-Phänomenen haben Maja Storch und Wolfgang Tschacher sehr schön in ihrem 2014 erschienen Buch 'Embodied Communication' beschrieben. Sie postulieren im Untertitel keck: "Kommunikation beginnt im Körper - nicht im Kopf". Um dieser These im folgenden weiter nachzugehen (zur 'Kritik der Kanaltheorie' siehe Kap. 6), zitiere ich zunächst weitere Forschungsbefunde und Postulate aus ihrem Buch:
"Ein weiteres Feld hat sich in den vergangenen Jahren durch die Forschung zu den sogenannten Spiegelneuronen eröffnet. Wir wollen dieses Forschungsgebiet hier nur erwähnen, da es bereits auf die verkörperte Kommunikation hinführt, das Thema des folgenden Kapitels.
Mit der sozialen Neurowissenschaft – social neuroscience – hat sich eine Forschungsrichtung entwickelt, die sich damit befasst, was unser Gehirn tut, wenn wir andere Personen bei Handlungen beobachten (Rizzolatti, 2012). Rizzolatti und Mitarbeiter waren hier bahnbrechend: Sie zeichneten bei Affen die Aktivität einzelner motorischer Neuronen auf, die normalerweise aktiviert werden, wenn der Affe mit der Hand einen Gegenstand greift. Das Ueberraschende am Ergebnis der Forscher war, dass dieselbe Neuronen-Aktivität verzeichnet wurde, wenn der Affe die Greifbewegung bei einem anderen Tier lediglich beobachtete." (Storch/Tschacher 2014 S.38)
"Es scheint nicht nur wahr zu sein, dass der Körper «Spiegel der Seele» ist, auch die umgekehrte Richtung muss beachtet werden: Der Geist ist auch Spiegel des Körpers. Auf der Verbindungslinie zwischen Körper und Seele herrscht Gegenverkehr, der aber aufgrund unseres cartesianischen Vorurteils oft übersehen wird.
[Definition:] Embodiment beschreibt eine Verbindung zwischen Körper und Geist, auf der Prozesse immer zweiseitig ablaufen. In der Verbindung zwischen Körper und Geist herrscht Gegenverkehr.
Psychische Vorgänge finden also stets in einer körperlichen Einbettung statt. Sie dürfen folglich nicht als reine Informationsverarbeitungsprozesse angesehen werden. Genau diese Informationsverarbeitung wurde aber oft als Grundlage in der Psychologie vorausgesetzt. Die Folgen einer das Embodiment berücksichtigenden Neuorientierung in der Psychologie sind in der Tat umfassend. Sie führen zu einem Verständnis von Kognition als verkörperter Kognition." (Storch/Tschacher 2014 S.32)
Synchronie als Grundlage der Embodied Communication
"Genauso wie eine auf Embodiment aufbauende Psychologie die Computer-Metapher des Geistes ablösen wird, wird sich auch das nachrichtentechnische Weltbild, das aus dem Kanalmodell [vgl. Relationskapitel] spricht, schließlich als ungeeignet erweisen. Wir sind der Meinung, dass Embodied Communication den Realitäten wesentlich gerechter wird. Außerdem ist EC in der Praxis handhabbarer (...).
Kommunikation und Interaktion bedeuten ganz allgemein, dass zwei oder mehr Personen ein System bilden. Systembildung führt gemäß der Systemtheorie und Synergetik [Kap. 6] zur Musterbildung im neu entstehenden System. Angewandt auf Kommunikation geht es um soziale Musterbildung. Diese ereignet sich nicht, weil eine Person «das so will», und noch nicht einmal in der Weise, wie es alle beteiligten Personen im Durchschnitt wollen. Vielmehr handelt es sich um eine Form der Selbstorganisation.
Für diese Form der Musterbildung im sozialen Zusammenspiel von Individuen wollen wir den Begriff der Synchronisation benutzen. Das Endresultat der Synchronisation bezeichnet der Begriff «Synchronie». Synchronie kommt von griechisch «syn» = «zusammen» und «chronos» = «Zeit».
Zwei Menschen sind synchron, wenn sie sich gleichzeitig und in gleicher Weise bewegen. Ein Extrembeispiel ist das Synchronschwimmen im Duett (...). Auch zwei miteinander tanzende Personen bewegen sich in Massen synchron, denn sie folgen demselben Takt und Rhythmus. Man kann auch sagen, die Tanzenden kommunizieren miteinander mittels dieser Synchronisation. Genau hier ist der Ansatzpunkt für unsere Theorie der Kommunikation: Embodied Communication bedeutet Kommunikation auf Basis des synchronisierten Embodiment der beteiligten Personen!" (Storch/Tschacher 2014 S.58)
Synchronie, Imitation, Chamäleoneffekt, Mimikry, Ansteckung
"In der Mutter-Kind-Kommunikation wurden Synchronisationsprozesse auf verschiedenen Ebenen untersucht. Bereits bei Neugeborenen findet sich Imitationsverhalten, wobei die Babys die Mimik ihrer Eltern nachahmen (zum Beispiel das Herausstrecken der Zunge). Man fand auch, dass Synchronie zwischen Säugling und Mutter mit der Stärke der Bindung zusammenhängt [vgl. Kap. 4: Entwicklung]. Wechselseitiges und zeitlich gut abgestimmtes Imitationsverhalten, also synchronisierte Kommunikation, ist gekoppelt mit einer sicheren Bindung, also einer vertrauensvollen, zuverlässigen und stabilen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Sichere Bindung stellt einen in der Kindheit erworbenen wichtigen späteren Schutzfaktor dar vor psychischen Störungen eines Menschen.
Aus der sozialpsychologischen Forschung kommt der Begriff des Chamäleoneffekts und des Mimikry: Wenn ein Kommunikationspartner eine Verhaltensweise seines Gegenübers beobachtet, steigt automatisch und unwillkürlich die Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Verhaltens bei ihm selbst. Bei Sympathie zwischen Menschen ist der Effekt ausgeprägter. Immer wieder ergaben sich solche Hinweise auf einen Zusammenhang von Synchronie mit der Qualität der Beziehung – bei Kindern, in Gruppen und in der therapeutischen Beziehung bei Psychotherapien. Hochgradig nützlich kann es sein zu wissen, dass bei Flirts oft Synchronie im Spiel ist und den Erfolg der erotischen Kommunikation voraussagt. Eine weitere Auftretensweise von Synchronie in der Kommunikation ist die soziale Ansteckung [vgl. kritisch dazu Kap. 5: Massenhypnose]. Fast jeder kennt diese Erfahrung von sich selbst: Emotionen anderer Leute können ansteckend sein. Dies trifft auf emotionales Ausdrucksverhalten wie Lachen, Weinen oder Aeusserungen von Ekel zu; sicher kennt jeder aus dem Alltag auch, wie ansteckend es ist, wenn jemand in seiner Gegenwart gähnt!" (Storch/Tschacher 2014 S.60)
Quelle: ............
Systemtheoretische Grundlagen des "psychologischen Selbst" (Tschacher/Storch)
Interessanterweise kommt Support zum Resonanz-Ansatz nicht nur aus psychoanalytischer und humanistischer Richtung, sondern auch von systemisch und sogar kognitiv-behavioral orientierten AutorInnen und ForscherInnen. So hat sich in der System- und Verhaltenstherapie auch eine Art "Embodiment-Turn" vollzogen, wie folgendem Aufsatz von Prof. Wolfgang Tschacher und Melanie Munt aus Bern zu entnehmen ist (vgl. auch den Anfang dieses Kapitels):
Embodiment, Situiertheit und Inkonsistenz
aus: Tschacher, W., Munt, M. (2013). Das Selbst als Attraktor: das psychologische Selbst aus systemtheoretischer und achtsamkeitsbasierter Sicht, S. 24-25 und 34
"Die Perspektive des Embodiment, also der verkörperten Kognition, bezeichnet eine Trendwende in der Psychologie und anderen Wissenschaften, die sich mit Kognition und Verhalten befassen, wie etwa die Informatik (Pfeifer & Bongart, 2006) und die Philosophie des Geistes (Fuchs 2008). Was bedeutet Embodiment?
Psychologische Forschung befasst sich traditionell mit der Frage, wie psychische Prozesse zu motorischem Verhalten führen. Betrachten wir ein Beispiel aus der klinischen Psychologie: Depression.
Dem üblichen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehen entspricht es, Auslöser für depressive Zustände zu suchen. Nach Auffassung der kognitiven Therapie (Beck 1999) kommen dafür Denkfehler in Frage – aufgrund kognitiver Fehlattributionen und -einstellungen (beliefs) entstehe das Syndrom einer depressiven Störung, das sich aus einer Anzahl von emotionalen, körperlichen und verhaltensmässigen Symptomen zusammensetzt; Depression finde schließlich in der Erscheinung einer auch nonverbal bedrückt wirkenden Person ihren Ausdruck, mit entsprechender Körperhaltung, Mimik, Gestik, Stimmlage und Motorik. Die körperliche Reaktion, der körperliche Gefühlsausdruck, das körperliche Verhalten werden als Resultanten psychischer Prozesse angesehen.
Die Embodimentperspektive stellt nun probehalber diese Denkgewohnheiten auf den Kopf:
Wenn wir uns wie Depressive bewegen und die entsprechende Mimik, Gestik und Prosodie übernehmen, beginnen wir auch, depressiv zu fühlen und zu denken, auch wenn wir uns zuerst nicht so gefühlt haben (Michalak et al., 2009)! Für solche Zusammenhänge und Rückwirkungen vom Körper zum Geist gibt es mittlerweile viele experimentelle Belege.
Auf unsere Fragestellung angewandt, spricht daher alles dafür, dass Körperparameter die Emergenz psychischer Zustände kontrollieren können. Systemtheoretisch gesprochen:
Körpervariablen wirken allgemein als Kontrollparameter für psychische Selbstorganisation (Storch, Cantieni, Hüther & Tschacher 2010; Tschacher & Storch 2012). Dies gilt auch für die Organisation des Selbst.
Der Körper ist nicht unsere einzige valente Umwelt. Man muss auch die „Situation“ als Quelle von wesentlichen Kontrollparametern für psychische Selbstorganisation berücksichtigen. Dies ist der Ansatz der ökologischen Psychologie, eines leider weitgehend in Vergessenheit geratenen Feldes der Psychologie [vgl. aber den Ko-Evolutions-Ansatz von Jürg Willi, vorgestellt in Kap. 4].
Ein Beispiel: Wer schon einmal während des Tages vergessen hat, was er gerade eben noch hatte erledigen wollen, kennt die Methode, schlicht räumlich an den Ort der Vorsatzbildung zurückzugehen – dort fällt häufig sofort wieder ein, um was es sich handelte" (Tschacher/Munt S. 24-25).
Feldtheorie (Kurt Lewin), situerte Kognition (Neisser) und Kognitive Dissonanz (Festinger)
Obiges Beispiel mag illustrieren, "dass der Aufforderungscharakter (Lewin 1936), der durch die Umwelt bereitgestellt wird, der Kognition in ähnlicher Weise zur Selbstorganisation verhelfen kann, wie es körperliche Variablen vermögen. Dieser Aspekt wird als situierte Kognition bezeichnet (Neisser 1982).
Zum Embodiment des Selbst tritt somit die Situiertheit des Selbst hinzu. Aus beiden Bereichen des Kontextes der Person entspringen also Kontrollparameter in Sinne der Selbstorganisationstheorie".
Neben den körperlichen und situativen Kontrollparametern wurde noch ein weiteres motivationales Phänomen diskutiert, aus dem für mentale Selbstorganisation relevante Kontrollparameter hervorgehen, nämlich Zustände von kognitiver Dissonanz (Tschacher/Haken 2007) bzw. Inkonsistenz (Grawe 1998 und 2005). Die empirisch sehr umfassend erforschte kognitive Dissonanztheorie von Festinger (1964) geht psychologiehistorisch direkt auf Lewins Theorie des Lebensraums zurück, wo Dissonanz als eine Spannung zwischen Elementen des Lebensraums aufgefasst werden kann; die Analogie zum psychodynamischen Konfliktbegriff wird hier ebenfalls deutlich. In der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt, ist ein Phasenraum mit vielen dissonanten (d.h. nicht zusammenpassenden) Elementen hochdimensional und komplex. Die durch Dissonanz bzw. Inkonsistenz entstehende Konfliktspannung bestimmt die Richtung der Selbstorganisation, die stets eine spannungs- und komplexitätsreduzierende Funktion hat, Dissonanz also reduziert [der Kognitiven Dissonanz sind weite Teile des Kapitels 5 gewidmet, M.F.] (Tschacher/Munt S. 25). (...)
Diskussion
"Das Selbst und sein Gehirn? Das Gehirn und sein Selbst? Müssten wir nicht eigentlich heutzutage die Frage nach dem Selbst auch neurobiologisch führen? Oder vielleicht
sogar vor allem neurobiologisch? Es gibt nach unseren Beobachtungen jedoch einige Gründe, dass die Forderung nach einer ausschließlich neurobiologischen Diskussion
nicht zielführend ist.
Der erste Grund ist, dass trotz grosser Anstrengungen einer sich biologisch definierenden Psychiatrie nicht gelungen ist, Störungen des Selbst, die in vielen psychopathologischen Zuständen deutlich werden, auf Störungen des Gehirns und der gehirnphysiologischen Prozesse zurückzuführen. Die gegenwärtige Unzufriedenheit mit der Neuauflage des psychiatrischen Klassifikationssystems DSM-5 rührt unter anderem daher, dass in keinem einzigen Fall der notwendige und hinreichende Biomarker (genetisch ausgedrückt: der „endophenotype“) gefunden wurde. Die Ich-Störungen, die besonders in den Schizophrenien bedeutsam sind, können dem Gehirn auch mit den Mitteln moderner Bildgebungsverfahren nicht angesehen werden. Bei den Persönlichkeitsstörungen, die ebenfalls hochgradig Selbst-relevant sind, ist die Lage ebenso unbefriedigend: Die Befunde zu den immer wieder behaupteten Ungleichgewichten von Neurotransmittern sind widersprüchlich und wissenschaftlich wenig überzeugend (Hasler 2012).
Zudem wird immer deutlicher, dass die biologische Psychiatrie wissenschaftlich massiv unter Interessenkonflikten leidet, die auf das Konto der Pharmaindustrie gehen (Kirsch,Moore,Scoboria&Nicholls 2002) [hierzu passen meine Ausführungen zur Kommerzgesellschaft in den Kap.3und7, MF].
Der zweite und prinzipiellere Grund ist, dass die Frage nach dem Selbst das Erleben betrifft, also eine Frage nach der Bedeutung von Identität und „eine-Person-Sein“ darstellt.
Philosophisch gesehen stehen hier die 'Qualia' zur Debatte [vgl.Einleitung zu diesem Kap.]: Wollte man diese Frage mit einer Lokalisation („an dieser Stelle im Gehirn“) beantworten, hätte man schlicht die Kategorie gewechselt, also einen Kategorienfehler begangen.
Aus diesen Gründen erschien es uns zielführend, zur Diskussion über das Selbst eine strukturwissenschaftliche Methode zu nutzen. Die Synergetik und Systemtheorie als Strukturwissenschaft ermöglichen es, Phänomene aus kategorial unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit zu modellieren. Das systemtheoretische Attraktorkonzept erwies sich als besonders geeignet, das psychologische Selbst und die Bedingungen zu beleuchten, unter denen es stabilisiert, geschwächt und verändert werden kann" (Tschacher/Munt 2013 S.34).
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Tschacher, W. (2010). Glossar von Fachbegriffen der Theorie dynamischer Systeme. Bern: Forschungsberichte der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern. http://www.embodiment.ch/research/researchpapers/FB10_1.pdf
Tschacher, W. & Haken, H. (2007). Intentionality in non-equilibrium systems? The functional aspects of self-organized pattern formation. New Ideas in Psychology, 25, 1-15.
Tschacher, W. & Rössler, O. (1996). The self: A processual gestalt. Chaos, Solitons & Fractals, 7, 1011-1022.
Tschacher, W. & Tröndle, M. (2011). A dynamic systems perspective on fine art and its market. Futures, 43, 67-75.
Tschacher, W., Schiepek, G. & Brunner, E.J. (Eds.). (1992). Self-organization and clinical psychology. Empirical approaches to synergetics in psychology. Berlin: Springer.
Varela, F., Thompson, E. & Rosch, E. (1992). Der mittlere Weg der Erkenntnis: Die Beziehung von Ich und Welt in der Kognitionswissenschaft. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Bern: Scherz.
Weitere und allgemeine Quellen zur systemischen und "ökologischen" Psychotherapie:
Storch, Maja, Tschacher, Wolfgang (2014). „Embodied Communication“ - Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf. Bern: Huber.
Tschacher, W. (1997). Prozessgestalten. Bern: Huber.
Tschacher, W., Munt, M. (2013). Das Selbst als Attraktor: das psychologische Selbst aus systemtheoretischer und achtsamkeitsbasierter Sicht. In: Psychotherapie 18-2, S. 18-37.
Willi, J. (1996). Oekologische Psychotherapie. Bern: Hogrefe/Huber.
Willi, J. (2002). Psychologie der Liebe. Stuttgart: Klett-Cotta.
RESONANZ UND FOCUSING
Definitionen:
Resonanz (allgemein)
Das aus der Physik entlehnte Konzept der Resonanz ist: 1. metaphorisch das Basisgefühl einer gesunden Person, jenes Gefühl, welches auftritt, wenn jemand mit sich selbst authentisch in möglichst vielen Dimensionen (? Submodalitäten) seiner Persönlichkeit im Einklang steht; 2. die Beschreibung des Phänomens, wenn mehrere Personen – primär nonverbal – miteinander in Gleichklang sind. Es wird davon ausgegangen, daß, je stärker sich eine Person in der eigenen Resonanz befindet, es um so mehr auch für andere Personen induzierend wirkt, sowohl in den eigenen Resonanzzustand zu gehen, als auch mit anderen Menschen in Resonanz zu kommen.
Im Resonanzzustand ist eine hohe Kongruenz von Denken und Fühlen gegeben.
Innerer Dialog und Meta-Kommentar sind auf ein Minimum reduziert.
Argyle M (1978) The psychology of happiness. London, Methuen
Cszikszentmihalyi M (1992) Flow. Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart, Klett-Cotta
Kutschera G (1994) Tanz zwischen Bewußtsein und Unbewußt-sein. Paderborn, Junfermann
Peter Schütz
Resonanz (z.B. im Focusing)
„Körperliche Resonanz“ ist ein Synonym für ? Felt Sense; in der ? Focusing-Therapie hat Resonanz darüber hinaus eine spezifische Bedeutung:
Resonanz bezeichnet den momentanen Felt Sense des Therapeuten zum Klienten.
In der therapeutischen Situation ist der Therapeut achtsam auf seine Resonanz, er pendelt mit seiner Aufmerksamkeit hin und her zwischen dem Wahrnehmen des Klienten und dem Wahrnehmen seiner Resonanz zu diesem Klienten. Achtsames ?Verweilen mit der Resonanz ermöglicht ihr Entfalten (explizieren; ? implizit) zu deutlichem, explizitem Erleben bzw. Handlungsimpulsen;
der Therapeut entscheidet im jeweiligen Augenblick, ob und inwiefern er dieses Erleben „veröffentlicht“, also verbal oder nonverbal handelt. Die Resonanz ist somit die Hauptquelle therapeutischen Verhaltens (? Begleiten; ? Response). Der Felt Sense bezieht sich immer auf die augenblickliche Gesamtsituation, in ihm ist diese enthalten (? Körper). Resonanz
schließt daher den Klienten als Teil dieser Situation immer mit ein; im Explizieren der Resonanz formt sich das Verstehen der Person des Klienten durch den Therapeuten
als Fortsetzen der gemeinsamen Situation und des Lebensprozesses beider daran beteiligten Personen (? Fortsetzungsordnung).
Von der Resonanz wird die Gegenreaktion unterschieden, die ? strukturgebundene Reaktionen des Therapeuten auf (meist strukturgebundene) Erlebens- und Verhaltensweisen des Klienten darstellt.
Gegenreaktionen können wertvolle Hinweise für das Verstehen des Klienten geben, sind aber keine prozessfördernden Antworten auf den Klienten und bleiben daher in der Regel unveröffentlicht. Sie benötigen weitere innere Aufmerksamkeit (Focusing des Therapeuten; ? Supervision), bis sie sich in ihrem Bedeutungsgehalt erschließen und für den therapeutischen Prozeß nutzbar gemacht werden können. Da im Erleben des Therapeuten Resonanz und Gegenreaktionen meist miteinander vermischt auftreten, und da sowohl Resonanz als auch Gegenreaktion jeweils spezifische innere ? Achtsamkeit durch den Therapeuten erfordern, ist es notwendig, daß Focusing-Therapeuten während der Arbeit selbst fokussieren. Die in Eigentherapie und Ausbildung erworbene Fähigkeit zur achtsamen Selbstwahrnehmung ist Voraussetzung für focusingtherapeutisches Arbeiten.
Gendlin ET (1968) The experiential response. In: Hammer E (Ed), Use of interpretation in treatment. New York, Grune & Stratton, pp208–227
Wiltschko J (1995) Focusing-Therapie. Studientexte 4. Würzburg, DAF [bes. S 33–35]
Klaus Renn
Focusing
Von Eugene T. Gendlin geprägter Name für eine bestimmte Art und Weise, mit dem eigenen, von innen gefühlten Körper in Beziehung zu treten. „Focusing nenne ich die Zeit (ein paar Sekunden oder Minuten), in der ich mit etwas bin, das ich im Körper spüre – zwar noch vage, aber ich weiß schon, dass es etwas mit meinem Leben zu tun hat“ (Gendlin, 1993: 9). Das vage, noch unklare, aber körperlich schon Gespürte, das sich immer auf etwas im Leben bezieht, nennt Gendlin Felt Sense.
Aus dem Verweilen mit dem Felt Sense ergeben sich Schritte der Veränderung (sog. Experiencing). Gendlin hat die Bedingungen, Haltungen und unterstützenden Verhaltensweisen für das Zustandekommen dieser Veränderungsschritte genau untersucht und beschrieben.
Daraus hat sich Focusing als eine Methode entwickelt, die inzwischen in vielen persönlichen und beruflichen Bereichen Anwendung findet (Entspannung und Stressreduktion, Kreativität und Kunst, Organisation und Management, Pädagogik und Didaktik, Spiritualität und Meditation, Alltags- und Problembewältigung, Beratung und Gruppenarbeit u.v.m.). Am weitesten ausgebaut ist Focusing in der Selbsthilfe (z.B. Partnerschaftliches Focusing), in der Psychotherapie (siehe unten: Focusing-Therapie) und als phänomenologische Methode in der Philosophie (After Post-Modernism; Phänomenologie). Focusing hat seine Wurzeln einerseits im Personzentrierten Ansatz und in der Klientenzentrierten Psychotherapie (Gendlin war viele Jahre Schüler und Mitarbeiter von Carl Rogers und dann sein Nachfolger an der Universität Chicago), andererseits in der phänomenologischen und existentiellen Philosophie (v.a. Dilthey, Husserl und Heidegger), aber auch in Wittgensteins Sprachphilosophie und im amerikanischen Pragmatismus. Besonders als Forschungsdirektor des sogenannten Wisconsin-Projektes hat Gendlin aus den klinischen Erfahrungen der Klientenzentrierten Therapie mit unmotivierten und psychotischen Patienten weiterführende Schlüsse hinsichtlich therapeutischer Einstellungen (Achtsamkeit; Absichtslosigkeit) und Verhaltensweisen (Begleiten; Freiraum; Response), aber auch hinsichtlich der Formulierung einer eigenständigen Theorie des Erlebens und seiner Veränderung (Experiencing) gezogen. Entscheidend für die Ausarbeitung von Focusing als Methode war die von ihm und Mitarbeitern empirisch untersuchte Fragestellung, ob und wie man erfolgreiche Therapien schon frühzeitig von erfolglosen unterscheiden könne. Er fand, daß das signifikante Vorhersagekriterium weder die vom Therapeuten angewandte Technik, noch die vom Klienten vorgebrachten Inhalte sind, sondern die Art und Weise, wie sich der Klient auf sein Erleben bezieht: ob er Bezug nimmt zu den noch unklaren, aber schon gespürten Aspekten seines Erlebens (implizit), oder bloss zu den schon expliziten Erlebensinhalten.
Da dies schon aus den Tonbandaufnahmen und Transkripten der zweiten Therapiesitzung ablesbar war, mithin „erfolglose“ Klienten schon zu Therapiebeginn identifizierbar waren, entwickelte er Methoden, diese erfolgversprechende Art und Weise des Bezugnehmens zum eigenen Erleben auch für diese Klienten lehr- und lernbar zu machen. Seither wird Focusing in vielen Ländern der Welt innerhalb und außerhalb des psychotherapeutischen Kontexts unterrichtet und praktiziert.
Cornell AW (1997) Focusing – der Stimme des Körpers folgen. Hamburg, Rowohlt
Gendlin ET [1978] (1998) Focusing. Hamburg, Rowohlt
Gendlin ET (1993) Focusing ist eine kleine Tür. Würzburg, DAF
Gendlin ET, Wiltschko J (1999) Focusing in der Praxis. Stuttgart, Pfeiffer
Iberg J. [1981] (1987) Focusing. In: Corsini RJ (Hg), Handbuch der Psychotherapie. Weinheim, Psychologie Verlags Union, S 231–258
Siems M. (1986) Dein Körper weiß die Antwort. Focusing als Methode der Selbsterfahrung. Hamburg, Rowohlt
Focusing-Therapie
Von Johannes Wiltschko und Klaus Renn 1988 eingeführter Name für eine personzentrierte Form der Psychotherapie, die auf den philosophischen, psychologischen und psychotherapeutischen Arbeiten Eugene Gendlins beruht und diese weiterführt. Gendlin hat seine eigene Weiterentwicklung der Klientenzentrierten Psychotherapie zunächst „Experientielle Psychotherapie“ (1973), später „Focusing-Oriented Psychotherapy“ (1996) genannt. Während man Focusing als methodisches Element in jede Art von Psychotherapie integrieren kann (wobei dieses Element natürlich auch das Ganze verändert), ist Focusing-Therapie eine bestimmte Art und Weise, andere Methoden auf der Basis des von Gendlin beschriebenen Prozesses der Persönlichkeitsveränderung (Experiencing) zu integrieren.
Focusing-Therapie ist keine weitere psychotherapeutische Methode, sondern ein Metamodell für eine integrative, am Erleben, am Körper, am Lebensprozeß und an der Beziehung orientierte Psychotherapie.
Die Focusing-Therapie entwickelt methodisch spezifische „avenues“ (Zugänge) zu den verschiedenen Modalitäten, in denen Personen erleben und handeln (Erlebensmodalitäten): Sie arbeitet nicht nur verbal mit dem vom Klienten verbal Geäußerten (Gesprächspsychotherapie), sondern auch unmittelbar körperlich mit dem nonverbalen Ausdruck und mit körperlichen Vorgängen des Klienten (mit seiner Haltung, Bewegung, Atmung, Stimme etc.; Körper, Körperarbeit), mit Träumen und Imaginationen (auch mit Hilfe von kreativen Medien), mit Handlungen (Experimenten) und zunehmend auch mit Systemen (Paare, Familien). Essentiell für Focusing-Therapie sind u.a. folgende Positionen:
1. Erlebensprozesse sind immer Beziehungsprozesse; der (interpersonale) therapeutische Beziehungsprozeß und die (intrapersonalen) Erlebensprozesse des Klienten und des Therapeuten sind ein Lebensprozeß; damit ist das Erleben des Therapeuten ein unmittelbarer Aspekt des Gesamtprozesses.
2. Der Körper impliziert den nächsten Schritt im Sinne der Fortsetzungsordnung; der Therapeut enthält sich daher radikal jeglichen konzeptgeleiteten Dirigierens des Prozesses; er ermöglicht vielmehr der Fortsetzungsordnung durch Raumschaffen (Freiraum), achtsames Verweilen und absichtsloses Begleiten, ihre Wirksamkeit zu entfalten.
3. Das Erkennen von und Umgehen mit strukturgebundenen Erlebens- und Verhaltensweisen des Klienten (also mit demjenigen Erleben und Verhalten, das am Experiencing-Prozess nicht teilnimmt) ist unumgänglicher Bestandteil der Focusing-Therapie.
Gendlin ET (1973) Experiential psychotherapy. In: Corsini R (Ed), Current psychotherapies. Itasca, Peacock, pp 317–352
Gendlin ET [1996] (1998) Focusing-Orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. München, Pfeiffer
Gendlin ET, Wiltschko J (1999) Focusing in der Praxis. Stuttgart, Pfeiffer
Wiltschko J. (1991) Anfänger-Geist. Hinführungen zur Focusing-Therapie I. Würzburg, DAF
Wiltschko J. (1992) Von der Sprache zum Körper. Hinführungen zur Focusing-Therapie II. Würzburg, DAF
Wiltschko J. (1995) Focusing-Therapie. Studientexte 4. Würzburg, DAF
Felt Sense
Zentraler Begriff in Eugene T. Gendlins Theorie des Erlebens und der Persönlichkeitsveränderung (Experiencing) im Focusing und in der Focusing-Therapie (s.o.); ein Kunstwort (deutsch etwa: „gefühlter Sinn“, „gespürte Bedeutung“) für das, was über die Sprache (Logik, Formen) hinausgeht. Ein Felt Sense kann sich als körperliches Gespür formen, und zwar als Resonanz auf ein bestimmtes Thema einer Person (z.B. ein Problem, eine Fragestellung), auf einen bestimmten Erlebensinhalt (z.B. ein Traumbild, eine körperliche Empfindung, eine Vorstellung), auf eine Situation (z.B. eine Person, eine Gruppe, ein Gegenstand). Ein Felt Sense ist also immer bezogen auf ein „Etwas“, er ist das Ganze der impliziten Erlebensaspekte (implizit), die der Körper in bezug auf dieses Etwas „trägt“; in ihm sind vergangene Erfahrungen und die gegenwärtige Situation implizit „enthalten“, und er kann den nächsten Schritt implizieren, der den Lebensprozeß fortsetzen wird ( Fortsetzungsordnung).
Der Felt Sense ist immer mehr als das, was die Person über Thema / Inhalt / Situation schon explizit weiß. Der Felt Sense geht also über das Schon-Geformte, Schon-Gewußte, Schon-Gesagte hinaus, aus ihm kommt das, was noch geformt/gewußt/gesagt/getan werden will.
Ein Felt Sense wird im Körper (meist im Brust- / Bauchraum) gespürt als vage, aber bedeutungsvolle Stimmung („Befindlichkeit“; Heidegger); diese körperliche Stimmung ist meist leise und „nichts versprechend“.
Wenn man aber die Aufmerksamkeit unmittelbar auf einen Felt Sense richtet (direct reference; Experiencing) und achtsam mit ihm verweilt (Verweilen), kann er sich „öffnen“: Einzelne seiner impliziten Bedeutungsaspekte explizieren (entfalten) sich dann in den verschiedenen Erlebensmodalitäten und werden damit begreifbar, ausdrückbar und verstehbar.
Wenn sich ein impliziter Erlebensaspekt aus dem Felt Sense entfaltet, wenn es also zu einer Interaktion zwischen implizit gefühlter Bedeutung und expliziten Symbolen oder Ereignissen kommt, wird der Erlebensprozeß weitergetragen und fortgesetzt.
Dies wird als körperlicher Vorgang von Erleichterung und Energiezustrom gespürt (Felt Shift) und als Erkenntnisgewinn (Einsicht) wahrgenommen. Im Focusing ist nicht das Thema (Problem) des Klienten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern der Felt Sense, der sich zum jeweiligen Thema im Körper des Klienten formt; aus ihm entwickeln sich dann die Schritte persönlicher Veränderung.
Gendlin ET [1978] (1998) Focusing. Hamburg, Rowohlt
Gendlin ET (1978/79) Befindlichkeit: Heidegger and the philosophy of psychology. Review of Existential Psychology and Psychiatry 16(1–3): 43–71
Gendlin ET (1993) Die umfassende Rolle des Körpergefühls im Denken und Sprechen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41(4): 693–706
Gendlin ET, Wiltschko J (1999) Focusing in der Praxis. Stuttgart, Pfeiffer
Resonanzdämpfung der Affekte (im Autogenen Training).
Generelle psychische Selbst-Ruhigstellung durch innere Lösung und Gewinnung von Gelassenheit; von I.H. Schultz als „durchschnittliche Leistung der Unterstufe“ ( Grundstufe) beschrieben.
Affektive Erregungen sind danach „Totalschwankungen des Organismus“ und bleiben nicht – wie abstrakte Überlegungen – auf die Hirnrinde beschränkt.
Durch die Ruhigstellung von Muskeln, Gefäßen, Herz und Atmung wird dem Affektgeschehen ein wesentlicher Anteil genommen. Krampen hat Arbeiten über längerfristige Auswirkungen in dieser Hinsicht zusammengestellt. Kraft schlägt vor, von „Resonanzdämpfung überschießender Affekte“ zu sprechen. Der kybernetisch zu verstehende Ausgleich durch das Autogene Training müßte – wie z.B. beim Blutdruck – höhere Werte vermindern, zu niedrige erhöhen, ein Affekt-Defizit also ebenso beeinflussen.
Kraft H (1996) Autogenes Training. Methodik, Didaktik und Psychodynamik. 3. Aufl. Stuttgart, Hippokrates
Krampen G (1992) Einführungskurse zum Autogenen Training. Göttingen, Verlag für Angewandte Psychologie
Schultz IH [1932] (1970) Das autogene Training. 13. Aufl. Stuttgart, Thieme
Heinrich Wallnöfer
Peter Geissler - Therapeutische Erfahrungsräume
"Ist es wirklich immer wichtig, sich der Natur der Interaktion bewusst zu werden und sie zu versprachlichen? Die erste Frage würde ich eher mit »ja« beantworten, denn interaktive Erfahrung erzeugt eine gewisse schwer in Worte zu fassende körpernahe Form der Bewusstheit, die man spüren kann und die eine Wirkung auf uns erzeugt, die umfassender ist als die narrative Domäne. Die zweite Frage würde ich mit »nein« beantworten bzw. mit »nicht unbedingt«. Nicht alles lässt sich in Worte fassen, und das ist auch gut so. Es gibt Situationen, auch therapeutische Situationen, in denen Worte mehr stören als nutzen. Das wissen aber viele Psychoanalytiker auch, und daher kommt der Rolle des Schweigens in analytischen Behandlungen, im Speziellen im Couch-Setting, eine besondere Rolle zu (vgl. Krause 2013).
Die beiden Erfahrungsräume, der psychoanalytische und der der »inszenierenden Interaktion« (Scharff 1998) oder der analytisch-körpertherapeutische weisen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Einer, der beide Räume gut kennt, stellt fest: Es »ergibt sich aus meiner Sicht und Arbeitsweise, daß der Erfahrungsraum der Psychoanalyse und der inszenierenden Interaktion unter vielerlei Aspekten eine große gemeinsame Schnittmenge haben« (Scharff 1998, S. 47), und weiter:
»Was unterschiedlich ist, läßt sich oft als andere Akzentsetzung beschreiben, und nur in wenigen Punkten bestehen fundamentale Differenzen - wie etwa dann, wenn es zu direkter körperlicher Berührung oder zum Eintritt in den >Nahraum< des Patienten kommt. [...] In der inszenierenden Interaktion kann der modellszenenhafte, handelnde Umgang miteinander die Basis für einen
Erkenntnisprozess liefern - doch kann eben dieser Umgang sich wiederum auch raumnehmend auswirken und sich darin ein > Agieren < in der negativen Bedeutung des Terminus ausdrücken. Sowohl das Mehr der Information über die Sinneseindrücke in der inszenierenden Interaktion als auch das Weniger an Sinnesinformationen in der Psychoanalyse können von Vorteil wie von
Nachteil sein« (ebd., S. 58).
Eine weitere Folgerung:
»In der klinischen Erfahrung schließe ich mich hier Geißler (2008, S. 25) an: >Von kritisch-analytischer Seite heißt es an solchen Stellen immer wieder, dass man auch mit entsprechend feinfühlig gewählten Worten den Patienten emotional auf die gleiche Weise und mit der gleichen Wirkung erreichen kann. Dieses Argument wird meines Erachtens vor allem von Analytikern
eingebracht, die über keine oder nur begrenzte körpertherapeutische Erfahrung verfügen. Aufgrund der eigenen Erfahrung in Bioenergetischer Analyse würde ich auf jeden Fall sagen, dass die körperlich-sinnliche Erfahrung auf Seiten des Patienten meist einen anderen Evidenzcharakter hat als Worte, die natürlich genauso berühren können. Fragt man Patienten am Ende der Therapie,
welche Szenen ihnen nachträglich als besonders veränderungsrelevant erscheinen, werden oft genau solche Szenen genannt, die leiblich besonders eindrücklich erfahren wurden. Es ist, wie wenn sie in einem anderen Register gespeichert würden - eben auf prozeduraler Ebene< « (Scharff 2010, S. 163).
Die Gestaltung meines Behandlungsraums
aus: Geissler, Peter. Langsame Therapie
Um meine spezifische Behandlungskultur in ihrer atmosphärischen Wirkung zumindest ansatzweise zu verdeutlichen, zeige und schildere ich nun einige Details, die kaum jemals explizit zur Sprache kommen - zumindest nicht in psychoanalytischen Kreisen. Der Behandlungsraum ist etwa 25 Quadratmeter groß und in etwa quadratisch. Folgende »Gegenstände« sind auf Abbildung 1 zu erkennen: zwei Stühle, die die Sitzgruppe bilden.
Die Stühle sind auf der Unterseite mit Rollen versehen, sodass sie gut beweglich und in ihrer Position veränderlich sind. Zwischen den beiden Stühlen und neben dem linken Stuhl befinden sich zwei Zylinder, überzogen mit rotem Stoffmaterial: Es sind die beiden »Atemrollen«, die ich in bioenergetischen Zeiten für Atemübungen oftmals eingesetzt habe; seit langer Zeit nutze ich sie nur mehr als Möbelstücke und als Auflagefläche für den Papierspender oder anderes Material, z.B. den Schreibblock (bei den meisten Patienten mache ich mir gelegentlich Notizen). Der blaue Papierspender (er wurde von einer meiner Patientinnen konstruiert und imitiert die Miniaturform einer analytischen Couch) liefert Papier für den Bedarf: zum Abwischen von Tränen, von Schweiß, zum Schnäuzen.
Links erkennbar ist das Kopfende der analytischen Couch mit einigen Polstern. Meine Patientinnen und Patienten betreten allesamt den Therapieraum in Hausschuhen, in Socken oder bloßfüßig, jedenfalls nicht mit Straßenschuhen. Ich begründe dies in der Regel bereits am Beginn der ersten Stunde, indem ich erkläre, dass manches Mal unmittelbar auf dem Boden gearbeitet wird und daher die Straßenschuhe im Vorraum bleiben müssen.
Ich kleide mich in aller Regel leger: Hose, T-Shirt; wenn es im Sommer sehr heiß ist trage ich gelegentlich kurze Hosen (Shorts). Oft trage ich Socken und Hausschuhe, ab und zu, speziell in den Sommermonaten, trage ich keinerlei Fußbekleidung. Diese Eigenheiten mögen auf bestimmte Patienten aufdringlich wirken, sie animieren jedoch die Mehrzahl, sich im Laufe der Zeit ebenfalls relativ leger zu kleiden. Gesprochen wird darüber selten.
Die wenigsten Patienten kommentieren von sich aus meine Gepflogenheiten, doch achte ich grundsätzlich auf u.U. sehr minimale nonverbale »Kommentare«, besonders in den ersten Minuten des Erstkontakts.
Das »Lockere« und triebfreundliche der Atmosphäre, die sich meinen Patienten bietet, enthüllen noch weitere Details: Es herrscht keine Hochglanzatmosphäre vor, die einen innerlich zusammenziehen lässt, weil man fürchtet, den Raum in irgendeiner Form zu beschmutzen. Es kann gelegentlich Vorkommen, dass sich eine Spinnwebe in irgendeinem Winkel des Vorraums befindet, und sollte ich eine Spinne dabei erwischen, wie sie gemütlich den Raum durchquert, befördere ich sie mit freundlichen der der Bioenergetischen Anaiyse, entdeckt, in der Folge einige davon anfertigen lassen und sie bis in die 90er Jahre hinein vielfach erprobt. Die Atemrolle eignet sich für ähnliche Anwendungen wie der Atemstuhl, löst jedoch bei vielen Patienten weniger Angst aus, einerseits wegen der größeren Bodennähe und andererseits, weil man sich darauf besser bewegen kann.
(...) ...Worten aus dem Fenster und schenke ihr die Freiheit. Auch wird der Mülleimer mit den gebrauchten Papiertuchresten auf keinen Fall täglich gewechselt; auch das bemerken viele Patienten, zumindest subliminal, sofern sie sich mehr Zutrauen, kommentieren sie es, wobei ihre Bewertung je nach der gegenwärtig vorherrschenden Uebertragung unterschiedlich ausfallen kann; wohlwollend, idealisierend, kritisierend, entwertend. An den Wänden befinden sich Bilder; es handelt sich einerseits um von Kindern gezeichnete Bilder oder um gekaufte Bilder, aber nicht um Originale, sondern um Nachdrucke.
Sicherlich macht der Therapieraum nicht den Eindruck einer modernen und teuren Arztpraxis, sondern eher den eines Wohnzimmers, das nicht ganz alltäglich eingerichtet ist, sondern das mit seltsamen Dingen bestückt ist, in dem man aber ausreichend Platz hat, um sich zu bewegen.
Das gilt in eingeschränktem Ausmaß für einen zweiten Therapieraum, der sich in meinem Wohnhaus befindet; er fällt meinen Patienten in seiner Eigenheit allein dadurch auf, dass sich an der vorderen, straßenseitigen Grundstücksgrenze kein Zaun befindet - was in Ostösterreich äußerst untypisch ist.
Die Raumtemperatur liegt meist an die 23 Grad oder mehr, also ziemlich gut temperiert. Das ermöglicht es sowohl den Patienten als auch mir, leichte Kleidung zu tragen und durch die Flaut atmen zu können (was förderlich ist, wenn wir uns so intensiv bewegen, dass wir ins Schwitzen geraten).
Unterstützt wird die triebfreundliche Atmosphäre durch die Art und Weise meines Sprechens: Ich rede gern leichten Wiener Dialekt, d.h. ich bemühe mich wenig darum, mich klassisch »hochdeutsch« auszudrücken (es kommt aber vor, dass mich sprachlich besonders kultivierte Menschen für eine Weile anstecken, in ihrer Art zu sprechen). Ich lache gern und bin im Kontakt sicher nicht klassisch-analytisch reserviert. Allerdings bin ich durchaus nicht locker im Bereich der körperlichen Berührung, dies trotz meiner umfangreichen bioenergetischen Selbsterfahrung. Ich kann mich gut einfühlen, wie es ist, sich im Nahbereich mit anderen Menschen als »verklemmt« zu erleben. Die bioenergetische Therapie hat mir geholfen, dieses Problem bewusst zu machen und es in bestimmten alltäglichen Situationen zu mindern; beseitigt hat sie meinen philobatischen Anteil nicht. In der teilweise verdichteten Atmosphäre von Übertragung und Gegenübertragung »poppen« die alten Interaktionserfahrungen unweigerlich wieder auf. Ich bin daher alles andere als ein »Hands-on«-Therapeut, sondern wirke eher distant und reserviert, was mir auch öfter von verschiedenen Seiten rückgemeldet wird.
Anders als in der bioenergetischen Arbeit setze ich in der analytischkörperpsychotherapeutischen Arbeit kaum jemals »Übungen« in einem technischen Sinn ein; vielmehr gebe ich mich so, wie ich einfach bin. Das macht die therapeutische Arbeit natürlich und authentisch. Gelegentlich kommt es zu »Handlungsproben«, und in der geschätzten Hälfte der Fälle ist es der Patient, der solche Proben initiiert, auf die ich mich dann - je nach Befindlichkeit und Einschätzung der therapeutischen Situation - mehr oder weniger einlasse. Handlungsproben werden oftmals lange verbal vorbereitet und es kommt immer wieder vor, dass eine mögliche konkrete Interaktion durchgesprochen und dann doch nicht ausgeführt wird. Ich bin - dies gehört zu meinem So-Sein, trotz körpertherapeutischer Erfahrung - im körperlichen Nahbereich langsam, vorsichtig, umsichtig.
In meiner Zweitpraxis in meinem Haus, dem kleineren Therapieraum, befinden sich in der einen Hälfte des Raums die beiden Stühle, und in der anderen Hälfte habe ich eine Sitzecke aus Matten und Mattenteilen eingerichtet, wie in der Abbildung 4 zu sehen. In dieser Praxis arbeite ich oftmals auch mit Kindern, Jugendlichen oder ganzen Familien. Es haben sich daher bestimmte Requisiten zusätzlich bewährt, die eine Reihe zusätzlicher handelnd-spielerischer Interaktionsmöglichkeiten eröffnen, wie das Seil und die Puppe. Diese beiden Gegenstände, ebenso wie die vielen Polster, erzeugen unaussprechlich einen regressiven Sog. Mit diesem Sog gehen Patientinnen und Patienten wiederum sehr unterschiedlich um: Einige scheinen die Zweiteilung des Behandlungsraums überhaupt nicht wahrzunehmen; sie scheinen völlig innerlich auf den Raum fixiert zu sein, der sich zwischen uns im Gespräch auftut. Das ist ganz in Ordnung so, und diese Patienten bedränge ich keinesfalls, diesen Gesprächsraum, in dem sie versuchen Sicherheit zu finden, zu verlassen; sie können ihn behalten, so lange sie möchten, manche tun das für immer. Einige Patienten entdecken, wenn sie etwas mutiger geworden sind, im Laufe der Zeit die andere Hälfte des Behandlungsraums und beginnen, Fragen zu den einzelnen Gegenständen zu stellen. Ich gebe dann bereitwillig Erklärungen (ohne deswegen lange Vorträge zu halten), und manche Patienten entscheiden sich dann aus Neugier für ein Experimentieren in diesem neuen Raum, manche wollen das nicht. Jede Entscheidung des Patienten ist zunächst in Ordnung, und zugleich läuft:
bei mir innerlich ein gedanklicher Prozess weiter, darin mündend, die getroffene Entscheidung des Patienten im Hinblick auf ihre Stimmigkeit oder auf Widerstandsaspekte hin abzutasten, was oftmals leichter wird, je mehr therapeutisch relevantes Material zutage tritt. Es kann also durchaus der Fall sein, dass ich viele Stunden später an geeigneter Stelle auf die damals getroffene Entscheidung des Patienten zurückkomme und wir sie gemeinsam in einer nun bereits differenzierter gewordenen Sicht auf das gemeinsame Geschehen im »Hier und Jetzt« nochmals reflektieren.
Der Fokus liegt dabei viel stärker auf der gemeinsamen Reflexion als auf einer nachträglichen Deutung aus meiner Expertenposition. Das soll wiederum nicht heißen, dass ich Deutungen generell ablehne - keineswegs! Ich finde, dass die »gute alte Deutung« nach wie vor ein äusserst wirksames therapeutisches Werkzeug sein kann, dass sie wahrhafte »Aha«-Erlebnisse auslösen und die therapeutische Beziehung nachhaltig verändern kann. Jedoch erlebe ich es so, dass gerade die Entscheidung, sich in den konkret körperlichen Nahraum mit dem Patienten hineinzubegeben oder nicht, von dermaßen viel eigenen Faktoren als Therapeut mitbestimmt ist, dass mir in diesem Bereich ein sorgfältiger beidseitiger Aushandlungsprozess viel stimmiger erscheint als eine einseitig getroffene Aufforderung oder Entscheidung; zumindest ist dies mein persönlicher Stil, gewachsen aus meiner Erfahrung.
Insgesamt denke ich, dass das beschriebene Behandlungsangebot in seiner Gesamtwirkung auf implizite Weise eine trieb- und interaktionsfreundliche Atmosphäre herstellt, eine Art »Verführung zum Leben«, zu einem mehr oder weniger breiten Spektrum an Ausdrucksformen von Vitalität, und dies trotz meiner philobatischen Grundtendenz.
Stilistische Unterschiede sind unter analytischen Körperpsychotherapeuten vermutlich sehr groß. Wie in der relationalen Psychoanalyse ist der Therapeut definitionsgemäß alles andere als »Standard«: »In der relationalen Psychoanalyse ist dieses >Problem< sogar offen durch Mitchell und Aron als Merkmal dieser theoretischen Tradition definiert worden. [...]
Relationale Analytiker sind solche, die bestimmte sensibilities und theoretische Akzente teilen. In der jeweiligen Verwendung der Theorien ist die Individualität wichtiger als der Konsens. Das >Problem< erweist sich auf den zweiten Blick als Scheinproblem. Es ist einfach ein Merkmal der individuellen Kreativität innerhalb der Grenzen eines theoretischen Feldes. Zugleich kann
man diese Schwierigkeit auch als Artefakt der Epistemologie ansehen. Die Epistemologie, die von der relationalen Psychoanalyse benutzt wird, zeigt die Unmöglichkeit, theoretische Homogenität zu erreichen, auf. Und diese beginnt bereits mit den Worten, die wir benutzen, und ihren Bedeutungen. Zum Beispiel sprechen manche von Übertragung/Gegenübertragung, und andere lieber von Interaktion. Die Frage, ob damit im Grunde das gleiche gemeint ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden: manchmal ja und manchmal nein. Eine Integration ist aus epistemologischer Sicht ganz schwer herzustellen. Diese >Schwierigkeit< ist ein Teil des Gegenstandes« (Sassenfeld 2010, S. 94f.).
31 Mit diesem »Geständnis« möchte ich ausdrücken, dass ich jene psychoanalytischen Kollegen, die ich immer wieder einmal auch gern kritisiere, im Grunde meiner Seele ja gut verstehen kann; dass ich mir solche Kritik hin und wieder nicht verkneifen kann, bringe ich selbst damit in Verbindung, dass ich anscheinend eine solche Projektionsfläche immer wieder brauche, um mit meinen inneren Ambivalenzen hinsichtlich der eigenen Näheabwehr zurechtzukommen.
Literatur zu Resonanz und Körperpsychotherapie
Geißler, P. (2007): Entwicklungspsychologisch relevante Konzepte im Ueberblick. In: Geißler, P., Heisterkamp, G. (Hg.): Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen
Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch. Wien/New York (Springer), S. 99-164.
Geißler, P. (Hg.) (2008): Der Körper in Interaktion. Handeln als Erkenntnisquelle in der psychoanalytischen Therapie. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Geißler, P. (2009): Analytische Körperpsychotherapie. Eine Bestandsaufnahme. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Geißler, P. (Hg.) (2012a): Stimme und Suggestion. Die »musikalische Dimension« und ihre suggestive Kraft im psychotherapeutischen Geschehen. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Geißler, P. (2012b): Welche Schwierigkeiten hat die Psychoanalyse mit der Evolutionsbiologie? Psychoanalyse und Körper 21,43-55.
Geißler, P. & Heisterkamp, G. (Hg.) (2007): Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Ein Lehrbuch. Wien/New York (Springer).


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