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Die Wiederkehr des Imaginären - Das narzisstische Selbstmodell
Digitaler Narzissmus - Analoges Selbst - eine Synthese aus Narzissmus-, Resonanz- und Bezogenheitskonzepten
Materialien und Zitatesammlung zur gesellschaftsbedingten Entstehung, zur Diagnostik und zur Behandlung von Störungen des narzisstischen Spektrums - zusammengestellt und kommentiert von Fachpsychotherapeut FSP Markus Frauchiger in CH-3012 Bern
Markus Frauchiger: CV, Lebenslauf und Vernetzung des Autors
Veröffentlichung und Reproduktion nur auf Anfrage beim Autor möglich - dies ist ein vorläufiges Arbeitspapier, welches kontinuierlich erweitert wird.
TEIL I: Der Mythos von Narziss und Echo
- 2.1.1. Ovids 'Metamorphosen' - Narziss und Echo
- 2.1.2. Primärer Narzissmus - Sigmund Freud
- 2.1.3. Sekundärer Narzissmus - Kohut/Kernberg
- 2.1.4. Visuelle Wahrnehmung - Analogie von Auge und Kamera?
- 2.1.5. "Der Sinn der Sinne" - Anthropologie der Sinne und Medien
- 2.1.6. Philosophie: Höhlengleichnis bei Platon
- 2.1.7. Das Ich als Vermittler zwischen Triebwünschen und Zivilisationsansprüchen
- 2.1.8. Konzepte und Kontroversen
- 2.1.9. "Tertiärer", medial-technischer Narzissmus - Frauchiger
TEIL II:
- 2.2.1. Falsches und wahres Selbst bei D.W. Winnicott, A. Miller, J.F Masterson u.a.
- 2.2.2. Wohlstandsverwahrlosung - Jeunesse dorée - Verwöhnung
- 2.2.3. Narzissmustheorien im Intersubjektivitäts-Paradigma: Selbstwert-Regulations-Modelle
- 2.2.4. Prä-Relationale Konzepte bei Stolorow, Joffe und Sandler, Wink und Blatt
- 2.2.5. Relational Turn: Hegel, Mead, Parsons, Honneth, Mitchell, Benjamin, Altmeyer
- 2.2.6. Der narzisstische Funktionsmodus bzw. Aggregatszustand und 'Das narzisstische Gleichgewicht' - Frauchiger
TEIL III: Soziopathie, Psychopathie, Amok und maligner Narzissmus
- 2.3.1. Psychopathie und Soziopathie als pathologischer Narzissmus mit starken sozialen Folgen
- 2.3.2. Verführen, Belügen, Manipulieren aus psychologischer Sicht
- 2.3.3. Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter
- 2.3.4. Amok und School Schootings
- 2.3.5. Destruktiver und maligner Narzissmus
- 2.3.6. Psychopathie - Soziopathie - Dissozialität - Suizid
- 2.3.7. Scham, Wut, Gewalt und die fehlende (Selbst-)Anerkennung
- 2.3.8. Kränkbarkeit als Leitsymptom unserer Zeit?
Hinführung zum zweiten Kapitel
Den Begriff «Narzissmus» führte Sigmund Freud 1914 in die psychoanalytische Theorie ein; er wurde in der Psychoanalyse der letzten 50 Jahre jedoch uneinheitlich benutzt. Nach der klärenden Diskussion der sechziger Jahre, die vor allem mit den Namen Balint (Bindungstheorie), Joffe und Sandler (Gleichgewicht von Wohlbefinden und Sicherheit), Kohut (Selbstpsychologie vgl.Kap.2.2.4.), Schumacher (Integratives Narzissmus-Modell) und Argelander (Modell des reformulierten Narzissmus) verbunden ist, versteht die Psychoanalyse heute unter Narzissmus oder narzisstisch die verschiedenen Zustände des Selbstwertgefühls, der affektiven Einstellung des Menschen zu sich selbst (vgl. Henseler 2000 S.73, Hervorhebungen M.F.).
Die narzisstische Störung kann sich sowohl in einem übertriebenen Selbstgefühl als auch in übertriebenen Minderwertigkeitsgefühlen äussern.
"Unter Regulation des Narzissmus versteht die Psychoanalyse die Aufrechterhaltung eines affektiven Gleichgewichts bezüglich der Gefühle von innerer Sicherheit, von Wohlbehagen, Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit, im folgenden kurz Selbstgefühl genannt.
Dieses affektive Gleichgewicht ist wohl zu unterscheiden von der Entspannung nach Triebabfuhr. Die Regulation des Selbstgefühls stellt die Psyche vor eine nicht minder wichtige und schwierige Aufgabe als die der Triebregulation (Henseler 2000 S.73-74).
Persönliche Motivation und Ausgangslage für einen erweiterten Narzissmusbegriff
In den Jahren nach der ersten Weltwirtschaftskrise des 21.Jahrhunderts (ca.2007-2009) begann ich (MF) vermehrt Bücher und Artikel zu den Themen Wirtschaft, Soziologie, Philosophie und Psychologie intensiver zu lesen und zu "verarbeiten".
Dies auf dem Hintergrunde einer jahrzehntelangen praktischen und theoretischen Beschäftigung mit Psychotherapie, Psychiatrie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse.
Aus diesem zuerst situativen Interesse für Oekonomische Fragen und Prozesse hat sich in Kombination mit einem Vorhaben zu Narzissmus und Psychoanalyse eine sehr spannende Ausgangslage ergeben für ein umfassendes Buch- bzw. 'Online-Projekt' über die zahlreichen Verknüpfungen zwischen den genannten Wissenschaften und deren Anwendungen.
"Warum werde ich nicht satt?"
(Songtitel von "Die Toten Hosen" auf dem Album "Unsterblich", 1999)
"Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selbst sind Bildschirme geworden
und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das von Bildschirmen geworden.“ (Jean Baudrillard)
"Der Mythos des Jünglings »Narkissos« aus der griechischen Mythologie hat dem klinischen Phänomen des Narzissmus seinen Namen gegeben (Wieseler 1856; Renger 1999). In diesem Mythos findet sich vieles, was bis heute das Verständnis des Narzissmus prägt. Narziss verliebt sich, dem Mythos nach, in sein eigenes Spiegelbild. Er ist aber auf der Suche nach einem verlorenen Objekt (in einer Version des Mythos eine früh verlorene Zwillingsschwester).
Andere, die ihn begehren, wie die Nymphe Echo, weist er zurück. Er ist somit eigentlich auf der Suche nach dem Anderen, fällt aber immer wieder auf sich zurück. Ein anderes Element begleitet den Mythos ebenfalls: Narkissos stirbt an seiner Selbstbezogenheit. (Nach einer Version des Mythos’ wird er zur Strafe von den Göttern in eine Narzisse/Blume verwandelt, in einer anderen Variante ertrinkt er sogar beim selbstverliebten Betrachten von sich selbst im Wasser.) Der Narzissmus ist also eine Krankheit, die potenziell zum Tode führen kann.
Nicht zu retten war auch der mythische Narziss. Während die Götter dem Vatermörder und Blutschänder Oedipus schließlich verziehen, ließen sie im Fall des Narziss keine Gnade walten.
Andere Mythen der Antike kreisen ebenfalls um narzisstische Phänomene:
Etwa Ikaros, der Sohn des Architekten Daidalos, der mit einer Flugmaschine aus Wachs, gegen den Rat des Vaters, immer höher zur Sonne fliegt und tödlich abstürzt. Oder der innerlich zerrissene Halbgott Prometheus, der das Verbot der Götter bricht und den Menschen das Feuer bringt. Auch hier findet sich das Element der Hybris, das heißt, mehr sein zu wollen, als einem zusteht, was Zorn hervorruft.
Narkissos (und die ihm verwandten Ikaros und Prometheus) markieren das Thema des Neids, der Arroganz und Objektlosigkeit, wie wir es auch in der christlichen Religion in der Gestalt des gefallenen, aber unversöhnlichen und in sich gefangenen Engels Luzifer finden.
Die Konfliktdynamik ist, im Unterschied zu den Mythen, die um interpersonelle und insbesondere trianguläre Konflikte kreisen, immer stark solipsistisch geprägt. Beispielsweise wie, an erster Stelle zu nennen, der Mythos von Oedipus, der aus ihm unbewussten Gründen mit seiner Mutter schlafen und seinen Vater töten wird (Dammann et al. 2012 S.15-16).
Narzissmus als "das Dazwischen" (als Intermediärobjekt bei Winnicott), als "Greifarm in die Welt hinaus" (als Erweiterung des Körpers bei McLuhan), als Grenzerfahrung zwischen mir und der Welt - Narzissmus als Medium, als Verlängerung meines Körpers gleichsam bis hin zur "Hyperrealität" (Baudrillard), eine 'Realität', wirklicher als die Wirklichkeit etc.etc. - aber auch
Narzissmus als 'doppelte Buchführung' (bekannt aus der Schizophrenieforschung...), als zweites Ich, das sich neben und über das eigentliche Ich stellt (Lacan) u.s.w.
Diese zweite Gruppe von Beschreibungen entsprechen scheinbar so gar nicht dem geläufigen und populären Bild des in-sich-verliebten, im Zitat oben als 'solipsistisch' zu bezeichnenden, um sich kreisenden Egoisten, welcher wortwörtlich "nur Augen für sich" hat.
Ich werde in diesem Kapitel zu zeigen versuchen, wie eine "moderne" (oder gar: postmoderne) Definition von Narzissmus aussehen und lauten könnte - was nicht heisst, dass die klassischen Definitionen damit obsolet wären.
Ganz bewusst wählte ich deshalb in den obigen Sätzen Adjektive und Verben aus der Welt des Sinnlichen, schreibe von Medien, vom Hören und v.a. vom Sehen - um die postmoderne, strukturalistische Stossrichtung meines Ansatzes bereits etwas aufzuzeigen.
Ich möchte mein eigenes Verständnis von Narzissmus somit ganz nah bei den Sinnen und an der sinnlichen Wahrnehmung und bei der Verführungskraft der visuellen Medien ansiedeln und auf diesem Wege darlegen, wie der Narzissmus in Anlehnung an Marshall McLuhan ("Narzissmus als Narkose") und Jean Baudrillard ("Simulationstheorie") einen nur scheinbaren, tückischen 'Seh-Raum' eröffnet (Jacques Lacan und dieses Kapitel) - ganz im Gegensatz und ergänzend zu einem 'Hör-Raum' wie er eingehender im Resonanz-Kapitel 8 dargestellt werden wird.
Narzissmus hat in dieser Sichtweise (!) also in erster Linie mit Sehen zu tun; und auch mit Gesehen-Werden - somit ist er Ausdruck eines "sich und die Welt sehen-Wollens und dennoch nicht-wirklich-sehen-Könnens".
Bedauerlicherweise hält sich Narziss in Ovids Erzählung aber selber für die Welt, womit ein Zirkelschluss entsteht und eine tragische, letztlich tödliche Dynamik des vermeintlichen Kontaktes zur Welt, zum Anderen hin, entsteht - und diese sich letzlich als eine Schein-Lösung des Entkommens aus der Einsamkeit darstellt.
Das Echo (bei Ovid: die Echo...) hilft auch nicht genügend dabei, solange es (bzw. sie) nur die letzten eigenen Worte wiederholt.
Trugbilder entstehen beim Blick auf die (Wasser-)Oberfläche - Kontakt wird verwehrt, die Sicht verwischt beim Versuch dieses Bild zu berühren und sich anzueignen - damit eins zu werden führt in den sicheren Tod - ohne es weiterzuleben aber auch...
Lassen Sie uns nun, lieber Leser, liebe Leserin, ganz von vorne beginnen und in den folgenden Abschnitten die oben erwähnten Mythologien um das Narziss-Thema herum genauer kennenlernen und deren Anwendungen in den verschiedenen psychoanalytischen "Schulen", bevor wir im nächsten Kapitel dann diese Grundfiguren verknüpfen mit kollektiven Erkenntnissen aus u.a. der Soziologie und den Medienwissenschaften um zu guter letzt zu einer Definition des sogenannten "Tertiären Narzissmus" zu gelangen, welcher heutzutage so sehr verbreitet ist und unserer Zivilisation auf den verschiedensten Ebenen zusetzt und uns alle zunehmend auszulöschen droht.
TEIL I: Der Mythos von Narziss und Echo
2.1.1. Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen
2.1.1.1. Narziss und Narzissmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse - Mythos zur leeren Selbstinszenierung
"Sigmund Freud entwickelte anhand der Figur des Narziss seine Theorien zum Narzissmus und legte damit den Grundstein für die weitreichende psychoanalytische Beschäftigung mit einem Thema, das heute offensichtlich mehr denn je von gesellschaftlicher Relevanz zu sein scheint. Allein in diesem Jahr [2012], während unsere Ausstellungsvorbereitungen [gemeint ist die Kunstausstellung 'Der Spiegel des Narziss' in der Galerie 'Taxispalais' in Innsbruck] bereits auf Hochtouren liefen, sind gleich mehrere Artikel und Publikationen erschienen, die der zeitgenössischen Gesellschaft zunehmend narzisstische Züge attestieren und von der Aktualität des Themas zeugen:
- Der ganzseitige Essay 'Narziss geht baden' behandelte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Juli 2012 die Frage, ob man den Narzissmus nicht aus der Liste der Persönlichkeitsstörungen streichen solle, da so oder so niemand mehr frei davon sei.
- Das Lifestylemagazin 'Brigitte' berichtete im September unter dem Motto 'Er liebt mich - aber sich noch mehr' von einer unter Männern grassierenden Epidemie: Die neuen Männer finden sich selbst am tollsten und schätzen vor allem die Phase der Verliebtheit, in der sie sich überhöht und bestätigt fühlen - was in der Konsequenz eine ernsthafte Partnersuche und langfristige Beziehungen torpediert.
- Im selben Monat lautete die Titelgeschichte des Magazins Geo 'Ich, Ich, Ich - Werden wir eine Gesellschaft der Selbstverliebten?' Hier wird festgestellt, dass die übersteigerte Selbstliebe nicht nur eine gewaltige psychische Kraft ist, sondern sich zudem auch immer mehr auf dem Vormarsch befindet, sodass "die Droge Ich", der Hang zur Selbstdarstellung, zu einem Ego-Trip mit unabsehbaren Folgen für ganze Gesellschaften wird. Die Männer geben dabei den Ton an, die Frauen holen jedoch zunehmend auf.
- Zu den Symptomen des Phänomens der Ichinszenierung zählen nicht nur Castingshows, sondern auch Selbstvermarktungsformate wie YouTube oder Facebook. Allgemein formuliert:
- Die Wertesysteme heutiger Wachstums- und Konsumgesellschaften begünstigen narzisstisches Potenzial
- Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht in seinem ebenfalls 2012 erschienenen Buch 'Die narzisstische Gesellschaft' denn auch davon, dass unsere Gesellschaft in die Narzissmus-Falle geraten sei, in der alle Versuche, die Krise zu überwinden, einem Stühlerücken auf der Titanic gleichen, solange die Unterdrückung des Fühlens und des Schmerzes weiterhin Programm bleiben" (Ermacora/Welsch 2012: Der Spiegel des Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, S.6).
Der Mythos von Narziss und Echo
Wenn wir uns auf den Mythos besinnen, werden viele verschiedene Erklärungen angeboten (Wieseler 1856, zit. n. Modena 1981).
Am bekanntesten ist die Version von Ovid (Ovidius 1982) in den Metamorphosen III, bei der Narziß, als Sohn der vom Flussgott Kephissos vergewaltigten Nymphe Leiriope, sich selbst in seinem Spiegelbild erkennt, in das er verliebt war, und gemäß einer Prophezeiung des Teiresias stirbt und zur Blume (Narzisse) wird.
Weniger bekannt ist, daß etymologisch (n. Kluge 1975) die Blume dem Mythos den Namen gegeben hat und wegen ihres betäubenden Dufts mit narkotisch, starr und gelähmt werden in Zusammenhang steht. Hieraus entstand „narcissos“ bei Homer und „narcissus“ bei Vergil. Insofern erscheint es nicht zu weit hergeholt, den Mythos des Narziss mit der Abtötung oder Narkotisierung eigener unerträglicher Gefühle über fehlende Wahrnehmung und Spiegelung durch die primären Objekte in Verbindung zu bringen, Narzissmus also als Restitutionsversuch zur Herstellung von Kohäsion (Kohut 1971) bzw. als Abwehrstruktur (Kernberg 1975) zu verstehen.
Ovid (1983) hat in seinen Metamorphosen diesen Mythos in Worte gefasst und in wunderbarer Sprache beschrieben. Ich will nun versuchen, den Mythos in den wesentlichen Punkten darzustellen:
Narziss ist ein schöner, körperlich vollkommener junger Mann, "begehrt von Jünglingen und Mädchen", der jagend durch die Wälder streift. Als die Nymphe Echo Narziss erblickt, verliebt sie sich sofort in ihn. Juno, die Gattin des Jupiter, hat sie jedoch verdammt, niemals von sich aus jemanden ansprechen zu können, sondern nur die Worte des Gehörten wiederholen zu müssen. Dieser Fluch kam auch in der Begegnung mit Narziss schicksalshaft zum Tragen.
Echo "tritt heraus aus dem Walde, eilt, um den Hals, den ersehnten, die Arme zu schlingen". Doch jener flieht und ruft im Fliehen:
"Nimm weg von mir deine Hände! Eher möchte ich sterben, als dass ich würde dein Eigen!" Die Nymphe zieht sich im Schmerz des Verschmähtseins in die Wälder zurück. Schliesslich sind nur noch Stimme und Knochen übrig. Die Stimme blieb, die Knochen sind, so erzählt man, zu Steinen geworden. Seitdem hält sie im Wald sich versteckt. "Was in ihr noch lebt, ist der Klang nur".
Narziss kommt an eine Quelle, aus der er trinken will. Dabei sieht er sein Spiegelbild, in das er sich sofort verliebt; jedoch als sein Spiegelbild zunächst nicht erkennt. In Liebe entflammt, möchte er den wunderschönen Jüngling, den er im Wasser sieht, berühren und liebkosen. Doch immer, wenn er ins Wasser greift, verzerrt sich das Bild des Geliebten. Nach wiederkehrenden schmerzlichen Versuchen, den Jüngling in der Quelle zu begreifen, erkennt Narziss schliesslich:
"Der da bin ich! Ich erkenne! Mein eigenes Bild ist’s! In Liebe brenn ich zu mir, errege und leide die Flammen! Was tu ich? Lass ihn mich bitten? Was sollte ich dann auch erbitten? Was ich begehre, ist an mir! Es lässt die Fülle mich darben. Könnte ich scheiden von meinem Leibe! Oh neuer Wunsch eines Liebenden: Wäre – so wollt ich – fern, was ich liebe! Und schon nimmt der Schmerz mir die Kräfte, es bleibt mir nicht lange Zeit mehr zu leben, ich schwinde dahin in der Blüte der Jahre. Schwer ist der Tod nicht mir, der mit ihm verliert seine Schmerzen: Er, den ich liebe, ich wollte, dass Er beständiger wäre".
"Jetzt, jetzt sterben vereint in einem Hauche wir beide!" Nach der Darstellung von Ovid vergeht Narziss zunehmend in seinen Schmerzen. Nach einer anderen Version hat sich Narziss einen Dolch in die Brust gestossen (von Ranke-Graves, 2005). Echo hat Narziss nicht vergeben, nur die Worte: „Wehe, wehe“ und „oh Jüngling, Geliebter, lebe wohl“, klangen dem Toten noch nach. Echo lebt in den Berghöhlen, Narziss als gleichnamige Blume weiter.
(aus: Mitterauer, Bernhard J. (2009). Narziss und Echo - Ein psycho-biologisches Modell der Depression)
Nárkissor (Narziss) war der alten griechischen Sage nach der schöne Sohn des Flussgottes Kephisos und der Leiriope. Da von der Damenwelt umworben und entsprechend hochmütig, wies er auch die Liebe der Nymphe Echo zurück. Deshalb bestrafte ihn Nemesis, die Göttin des gerechten Zorns (auch Aphrodite wird in der griechischen Mythologie als die Rächerin Echos angeführt). Narziss entwickelt darob eine unstillbare Liebe zu seinem Spiegelbild, das er im Wasser sieht.
Ueber das Ende des "ersten Narzissten" gibt es zwei Versionen. Die erste besagt, dass durch eine göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser fällt und das Spiegelbild Narziss' trübt. Schockiert von der vermeintlichen Erkenntnis, er sei hässlich, stirbt Narziss. Er wird in eine Narzisse verwandelt.
Ueberlieferung zwei lautet: Narziss verliebt sich in sein Spiegelbild, will sich mit ihm vereinigen und ertrinkt bei diesem Versuch.
Die Perspektive von ECHO kommt in der folgenden Version besonders gut zur Geltung - ECHO (als Gegensatz zu RESONANZ) wird für diese Arbeit hier noch grosse Bedeutung erlangen:
„Narziss ist ein schöner, körperlich vollkommener junger Mann, begehrt von Jünglingen und Mädchen, der jagend durch die Wälder streift. Als die Nymphe Echo Narziss erblickt, verliebt sie sich sofort in ihn. Juno, die Gattin des Jupiters, hat sie jedoch verdammt, niemals von sich aus Jemanden ansprechen zu können, sondern nur die Worte des Gehörten wiederholen zu müssen. Dieser Fluch kam auch in der Begegnung mit Narziss schicksalhaft zum Tragen.
Echo tritt heraus aus dem Walde, eilt, um den Hals, den ersehnten, die Arme zu schlingen.
Doch jener flieht und ruft im Fliehen: Nimm weg von mir deine Hände! Eher möchte ich sterben, als dass ich würde dein Eigen! Die Nymphe zieht sich im Schmerz des Verschmähtseins in die Wälder zurück. [...] Narziss kommt an eine Quelle, aus der er trinken will. Dabei sieht er sein Spiegelbild, in das er sich sofort verliebt, jedoch als sein Spiegelbild zunächst nicht erkennt. In Liebe entflammt, möchte er den wunderschönen Jüngling, den er im Wasser sieht, berühren und liebkosen. Doch immer, wenn er ins Wasser greift, verzerrt sich das Bild des Geliebten. Nach wiederkehrenden schmerzlichen Versuchen, den Jüngling in der Quelle zu ergreifen, erkennt Narziss schließlich: Der da bin ich! Ich erkenne! Mein eigenes Bild ist’s! In Liebe brenn ich zu mir, errege und leide die Flammen! [...] Oh neuer Wunsch eines Liebenden:
Wäre - so wollt ich - fern, was ich liebe! Und schon nimmt der Schmerz mir die Kräfte, es bleibt mir nicht lange Zeit mehr zu leben, ich schwinde dahin in der Blüte der Jahre.
Schwer ist der Tod nicht mir, der mit ihm verliert seine Schmerzen: Er, den ich liebe, ich wollte, dass er beständiger wäre. Jetzt, jetzt sterben vereint in einem Hauche wir beide!“ (zitiert nach Mitterauer (2009 S.31).
Weiter heisst es in Mitterauers Depressions(!)-Buch (S.32f):
"Echo hingegen hat die Intention, Narziss in Liebe zu umarmen, ist aber unfähig, aktiv mit ihm Kontakt aufzunehmen, muss bruchstückhaft wiederholen, was Narziss aus seiner subjektiven Welt von sich gibt. Sie leidet sehr darunter, muss aber die Nichtmachbarkeit jedweder Kommunikation mit Narziss akzeptieren. Gleich dem Narziss hält Echo an der Nichtmachbarkeit ihrer Intention nach Begegnung beharrlich fest, bis sie daran zugrunde geht. So gesehen verhält sich auch Echo hyperintentional und verliert wie Narziss durch dieses Verhalten völlig das Selbstverständnis. Die beiden unterscheiden sich jedoch in ihren Handlungsstilen, sodass man von narzisstischer Verwerfung und echoischer Akzeptanz sprechen kann.
Mitterauer unterscheidet "Narzisstische Verwerfung von echoischer Akzeptanz" und verfolgt damit eine Dialektik ähnlich der hier dargelegten und ähnlich derjenigen von z.B. Wink oder auch Joffe und Sandler (s.u.).
Der Maler Caravaggio: Bild "Narziss" um 1596
"Das berühmte, Caravaggio (1571-1610) zugeschriebene, fast quadratische Gemälde, wohl ein Frühwerk (um 1595-1597), zeigt nur den suchenden Narziss, das Wasser und - was auch beim ,Waldtypus' häufig fehlt - sein Spiegelbild, der Rest ist Dunkelheit. Dieser Narziss, der lange Jahre so gut wie unbeachtet blieb, bildet - wahrscheinlich zusammen mit der fast 350 Jahre später entstandenen 'Metamorphosis of Narcissus' (1937) von Salvador Dali (1904-1989) - die für das heutige Verständnis entscheidende und sicherlich zugleich bekannteste bildnerische Darstellung des Mythos. Vermutlich hatte sich Caravaggio inhaltlich 'zu genau' an Ovid orientiert, die innige Verbindung von Narziss und seinem Spiegelbild fand zur Zeit seiner Entstehung keine Nachahmer, überdies wurde sein Aeusseres als grobschlächtig abgelehnt. Erst mit der Kenntnis von Freuds Theorien des Narzissmus begann man zu verstehen, dass Caravaggio mit diesem Gemälde seiner Zeit weit voraus gewesen war und sein Narziss, wie die Menschen der Moderne, Selbsterfahrung suchte" (Welsch in Ermacora/Welsch 2012: Der Spiegel des Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, S.20-22).
Conny Habbel - Die Spiegelung der Echo
"Auch Conny Habbel erzählt in ihrer fünfteiligen Fotocollage Echo and Narcissus (2006, vgl. Abb. xx bis yy) die Geschichte von Liebe und Begehren neu und bezieht sich dabei auf die dramatische Version des Mythos, die der zu den Präraffaeliten zählende John William Waterhouse 1903 gemalt hat. Indem Conny Habbel in das Geschehen ,eingreift' und ganz im Sinne heutiger Konfliktlösungsversuche neu erzählt, instrumentalisiert sie zugleich die starken Emotionen, mit denen Waterhouse seinen Narziss geschildert hat und die seine Darstellung aus dem üblichen Wiedergabeschema am Ende des 19. Jahrhunderts herausragen lässt" (Welsch in Ermacora/Welsch 2012: Der Spiegel des Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, S.30).
"Conny Habbel setzt in ihrer Abfolge bei Nummer eins mit der Blume, „in der Mitte safrangelb und umsäumt mit weißen Blütenblättern", ein. Das heißt, sie beginnt mit dem Ende bei Ovid, denn Narcissus stirbt, jedoch finden die Naiaden und Dryaden anstelle des Leichnams eine ebensolche Blume, die mithin für den Tod steht. In der folgenden Intervention ersetzt sie die gemalte Echo mit einem zeitgenössischen Foto, um im Weiteren die Position des Narcissus einzunehmen. Entsprechend sind in der Folge die beiden in ihrem Geschlechterkampf auseinanderdividiert. Im Abschlussbild sieht Echo nicht einmal mehr auf Narcissus, sie konnte sich - im Gegensatz zum antiken Mythos - von ihm lösen. Die Künstlerin hat damit den Schwerpunkt der Tragik verschoben." (Neuwirth in Ermacora/Welsch 2012: Der Spiegel des Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, S.87).
"Die narzisstische Störung mit ihren zerstörerischen und lebensbedrohlichen Folgen lässt sich, ähnlich der Pest im Mittelalter, kaum noch beherrschen."
Bernhard Maaz, Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München 2012, S.17
Sylvia Zwettler-Otte - Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie
„Nur der "direkte Blick auf die Tatsache" oder der "Stimulus großer Kunst" können uns die Augen öffnen" [Anmerkung 1, s.u.], heißt es in der Einleitung zu Joseph Conrads autobiografischer Schrift 'The Shadow-Line'. Was Conrad über die wirkliche Bedeutung des Krieges schrieb, trifft auch auf das Phänomen des Narzissmus zu.
Es geht im Narzissmus um einen gefährlichen und oft sogar tödlichen Kampf zwischen libidinösen und destruktiven Kräften im Seelenleben eines Individuums, ob er sich nun im selbstzerstörerischen Rückzug äußert oder in fataler, nach außen gerichteter Destruktion [vgl. mein Konzept zum Plus bzw. Minus-Narzissten weiter unten, M.F.], die zur Massenbedrohung ausarten kann.
Um den Narzissmus in ernsthafter Weise zu reflektieren und ihn auch auf der emotionalen Ebene zu begreifen, ist es sinnvoll, zu den Anfängen unseres Verstehens psychischer Vorgänge zurückzugehen und auf die antike Mythologie zurückzugreifen, der, wenn wir z.B. an das Schicksal des Oedipus denken, auch Sigmund Freud bei der Entdeckung unbewusster seelischer Vorgänge wertvolle frühe Einsichten verdankte. Nach einem Blick auf die Entwicklung des Narzissmus-Begriffs bei Sigmund Freud wird deshalb hier der Mythos von Narcissus in der dichterischen Darstellung Ovids untersucht, um abschließend auf unser heutiges psychoanalytisches Verständnis des Narzissmus und auf seine gesellschaftliche Bedeutung einzugehen.
In Anlehnung an den antiken Mythos von Narcissus bezeichnet man mit Narzissmus allgemein die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt. Sigmund Freud verwendete den Begriff erstmals 1910 in einer Fußnote für die Beschreibung der Objektwahl Homosexueller: Sie „nehmen sich selbst zum Sexualobjekt, das heißt vom Narzissmus ausgehend [suchen sie] jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer auf, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hatte." [2] Wir wissen heute, dass es auch oft heißen müsste: wie die Mutter sie hätte lieben sollen - wäre es ihr möglich gewesen.
Sein Patient Schreber veranlasste Freud im folgenden Jahr, zwischen dem Autoerotismus und der Liebe zu einem Objekt eine Zwischenstufe in der psychosexuellen Entwicklung anzunehmen, in der „das in Entwicklung begriffene Individuum [...] zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt" [3] nimmt.
Primärer Narzissmus
In der Studie 'Zur Einführung des Narzissmus' baute Freud den Begriff dann in das psychoanalytische Theoriegebäude ein. Er hatte dabei besonders die Besetzungen von Objekten mit Libido, also mit der psychischen Energie des Sexualtriebs, im Auge. Anschaulich beschreibt er, wie sich die Libidobesetzung des Ichs zu den Objektbesetzungen verhält, nämlich „wie der Körper eines Protoplasmatierchens zu den von ihm ausgeschickten Pseudopodien (Scheinfüßchen)". Je mehr die Besetzung des Ichs an Libido verbraucht, desto mehr verarmt die Objektbesetzung; man könne sich das Ich als ein großes Libidoreservoir vorstellen, „aus dem Libido auf die Objekte entsandt wird und das immer bereit ist, die von den Objekten rückströmende Libido aufzunehmen". [4]
In Zusammenhang mit der Entwicklung des psychischen Apparats stellt Freud einen ersten narzisstischen (objektlosen) Zustand, den er als „primären Narzissmus" bezeichnet [Näheres hierzu im 4. Kapitel], einem späteren Zustand gegenüber, in dem es zu Objektbeziehungen kommt. Das Vorbild jenes anfänglichen primären Narzissmus ist das intrauterine Leben, aber auch der Schlaf, in dem sich das Individuum von der Außenwelt mit ihren realen Objekten zurückzieht.
Sekundärer Narzissmus
Doch auch die Libido, die äußeren Objekten zugeflossen ist, kann wieder ins Ich zurückgezogen werden, z.B. wenn das Ich sie braucht, weil es körperliche Beschwerden registriert hat oder wenn es durch Enttäuschungen durch Objekte zum Rückzug bewogen wird. Man spricht dann von „sekundärem Narzissmus" [5]. Viele normale und pathologische Aspekte des Narzissmus wurden von späteren Psychoanalytikern weiter studiert und ausgearbeitet, z.B. von Karl Abraham, Jacques Lacan, Heinz Kohut, Otto F. Kernberg, Sheldon Bach, Andre Green, Bela Grunberger und Salman Akthar. André Green untersucht in seinem tief gehenden Buch 'Life Narcissism, Death Narcissism' die Beziehungen zwischen dem Narzissmus und dem Todestrieb, den er auch als negativen Narzissmus bezeichnet. Er hebt mehrfach hervor, dass wir die Tatsache nicht vergessen sollten, dass narzisstische Patienten verwundete Subjekte sind, verletzt in ihrem Selbstwertgefühl, mit offenen Wunden, die ihnen oft nicht nur von einem, sondern beiden Elternteilen zugefügt wurden; wen können sie lieben, wenn nicht sich selbst?
Hier aber soll nun zunächst gezeigt werden, wie viel von all diesen Forschungen des 20. und 21. Jahrhunderts bereits im intuitiven Wissen des Dichters Publius Ovidius Naso zu finden ist, der die Metamorphosen im ersten Jahrzehnt nach Christus schrieb. Es ist ein tiefes Verständnis, das uns nicht abhanden kommen sollte und das in künstlerischen Darstellungen immer wieder auftaucht. Es gibt mehrere Versionen des Mythos von Narcissus. In der, die Ovid gewählt hat, wird Narcissus mit seiner unerfüllbaren Liebe zu seinem Spiegelbild im Wasser dafür bestraft, dass er nach vielen anderen auch die Nymphe Echo mit ihrer Liebessehnsucht zurückgewiesen hat. Narcissus lässt sich sterben. In einer anderen Version (Konon) geht es nicht um eine unglückliche heterosexuelle Objektwahl, sondern um die homosexuelle Liebe eines jungen Mannes, Ameinias, den Narcissus ebenfalls verschmäht hat und dem er, um ihn los zu werden, ein Schwert schickte, womit dieser sich das Leben nahm. Auch in dieser Version wird Narcissus für seine Ablehnung eines Liebenden selbst mit hoffnungsloser Liebe bestraft und begeht Selbstmord. In einer dritten Version (Pausanias) stirbt Narcissus' Zwillingsschwester und lässt ihn untröstlich zurück. Er sucht sie in seinem Bild, das sich im Wasser spiegelt.
Ovids Darstellung in den Metamorphosen ist aber diejenige, die am reichhaltigsten ist [6]. Sie zeugt von einem so vollkommenen Symbolverständnis, dass es frappante Uebereinstimmungen mit den Auffassungen unserer Zeit gibt [7]. Narcissus ist durch eine Vergewaltigung gezeugt worden. Sein Vater ist der Flussgott Cephisus (gr. Kephissos). Von seiner Mutter, der Nymphe Liriope (auch Leiriope), berichtet Ovid als Erstes, dass sie besorgt war, ihr Kind könnte früh sterben. Es bedarf keiner allzu großen psychoanalytischen Erfahrung, um aus dieser Sorge den verborgenen, unbewussten Todeswunsch herauszuhören, der natürlich primär dem Mann, der ihr Gewalt angetan hat, gilt, der aber auch auf die Frucht dieser Gewalttat übergreift. Uebergroße Aengstlichkeit und übermäßige Fürsorge verraten leicht, dass hier etwas verdeckt [kompensiert, M.F., s.u.] werden soll. Liriope befragt eilig den Seher Teiresias, ob ihr Kind die Reife des Alters erleben werde, und erhält von ihm die rätselhafte Antwort (Met. III, 348): „si se non noverit" - „wenn er sich selbst nicht erkennt"
Wir sehen hier ebenso wie bei Oedipus den blinden Seher in der Rolle eines Befürworters der Verleugnung und Verdrängung - [André] Green nennt ihn „the priest of psychical and physical blindness" [8] - das Erkennen der Wahrheit erscheint ihm zu gefährlich und unerträglich. Schwer wäre es für Narcissus zu ertragen gewesen, dass er kein Kind der Liebe, sondern der Gewalt ist und Hass in seiner Mutter wecken musste. Schwer wäre es für Liriope gewesen, ihre Ablehnung des Kindes hinter ihrer scheinbar liebevollen Sorge zu sehen. Doch was verdrängt ist, kämpft sich immer wieder an die Oberfläche: Leiriope nennt ihr Kind Narcissus. Der Name hängt mit dem griechischen Wort vapKäco (erstarren, erlahmen) zusammen, dessen Sinn uns im Wort Narkose überliefert ist. Die toxische Wirkung der Narzisse war denn auch schon in der Antike bekannt. Der Name spielt also auf tödliche Erstarrung an.
Narzissmus und Triangulierung
Zwei schädliche Umstände überschatteten demnach die frühen Jahre von Narcissus: die unbewusste Feindseligkeit seiner Mutter und das Fehlen des Vaters. Die triangulierende Funktion des Vaters ist ein notwendiger Schutz gegen das „Risiko einer Regression auf die Stufe der Identifizierung mit dem Primärobjekt" [9, auch: Kap. 4] und wirkt der Gefahr einer Wiederverschmelzung mit der Mutter entgegen.
Darüber hinaus benötigt der Sohn den Vater zunächst als Vorbild, das zur Idealisierung geeignet ist, und später für die ödipale Auseinandersetzung, deren Ziel Versöhnung mit dem Rivalen und postödipale Reife ist [vgl. Kap. 4]. Narcissus konnte folglich weder vonseiten der verdächtig überfürsorglichen Mutter noch vonseiten des fehlenden Vaters jene optimal dosierten Frustrationen erleben, die für seine Entwicklung förderlich gewesen wären. Es verwundert daher nicht, dass er im Kontakt mit Gleichaltrigen keinerlei realistische Selbsteinschätzung, sondern eine arrogante Haltung an den Tag legte. Ovid spricht von „dura superbia", vom „harten Stolz", und davon, dass ihn die anderen nicht interessierten (Met. III 354f): nulli illum iuvenes, nullae tetigere puellae - jenen tangierten keine Jünglinge, keine Mädchen.
Hier klingt bereits der Mangel an Kontakt (von lat. tangere [berühren]) an, der letztlich zu seinem Tod führen wird: Sein unstillbares Verlangen nach körperlicher Umarmung und seelischer Nähe wird nie erfüllt werden können, weil es ihm gleichzeitig unmöglich ist, Nähe auszuhalten. Ovid macht uns zu Zeugen der ängstlichen Verwirrung, der Hilflosigkeit und schließlich der Panik, die Narcissus in der Begegnung mit der Nymphe Echo erlebt. Narcissus hat sich - wie so oft - von seiner Schar treuer Begleiter auf der Jagd abgesondert. Er ruft (Met III 380ff): „Ecquis adest?" - „Ist jemand hier?" - Echo antwortet: „Adest!" - „Hier!" - Narcissus fordert sie laut auf: „Veni!" - „Komm!" - Und Echo kann nur wiederholen: „Veni!" - „Komm!" - Narcissus kann Echo nicht entdecken und ruft: „Quid me fugis?" - „Warum fliehst du vor mir?" - Und er erhält dieselbe Frage von Echo zur Antwort.
Er versucht nun, die Unfähigkeit beider, zueinander zu finden, zu überwinden: „Huc coeamus!" - „Lass uns hier uns vereinen!" Dieser Höhepunkt des Dialogs beinhaltet die Vorstellung einer sexuellen Vereinigung, eines Koitus: ,coire' heißt sowohl Zusammentreffen' als auch ,Beischlaf halten'; Brautleute hießen ,coeuntes'. Und Echo, „nullique libentius umquam responsura sono" - „nie lieber bereit, einem Klang Antwort zu geben", antwortet (Met. III 386ff): „Coeamus!" - „Uns vereinen!"
Sie kommt aus dem Wald, um ihm um den Hals zu fallen. Doch Narcissus flieht voll Entsetzen und ruft: „Manus complexibus aufer!" - „Nimm weg von mir deine Arme!" - „Emoriar, quam sit tibi copia nostril" - „Lieber will ich sterben, als dass ich dein Eigen würde!"
Sobald Narcissus tatsächlich Nähe erleben könnte, bedeutet sie für ihn ein vernichtendes Besitzergreifen, dem er den Tod vorzieht.
Echo wiederholt nun lediglich den Teil seiner Rede, der ihr Verlangen auszudrücken vermag: „Sit tibi copia nostril" - „Dass ich dein Eigen würde!" Deutlich tritt hier hervor, dass Echo keineswegs bloß der akustischen Spiegelung dient, sondern dass sie als eigene Gestalt mit einem eigenen Schicksal, das einer eigenen Studie wert wäre, tatsächlich einen weiblichen Gegenpol zu Narcissus darstellt. Narcissus ist in einem tödlichen Konflikt gefangen: Er vermeidet Kontakt, erträgt Nähe nicht, sondert sich ab und sucht deshalb Einzigartigkeit und weitestgehende Individualität. Gleichzeitig treibt ihn unstillbare Sehnsucht nach einer symbiotischen Wiedervereinigung zur verzweifelten Suche nach Nähe. Flucht vor und Suche nach Nähe resultieren in dem unheilvollen Kompromiss, an einem unerreichbaren, unberührbaren Objekt hängenzubleiben.
In der folgenden Szene hat sich Narcissus wiederum von den anderen auf der Jagd abgesondert. Ein schattiger Wald, der noch von niemandem betreten wurde und in dem kein Tier die leblose Stille stört, hat ihn zu einer reinen, unberührten Quelle gelockt. Während er hier den Durst löschen will, erwächst in ihm ein anderer Durst - Ovid spricht von „altera sitis". Er erblickt sein Spiegelbild (Met. 416ff) und spem sine corpore amat - verliebt sich in diese Hoffnung ohne Körper.
Er bewundert mit gebanntem Blick reglos wie ein marmornes Standbild seine Augen, seine Haare, die Wangen, den Hals und das schöne, schneeweiße Gesicht (Met. III 422ff) cunctaque miratur, quibus est mirabilis ipse - und bewundert alles, worum er selbst zu bewundern ist.
Er bewundert und begehrt und wird gleichzeitig bewundert und begehrt: probat - probatur; petit - petitur: Aktiv und Passiv, Subjekt und Objekt gehen ineinander über und heben sich gegenseitig auf. Die Sprache selbst reflektiert hier (Met. III 425f) eine Verschmelzung, die zur Auslöschung führt. Wie zuvor Echo versucht nun er vergeblich, sein Liebesobjekt zu umarmen. Sein verzweifeltes Verlangen wird im Wasser gespiegelt, aber nicht erwidert. So als hätte Ovid erkannt, dass dieser Teufelskreis narzisstischer Projektionen nur durch einen anderen unterbrochen werden kann, greift er hier zu dem für ihn ganz ungewöhnlichen Stilmittel, dass er plötzlich selbst als Erzähler hervortritt und Narcissus anspricht (Met. III 432ff): Credule, quid frustra simulacra fugacia captas? - Verblendeter, was haschst du nach flüchtigen Trugbildern? - Quod petis, est nusquam; quod amas, avertere perdes. - Was du suchst, ist nirgends; was du liebst, wirst du vernichten, sobald du dich abwendest.
Ista repercussae, quam cernis, imaginis umbra est: - Was du siehst, ist der Schein des zurückgeworfenen Bildes:
Nil habet ista sui, tecum venitque manetque. - Nichts ist es aus sich selbst, mit dir kommt es und bleibt es.
Tecum discedet, si tu discedere possis. - Mit dir wird es scheiden, wenn du zu scheiden vermöchtest.
Auch wenn Narcissus ein Liebesobjekt sucht, das er als einzigartig idealisieren und mit dem er verschmelzen kann, wäre es für eine heilsame Entwicklung unerlässlich, dass sich jenes andere Objekt zugleich als eines erwiese, das nicht mit ihm identisch ist, sondern dem er real-sinnlich begegnen und mit ihm eine wirkliche Beziehung aufnehmen kann.
Echo vermag das nicht zu leisten, weil sie im gleichen Problem verfangen ist wie er. Auch ihr fehlt eine ganz wesentliche Erfahrung, die die österreichische Dichterin Elisabeth Schawerda in ihrem Gedichtband 'Echo' einleitend so formuliert: "Das Echo ist nicht identisch mit dem Objekt seiner Verursachung, sondern nimmt dessen Wellen auf, braucht Raum und Resonanz" [10, vgl.Kap.8].
Dieses Erlebnis der Andersartigkeit, der eigenen und der des Anderen, hat zur unbedingten Voraussetzung, dass etwas Distanz - ein Zwischenraum, eine minimale Trennung - ausgehalten wird [vgl. Jessica Benjamin in Kap. 4ff], ohne sie mithilfe von symbiotischen Fantasien immer wieder zu verleugnen und untergehen zu lassen. Eine symbiotische Beziehung mag manchmal einen Selbstheilungsversuch darstellen, aber nur, wenn dieses Vorstadium reifer Liebe auch wieder verlassen und der andere als eigenständiger Mensch erkannt werden kann, ist der Versuch gelungen [11]. Wenn sich Ovid auch an dieser Stelle selbst kurz einschaltet - vielleicht in vorbewusster Ahnung der Notwendigkeit eines Dritten [Kap. 6: Triangulierung] -, so kann er doch den Gang der Handlung nicht aufhalten. Der Dichter tritt sogleich wiederum hinter Narcissus zurück und lässt diesen selbst sein Verlangen nach jemandem ausdrücken, der gegen die unheilvolle Verschmelzung helfen soll. Narcissus ruft die umstehenden Bäume als Zeugen seiner unglücklichen Liebe auf (Met. III 442):
Ecquis, io silvae, crudelius inquit amavit? - Hat je ein anderer, ihr Wälder, grausamer geliebt? Er erhebt also auch hier den narzisstischen Anspruch, ein einzigartiges Elend zu erleiden. Die unerträgliche Qual der Trennung wird durch die Einsicht verstärkt, dass nicht äußere Umstände schuld sind (Met. III 448ff) - nicht das Meer, Berge, Mauern oder Tore -, sondern exigua prohibemur aqua! - nur durch ein geringes Wasser werden wir getrennt!"
Die symbolische Bedeutung des Wassers lässt hier die Sehnsucht ahnen, zur pränatalen Existenz zurückzukehren. Sie ist mit Fantasien von Ewigkeit, Zeitlosigkeit, Unverletzlichkeit und Allmacht verbunden [12]. Diesen fundamentalen Wunsch bezeichnet Grunberger als die Basis seiner Narzissmus-Hypothese. Der Mythos der Rückkehr in den mütterlichen Schoß gehört nach Freud zu den großen Urfantasien [13]. Es ist aber auch nicht zu vergessen, dass der Vater von Narcissus ebenfalls als Flussgott in enger Beziehung zum Wasser steht und dort selbst sein Liebesobjekt suchte. Dieser symbolische Ansatz einer ödipalen Objektbeziehung scheint indes gerade dadurch gekennzeichnet zu sein, dass er sich nicht weiterentwickeln ließ. Grunberger betont im Hinblick auf die Notwendigkeit des Vaters als vorhandenen Dritten: „Wo Narziss war, soll Oedipus sein." [14]
Wahl betrachtet dasselbe Postulat von der anderen Seite: „Damit Oedipus wird, muss Narziss sein" [15]. Doch Narcissus scheitert an dieser Entwicklungsaufgabe und stirbt. Metaphorisch formuliert, müsste Narcissus aufstehen und sich von der Quelle trennen, die seine primäre, archaische Mutterbeziehung symbolisiert. Erst dann könnte er eine Beziehung zu einem Liebesobjekt aufnehmen. Grunberger sieht das paradoxe Nebeneinander von Tod und Triumph als Ergebnis einer Spaltung: „Das Körper-Ich stirbt, aber der Narzissmus triumphiert" [16]. Die libidinöse und die destruktive Komponente des latenten Wunsches nach Wiedervereinigung mit der Mutter kommen damit beide zum Tragen: Narcissus wird zum Subjekt und Objekt seiner eigenen Liebe; er wird aber auch zum Subjekt und Objekt seiner eigenen Destruktion - ein Aspekt, der viel weniger beachtet wird als das Schicksal seiner Liebessehnsucht. Narcissus lässt sich sterben, indem er seine körperlichen Bedürfnisse ignoriert (Met. III 437): Non illum Cereris, non illum cura quietis - Nicht die Sorge um Nahrung und nicht die Sorge um Ruhe können ihn zur Trennung von seinem Spiegelbild bewegen. Es ist dies die primitivste Form der Selbstzerstörung. Sie ist dadurch getarnt, dass er sich scheinbar liebt und bewundert und doch vernichtet. Der Seher Teiresias, der vor der Aufdeckung der Wahrheit gewarnt hat, behält recht: Narcissus erträgt die Selbsterkenntnis nicht. Die Entdeckung „Iste ego sum" - „Der da bin ich!" (Met. III, 463) ist nicht bloß eine rationale Erkenntnis, sondern eine zutiefst emotionale, unter der er zusammenbricht: „Sensi!" - „Ich habe es gefühlt!" (Met. III, 463 - es heißt bezeichnenderweise nicht: Novi! - Ich habe es gewusst!). Es geht um die tödliche Erschütterung, dass es den Anderen gar nicht gibt und er vergeblich die Arme nach einem lebendigen, echten Liebesobjekt ausgestreckt hat. Seine Einsicht kommt einem Objektverlust gleich, der ihn in die Hoffnungslosigkeit stürzt. Die libidinösen Kräfte reichen nun nicht mehr aus, um die destruktiven zu neutralisieren. Mit seinen Tränen zerstört Narcissus sein Spiegelbild (sich selbst, seine Mutter, seinen Vater). Es kommt zur Fragmentierung, zur Auflösung, die nur noch durch mehrfache vergebliche Bitten an das nicht real existente Objekt hinausgezögert wird. Die Entdeckung der Abhängigkeit von anderen hatte Narcissus bisher vermieden, indem er mit „hartem Stolz", wie Ovid schrieb, seine Verehrerinnen und Verehrer ignorierte; jetzt erst gewinnen sie nachträglich insofern für ihn Bedeutung, als er sich seinem Spiegelbild gegenüber auf seine Erinnerung an sie beruft, um gegen seinen Verdacht anzukämpfen, er wäre nicht liebenswert (Met. III 455f): Certe nec forma nec aetas - Gewiss nicht Gestalt und Alter - est mea, quam fugias, et amarunt me quoque Nymphae! - müsstest du fliehen, mich haben schon Nymphen geliebt!
Dem Unvermögen, sein Liebesobjekt zu erhalten, fügt Narcissus eine neue narzisstische Wunde zu, die im „Schatten der Verdrängung" [17] weiterblutet bis zu seinem Tod (Met. III 491ff): Et neque iam color est mixto candore rubori - Schon ist die Farbe nicht mehr, das Weiß, mit Röte gepaart - nec vigor et vires et quae modo visa placebant, - es bleibt nicht die Frische, die Kraft, was eben den Augen gefallen, - nec corpus remanet, quondam quod amaverat Echo. - nicht der Leib zurück, den Echo einstens geliebt hat.
Die Scham darüber, er könnte selbst schuld sein am Zusammenbruch der Liebesbeziehung, wird im Mythos, der ja wie ein Traum eine latente Wunscherfüllung beinhaltet, durch Größenfantasien von Unvergänglichkeit und ewiger Präsenz kompensiert (Met. III 505f): Tum quoque se, postquam est inferno sede receptus, - Auch als er vom unterirdischen Sitz aufgenommen war, - in Stygia spectabat aqua. - schaute er sich selbst im Wasser des Styx.
Und zugleich bleibt er der Oberwelt erhalten, verewigt durch die Narzisse, eine Blume, die durch ihre Schönheit ebenso auffällt wie durch ihren betäubenden Duft. All die Auffälligkeiten, die wir im Schicksal des Narcissus entdecken konnten, prägen auch das heutige Bild narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Hinter scheinbar angepasstem Verhalten im Alltag dominiert das Vermeiden von Kontakt aufgrund unbewusster panischer Angst vor Abhängigkeit, die aber oft zugleich immer wieder gesucht wird. Die psychopathologischen Störungen der Selbstliebe und die Unsicherheit im Selbsterleben werden durch Arroganz und durch kompensatorische Größenfantasien verdeckt. Wenn Beziehungen überhaupt zustande kommen, schwanken sie zwischen Idealisierung und Entwertung. Psychotherapeutische Behandlung wird am ehesten gesucht in narzisstischen Krisen, also wenn die Kompensationsmechanismen zusammenbrechen [18].
Otto F. Kernberg, einer der weltweit bekanntesten Psychiater und Psychoanalytiker, widmet der narzisstischen Persönlichkeitsstörung aufgrund ihrer Häufigkeit und Schwere in seinen Vorlesungen und Büchern besondere Aufmerksamkeit und weist darauf hin, dass sich in der Forensischen Psychiatrie bis zu 90% narzisstische Patienten befinden [vgl. Kap. 3: Psychopathie]. Er unterscheidet verschiedene Stufen narzisstischer Persönlichkeiten: einfache narzisstische Persönlichkeiten; solche mit leichteren antisozialen Zügen wie etwa die Ausbeutung anderer; und solche mit aggressiven Tendenzen, die sich bis zu schwerem malignen Narzissmus steigern können mit ich-syntoner, d.h. innerlich bejahter Aggressivität, paranoiden Ideen und deutlich antisozialem Verhalten. Falls ein solcher Patient überhaupt - entgegen seiner Ueberzeugung, keine Hilfe zu brauchen - in Psychotherapie kommt, ist er in der Therapie von dem Bestreben dominiert, der,größte' Patient bei dem ,größten' Therapeuten zu sein und diesen zu kontrollieren. Das pathologische grandiose Selbst breitet sich also auch in der Behandlung aus. „Das Herausschälen des Neids und des Leidens, das dieser ständige Neid verursacht, ist daher die hauptsächliche Problematik dieser Patienten." [19] Wenn sich der Akzent vom Narzissmus zur antisozialen Persönlichkeit verschiebt, besteht eine Unfähigkeit, Schuldgefühle und Reue zu empfinden, woran auch die psychotherapeutischen Möglichkeiten scheitern, sodass die Gesellschaft keine andere Chance hat, als sich davor zu schützen [20]. Kernbergs übersichtliche Differenzierung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen in solche mit mehr oder weniger malignen antisozialen Zügen erlaubt klare diagnostische Zuordnungen, die die behandelnden Psychotherapeuten zunächst entlasten.
Narzissmus, Eros und Todestrieb
[Der bedeutende französische Psychoanalytiker] André Green weist darauf hin, dass niemand mehr darunter leidet, katalogisiert zu werden, als narzisstische Patienten, da sie unbedingt einzigartig sein wollen. Sie geraten - wie wir es bei Ovids Narcissus mitverfolgen konnten - in Schwierigkeiten, sobald sie begehren. Das Begehren ist eine seelische Bewegung, die das Subjekt sein Zentrum verlieren lässt. Wenn kein Rückzug in Richtung Einzigartigkeit und keine Verschmelzung mit einem idealisierten Objekt mehr gelingt, entsteht ein Verlangen nach dem Nichts, nach Wunschlosigkeit. Dies kann sich z.B. in einer asketischen Haltung, in Anorexie zeigen und die Spannung auf Null hinunterschrauben, was einem psychischen Tod gleichkommt. Die Außenwelt vermag keine Empfindung mehr auszulösen.
In leichten Ansätzen kennen wir alle solche Zustände, zumal sie auch zu einem natürlichen Entwicklungsstadium, der Pubertät, gehören, weswegen der Narzissmus auch als „illness of Youth" (Krankheit der Jugend) bezeichnet wird. Aber was normalerweise nur eine vorübergehende Phase ist, kann durch Enttäuschung und Depression zu einem Schmerz und einer Wunde führen, die zu einem klaffenden Loch wird, das sich nicht mehr schließt.
Green endet mit Ueberlegungen, die auch für [dieses Buch] von gesellschaftspolitischer Relevanz sind. „Zivilisation ist nicht mehr als das Ergebnis der Balance zwischen den Lebens- und den Todestrieben" [21]. Er sieht das heutige gesellschaftliche Hauptproblem darin, dass viele Gesellschaften keine Wege mehr zu sehen scheinen, die Fantasie der Unsterblichkeit kollektiv zu unterstützen und so der Versuchung der eigenen Auslöschung zu widerstehen.
Die Idee, wir könnten die menschliche Natur ändern, zählt er zu den Ideen des Größenwahns („megalomanic ideas"), deren Verfolgung zu mannigfaltigen Formen des Todes führt. Folglich kann er nur zu bescheideneren Zielsetzungen und einer Rückkehr zu Eros raten und zu dem Versuch, sich mit der narzisstischen Befriedigung zu begnügen, die ihren Stolz darin findet, zu einer kulturellen Tradition zu gehören, ohne die anderen zu verachten. Das dem Narzissmus gewidmete Buch Andre Greens schließt mit dem Gedanken, dass es heute wohl nicht mehr reicht, sich heiter auf die Möglichkeit des eigenen Todes vorzubereiten, sondern dass wir auch immer unserer Neigung gewahr sein sollten, uns kollektiv der Versuchung zur Vernichtung unseres Planeten hinzugeben [22 und Kapitel 7: Wachstumskritik].
Mit Joseph Conrads eingangs zitierter Feststellung, dass nur eine direkte Sicht auf die Realität oder der Stimulus großer Kunst unsere Augen öffnen kann, kehren wir [zum Anfang dieses Abschnittes] zurück. Heute wenden wir uns nicht mehr wie in mythologischer Vorzeit an Seher, die zur physischen und psychischen Blindheit neigen, sondern mitunter an Künstler, denen wir einen Blick zutrauen, der sehen kann und will. Wie der Londoner Dichter und Psychoanalytiker Gregorio Kohon, der mit etlichen Malern und Schriftstellern gearbeitet hat, in einem Interview mit André Green festhält, ist Künstlern in der Regel ihre Kreativität das Allerwichtigste im Leben [23].
Vielleicht konzentriert sich ihre psychische Energie, ihre Libido, zumeist auf die Welt, die sie in ihren Werken schaffen. Ihren Arbeiten verleiht Eros Wert und lässt dadurch auch uns an den Kräften teilhaben, die das stärkste Gegenmittel gegen die zerstörerischen Tendenzen eines tödlichen Narzissmus sind.
Quelle: Sylvia Zwettler-Otte (2012). Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie. In: Welsch in Ermacora/Welsch. Der Spiegel des Narziss - Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, S.36-50).
1 „Only the 'direct vision of the fact' or the 'Stimulus of great art' can open our eyes." Joseph Conrad, The Shodow-Line, 1917, S.11.
2 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Gesammelte Werke, Bd. V, Frankfurtern Main, 1960ff, S.44, Fußnote 1.
3 Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen übereinen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (1911), in: ebd., Bd. VIII, S 296f
4 Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus (1914), in: ebd., Bd. X, S. 141 f.; ders., Psychoanalyse und Libidotheorie (1923), in: ebd., Bd. XIII, S.231.
5 Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), in: ebd., Bd. XIII, S.275.
6 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, München 1983.
7 Vgl. Karl Abraham, Eine Traumanalyse bei Ovid (1908), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S.234f
8 Andre Green, Life Narcissism, Death Narcissism, London 2001, S.44.
9 Bela Grunberger, „Von der Analyse des Oedipus zum Oedipus des Analytikers", in: Psyche 36, 1982, S.515-540, S.525.
10 Elisabeth Schawerda, Regina Hadraba, Echo: Gedichte und Zeichnungen, St. Pölten 2006.
11 Vgl. Sylvia Zwettler-Otte, Die Melodie des Abschieds. Eine psychoanalytische Studie zur Trennungsangst, Stuttgart 2006,
S. 92 ff.; dies., Ebbe und Flut - Gezeiten des Eros, Stuttgart 2011, S.99.
12 Vgl. Bela Grunberger, Vom Narzissmus zum Ob/ekt, Frankfurt am Main 1982, S.22f, 251.
13 Vgl. Jean Laplanche, Leben und Tod in der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1974, S.107f
14 Bela Grunberger (wie Anm. 12), S.523.
15 Heribert Wahl, Narzissmus? Von Freuds Narzissmustheorie zur Selbstpsychologie, Stuttgart 1985, S.188ff
16 Bela Grunberger (wie Anm. 12), S.289.
17 Ebd., S.78.
18 vgl. Michael Ermann, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Stuttgart 2004, S.170ff
19 Otto F. Kernberg, Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus, Stuttgart 2011, S.61ff
20 vgl. ebd.
21 „Civilisation is no more than the result of the balance between the life drives and the death drives." Andre Green (wie Anm. 8), S.223f
22 „Today, it is perhaps no longer enough to prepare oneself serenely for the eventuality of death. It is also necessary to try and check the temptation to abandon ourselves collectively to it when it threatens the planet with irreparable havoc." Ebd., S.224.
23 Vgl. Gregorio Kohon (Hg.), The Dead Mother - The Work of Andre Green, London 1999.
Literatur und andere Quellen zu Ovids 'Narcissus und Echo'
• Auhagen, Ulrike (1999): Der Monolog bei Ovid, Gunter Narr Verlag, Tübingen 1999, 156 ff.
• Balensiefen, Lilian (1990): Die Bedeutung des Spiegelbildes als Ikonographisches Motiv in der Antiken Kunst; Tübingen 1990
• Barchiesi, Alessandro (2001): Speaking volumes - Narrative and intertext in Ovid and other Latin poets; London 2001
• Barolsky, Paul (1994): A very brief history of Art from Narcissus to Picasso; CJ 90 (1994/5)
• Biedermann (1987): Narziß und Echo - novitas furoris?; Anregung 33 (1987)
• Böschenstein, Renate (1997): Narziß, Narzißmus und das Problem der poetischen Produktion; in: Mayer/Neumann (s.o.), 79
• Cancik, Hubert (1967): Spiegel der Erkenntnis (Zu Ovid, Met. III 339-510), in AU 1/1967, 42-53
• Czapla, Beate (1995): Salvador Dalís Metamorphose des Narziß. Anregung zu einer erneuten Ovid-betrachtung; Arcadia 30 (1995), 186-205
• Dietz, Günter / Hilbert, Karlheinz (1970): Phaeton und Narziss bei Ovid, Kerle-Verlag 1970, 47-80
• Dörrie, Heinrich (1967): Echo und Narcissus (Ovid Met. 3,341-510) - Psychologische Fiktion in Spiel und Ernst, in: AU 1/1967, 54-75
• Dyson, Julia T. (1999): Lilies and violence - Lavinia’s blush in the song of Orpheus; Classical Philology 94/1999, 281-288
• Freitag, Christiane (1994): Altsprachlicher Unterricht und moderne Kunst; Auxilia 35, Bamberg 1994
• Gildenhard / Zissos (2000): Ovid`s Narcissus (met 3. 339-510) - echoes of Oedipus; in: American Journal of Philology 121 (2000), 129-147
• Hadorn, Rudolf (1984): Narziss: Der Mythos als Metapher von Ovid bis heute, Ploetz 1984
• Henneböhl, Rudolf (2003): Daphne - Narcissus - Pygmalion. Liebe im Spiegel von Leidenschaft und Illusion (Schülerband und Lehrerkommentar); Reihe: Antike und Gegenwart, Buchners-Verlag 2004
• Knox, Peter E. (1986): Ovid’s Metamorphoses and the traditions of Augustan poetry; Cambridge 1986, 19 ff.
• Lichtenstern, Christa (1992): Metamorphose - Vom Mythos zum Prozeßdenken; Ovid-Rezeption - Surrealistische Ästhetik - Verwandlungsthematik der Nachkriegskunst; Weinheim 1992
• Manuwald, Bernd (1975): Narzissus bei Konon und Ovid, in: Hermes 103 (1975), 349-372
• Mühlberger, Günter (1996): Goethe und Narziß. Mythenrezeption im Zeichen der Selbsterkenntnis; Diss. Innsbruck 1996
• Nelson, Max (2000): Narcissus - Myth and Magic; The Classical Journal 95.4 (2000)
• Nordhoff, Claudia (1991): Narziß an der Quelle - Spiegelbilder eines Mythos in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts; Diss. 1991
• Renger, Almut-Barbara (Hg., 1999): Mythos Narziß, Reclam, Leipzig 1999
• Renger, Almut-Barbara (Hg., 2002):Narcissus - Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, J.B. Metzler 2002
• Rosati, Gianpiero (1983): Narciso e Pigmalione. Illusione e spettacolo nelle Metamorfosi di Ovidio; Florenz 1983
• Schickel, Joachim (1975): Spiegelbilder - Sappho, Ovid, Wittgenstein, Canetti, Marx, Piranesi; Stuttgart 1975
• Wissmüller, Heinz (1987): Ovid - Einführung in seine Dichtung; Neustadt/Aisch, 1987
• Zanker, Paul (1966): ‘Iste ego sum’ - der naive und der bewußte Narziß, in: Bonner Jahrbücher 166 (1966), 152-170
• Zürcher, Hanspeter (1975): Stilles Wasser - Narziss und Ophelia in der Dichtung und Malerei um 1900; Bonn 1975
Quelle: http://www.ovid-verlag.de/ovid/index.php/lehrerservice/literaturliste-zu-ovid-metamorphosen
Der klassische Narzissmusbegriff der Psychoanalyse
"Der Mensch als eine in Sein und Schein gespaltene Persönlichkeit, Spiegelbild und Ich-Identität, masslose Selbstliebe und der Bezug zur Umwelt - auf all diese vom Narzissmythos aufgeworfenen Fragen versuchte die Psychoanalyse Antworten zu finden.
Die Basis für eine Beschäftigung der Psychologie mit dem Narzissmus legte Sigmund FREUD zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er selbst sah seine Konzeption jedoch als „schwere Geburt“, die „alle Deformationen einer solchen trägt.“
Viele Psychoanalytiker nach ihm bemühten sich, die unstimmigen Elemente in FREUDs Ueberlegungen auszuräumen oder vollständig neue Theorien zu entwickeln, so dass die Anzahl der verschiedenen Narzissmuserklärungen nahezu die Zahl der sich mit Narzissmus beschäftigenden Psychologen erreichte." (Woerner, Carolin (2005). Eitelkeit - Verwerfliches Laster oder identitätsfördernde Kraft, S. 17.)
Im Folgenden wird deutlich werden, wie die anfängliche Stigmatisierung des Narzissmus allmählich einer differenzierteren Sichtweise wich. Ursprünglich als Perversion, als Form des Egoismus, als Hindernis für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen verurteilt, wurde der Narzissmus im Laufe der Zeit unterschieden in pathologische und gesunde Formen. Man erkannte, dass Rückbesinnung auf sich selbst nicht notwendigerweise von Schaden für die eigene Person und Umwelt ist, dass Selbstliebe nicht unbedingt mit einer auf Komplexen basierenden Ichsucht oder Selbstverherrlichung gleichzusetzen ist. Dieser Einsicht zufolge gestand man dem Narzissmus zu, nicht nur destruktive Folgen zu haben, sondern durchaus auch produktiv wirken zu können und durch den Zusammenhang mit der Verinnerlichung von Werten und Normen, Beziehungsmustern und Grundhaltungen auch moralische Relevanz zu beinhalten.
Bevor wir im nächsten Kapitel zur Parallelität bzw. zum Zusammenspiel von individuellem und kollektivem Narzissmus kommen, soll dieses Kapitel einen Ueberblick geben über ein paar der zahlreichen Narzissmus-Theorien der letzten Hundert Jahre, d.h. 1914 (erster Freud-Text zum Thema) bis 2016:
Narzissmus-Beschreibungen und -Definitionen
Gerhard Dammann und KollegInnen im 2012 im Kohlhammer-Verlag erschienen Kompendium 'Narzissmus' (daraus stammt auch das erste Zitat oben) unterscheiden fünf Gruppen von Narzissmus-Definitionen:
• das Spektrum von »Selbstliebe«
• ein psychosexuelles Entwicklungsstadium mit pathologischen Fixierungen
• eine libidinöse Besetzung von Ich bzw. Selbst(-Repräsentanzen)
• eine affektive Regulation des Selbstwerts
• eine triebunabhängige Selbst-Entwicklung
Allein bei Freud finden sich gemäss Altmeyer (2000) 14 verschiedene begriffliche Verwendungen.
Primärer Narzissmus und Grunbergers Konzept
In Freuds Werk finden sich zwei grundlegend unterschiedliche Narzissmus-Konzepte:
a) den »primären Narzissmus« (später von Grunberger 1982 wieder aufgegriffen als eine Form »intrauteriner Allmachtszustand«) und
b) den triebabhängigen bzw. besetzungsabhängigen »sekundären Narzissmus«.
»Das was wir gemeinhin Narzissmus nennen, ist wohl eines der wichtigsten, aber auch eines der verwirrendsten, dunkelsten und kontroversesten Konzepte der Psychoanalyse« (Müller-Pozzi 2006).
Bela Grunberger geht in seinen Arbeiten - sich beziehend auf die Arbeiten des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Sandor Ferenczi - von folgendem Modell aus:
"Es besteht beim Menschen eine lebenslange Tendenz zur Wiedergewinnung der primären uterinen Fusion. Narzissmus stellt somit eine eigenständige Dynamik neben der Triebentwicklung dar und wäre demnach eine Art »autonomer Trieb«, der nach Wiederverschmelzung mit dem Primärobjekt [meist der Mutter] trachtet. In gewisser Weise greift er damit das Modell des »primären Narzissmus« auf. Obwohl das Modell einen gewissen »mytho-poetischen« Reiz hat, der in das klinische Verständnis von Patienten einfließen kann, ist es sehr umstritten und wurde weitgehend aufgegeben" (Dammann et al. 2012 S.22).
Entstehungs-Geschichte des Narzissmus-Konzepts
Einige Meilensteine zur Geschichte des Konzepts in Stichworten:
• Ellis (1898) rekurriert in einer Fallgeschichte eines exzessiv masturbierenden Mannes auf den Mythos von Narkissos
• Freuds (1905) Fußnote in »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«: Wahl von Partnern, die dem eigenen Selbst ähnlich sind
• Jones »Der Gotteskomplex« (1913): Narzissmus als »Omnipotenzfantasien«
• Wälder (1925) »Narzisstische Persönlichkeit«: Suche nach Bewunderung, herablassendes Verhalten, Mangel an Einfühlung
• Freud (1931) in »Ueber libidinöse Typen« spricht erstmals vom »Narzisstischen Charaktertypus«
• W. Reich (1933) »phallisch-narzisstischer Charakter»: das Selbst ist mit dem Phallus identifiziert
• Fenichel (1945) »Don Juan des Erfolgs«: Erfolg bringt keine Befriedigung (sic! vgl. Kap. 7)
• Olden (1946) schreibt von »Schlagzeilen-Intelligenz« (im Original: 'headline intelligence')
• A. Reich (1960) beschreibt »Pathological forms of self-esteem regulation«
• Nemiah (1961) bezeichnet Narzissten als »Gefangene ihrer Ansprüche«
• Tartakoff (1966) beschreibt den Nobelpreis-Komplex bei meist erstgeborenen Kindern
Heinz Hartmann nähert sich aus Ich-psychologischer Perspektive 1950 einer Definition des Narzissmus an, den er als die (auch gesunde) libidinöse Besetzung des Selbst bezeichnete. Diese Definition wies jedoch Vorannahmen auf (Besetzungstheorie, Libido), sodass eine allgemeinere, breit abgestützte Definition nach Moore und Fine (1967) wie folgt lauten kann: »Narzissmus ist die Konzentration seelischen Interesses auf das (eigene) Selbst«.
Vereinfacht gesagt könnte man das Narzissmus-Problem wie folgt beschreiben:
Jedes Individuum hat auch ein seelisches Interesse am eigenen Selbst, es steht jedoch normalerweise nicht permanent im Vordergrund, wenngleich es auch in Krisen aktiviert werden kann. Je stabiler eine Person in sich ruht, umso weniger muss sie auf das eigene Selbst fokussieren. Je weniger sicher eine Person ist, umso genauer muss sie darauf achten, im Sinne einer u.U. fast permanenten Fokussierung auf das eigene Selbst, dass sie genügend beachtet, nicht ignoriert oder angegriffen wird etc.
Persönlichkeitsstörungen (natürlich auch die normale Persönlichkeit) können als stabil gewordene (quasi »geronnene«) Beziehungserfahrung (mit Abwehrfunktion)
verstanden werden, die ein prototypisches Merkmal, das jeweils dominiert, aufweist - Verfolgt werden oder verfolgen bei der paranoiden Persönlichkeit etc. - beim Narzissmus ist dieses Merkmal stark von der Dichotomie »größer - kleiner« bzw. »besser - schlechter« geprägt. Dieser Ansatz, Persönlichkeits(störung) bzw. Charakter(neurose) als Form von geprägter innerer Beziehungsgestaltung zu sehen, die im Rahmen wiederholter realer Beziehungserfahrungen mit starker Affektivität, durch Internalisierungs-, Identifizierungs- und Introjektionsprozesse geschieht, geht insbesondere auf die Arbeiten Abrahams (1919), Reichs zum »Charakterpanzer« (1933) und Fairbairns (aus den 1940er Jahren) zur britischen Objektpsychologie zurück (grundsätzlich zur psychoanalytischen Konzeptualisierung von Persönlichkeitsstörungen, s. Dammann 2010).
Erst Fairbairns objektpsychologisches Modell konnte schlüssige psychodynamische Hypothesen für die Bildung innerer Objektbeziehungen liefern, die auch das schwere Agieren und dysfunktionale Handeln und Erleben von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen verständlich machten (was der reinen Trieb und Ich Psychologie nicht möglich war). Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Unter erheblichen Belastungen (Traumatisierungen) in der früheren Kindheit nimmt die Person in einem verzweifelten Akt das Negative, die Schuld, unbewusst auf sich, um sich damit einerseits die Hoffnung auf das Gute im Außen zu bewahren und sich andererseits die Illusion einer Kontrolle über das Geschehene zu geben. Der Preis dafür ist jedoch sehr hoch.
Der pathologische Narzissmus kann als ein Kontinuum aufgefasst werden, das von übertriebenem sichtbarem Selbstbezug (Egozentrik) über narzisstische Neurosen (»Geltungsdrang«) bis hin zu narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und malignem oder destruktivem Narzissmus oder sogar Psychopathie reichen kann (Sadismus, Straftaten, Manipulationstendenzen). Entscheidend für den qualitativ dimensionalen Schweregrad ist die Qualität der Objektbeziehungen und die Ich- und Ueber-Ich-Konsolidierung.
Narzisstische Störungen können nach Kernberg als Kontinuum, basierend auf dem Ausmaß von Ueber-Ich-Pathologie, der Intensität projektiver Abwehrmechanismen
und dem Vorhandensein ich-syntoner Aggression konzeptualisiert werden. Zu den Elementen der psychodynamischen Strukturdiagnostik (insbesondere bei Narzissmus) gehören:
• Fähigkeit zur Realitätstestung
• Reife der Abwehrmechanismen
• Ausmaß von Identitätsdiffusion
• Qualität der Objektbeziehungen
• Frustrationstoleranz/Aggressivität
• Fähigkeit zur Intimität.
Normaler oder gesunder Narzissmus
Auf der Basis des zuvor Dargelegten besitzt der Mensch nicht nur die für ein normales Leben notwendige Fähigkeit, andere Personen (Objekte, was auch Ideen oder Gegenstände sein können) libidinös zu besetzen, sondern diese positive (aber natürlich nicht kritiklose, sondern differenzierte) libidinöse Besetzung gebührt auch dem eigenen Selbst und den Ich-Leistungen. Die Fähigkeit, das eigene Selbst realistisch positiv libidinös zu besetzen (was als normaler Narzissmus bezeichnet werden könnte), erfolgt auf der Basis entsprechender Beziehungs- und Bindungserfahrungen. Allerdings ist der Begriff Narzissmus im Allgemeinen eher negativ konnotiert und meint, wenn man ihn verwendet, zumeist den »pathologischen Narzissmus« (insbesondere in seiner expansiven Form).
Zwei theoretische Linien des pathologischen Narzissmus
Die eine zentrale ideengeschichtliche psychoanalytische Linie zum Verständnis des Narzissmus, kann bis heute auf die Verletzbarkeit des gestörten »Selbstachtungs-
Narzissmus zurückgeführt werden (hierzu AutorInnen wie E. Bibring, A. Reich, E. Jacobson, J. Sandler und besonders H. Kohut - man könnte diese Linie als die des »Selbstwert-Narzissmus« bezeichnen).
Daneben beinhalten insbesondere die kleinianischen (nach Melanie Klein) und neo-kleinianischen Ansätze (insbesondere Herbert Rosenfeld und W.R. Bion sowie später Otto F. Kernberg) eine Art von »Objekt-Abwehr-Narzissmus« und eine grandiose Selbststruktur, die der Abwehr jeglicher abhängiger Objektbeziehungen dienen.
Zwei zentrale psychodynamische Probleme liegen beim Narzissmus somit vor: ein Problem ist der Selbstwert (Insuffizienzgefühle; übersteigerte Grössenfantasien), ein weiteres Problem liegt im Bereich der Beziehungen, bei dem relevant werdende Beziehungen abgewehrt werden müssen (Manipulation und Entwertung anderer, Neid etc.).
Auf weitere Ansätze, wie etwa den von André Green (2010), der den Narzissmus mit dem »Todestrieb« in Verbindung bringt, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
»Falsches Selbst«?
Das Modell des »falschen Selbst« stammt ursprünglich von Winnicott (1960/1965): demach hat jeder ein »falsches Selbst«, das für Rollenübernahmen und Anpassungen notwendig ist und sich um das »wahre Selbst« gleichsam wie ein Schutzwall gruppiert, vgl. hierzu insb. Kap. 8.
Dieses »wahre Selbst« rührt aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung her und ist das stabile Potenzial, aus dem man zehren kann. Es ist aber auf das »falsche Selbst« angewiesen, das es schützt.
Später kam es zu einer Verselbstständigung des Konzepts (etwa Masterson 2004). Das »falsche Selbst« wird jetzt im Kontrast zu einem (echt ausgebildeten)
»wahren Selbst« gesehen. Das »falsche Selbst« wäre ein wenig mit dem Konzept der »Als-ob-Persönlichkeit« (Helene Deutsch) verwandt. Trotz seines heuristischen Erklärungswertes ist es metapsychologisch sehr umstritten.
Diese Dichotomie taucht m.E. [Dammann] im gegenwärtigen Authentizitäts-Diskurs und in der Mentalisierungstheorie (mentalisiert versus nicht-mentalisiert) wieder auf" (Dammann et al. 2012 S.23-25).
Kränkungsreaktionen als Leitsymptome
Abschliessend zum Thema "Narzissmus aus triebtheoretischer vs. relationaler Sicht" möchte ich noch einmal Heinz Henseler zitieren, wie er sich zu den "normalen" Kränkungsreaktionen äussert (ebenda S.81) - die pathologischen Kränkungsformen finden sich im Psychopathie-Abschnitt am Ende des Kapitels 2 in diesem Buch:
"Der narzisstisch relativ ungestörte Mensch wird einer Kränkung damit begegnen, dass er [oder sie, M.F.] sich ihrer realen Bedeutung vergewissert. (Habe ich recht gehört? Hat er das so gemeint? Trifft der Vorwurf zu?) Sollte die Kränkung einen realen Mangel oder Fehler berühren, wird er sich dessen Stellenwert überlegen und unter Umständen mit Nachsicht reagieren. (Es stimmt zwar, aber ist das so schlimm?) Er kann auch Schutz suchen bei seinem Ideal-Selbst [vgl. Ideal-Ich in Kap.1] und einräumen, dass die Kritik zwar berechtigt ist, ihre Berechtigung sich aber auf ein momentanes und unwesentliches Versagen bezieht. Er kann auch seine Ansprüche an sich selber, seine Ich-Ideale korrigieren. (Es stimmt zwar, aber eine solche Vollkommenheit kann ich von mir auch nicht erwarten.) Und schliesslich kann er sich angemessen gegen ungerechtfertigte Anteile der Kränkung wehren und den Sachverhalt korrigieren".
Die unreife Reaktion auf eine Kränkung
Dieser gekonnte, reife Umgang mit Kränkungen wird dann nicht ausreichen oder nicht möglich sein, wenn die Kränkung sehr schwer ist oder es sich um einen narzisstisch labilen Menschen handelt, dessen Kränkbarkeit sehr gross ist. In diesem Fall werden Kompensationsmechanismen zum Tragen kommen, die sich in früheren Entwicklungsphasen bewährt haben. Als solche bieten sich die Verleugnung und Idealisierung an. Die schmerzliche Realität wird negiert und durch Phantasien vom Gegenteil ersetzt. Ein solcher Umgang mit der Realität hat einige entscheidende Konsequenzen
- für das Selbsterleben,
- für die Idealbildung,
- für das Ueber-Ich,
- für den Umgang mit Aggression und besonders
- für die zwischenmenschlichen Beziehungen.
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Weitere Narzissmus-Konzepte
Kuhl und Kazen (1997; vgl. Kuhl 2001) gehen in ihrem Konzept von Persönlichkeitsstörungen [PS] davon aus, dass diese Störungen nicht dichotom (gestört - ungestört) sind, wie die Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 dies nahe legen, sondern dass es ein Kontinuum gibt von „leichtem Stil” bis zu „schwerer Störung” und dass es willkürlich ist, den Grenzwert festzusetzen, ab dem ein Stil in eine Störung übergeht.
Das muss man auch über die narzisstische Persönlichkeitsstörung [NPS] sagen: Auch bei den Charakteristika dieser „Störung” gibt es alle möglichen Abstufungen von „leichtem Stil” bis zu „schwerer Störung”. In der ambulanten Therapie kommen Klienten mit „narzisstischen Stilen” meiner Erfahrung nach sehr häufig vor, aber auch Klienten mit Ausprägungsgraden, die man schon als Störung bezeichnen könnte, sind noch durchaus häufig: Bei akademischen KlientInnen, aber nicht nur bei diesen, findet man z.T. beträchtliche Ausprägungen, die ihnen alle Arten von Kosten bereiten. Daher ist eine Beschäftigung mit narzisstischer PS relevant: Denn diese PatientInnen machen den TherapeutInnen durchaus eine Reihe von Interaktionsschwierigkeiten, und es ist ratsam zu wissen, wie man damit umgehen kann (Sachse 1999,2001,2002).
Quelle: Sachse, Rainer (2006). Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. In: Psychotherapie 11. Jg., Bd. 11, Heft 2. München: CIP-Medien
Der Spiegel und der Fetisch
Die Funktionalisierung des anderen - egal ob Mensch, Tier oder Gegenstand - als Spiegel der eigenen Grösse und Einzigartigkeit schafft das narzisstische Universum, eine geschlossene Welt, in der alles und jede/r letztlich nur dem Zweck dient, das grandiose und zugleich brüchige Selbst des Narzissten zu bestätigen und zu stützen.
Diese Degradierung des anderen zum Spiegel gelingt jedoch nicht immer. Der Spiegel kann sich der Kontrolle entziehen und dann reichen selbst flüchtige Einblicke in die Wirklichkeit aus, um das grandiose Selbst zu erschüttern und zu Gegenmassnahmen zu veranlassen um den ungehorsamen Spiegel wieder unter Kontrolle und in Botmäßigkeit zurückzuzwingen.
In der Literatur ist dieses Thema des Spiegels, der ein bedrohliches Eigenleben gewinnt, oft behandelt worden. Die Urform ist die antike Geschichte vom schönen Jüngling Narzissus (Kernberg 1996 S.72), auf die Freud sich bezog, als er den klinischen Begriff des Narzissmus prägte [s.o.].
Narzissus verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser und ertrinkt, als er das schöne Schemen zu fassen sucht. Die Geschichte ist tiefsinniger und für die innere Problematik von Narzissten aufschlussreicher, als ein oberflächliches Verständnis ahnen lässt. Meist werden Narzissten als extreme Egoisten aufgefasst und die Selbst-Verliebtheit als Konsequenz dieses Egoismus, der nur sich sieht.
Tatsächlich ertrinkt der Jüngling jedoch, weil er zu wenig Gefühl und Bewusstsein von sieh selbst hat und sich von einem Spiegelbild überwältigen lässt, das nur einen Teilaspekt von ihm, sein schönes Aeusseres, seine Fassade widergibt.
Als Narzissus verlangend nach diesem schönen anderen greift, um ihn zu besitzen, verliert er sich selbst und ertrinkt. Sein Spiegelbild wird zum Fetisch, dem er das eigene Selbst zum Opfer bringt. Das ist sehr aktuell, wenn wir das Ertrinken, von dem die Geschichte handelt, nicht als physischen sondern als seelischen Tod mul als Ueberwältigung durch den materiell greifbaren Aspekt des Selbst auffassen, und vermittelt eine Ahnung, worum es bei extremen Formen heutigen Körperkultes gehen kann.
In der Geschichte wird ein Grenzfall dargestellt, der völlige Selbstverlust durch Besessenheit vom eigenen Spiegelbild bzw. vom Körper als dessen materiellem Aspekt. In der narzisstischen Normalität sind jedoch viele Abstufungen möglich. Statt der völligen Identifikation mit einem Fetisch, der den totalen Zugriff auf das Selbst vorspiegelt, allerdings mit der Konsequenz, dass das eigentliche Selbst sich dabei aufgibt und untergeht, gibt es weniger radikale Verfahren, um den Spiegel im Griff zu behalten. Auch diese sind als menschliche Möglichkeiten seit Langem bekannt und im Märchen präzis und anschaulich dargestellt. Mehr oder weniger er lohnen he Narzissten scheint es immer schon gegeben zu haben. Neu ist allein ihre zunehmende Normalität" (Wandel 2012 S.64-65).
Selbstmitleid und Grandiosität
"... weil diese infantilen Impulse in immer neuen Masken und Verkleidungen auftreten.
Die Grundgewissheit des Selbstmitleids besteht in der Ueberzeugung: „Ich bin ein armer Junge/ein armes Mädchen“, und um diese Ueberzeugung zu bestätigen, gibt es dauernd Anlässe. Das kann schon das Wetter sein: „Immer regnet es, wenn ich schon einmal etwas unternehmen möchte!“ Die kleinste Widrigkeit kann den Mechanismus der Klage über das Elend des Daseins auslösen und wenn diese Widrigkeit einmal fehlen sollte, gibt es genügend Möglichkeiten, sie real oder einfach in der Vorstellung herzustellen.
Beliebt sind die Klagen über das Geld. Es reicht nicht, und wenn es im Augenblick noch genügend da sein sollte, so ist doch abzusehen, dass das bald anders sein wird. Andere Menschen haben mehr Geld, weil sie einfach mehr Glück haben, z.B. geerbt haben oder so klug waren, ihr Geld rechtzeitig in Aktien clever anzulegen. Wenn das aber ihr Fehler war und sie Geld verloren haben, eignen sie sich immer noch als Beispiel einer bedrohlichen Finanzentwicklung, die bald auch den Klagenden einholen wird. Mit solchen Reden und Gedanken lässt sich viel Zeit verbringen, denn die Lage ist ja in der Regel tatsächlich nicht optimal. Wer hat schon Geld im Ueberfluss? Alles ist jedoch nur Anlass für die Klage, die sich hinter all den Sorgen und Kalkulationen verbirgt: „Ach, ich Armer ...“" (Wandel 2012 S.162).
Quelle: Ingrid und Fritz Wandel (2012). Alltagsnarzissten. Paderborn: Junfermann.
"Die narzisstische Persönlichkeitsstörung gilt allgemein als Prototyp für die häufig beobachtbare Ich-Syntonie (d.h. die Betroffenen merken es selber nicht) gegenüber persönlichen Stilen, weil sich viele Betroffene einer Kritik an ihren persönlichen Eigenarten zunächst mit Vehemenz verschliessen. Gerade deshalb stellt dieses Störungsbild für manche Therapeuten eine besondere Herausforderung dar, wenn es nicht sogar unmittelbar Unbehagen und Unsicherheiten bei ihnen auslöst.
Narzisstische Persönlichkeiten scheinen auf den ersten Blick überhaupt nicht den Erwartungen zu entsprechen, die viele Psychotherapeuten mit Psychotherapie-Patienten verbinden: Psychotherapie-Patienten im erwarteten Sinne sind nämlich Menschen, die persönliche Probleme haben und die zugleich bereit sind, an ihren Problemen zu arbeiten.
Diese Befürchtungen und die damit gleichzeitig eintretenden Unsicherheiten scheinen nun paradoxerweise unmittelbar besonders heftig bei einigen Psychotherapeuten aktiviert zu werden, wenn Patienten zu ihnen kommen, die Probleme offenkundig nicht mit sich selbst haben, sondern die „mit therapeutischer Hilfe“ Probleme geändert haben möchten, die andere haben bzw. die andere mit ihnen haben". (Peter Fiedler in "Beratung Aktuell" – Junfermann Verlag Paderborn 1-2000
Allen Formen des Narzissmus ist das Pendeln zwischen Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen gemeinsam.
Die Minderwertigkeitsgefühle sind beim grandiosen Narzissten nur sehr selten erkennbar. Weiterhin gemeinsam ist ihnen die übermässige Konzentration des Interesses auf das eigene Selbst.
Eine bekannte Narzissmus-Definition stammt vom der ursprünglich der Kritischen Theorie (vgl. nächstes Kapitel) zuzurechnenden Psychoanalytiker mit sozialpsychologischer Ausrichtung Erich Fromm:
„Man kann den Narzissmus als einen Erlebniszustand definieren, in dem nur die Person selbst, ihr Körper, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihr Eigentum, alles und jedes was zu ihr gehört, als völlig real erlebt wird, während alles und jedes, was keinen Teil der eigenen Person bildet oder nicht Gegenstand der eigenen Bedürfnisse ist, nicht interessiert, keine volle Realität besitzt - affektiv bleibt es ohne Gewicht und Farbe“ (...).
"Mit anderen Worten, Narzissmus hat ein verzerrtes Realitätssystem und eine erhebliche Reduktion der Fähigkeit zu objektivem Urteil zur Folge. Doch noch zwei weitere Aspekte kennzeichnen die Pathologie des Narzißmus: Depression und Aggression. Beide haben ihre Ursache in der den Narzißmus kennzeichnenden Hypertrophie des Ego. "Der narzißtische Mensch gewinnt sein Identitätsgefühl durch Aufblähung. Die Außenwelt ist für ihn kein Problem, sie überwältigt ihn nicht mit ihrer Macht, weil es ihm gelungen ist, selbst die Welt zu sein, indem er das Gefühl gewonnen hat, allwissend und allmächtig zu sein." Wenn nun aber die Außenwelt den illusionären Charakter der narzißtischen Selbstüberhöhung desavouiert, sei es durch Kritik, durch Spott oder durch Ueberlegenheit, bricht die Scheinidentität des narzißtischen Ichs zusammen. Der in seinem Selbstwertgefühl getroffene Narzißt reagiert offen oder verdeckt mit Zorn und Wut, sofern er sich seinem Gegenüber ebenbürtig glaubt. Andernfalls verfällt er ob seiner Ohnmacht in tiefe Depression" (Erich Fromm in: Anatomie der menschlichen Destruktivität S.226)
Narzissmus aus natur- und kulturwissenschaftlicher Sicht
Probleme visueller Wahrnehmung
[Es gibt] "eine Reihe von Problemen unserer visuellen Wahrnehmung, mit denen wir gewöhnlich unsere Umwelt strukturieren.
Die Wiedererkennung ist dabei eine der grossen Triebfedern. Die Mechanismen unserer visuellen Wahrnehmung sind auf Identifikation und Selektion angelegt. Wir sehen handlungsorientiert über vieles hinweg, wir sehen, was wir sehen wollen. Nur, wenn wir wissen, wie diese Mechanismen funktionieren, werden wir verstehen, warum wir oft auf Bildern Kennzeichen der Realität für sie selber halten. Dann werden wir aber auch lernen können, das Potential der Bilder zu entdecken und zu verstehen. Als die psychologischen und physiologischen Erkenntnisse unserer Zeit den Künstlern noch nicht zur Verfügung standen, haben sie schon durch genaue und eingehende Beobachtung der Phänomene einige Wirkungen entdeckt, die durch unser menschliches Sehen bedingt sind. Sie haben sie in der Malerei, in der Skulptur und der Architektur umgesetzt (...).
In der Photographie sprechen wir nicht nur vom "Objektiv", wir glauben auch, dass die Linse uns "objektive" Daten liefert. Visuelle Wahrnehmung und Kameraaufzeichnung werden jedoch von unterschiedlichen Gesetzen bestimmt.
Um den Bildern auf die Spur zu kommen, das heisst, um Bilder sehen, verstehen und auch darstellen zu können, müssen wir versuchen, unseren Erkennungstrieb zurückzustellen, um die besondere Bildlichkeit zu entdecken, die uns neue und ungewohnte Realitätszusammenhänge enthüllen kann. Darum versuchen wir, das Sehen zu untersuchen und zu verstehen" (Marlene Schnelle-Schneyder (2011). Sehen und Photographieren 2te Aufl. S.13).
Analogie von Auge und Kamera?
Wir können Bilder analysieren, wir können ihren formalen Aufbau beschreiben oder ihren Inhalt entschlüsseln. Ueber ihre Wirkung etwas Verbindliches auszusagen fällt da schon schwerer, da wir uns auf eine andere Ebene begeben müssen. Bei der Wirkung der Bilder kommen unsere eigenen physiologischen und psychologischen Bedingungen ins Spiel. Es kommt nicht nur darauf an, was wir sehen, sondern wie wir sehen.
Es war im 20. Jahrhundert fast zwingend, Strukturanalysen zu betreiben, und weniger angesagt, sich um die Mechanismen unserer Wahrnehmung zu kümmern. Erst bei dem Versuch der Simulation ist klar geworden, wie kompliziert unsere menschlichen Funktionen arbeiten und wie schwierig es ist, das Sehen zu verstehen.
Zunächst ist das nur ein Problem der Photographie, denn damit sagt man ja noch nichts über den historischen Aspekt, das chemische Problem, den Produktionsprozess oder die soziale Verfügung des Mediums aus. Die Analogiesetzung von Auge und Kamera hat dazu beigetragen, der Kamera die Fähigkeit der Realitätsabbildung zuzuschreiben [sog. Mimesis]. Und damit sind wir bei einem grundsätzlichen Problem des Mediums Photographie. Es ist nicht sicher, worauf sich diese Behauptung gründet, aber es liegt nahe, dass man an den historischen Querschnitt des Ochsenauges gedacht hat, mit dem man beweisen wollte, dass das Auge wie eine optische Linse arbeitet, also ein auf dem Kopf stehendes Bild auf die Netzhaut projiziert. Das ist in Bezug auf das optische System nicht zu bestreiten, aber die visuelle Wahrnehmung ist komplexer.
Welchen "kleinen Mann" oder welche "kleine Frau" haben wir denn hinter der Netzhaut sitzen, die uns das einfallende Licht interpretieren und einordnen können?
Der Aufbau des Auges
Betrachten wir zunächst die Konstruktion des Auges: Glücklicherweise haben wir zwei davon, das heisst, wir sehen binokular. Jeder Augapfel wird von sechs äußeren Muskeln gehalten, die die Augenbewegungen steuern. Das Licht, das als physikalische Energie auf die Netzhaut trifft, muss zunächst einige Stationen passieren. Horn- und Bindehaut schützen das Auge, hinter der das Kammerwasser liegt, wobei die Hornhaut die Funktion der Lichtbrechung übernimmt. Dahinter liegt die Iris (auch Regenbogenhaut genannt). Sie ist ein ringförmiger Muskel, der die Pupille umgibt. Dieser Muskel reguliert die einfallende Lichtmenge, indem er sich bei starkem Lichteinfall zusammenzieht und bei geringem öffnet. Die Iris muss opak, das heisst dicht genug sein, um eine Blende für die Linse darzustellen.
Sie braucht eine gewisse Zeit, um sich der einfallenden Lichtmenge anzupassen und ist pigmentiert. Ihre reiche Farbskala bestimmt unsere Augenfarbe, von der in der Regel mehr geredet wird als von ihrer Funktion. Die Oeffnung, die durch diesen Muskelring entsteht, wird Pupille genannt und durch sie fällt das Licht auf die Linse.
Die einfallenden Lichtstrahlen werden (...) auf der Hornhaut und in der Linse gebrochen. Die Linse versucht nun, sich der jeweiligen Fokussierung anzupassen, indem sie ihre Form, aber nicht ihre Position verändert, zum Beispiel zieht sie sich beim Nahsehen zusammen und hat eine ausgeprägte konvexe Form. Diese Fähigkeit der Akkommodation nimmt, wie wir
wissen, im Alter ab, was in der Regel dann zur Weitsichtigkeit führt. Das Innere des Auges, der so genannte Glaskörper, wird von einer gallertartigen Masse, die mit Adern durchzogen ist, ausgefüllt.
Das Auge als Teil des Wahrnehmungssystems im Gehirn
Man kann jetzt verstehen, wie kompliziert der visuelle Wahrnehmungsvorgang ist, wenn schon mehrere Stationen durchlaufen werden müssen, bis die ersten Informationen das primäre Sehfeld erreichen und dort auch nur Merkmale der Form verarbeitet werden. Auge und Gehirn sind keine Projektionswand, auf der sich die Bilder abheben. Sie arbeiten unzertrennlich zusammen, man könnte auch sagen, das Auge ist ein Bestandteil des Gehirns und einem kontinuierlichen Verarbeitungsprozess vorgeschaltet.
Gibson sieht in den Resultaten von vielen Laborversuchen einen Widerspruch zur tatsächlichen Wahrnehmung der Umwelt und versucht eine umfassende Theorie von Wahrnehmung und Umwelt zu entwickeln. Er besteht darauf, dass das visuelle System des Menschen ein Zusammenwirken von Körper, Kopf und Auge bedingt und setzt an die letzte Stelle:
"...schliesslich die Netzhaut eines jeden Auges, die aus lichtempfindlichen Zellen und Nervenzellen zusammengesetzt ist." (Gibson 1982 S....)
Wir 'sehen' ohne Loch (»Blinder Fleck«), weil unser Gehirn die Verarbeitung der gesehenen Information in komplexer Weise übernimmt. Wir 'sehen' scharf, weil unser Gehirn uns aus unserer Erfahrung und aus unserem Wissen ein 'Bild' aufbaut, das Stabilität und Konstanz vortäuscht. Im weiteren Sinne wird daraus unser Weltbild oder unsere 'Weltanschauung' konstruiert.
Vielleicht liegt die Faszination der photographischen Bilder für uns im Festhalten der Momente, dem Fixieren. Unsere visuelle Wahrnehmung hat viele Möglichkeit, die der Fixierung hat sie nicht. Wir können zwar den Augenblick bitten, zu verweilen, weil er so schön ist, aber der nächste Moment wird ihn ablösen. Unsere visuelle Wahrnehmung muss sich auf ständige Veränderung einstellen und ihr entgegenwirken, damit die gesehene Welt im Eindruck stabil bleibt.
Das so genannte Netzhautbild erklärt unsere Wahrnehmung nicht und es wird noch einmal Gibson zitiert, um zu zeigen, dass das Problem weltweit behandelt wird:
"Die falschen Problemstellungen stammen aus der falschen Analogie zwischen Fotografie und visueller Wahrnehmung, die jedermann für gegeben hielt. Das Fotobild hält aber einen erstarrten Moment innerhalb einer stets wechselnden optischen Anordnung fest. (...) Zu einem latenten Bild auf der Retina besteht hier nicht einmmal die leiseste Aehnlichkeit. Ist es schon irreführend genug das Auge mit einer Kamera zu vergleichen so ist es noch schlimmer die Netzhaut einer fotographischen Filmschicht gleichzusetzen." (Gibson 1982)
Quellen: Gibson, James J. (1982). Wahrnehmung und Umwelt - Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg.
Schnelle-Schneyder, Marlene (2011). Sehen und Photographieren. Berlin: Springer XPress, 2te Auflage.
Visuelle Wahrnehmung - Gestaltgesetze
Die Gestaltgesetze lassen uns Objekte erkennen. ...............
Gesetz der Nähe
Das Gesetz der Nähe ist wohl eines der einfachsten unter den Gestaltgesetzen. Es erscheint logisch, dass Dinge, die weit auseinander liegen, nicht zueinander gehören können und daher als getrennt und unabhängig erkannt werden. Man kann Elemente leichter als eine ganze Form interpretieren oder zusammengehörig gruppiert wahrnehmen, wenn diese dicht beieinander liegen.
Vermutlich kann man dieses Gesetz deshalb zu den wichtigsten zählen, obwohl es durch andere Gestaltgesetze schnell neutralisiert werden kann, wie sich in den folgenden Abschnitten, z.B. in der Abbildung zum Gestaltgesetz der Aehnlichkeit, zeigen wird.
In der rechtsstehenden Abbildung sehen die meisten Personen fünf schmale Säulen anstatt nur Linien oder gar breite Säulen. Dieser Eindruck wird ausschließlich durch die Nähe der Linien zueinander hervorgerufen: Die Distanz zwischen den Linien, die nicht gemeinsam eine Säule bilden, ist im Verhältnis zu den Abständen zwischen den Säulen bildenden Linien deutlich höher, so dass sie von unserem visuellen System als getrennt wahrgenommen werden.
Abb. ................................. Quelle: http://www.kommdesign.de/texte/bilder/gestalt_naehe.gif
Eine solche Leere ist nach dem Gesetz der Nähe keine Platzvergeudung, da unsere Wahrnehmung diese Informationen als Grenze zwischen Objekten interpretiert. Dieses findet sich z.B. auch in der Musik wieder, wo eine Leere - also Pausen - ebenfalls Bedeutungsträger sind.
Gesetz der Geschlossenheit
Das Gesetz der Geschlossenheit verweist auf die Tendenz, in geometrischen Gebilden diejenigen Strukturen als Figur wahrzunehmen, die eher geschlossen als offen wirken. Diese Geschlossenheit kann durch tatsächlich vorhandene Linienzüge, aber auch nur durch die Vorstellung von subjektiven bzw. rein kognitiv vorhandenen Konturen, so genannten Scheinkonturen, bewirkt werden.
So zeigt z.B. das Dreieck von Kanizsa auf beeindruckende Weise, wie unser visuelles System aus fehlerhaften Informationen vollständige Figuren - also Objekte - konstruiert (vgl. Abb. rechts). Keine der subjektiv sichtbaren typischen geometrischen Grundformen ist objektiv vorhanden. Selbst wenn man gegen diese optische Täuschung ankämpft, kommen wir nicht gegen das Bestreben unseres visuellen Systems an, mit Hilfe der Gestaltgesetze Objekte zu erkennen. Die visuelle Wahrnehmung ist also - wie schon erwähnt - nicht eine bloße passive Abbildung der Realität, die durch das Licht ins Auge fällt, sondern ein aktiver Vorgang.
Das folgende Vexierbild (Abb. unten rechts) ist nur möglich, weil das Gestaltgesetz der Geschlossenheit gebrochen wurde. Auf den ersten Blick sieht man dort aufgrund dessen Größe zunächst das Gesicht Einsteins. Nach längerem Betrachten des Gesichts fallen einem die kleineren weiblichen Figuren auf, die Einsteins Wangen und Nase formen. Die in dem Bild abgebildeten weiblichen Figuren oder auch deren Körperteile sowie Einsteins Gesicht sind nicht geschlossen gezeichnet und können daher erst nach längerem Betrachten als Objekt wahrgenommen werden, nachdem unser visuelles System die nicht vorhandenen Linien vervollständigt hat. Nebenbei bemerkt: Es scheint so, als wenn die Kunst des Surrealismus ein bewusstes Brechen dieser Gestaltgesetze forciert.
Quelle: http://www.kfki.hu/~nyikos/3d/kanizsa.gif
Quelle: http://www.langeneggers.ch/taeuschungen/vexierbilder.html
Gesetz der Aehnlichkeit/Gleichheit
Elemente mit ähnlichen Eigenschaften werden von unserem visuellen System gruppiert, also als zusammengehörig gesehen. In welchen Eigenschaften oder Parametern die Elemente ähnlich sein müssen, wird in der Literatur nicht näher bestimmt und scheint daher nicht durch das Gesetz vorgeschrieben zu sein (vgl. Gilda Jukl 2001).
Im Umkehrschluss nimmt das visuelle System Elemente, die sich in wichtigen Merkmalen unterscheiden, als voneinander unabhängig wahr.
In dem Beispiel, das in der Abbildung unten gezeigt wird, wird ersichtlich, dass das Bestreben unserer Wahrnehmung, Elemente zu gruppieren, zunimmt, je mehr Gemeinsamkeiten zwei Objekte aufweisen, die sie von anderen Elementen abgrenzen. So werden in der kommenden Abbildung die verschiedenen Zeichen zusätzlich anhand ihrer verschiedenen Farben gruppiert.
Aufgrund seiner starken Wirkung auf die Wahrnehmung ist das Gesetz der Aehnlichkeit elementar, d.h. dass sich alle übrigen Gestaltgesetze diesem unterordnen (vgl. Metzger 1986).
Gesetz der guten Fortsetzung
Elemente, welche sich auf einer durchgehenden Linie oder Kurve befinden, werden vom visuellen System als Einheit wahrgenommen oder als zusammengehörig aufgefasst. Der Mensch neigt dazu, Linien an Schnittpunkten bevorzugt im Sinne einer Fortführung ihrer bisherigen Linienführung zu sehen. So sieht man in der folgeden Abbildung eher zwei gewundene Kurven auf der linken und zwei durchgehende Linien in der Mitte, anstatt V-förmige Figuren, die sich im Scheitelpunkt berühren (vgl. Gilda Jukl 2001).
Das Gesetz der Gleichheit wirkt stärker als das Gesetz der guten Fortsetzung (vgl. Metzger S.166) , wie in der Abbildung rechts zu sehen ist: Man sieht eher zwei abgeknickte Linien, die sich im Scheitelpunkt berühren, als zwei Linien, die sich überschneiden.
Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals
Elemente, die sich in die gleiche Richtung oder im gleichen Rhythmus bewegen, werden als zusammengehörige Gruppe wahrgenommen. Auf diese Weise verhindert das visuelle System, dass Elemente, die nach dem Gesetz der Ähnlichkeit und der Nähe zusammengehören müssten, gruppiert werden, wenn sie sich in andere Richtungen bewegen würden (vgl. Gilda Jukl, 2001).
Als Beispiel kann eine Horde Fußballfans genannt werden, die in den Vereinsfarben gekleidet auf einer Tribüne eines Fußballstadions steht. Jeder einzelne Fußballfan bewegt sich eigenständig und wird aufgrund des Gesetzes des gemeinsamen Schicksals von unserem visuellen System trotz der Aehnlichkeit und Nähe zueinander als eigenständiges Objekt wahrgenommen. In dem Moment, in dem die Zuschauermenge die Laola-Welle vorführt, kann unser visuelles System die einzelnen Fans nicht mehr allzu gut trennen: Man sieht die Welle als eigenständiges Objekt, nicht mehr die einzelnen Elemente, in diesem Fall die Fußballfans. Die Fußballfans bewegen sich gemeinsam in eine Richtung und haben damit ein gemeinsames Schicksal.
Das Gesetz der Symmetrie
Symmetrisch zueinander zugeordnete Elemente werden als Einheit erfasst und sind „ungewöhnlich fest“ (Metzger, 1986, S. 168) miteinander verbunden. Metzger belegt diese Tatsache mit der Abbildung eines Wortes, das horizontal an sich selbst gespiegelt wird.
Die folgende Abbildung veranschaulicht, wie das visuelle System versucht, Symmetrien zu finden und ihnen Vorrang zu lassen. Natürlich spielt in diesem Beispiel auch das Gesetz der Nähe eine Rolle. Bei den Buchstaben W, U und N ist ebenfalls das Gesetz der Geschlossenheit von Bedeutung. (Vgl. Metzger S.168)
http://www.flow-usability.de/gestaltgesetze
Das Spiegelungs-Modell von Jaques Lacan
»Ich ist ein anderer« (Rimbaud) - dieses Motto kennzeichnet Lacans Narzissmus-Modell, das an den Augenblick der Entstehung des Ich gebunden ist: als narzißtische Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild, das dem hilflosen, zu früh geborenen und innerlich psychotisch fragmentierten Säugling als Bild der eigenen illusionären Vollkommenheit erscheint. In seinem 1936 geschriebenen Aufsatz »Das Spiegelstadium als Bildner des Ich« hat er diese These zuerst entwickelt, gegen die philosophische Tradition des cartesianischen erkennenden Ich (»Cogito, ergo sum«), gegen die psychoanalytische Theorie eines solipsistisch verstandenen primären Narzissmus, aber auch gegen die gleichzeitig sich entwickelnde Ich-Psychologie und deren These von der relativen Autonomie des Ich.
Der Narzissmus wird als Frage der Beziehung des Ich zu sich selbst behandelt, die ich-bildende Spiegelerfahrung des Säuglings als Ursprung der Selbstreflexivität des Subjekts festgemacht.
»Das Ich (je) ist nicht das Ich (moi)« (Lacan 1954-55) - diese Differenz eines realen (unvollkommenen) 'je' und eines imaginären (als vollkommen phantasierten) 'moi' im Sinne des Ich-Ideals [vgl. Zimas Theorie im 1. Kap.] bildet sich, wenn sich der Säugling (zwischen 6 und 18 Monaten) erstmals im Spiegel erkennt, zugleich verkennt und dieses Bild in sich aufnimmt.
Es ist der Ursprung des Narzissmus und bestimmt dessen Struktur (Altmeyer 2004 S.60-61).
Lacan's diverse mit Narzissmus verwandte Konzeptionen welche hier nur kurz angerissen werden, werden insb. im Kap.4 gründlich vorgestellt, da der entwicklungspsychlogische Einfluss sehr stark ist. Entfremdungsphänomene die sich aus dem sog. 'Spiegelstadium' ergeben sind auch in den kollektiven Kapiteln 3, 5 und 7 wichtig.
Mit Lacan sind wir nun schon mächtig in die Medienwissenschaften und sog. "Visual Cultural Studies" eingestiegen, sodass ein weiterer Blick dahin sich geradezu aufdrängt, da ich ja eine vom rein psychoanalytisch definierten Narzissmus wegkommen möchte zu einer medien- und konsumkritischen Lesart eines narzisstisch gewordenen Selbst.
Als nächstes lesen wir bei Gernot Böhme
"Das Interesse, das die Theorie des Bildes in jüngster Zeit auf sich zieht, ist der Entwicklung der bildenden Künste einerseits und den modernen Reproduktionstechnologien andererseits geschuldet. Die Entwicklung der bildenden Kunst hat sowohl in der Reduktion als auch in der Steigerung ihrer Mittel an den Rand einer Auflösung des Bildbegriffs geführt. „Wir haben mit Bildern zu tun, die nichts darstellen, nichts sagen und nichts bedeuten", schrieb ich in meinem Buch Atmosphäre [Böhme 1997]. Damit wollte ich kein Ende der bildenden Kunst anzeigen, sondern darauf aufmerksam machen, daß es in ihr auch noch um anderes gehe und gehen werde, um anderes als Darstellung, Mitteilung und Bedeutung. Charakteristisch ist, daß auf der Dokumenta X [eine grosse wiederkehrende Kunstausstellung in Kassel] nur noch ein Künstler mit Gemälden präsentiert wurde. Gleichwohl waren die Hallen voll von Bildern, nur ging es nicht um sie, sondern um ihre Präsentation, Inszenierung, Projektion und damit um die innere Reflexion des Visuellen überhaupt.
Die ausserordentliche Erleichterung technischer Produktion und Reproduktion von Bildern hat sie in unserer Zivilisation allgegenwärtig werden lassen, und zwar von der allertrivialsten Abbildung bis hin zur sophistizierten Präsentation, die in nichts den Avantgarden der bildenden Kunst nachsteht. Es ist insbesondere der Bereich der Werbung, in dem Trivialität und Raffinement der Bildproduktion sich durchkreuzen. Schliesslich hat die Globalisierung der Kommunikation und das multikulturelle Zusammenleben dazu geführt, dass das Bild gegenüber der Schrift an Gewicht gewonnen hat. Das Ende der Gutenberg-Galaxis [eine auf McLuhan verweisende Metapher, s.u.], meinen einige Beobachter, bedeute nicht nur den Sieg der elektronischen Medien über die Printmedien, sondern auch des Bildes über die Schrift. Mögen diese Entwicklungen die philosophische Arbeit am Thema Bild schon hinreichend herausfordern und rechtfertigen, so übt doch das Thema Bild auf den Philosophen schon als solches eine Faszination aus, so daß er die reale Dialektik der Bilderwelt, die sich heute vollzieht, auch als willkommene Herausforderung begrüßt, mit seinen eigenen Fragen weiterzukommen.
"Bis heute ist die philosophische Theorie des Bildes vom Platonismus beherrscht [s.u.: Höhlengleichnis], und das heisst von der Unterstellung, daß das Wesen von etwas sich in seinem Aussehen manifestiert: dem Eidos. In der Seinshierarchie von Urbild und Abbild, Bild des Abbildes usw. nahm die bildende Kunst allenfalls die dritte Stelle in der Rangfolge der Werkmeister ein - noch dem Handwerker nachgeordnet. Der Maler wird im zehnten Buch des Staates [bei Platon] gar einem Allerweltskünstler verglichen, der durch Herumtragen eines Spiegels alles abbildet.
Dagegen ist im Dialog 'Sophistes' zumindest angedeutet, daß das Genuine der bildenden Kunst gerade in der Abweichung vom Original bestehen könnte und im Austrag der Spannung, die sich zwischen Darstellungsmedium und Dargestelltem ergibt" (Böhme 2004 S.8-9).
Hier klingt das "Dreigestirn" Baudrillard, McLuhan und Lacan an, wenn es um die Spannung zwischen Signifikant und Signifikat geht. Diese drei Autoren beschäftigen uns durch das ganze Buch hindurch immer wieder, gerade weil sie weniger bekannte Aspekte des (visuellen) Narzissmus aufzeigen. Nun erstmal weiter bei G. Böhme und der Differenz von
Realität und Wirklichkeit
"Bilder haben ihre besondere, eine eigentümliche Seinsweise. Es ist nicht die Seinsweise der Dinge. Um davon reden zu können, wird in diesem Buch zwischen Realität und Wirklichkeit unterschieden.
Realität - das ist das Potential von Dispositionsprädikaten, die im leiblichen Umgang mit Dingen erfahren werden können.
Wirklichkeit - das ist die Erscheinung als solche. Sie wechselt mit Sichtweisen und Lesarten, ist aber jeweils mit ihnen fest verbunden. Jedes Ding, jedes Stück Realität erscheint auch jeweils und hat damit seine Wirklichkeit; diese Wirklichkeit ist immer die Wirklichkeit dieses Stücks Realität, dessen Manifestation. Nur beim Bild ist das anders.
Die Wirklichkeit des Bildes steht in einer Spannung zu dem, was es als Realität ist. Das gilt selbst noch für monochrome Bilder, die eben nicht nur ein Stück angemalter Leinwand sind. Das Wesen des Bildes spielt in dieser Differenz zwischen Realität und Wirklichkeit" (Böhme 2004 S.8-9).
Den Bogen zurück zu Hegel und Lacan schlagend schreibt G. Böhme weiter:
"Es ist bemerkenswert, daß die Grunderfahrung einer Phänomenologie des Bildes, die von Hegel seinerzeit für die Erfahrung des Kunstwerks festgehalten wurde, nämlich die der Umkehr des Blickes (...) heute von Seiten der Psychoanalyse, nämlich von Lacan erneut ins Spiel gebracht wird. Er entdeckt am Grunde der Betroffenheit durch Bilder „daß wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind" (Lacan in Boehm 1997 S.22-23). Mag das „Bilder sehen dich an" auch wieder eine Metapher sein, so geht es in der Phänomenologie des Bildes doch allgemein um die Herausarbeitung des Pathischen in der Bilderfahrung" (Böhme 2004 S.10-11).
2.1.5. "Der Sinn der Sinne" - Anthropologie der Sinne und Medien
"Die menschliche Sinnestätigkeit ist nicht nur natürlich. Medien überformen und verändern sie. Die Sinne kommen uns zum Bewußtsein, indem sie erlebt und künstlich vergegenwärtigt werden. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht wie beim Tier in der Gewinnung von Informationen und im Nutzen für den Organismus. Der Mensch kann sich zu seiner Sinnestätigkeit exzentrisch verhalten und ihr einen Sinn geben" (Karpenstein-Essbach 2004 S.18).
"Medien ermöglichen 1. das Wahrnehmen verstärkt wahrzunehmen; 2. den verschiedenen Sinnestätigkeiten in Artefakten eine symbolisch-geistige Bedeutung zu geben. Der optische wie der akustische Sinn eignen sich besser dazu, in eigenständigen Sinngebilden (Artefakten) dargestellt zu werden als die dem momentanen körperlichen Spüren verbundenen Zustandssinne des Riechens, Schmeckens und Fühlens. Die Anthropologie der Sinne fragt nach dem je besonderen Sinn, der den Sinnen in Artefakten gegeben wird" (Karpenstein-Essbach 2004 S.27).
Synästhesien: "Das Zusammenspiel der einzelnen Sinne ist der Regelfall im Rahmen der sensomotorischen Aktion. Die
Einheit der Sinne als Synästhesie wird in Rauschzuständen passiv erfahren; künstlich repräsentiert wird sie im Rahmen von Artefakten wie der Oper oder der Performance. Der künstlichen Integration aller Sinne entspricht eine umfassende Aesthetisierung" (Karpenstein-Essbach 2004 S.61).
"Die Anthropologie der Medien fragt nach der Differenz von leiblich gebundener und medial-technischer
Sinnestätigkeit. Mit der Technisierung der Sinne entsteht ein neuer Modus des Sinns und eine Modifikation der Sinnestätigkeit.
Technische Medien sind keine einfachen Analogien zu oder Ausweitungen von Sinnesorganen des Leibes" (Karpenstein-Essbach 2004 S.68).
--> Fortsetzung in Kap. 7, Teil III: 7.3.1. Wie wirklich ist die Wirklichkeit I - Strukturalismus und Semiotik
Literatur:
Blumenberg, Hans (...). Höhlenausgänge. .........
Boehm, Gottfried (1997). Was ist ein Bild? München: Fink.
Böhme, Gernot (1997). Atmosphäre - Essays zur neuen Aesthetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2.Aufl.
Böhme, Gernot (1998). Der Typ Sokrates. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2.Aufl.
Böhme, Gernot (2004/1999). Theorie des Bildes. München: Fink, S.7
Eco, Umberto (1977). Zeichen - Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Gehlen, Arnold (19...). ......................
Karpenstein-Essbach, Christa (2004). Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. München: Wilhelm Fink.
Plessner, Helmuth (1981). ........................
Platon .........................
Mimesis - Weisen der Darstellung
"Die Definition des Bildes macht auf Grund der darin enthaltenen eigentümlichen Mischung von Sein und Nicht-Sein durchaus verständlich, dass ein Bild etwas Täuschendes sein kann. Nach der Definition muß man sogar erwarten, daß, je „besser" ein Bild ist, es desto täuschender ist. Dafür wären etwa die Kirschen des Zeuxis ein Beispiel. Hier hielten die Vögel das, was sich bloß den Anschein von Kirschen gab, für wahre Kirschen.
Platon, dem die Unterscheidung zwischen dem wahren Sein und der bloßen Erscheinung sehr wichtig ist, nimmt diesen Fall sehr ernst. Gravierender dürften aber die Fälle sein, in denen das Abbild nicht nur so tut, als ob es das Urbild sei, sondern über das Urbild Falsches lehrt. Erst dadurch wird die phantasmatische Kunst im engeren Sinne zur trugbildnerischen. Damit treten unterschiedliche Weisen der Darstellung in den Blick" (Böhme 2004 S.22).
Um die Bildtheorie langsam abzuschliessen (diese wird aber fortgesetzt u.a. im Esoterik-Kapitel wo es u.a. um visuelle Propaganda geht), sei hier nochmals Gernot Böhme zitiert wie er den Bogen schlägt zum dritten in meinem Narzissmus-Buch zentralen Autor: Jean Baudrillard
"Der extensive Bildgebrauch, der in den 20er Jahren erst so recht einsetzte, auf allen Ebenen der Werbung, der Politik, Film, Fernsehen, Illustrierte, erzeugte in der Tat eine Hyperrealität [s.u.: Baudrillard].
In dieser Realität ist alles viel deutlicher, bestimmter, ausgesprochener als in der gewöhnlichen Welt der Dinge. Und die Dinge verschwinden hinter ihr. Es ist die Welt der Simulacren [auch ein Baudrillardscher Terminus, s.u.], wie man das heute nennt, der Bilder, die sich vor die Dinge schieben und für sie genommen werden. Wir beziehen uns im entfalteten Kapitalismus nicht mehr auf Dinge, sondern auf Marken, auf Typen, auf Signets, auf Signale" (Böhme 2004 S.74).
Im Kapitel 7 werden wir auf Baudrillard und die Konsum- und Kapitalismuskritik zurückkommen - doch nun zurück zu den visuellen Grundlagen zu einem postmodernen Verständnis von Narzissmus:
2.1.6. Platons Höhlengleichnis - Historisch-philosophische Betrachtungen
„Menschen sitzen gefangen in einer Höhle, mit dem Rücken zum Eingang. Sie haben das Licht hinter sich. Gegenstände und sich selbst sehen sie niemals direkt, sondern nur als Schatten, reflektiert an der Rückwand der Höhle. Das ist für sie die Realität, daran sind sie gewöhnt. Das ist ihr Horizont, daraus resultiert ihr Weltbild.
Einer der Höhlenbewohner schafft es nun, diese Höhle zu verlassen und geht hinaus. Zu Beginn ist er stark vom Licht geblendet, weil es ja etwas ganz Neues für ihn ist. Auf einmal erblickt er Gegenstände. Und durch den Schatten, den diese Gegenstände werfen, erkennt er erst, was ein Schatten ist. Er erkennt zum ersten Mal, was der Gegenstand ist, der den Schatten wirft. Das ist eine existenzielle Erkenntnis, die alles was er bisher gekannt hat, in Frage stellt. Der Höhlenmensch ist natürlich völlig aufgewühlt, aber auch begeistert von seiner Erkenntnis, und er geht damit zurück in die Höhle.
Er will seinen Höhlenmitbewohnern erzählen, was er erlebt hat. Er hat das Bedürfnis, ihnen seine neuen Erkenntnisse mitzuteilen. Er erklärt ihnen, was diese Bilder an der Wand darstellen. Er will ihnen beibringen, was Gegenstände sind, was Realität ist. Die Höhlenmenschen verstehen ihn nicht, sie halten ihn für verrückt. Sie wollen seine Realität nicht erfahren. Denn sie macht ihnen Angst. Als der Höhlenaussteiger dennoch darauf besteht, ihnen seine neuen Erkenntnisse zu vermitteln, bringen sie ihn um.“
Quelle: Schroeder, Renée, Nendzig, Ursel (2014). Von Menschen, Zellen und Waschmaschinen. Anstiftung zur Rettung der Welt. St. Pölten: Residenz Verlag S.15-16)
Hier Kleiner Ausschnitt aus dem Original von Plato:
„Sokrates: Längs dieser Mauer - so mußt du es dir nun weiter vorstellen - tragen Menschen allerlei Geräte vorbei, die über die Mauer hinausragen, Statuen verschiedenster Art aus Stein und Holz von Menschen und anderen Lebewesen wobei, wie begreiflich, die Vorübertragenden teils reden, teils schweigen.
Glaukon [sic!]: Ein sonderbares Bild, das du da vorführst, und sonderbare Gefangene. (Sokrates:) Sie gleichen uns. Können denn zunächst solche Gefesselte von sich selbst und voneinander etwas anderes gesehen haben als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle geworfen werden?“ (Platon, Der Staat, VII., 515b).
Nachdem das Höhlengleichnis als eigentlicher Geburtsort des Narzissmus, so meine These, skizziert worden ist, komme ich zurück zu Gernot Böhmes 'Bildtheorie', in der er zur digitalen (Post-)Moderne schreibt:
"Im Rückblick auf Platon können wir sagen, daß jene Tendenz durch die digitale Bildproduktion vollendet wird, die wir durch alle Beispiele hindurch verfolgen konnten: nämlich die Tendenz zur Verselbständigung der einzelnen Momente der platonischen Bildtheorie gegeneinander. Zum Bild gehört nach Platon ein Original, ein Medium und ein Betrachter. Diese Vierheit bildet in Platons Theorie eine festgefügte Ordnung, aus der sich die einzelnen Aussagen und Charakterisierungen also etwa über Bildtypen und Darstellungsweisen ergeben. Platons große Leistung war es, die besondere Seinsweise des Bildes selbst herausgearbeitet zu haben. Aber gerade diese Leistung war der Anfang zur Verselbständigung der einzelnen Momente gegeneinander, insbesondere des Bildes gegenüber dem Original. Das Bild löst sich aus der Abhängigkeit vom Original, es braucht nicht mehr notwendig etwas darzustellen, um Bild zu sein [hier knüpfen Baudrillards 'Simulakren' an].
Gegenüber dem Betrachter oder den Betrachtern gewinnt das Bild durch sein Wirksamkeit eine eigenständige Wirklichkeit, die uns veranlaßt hat, Wirklichkeit als Seinsart von Realität als dem Sein der Dinge abzugrenzen. Heute vollzieht sich die Verselbständigung der Bilder gegenüber dem Darstellungsmedium.
Für Platon war es noch wesentlich, daß jede bildliche Darstellung in einem Medium stattfindet, und deshalb als Darstellung durch das Medium, sei es nun Holz, Papier oder Marmor, mitbestimmt ist. Die Ablösung der Bilder von ihren Trägern, die sich bereits durch die fotografische Reproduktion [vgl. Walter Benjamin] angebahnt hatte, wird heute durch die digitale Bildproduktion vollendet. Sicher, auch digitalisierte Bilder müssen irgendwie an einem Medium, beispielsweise einem Monitor erscheinen, um überhaupt als Bilder gewürdigt, nämlich gesehen werden zu können. Aber sie sind in ihrer Existenz nicht an dieses Erscheinen gebunden, sie können auch unsichtbar abgespeichert werden, ohne ihren Gehalt zu verändern, bzw. sie können auch an ganz anderen Bildträgern erscheinen.
Diese Eigenschaft hängt zwar nicht an der Digitalisierung selbst, sondern an der Tatsache, daß die Bilder aus elektronischen Impulsen bestehen. Die Digitalisierung verschärft jedoch die Ablösung der Bilder von Bildträgern in einer bestimmten Weise. Die Wirkung der klassischen Bildträger auf das Bild (im Sinne von 'image') hing ja an einer gewissen Verschmelzung des Bildes mit seinem Träger. Platon faßte diese notwendige Verschmelzung als eine Eintrübung und als ein Unbestimmt-werden des Dargestellten in seiner Darstellung. Das hieß aber, daß der Informationsgehalt von Bildern unbestimmt oder auch unendlich war. Dies nun hat sich mit der Digitalisierung geändert. Dadurch wird eindeutig getrennt, was zum Bild ('image') gehört und was zum Träger. Das Bild erhält dadurch einen klar definierten, abzählbaren, also endlichen Informationsgehalt. Wieder im Rückblick auf Platon läßt sich sagen, wie tief dieser Einschnitt ist. Im Dialog Kratylos 2 sagt Platon, daß Bilder eine andere Richtigkeit haben als zahlenhaft bestimmtes Seiendes. Sie bestünde nämlich in einem Wie, in einer Qualität. Durch die Digitalisierung der Bilder werden sie nun selbst etwas zahlenhaft Bestimmtes, und ihre Richtigkeit bemißt sich an der Vollständigkeit, oder besser gesagt Vollzähligkeit der Information, die sie enthalten.
Der neue Bildtyp, das digitale Bild, lebt vorerst noch vom Foto, so wie das Foto in seiner ersten Phase vom Gemälde lebte. Fotos sind das Material der digitalen Bilder, sagen wir, ihr Spielmaterial, und selbst da, wo Bilder synthetisiert werden, greift man in der Regel auf eingescannte fotografische Bilder zurück. Das muß aber nicht so sein und wird auch nicht so bleiben, doch vorerst ist eine andere Abhängigkeit des digitalen Bildes vom Foto zu bemerken:
Das Ideal synthetischer Bilderzeugung ist der Fotorealismus, d.h. die Erzeugung von Bildern, die so aussehen wie Fotos. Sicher ist auch das vorläufig und hängt damit zusammen, daß heute die technische Front der synthetischen Bilderzeugung dort liegt, wo man Bildmaterial exotischen Gehalts, also 'special effects' braucht, die sich in einen, im übrigen traditionellen, Film einfügen sollen. Aber eins ist an diesen Techniken doch revolutionär, nämlich, daß in ihnen bereits nicht mehr eine Realität nachgeahmt oder simuliert wird, sondern die Wirklichkeit der Bilder [...quasi "in sich selbst"].
Damit ist der Schritt in die 'Virtual reality' getan. Diese trägt freilich ihren Namen ganz zu unrecht. Mit unserer Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit können wir jetzt sagen: Es handelt sich hier überhaupt nicht um Realität, auch nicht um virtuelle, d.h. mögliche oder auch nur vorgebliche. Was sich schon auf dem Wege der Emanzipation der Bilder von den Dingen angebahnt hatte, wird hier lediglich vollendet. Wir haben es mit dem selbständigen Seinsbereich der Bilder zu tun. Das Gewicht dieses Seinsbereichs bzw. daß er überhaupt ein Gewicht hat und nicht die Flüchtigkeit von Halluzinationen und sonstigen Erscheinungen, hängt natürlich von der Bildpragmatik ab, d.h. allgemeiner gesprochen, von der außerordentlichen Bedeutung, die Bilder in unseren modernen Lebensformen erhalten haben. 'Virtual reality' bekommt zuallererst ein pragmatisches Gewicht in der Konsum- und Freizeitsphäre. Ein wachsender Anteil des Lebens, jedenfalls in den fortgeschrittenen Industrienationen, spielt sich im Bereich der Bilder ab. Dabei erhalten die interaktiven Computerspiele ein besonderes Gewicht, weil in ihnen, d.h. in einer reinen Bilderwelt, die Spieler sich eine neue, eine Zweit- oder Teilidentität schaffen können. Die 'Virtual reality' als selbständige Bilderwelt erhält ferner Gewicht für den Bereich der Animation und Simulation, in dem das Handeln im Bildraum - vor dem Ernstfall, nämlich der Realität - zu Orientierungs- und Trainingszwecken ermöglicht wird. So können Flieger und Autofahrer in virtueller Realität das Verhalten trainieren [z.B. im Flugsimulator], das sie in der Realität selbst brauchen werden, und Bauherren gewisse Eigenschaften ihrer Gebäude erkunden, noch bevor sie ausgeführt sind.
Schließlich wird durch Visualisierungstechniken ein Handeln und Erkennen in Bildräumen möglich, das Wirkungen bzw. Strukturen in visuell nicht zugänglichen Realitätsbereichen korreliert ist" (Böhme 2004 S.129-132).
Adamowsky, Natascha (1998). Spielfiguren in virtuellen Welten. Siegen: Diss.phil..
Norbert Bolz und Ulrich Rüffer (1996 Hrsg.). Das große stille Bild. München: Fink.
Amelunxen, H.v., Iglhaut, St., Rötzer, Florian (1995 Hrsg.). Fotographie nach der Fotographie. Dresden/Basel: Verlag der Kunst S.13-25.
Manovich, Lev (1995). Die Paradoxien der digitalen Fotografie, a.a.O. 58-66.
Konzepte "Positiver vs. Negativer Narzissmus"
"Positiver Narzissmus" meint eine positive Einstellung zu sich selbst, die ein stabiles Selbstwertgefühl bewirkt und erhält. Ein "positiver" Narzissmus äußert sich in einer positiven Einstellung zu sich selbst, d.h. dass diese Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl haben, das auch erhalten bleibt, wenn es Rückschläge gibt.
Positiv narzisstische Menschen ruhen in sich selbst, strahlen Wärme aus und sind anderen zugewandt. Postiver Narzissmus ist gesunder Bestandteil einer harmonischen Persönlichkeit.
"Negativer Narzissmus" basiert hingegen auf mangelndem Selbstwertgefühl, der auf einer Säugling-Elternteil-Beziehung beruht, die dem Kind nicht genügend Einfühlungsvermögen und Bestätigung entgegenbrachte. Ein ausgeprägter oder "negativer" Narzissmus bedeutet, dass diese Menschen vorwiegend sich selbst zugewandt sind, ein eher passives Liebesbedürfnis haben und "lieben, nur um geliebt zu werden".
Eine Beziehung mit einem Narzissten ist geprägt vom Geben des Partners und Nehmen des Narzissten. Ein Gleichgewicht mit abwechselndem Geben und Nehmen gibt es nicht. Narzissten sind kaum oder gar nicht zu Empathie fähig (Mitgefühl mit anderen). Sie haben (fast) kein Selbstwertgefühl und sind auf ständige Bestätigung von außen angewiesen. Bleibt diese aus, kommt es zu erheblichen Problemen. Oft neigen negativ narzisstische Menschen auch dazu, andere abzuwerten, um das eigene Ego aufzuwerten.
Konzepte "Dünnhäutiger vs. Dickhäutiger Narzissmus (Blatt 1990 und Wink 1991
Zwei Narzissmus Typen:
Dünnhäutiger Typ (~ Kohut) vs. Dickhäutiger Typ (~ Kernberg)
I. Dünnhäutiger Typ (sensu Kohut):
Beziehungsstörung mit archaischen Verschmelzungstendenz:
kränkbar
hypervigilant
masochistisch
mit ängstlicher Bindungstendenz
II. Dickhäutiger Typ (sensu Kernberg):
Störung des Selbstkonzepts mit archaischer Grandiosität und Omnipotenzvorstellung:
protzig,
exhibitionistisch,
manifest ausbeutend
mit vermeidender Bindungstendenz
Dasselbe nochmal anders formuliert:
a) Der dickhäutige, unbeirrte, grandiose Narzisst:
Arroganz, Gier, Grössenfantasien bis Grössenwahn, Idealisierung der eigenen Person, Egozentrik/Egoismus, grenzenloser Bedarf an Bewunderung, ausbeuterisch in Beziehungen, Mangel an Empathie; beim Scheitern: Schuld auf andere schieben
b) Der dünnhäutige, verletzliche, fragile Narzisst:
sehr empfindlich, leicht kränkbar, gehemmt, scheu, übertrieben bescheiden, fühlt sich schnell beschämt oder gedemütigt; verdeckt überheblich
c) Der sozial gut angepasste Narzisst:
hat ähnliche Eigenschaften wie a), verbirgt diese jedoch einige Zeit und wirkt daher: intelligent, charmant, freundlich, aufmerksam, unterhaltsam, zugewandt. Etwa nach der siebten (?) Begegnung bricht die urnarzisstische Prägung wieder durch. Er ist gefährlich (Psychopath, s.u.), denn er ist ein sehr begabter Verführer.
d) Die spezifisch weibliche Form des Narzissmus (Echo – die Verschmähte), vgl. Wardetzki weiter unten
Perfektionsstreben, mit der Haltung:
- Wenn du perfekt bist, kannst du nie mehr beschämt werden
- Wenn du perfekt bist, wirst du auch geliebt.
Sie treten oft sehr selbstbewusst, sicher, stabil, souverän auf. Im Innern aber fühlen sie sich unsicher, fragil, voller Selbstzweifel und minderwertig. Sie steigern Selbstwertgefühl durch Anlehnung an einen „bedeutenden“ Partner – oft mit totaler Anpassung und Unterwerfung.
Narzissmus lässt sich auf zwei empirisch bestätigten Dimensionen ansiedeln (Wink 1991):
A) Dimension der gestörten Bezogenheit und B) Dimension des gestörten Selbstwertes.
Ueberwiegt die Beziehungsstörung kommt es zu dem von Kohut hervorgehobenen dünnhäutigen Typ:
kränkbar, hypervigilant und masochistisch verbunden mit ängstlicher Bindungstendenz sensu Ainsworth et al. (1978).
Ueberwiegt die Störung des Selbstkonzepts kommt es zu dem von Kernberg beschriebenen dickhäutigen Typ verbundenen mit vermeidender Bindungstendenz:
protzig, exhibitionistisch, manifest ausbeutend. Beide machen es dem Beziehungspartner schwer, weil sie entweder hypersensibel oder nicht erreichbar sind.
Primärer Narzissmus bei Sigmund Freud:
"Für Freud (1914) ist der primäre Narzissmus universal, „eine libidinöse Ergänzung zum Egoismus des Selbsterhaltungstriebes“ (Freud 1914, S. 138). Der primäre Narzissmus stellt nach Freud (1913) ein Stadium dar, in dem die vorher unorganisierten Sexualtriebe zusammengefasst und auf ein Objekt (das eigene, sich in Entwicklung befindliche Ich) bezogen sind.
Freud (1914) definiert den primären Narzissmus in ökonomischen und energetischen Begriffen als libidinöse Besetzung des Ich. Die narzisstische Persönlichkeit wird von Freud (1931) als interessiert an Selbsterhaltung und Unabhängigkeit geschildert, ohne Spannung zwischen Ich und Ueber-Ich, über erhebliche Aggression verfügend und zur Uebernahme aktiver (Führer)-Rollen neigend." (zit. nach HP Hartmann 1997, S. 70f.)
Wegen der Narzissmustheorie musste Freud übrigens die damalige erste Version der Triebtheorie modifizieren. Der Gegensatz zwischen den Ichtrieben bzw. Selbsterhaltungstrieben und den Sexualtrieben wurde aufgrund der Gleichsetzung der Selbsterhaltungs- mit den Sexualtrieben aufgegeben und der ursprünglich angenommene Konflikt zwischen Sexual- und Ichtrieben wurde jetzt zwischen Ich- und Objektlibido angesiedelt.
(...)
Martin Altmeyer (2000) schreibt zum "Geliebt-werden"-Konzept Freuds folgendes:
"Einen deutlichen Hinweis auf den basalen Charakter und die infantile Herkunft dieser mit dem Narzissmus verbundenen Erwartung des Geliebt-werdens gibt Freud in »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d):
"Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die der meisten Tiere relativ verkürzt; es wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluss der realen Aussenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ichs vom Es frühzeitig gefördert, die Gefahren der Aussenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts, das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert. Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrsituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird« (S.186f, Hervorh. M.A).
Diese Definitionslinie des Narzissmus, die auch Balint zur Grundlage seiner Theorie der primären Liebe gemacht hat, folgt einer immanenten entwicklungspsychologischen Idee: die intrauterine Existenz als Ausgangssituation des primären Narzissmus, die Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Säuglings, die Bedeutung des Objekts, das vor Gefahren schützt und in seiner kompensatorischen Funktion die Fortsetzung der narzisstischen »Fiktion« erlaubt, und schliesslich das Geliebt-werden, das als Erbe dieser frühen lebenswichtigen Objektbeziehung erhalten bleibt.
In diesen Zeilen tritt bereits Anfang des letzten Jahrhunderts die "moderne" Figur des "relational Turn", also der Relationalen Psychoanalyse, auf. Ich werde die höchst spannenden Entwicklungslinien des Narzissmus-Konzeptionen einerseits und die der Psychoanalyse andererseits, in diesem Buch versuchen herauszuarbeiten - weil beide Entwicklungen unabdingbar wichtig sind für mein eigenes Narzissmus-Konzept des relationalen Gleichgewichts.
Narzissmus als Geliebtwerden bei Freud - eine intersubjektive Sichtweise sogar schon bei Freud!
"Freud verbindet den Narzißmus im Rahmen seiner objektbezogenen Konzeption (und in seinen Schriften durchgängig) mit einem Gefühl des Geliebtwerdens. Er hat das bereits bei der ersten Erwähnung des Begriffs im Jahr 1910 getan, wo er ihn zur Erläuterung der Psychodynamik der Homosexualität benutzt: Narzißmus heißt, (von der Mutter) geliebt zu werden3. Auch in der »Einführung« (1914) wird der Narzißmus durch das Geliebtwerden definiert.
Die Bedeutung dieser Liebeserwartung hat für Freud ein solches Gewicht, daß er ihre Erfüllung in das »Das Ich und das Es« (1923) mit dem (Seelen-)Leben selbst identifiziert und in der
psychischen Struktur als elementares Identitätsgefühl verankert sieht. Wenn das Ich sich vom Ueber-Ich, also der innerpsychischen Repräsentanz der frühen Eltemfiguren, nicht geliebt fühlt, so erklärt Freud die Psychodynamik der Melancholie, entsteht Todesangst:
»Leben ist also für das Ich gleichbedeutend mit Geliebtwerden, vom Ueber-Ich geliebt werden.«4 Die Quelle dieses elementaren und lebenslang wirksamen Bedürfnisses ist die biologische
Hilflosigkeit des Säuglings, seine psychobiologische Unfertigkeit, die dem Objekt seine absolute Bedeutung gibt. Einen deutlichen Hinweis auf den basalen Charakter und die infantile Herkunft dieser mit dem Narzißmus verbundenen Erwartung des Geliebtwerdens gibt Freud in »Hemmung, Symptom und Angst« (1926).
»Die Intrauterinexistenzdes Menschen erscheint gegen die meisten Tiere relativ verkürzt; er wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluß der realen Außenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ichs vom Es frühzeitig gefördert, die Gefahren der Außenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts, das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert.
Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrensituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird« (StA Bd. VI, S. 293; Hervorhebung M.A.).
Diese Definitionslinie, die auch Balint zur Grundlage seiner Theorie der primären Liebe gemacht hat, folgt der Konzeption eines umweltbezogenen Narzißmus: die intrauterine Existenz als
Ausgangssituation des primären Narzißmus, die Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Säuglings, die Bedeutung des Objekts, das vor Gefahren schützt und in seiner kompensatorischen Funktion die
Fortsetzung der narzißtischen »Fiktion« erlaubt, und schließlich das Geliebtwerden, das als Erbe dieser frühen lebenswichtigen Objektbeziehung erhallen bleibt.
In der »Einführung des Narzißmus« (1914) findet sich eine viel zitierte Passage, die die Bedeutung des Geliebtwerdens für den Narzißmus des Erwachsenen betont.
»Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten.« ...einige Abschnitte später: »Das Lieben an sich, als Sehnen, Entbehren, setzt das Selbstgefühl herab, das Geliebtwerden, Gegenliebe finden. Besitzen des geliebten Objekts hebt es wieder« (Freud StA Bd. III, S. 65 ff.) - Altmeyer (2000, S. 188f.)
2.1.8. Weitere Konzepte und Kontroversen
Eine weitere, ans "Urvertrauen" von Erik Erikson (vgl. Kapitel 4: "Entwicklungspsychologie") erinnernde Definition von (positivem, "primärem") Narzissmus, beschreibt W. Gottschalch:
Gesunder Narzissmus ist „die nicht bezweifelte Sicherheit, dass empfundene Gefühle und Wünsche zum eigenen Selbst gehören. Diese Sicherheit wird nicht reflektiert, sie ist da, wie der Pulsschlag, den man nicht beachtet, solange er in Ordnung ist. In diesem unreflektierten, selbstverständlichen Zugang zu eigenen Gefühlen und Wünschen findet der Mensch seinen Halt und seine Selbstachtung.“
Gottschalch, Wilfried (1988). „Narziss und Oedipus – Anwendungen der Narzissmustheorie auf soziale Konflikte“. Heidelberg: Asanger
Kurzdefinition "Sekundärer Narzissmus": Auf Grund von Traumata und Verletzungen zieht sich Objekt -Libido wieder ins Ich zurück - weiteres in Kapitel XY: "Entwicklungspsychologie des Narzissmus".
"In den Praxen der Psychoanalytiker tauchten neue Krankheits- und Störungsbilder auf, die zu einer Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie und Praxis nötigten: Die nun dominant werdenden psychischen Gleichgewichtsstörungen und Erkrankungen waren mit den klassischen Modellen und Theorien der psychoanalytischen Neurosenlehre nicht mehr zu erfassen. Das Strukturmodell der innerpsychischen Konflikte zwischen Es, Ich und Über-Ich ist an den Binnenkonflikten der patriarchalischen Traditionsfamilie der bürgerlichen Vergangenheit orientiert.
Es ging Freud in der Anfangszeit um die Bewusstmachung der ins Unbewusste verdrängten Triebregungen und verpönter, um ödipale Wünsche kreisender Phantasien, die sich in Angst verkehrt hatten und in der chiffrierten Sprache neurotischer Symptome artikulierten. Das war, wenn man so will, die Psychoanalyse der Salongesellschaft des Wiener Bürgertums vor dem ersten Weltkrieg. Jetzt traten diese klassischen Störungsbilder zurück und man bekam es vermehrt mit Folgeschäden einer gestörten frühkindlichen Entwicklung, Störungen zentraler Subjektfunktionen, des kohäsiven Selbsterlebens und der Selbstwertregulation zu tun, wie sie insbesondere in erodierenden, von Auflösungserscheinungen gekennzeichneten Familien auftreten". (Götz Eisenberg in www.magazin-auswege.de – 15.2.2012 „Unterm Strich zähl‘ ich“)
Wie wir noch sehen werden, verstehen die NachfolgerInnen Freuds unter Narzissmus jeweils etwas anderes.
S.E. Pulver (1972) bringt etwas Uebersicht ins Phänomen "Narzissmus", indem er mindestens vier Arten seines Gebrauchs unterscheidet:
– klinisch, um eine sexuelle Perversion zu charakterisieren, bei der der eigene Körper als Sexualobjekt benutzt wird,
– genetisch, zur Beschreibung eines Stadiums der Entwicklung,
– hinsichtlich der Objektbeziehungen wird damit ein Typus der Objektwahl (narzisstisch) und die Art und Weise der Beziehung zur Umwelt (Mangel an Beziehungen) bezeichnet und
– schliesslich soll die Regulation des Selbstwertgefühls damit beschrieben werden.
Der Begriff wird also zur Bezeichnung unterschiedlicher Sachverhalte benutzt, was zwangsläufig zu einer gewissen Konfusion führt. Die nun folgenden Darlegungen versuchen in chronologischer Weise und nach Gruppen geordnet, weiteres Licht ins Dickicht zu bringen.
Literaturangabe:
Pulver SE (1972) Narzissmus: Begriff und metapsychologische Konzeption. Psyche 26: 34–57
Ich werde im folgenden bewusst immer wieder sog. "unwissenschaftliche", will heissen: von Publizisten und JournalistInnen geschriebene, Texte einstreuen um auch den/die NichtakademikerIn unter den LeserInnen abzuholen für dieses äusserst faszinierende Thema. Ein Publizist, der mir dabei immer wieder "helfen" wird, heisst Götz Eisenberg, der mit seiner ausgezeichneten Schrift "Unterm Strich zähl ich - Der Narzissmus als sozialpsychologische Signatur des konsumistischen Zeitalters" - bereits die später zu besprechenden Themenbereiche der Psychopthie und des Konsums anklingen lässt:
"Entgegen der landläufigen Annahme, „Narzissmus“ sei etwas Negatives, gilt es zunächst einmal festzustellen: Narzissmus bedeutet Selbstwertgefühl und die Mechanismen seiner Regulation, weiter nichts.
Wem in der sensiblen Phase der frühen Kindheit von seinen Bezugspersonen nicht genügend Anerkennung und Einfühlungsvermögen entgegengebracht worden ist, wird hingegen zeitlebens von Selbstzweifeln und Gefühlen der Minderwertigkeit heimgesucht und geplagt werden. Sein Selbst und Selbstgefühl gehen auf tönernen Füssen und bedürfen der äusseren Stützung durch Selbstwertprothesen und ständiger narzisstischer Zufuhr. Das Selbst bedarf differenzierter psychischer Nahrung, um sich entwickeln und ausreifen zu können. Wie andere seelische Instanzen ist es in den frühen, sensiblen Jahren einer Fülle von Schädigungsmöglichkeiten ausgesetzt, die beinahe irreparable Traumata hinterlassen können".
(...)
Das, was am „Narzissten“ ins Auge fällt und die verbreiteten negativen Konnotationen des Begriffs hervorruft, sind die oftmals grotesk wirkenden Kompensationsversuche eines schwach ausgebildeten Selbstwertgefühls. Das heisst: Hätte unser eingangs geschilderter junger Mann ein intaktes und in sich ruhendes Gefühl seines Wertes, müsste er sich nicht so geckenhaft aufführen und seine Schwäche mit einer zur Schau gestellten Grandiosität überbauen. Wenn jemand sich weigert, ihm seine Grandiosität zu spiegeln und ihn zu bewundern, wird er die Rückseite seines Narzissmus kennenlernen: eine immense narzisstische Wut, die sich dicht unter der schönen und glatten Oberfläche aufhält und bei der kleinsten Kränkung durchbrechen kann. Unter einer dünnen Schicht aus selbstbewusstem Gehabe liegen Gefühle der Ohnmacht, Angst und des Selbstzweifels. Eine abschätzige Bemerkung, ein falscher Blick genügt und man wird Opfer einer aggressiven Attacke, die der Abwehr dieser unaushaltbaren Gefühle dient.
Der menschliche Narzissmus wird zu einer hochbrisanten, lebensgefährlichen Macht, wenn wir ihn ignorieren. Die normalen Mechanismen der Kränkungsverarbeitung versagen immer häufiger und kleinste Zurückweisungen und Demütigungen, die ein leidlich gesunder, selbstbewusster Mensch verkraftet und wegsteckt, können zu Auslösern eines narzisstischen Super-Gaus werden, dem nur noch mit extremer Gewalt begegnet werden kann. Es ist das Gefühl der Vernichtung, der narzisstischen Katastrophe, die durch Aggression abgewehrt werden sollen. Die Rückseite der Grandiosität sind Verzweiflung und Depression. Im Vorfeld vieler Tötungsdelikte stösst man auf hin und her gehende, eskalierende Kränkungen, bis schliesslich ein Satz fällt, der die narzisstische Achillesferse des Täters trifft und einen jetzt nur noch schwer zu stoppenden Mechanismus narzisstischer Wut entsperrt. Täter und Opfer spielen vor der Tat, wie Gerhard Mauz gesagt hat, „Federball mit Dynamit“.
Es kommt auch vor, dass jemand, ohne es zu beabsichtigen und ohne es zu ahnen, eine uralte Kränkung aktiviert und dadurch zum Double eines anderen wird, der einmal eine Schlüsselfigur einer als traumatisch erlebten Szene gewesen ist. Gerade bei scheinbar motivlosen Taten stösst man bei näherem Hinsehen auf solche Energieverschiebungen und affektiven Fehlschlüsse, die zu Erregungen am falschen Ort und gegen versetzte Objekte führen. Wie ein Verstärker schliessen sich uralte Kränkungserfahrungen und Traumatisierungen an aktuelle Unlust- und Kränkungserfahrungen an. Das Opfer steht mitunter symbolisch für die Summe der erlittenen Kränkungen und lebensgeschichtlich akkumulierten Enttäuschungen.
Götz Eisenberg in: www.magazin-auswege.de – 15.2.2012 „Unterm Strich zähl‘ ich“
Narzisstische Persönlichkeitsstörung nach Kohut: (nach: Kohut, H. (1973): Narzissmus)
Beschreibende Merkmale narzisstischer Persönlichkeiten - Beschwerden und pathologische Merkmale:
(1) im sexuellen Bereich: perverse Phantasien, Mangel an sexuellem Interesse;
(2) im sozialen Bereich: Arbeitshemmungen, Unfähigkeit, sinnvolle Beziehungen aufzunehmen und zu erhalten, delinquentes Verhalten;
(3) in den manifesten Charaktermerkmalen: Mangel an Humor, Mangel an Einfühlung für die
Bedürfnisse und Gefühle anderer, Mangel an Gefühl für die rechten Proportionen, Neigung zu unkontrollierten Wutausbrüchen, Pseudologie
(4) im psychosomatischen Bereich: hypochondrische Einengung auf körperliche und seelische Gesundheit, vegetative Störungen in verschiedenen Organsystemen.
Heinz Kohut weist darauf hin, dass oftmals die narzisstischen PatientInnen ihre Beschwerden und Beeinträchtigungen nur ungenau schildern können – und dies nicht nur wegen der Angst, eine Schwäche einzugestehen, sondern – wie Kohut ergänzt – vor allem wegen den krankhaft veränderten Strukturen des Selbst, wodurch die selbstbeobachtende Funktion des Ich eingeschränkt werde. Zu Beginn würden deshalb meist nur sekundäre Beschwerden genannt, wie z.B. Arbeitshemmungen oder die Neigung zu perversen Handlungen. Im Laufe der Analyse beschreibe der/die PatientIn dann subtil wahrgenommene und dennoch intensive Gefühle der Leere und Depression.
"Der Patient versucht dem Analytiker mitzuteilen, dass er mindestens zeitweise, besonders wenn die narzisstische Uebertragung unterbrochen wurde, den Eindruck habe, er sei nicht in vollem Sinne wirklich, oder zumindest seien seine Gefühle abgestumpft; und er mag hinzufügen, dass er seine Arbeit ohne Freude vollbringt, dass er Routinetätigkeiten sucht, die ihn über den Tag hinwegbringen, da es ihm anscheinend an Initiative mangelt. Diese und ähnliche Beschwerden sind Hinweise auf eine Entleerung des Ich, das sich gegen die unwirklichen Ansprüche eines archaischen Grössenselbst oder gegen das intensive Bedürfnis nach einem mächtigen äusseren Spender von Selbstachtung oder anderer Formen narzisstischer Zufuhr abschirmen muss.“ (Kohut, H. (1973). Narzissmus)
Klassifizierung der Uebertragungen, wie sie bei den narzisstischen Störungen auftreten und während der Analyse freigesetzt werden:
Obwohl oben genannte Beschwerden und Syndrome in der Tat häufig bei narzisstischen Persönlichkeiten auftreten, beruht das entscheidende diagnostische Merkmal nicht auf der Bewertung der angebotenen Symptomatik und auch nicht der Lebensgeschichte, sondern auf dem Wesen der spontan sich entwickelnden Uebertragung.“
„Das Gleichgewicht des primären Narzissmus [sic! Bemerkung M.F.] wird durch die unvermeidlichen Begrenzungen mütterlicher Fürsorge gestört, aber das Kind ersetzt die vorherige Vollkommenheit (a) durch den Aufbau eines grandiosen und exhibitionistischen Bildes des Selbst: das Grössen-Selbst; und (b) indem es die vorherige Vollkommenheit einem bewunderten, allmächtigen (Uebergangs-) Selbst-Objekt [vgl. Winnicott weiter unten, Einschub M.F.] zuweist: der idealisierten Eltern-Imago.“ (S.43)
Weitere Uebertragungsphänomene in der konkreten Narzissmustherapie nach Kohut finden sich im letzten Kapitel dieses Buches.
Kernberg, O.F. (engl.orig.1975, deutsch 1978). Pathologischer Narzissmus und Borderline-Störung, S.358ff.
„Narzisstische Persönlichkeiten fallen auf durch ein ungewöhnliches Mass an Selbstbezogenheit im Umgang mit anderen Menschen, durch ihr starkes Bedürfnis, von anderen geliebt und bewundert zu werden, und durch den eigenartigen (wenn auch nur scheinbaren) Widerspruch zwischen einem aufgeblähten Selbstkonzept und gleichzeitig einem masslosen Bedürfnis nach Bestätigung durch andere.
Ihr Gefühlsleben ist seicht; sie empfinden wenig Empathie für die Gefühle anderer und haben - mit Ausnahme von Selbstbestätigungen durch andere Menschen oder eigene Grössenphantasien - im Grunde sehr wenig Freude am Leben; sie werden rastlos und leiden unter Langeweile, sobald die äussere Fassade ihren Glanz verliert und momentan keine neuen Quellen der Selbstbestätigung mehr zur Verfügung stehen.“ (Otto F. Kernberg (1990 S.261)
„Man beobachtet auch starken Neid auf andere (...). Die mitmenschlichen Beziehungen solcher Patienten haben im allgemeinen einen eindeutig ausbeuterischen und zuweilen sogar parasitären Charakter; narzißtische Persönlichkeiten nehmen gewissermaßen für sich das Recht in Anspruch, über andere Menschen ohne Schuldgefühle zu verfügen, sie zu beherrschen und auszunutzen; hinter einer oft recht charmanten und gewinnenden Fassade spürt man etwas Kaltes, Unerbittliches.“ (Kernberg (1990 261f).
Deskriptive, d.h. beschreibende, Merkmale bzw. Symptome narzisstischer Persönlichkeiten nach Kernberg: (aus: O.F. Kernberg: Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus, 1975, dt. 1978, Kap.8)
Otto Kernberg: die pathologische Selbststruktur
Obwohl Kernberg zwischen ‚normalem’ Narzissmus als libidinöse Besetzung des Objekts und pathologischem Narzissmus differenziert, wird Narzissmus bei Kernberg sogleich mit ‚pathologisch’ assoziiert.
Gemäss seiner Diagnose habe beim pathologischen Narzissmus eine Ersetzung der normalen Repräsentanzenwelt durch eine pathologische Konstellation verinnerlichter, pathologischer Objektbeziehungen stattgefunden. Im Gegensatz zu Kohut nimmt er keine Kontinuität zwischen normalem und pathologischen Narzissmus an. In seinem integrativen Modell sieht Kernberg die narzisstische Störung nicht als Entwicklungshemmung auf einer isolierten narzisstischen Entwicklungslinie, sondern als pathologische Verdichtung des Selbst, in das neben dem infantilen grandiosen Selbst auch reale Selbstanteile und idealisierte Objektrepräsentanzen eingehen.
Dem pathologischen Narzissmus geht eine Geschichte gestörter Objektbeziehungen voraus, die vor allem durch Aggressionen aus den frühen Eltern-Beziehungen und die Furcht vor Reaktionen bestimmt sind. Die Bedrohung muss mit Hilfe der Idealisierung der frühen Objekte abgewehrt werden.
Pathologischer Narzissmus:
- PatientInnen, deren Hauptproblem in einer Störung ihres Selbstwertgefühls im Zusammenhang mit spezifischen Störungen in ihren Objektbeziehungen (Bez. zu nahen Mitmenschen) besteht
- in der Regel sozial gut angepasst und funktionstüchtig. Die Impulskontrolle besser ausgebildet als z.B. bei infantilen Persönlichkeiten
- Widerspruch zwischen einem aufgeblähten Selbstkonzept und gleichzeitig einem masslosen Bedürfnis nach Bestätigung.
- Gefühlsleben seicht, wenig Empathie für die Gefühle anderer und im Grunde wenig Freude am Leben; leiden unter Langeweile, sobald die äussere Fassade ihren Glanz verliert.
- starker (unbewusster) Neid auf andere
- Tendenz, andere Menschen zu idealisieren und zu entwerten, von denen keine narzisstischen Gratifikationen zu erwarten sind
- Beziehungen sind ausbeuterisch, parasitär: Anspruch, über andere Menschen ohne jegliche Schuldgefühle zu verfügen, sie zu beherrschen und auszunutzen.
- hinter charmanter Fassade etwas Kaltes, Unerbittliches
- völlig ausserstande, eine echte Abhängigkeit zu entwickeln
- Arroganz = Abwehr gegen paranoide Tendenzen, die mit der Projektion oraler Wut zusammenhängen (s.u.)
- Unvermögen, sich auf gute verinnerlichte Objekte zu verlassen
- mangelhafte Gefühlstiefe und mangelnde Differenzierung des Gefühlslebens: die Emotionen flackern rasch auf und flauen gleich wieder ab.
- Fehlen echter Gefühle von Traurigkeit, Sehnsucht, Bedauern. Auch bei depressiver Reaktion mehr Wut, Empörung, Rachebedürfnis.
- trotz teilweise beachtlicher Erfolge, Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit in ihrer Arbeit und ein Mangel an Tiefe
- Ueberraschend zeigt sich oft in der Behandlung eine tiefe Regressionsneigung
TEIL II:
2.2.1. Sekundärer Narzissmus: Konzepte zum "Falschen" oder Pseudo- Selbst (Winnicott, Fromm, Miller, Balint, Ferenczi, Kohut)
(...) Das falsche Selbst ist teuer und braucht viel Pflege: die Oberfläche will poliert und immer auf Hochglanz gebracht sein: dauernd neue Klamotten, Status Symbole aller Art (Autos, Schmuck, Geräte, ...). Da es eben ein falsches, also künstliches, konstruiertes "Selbst" ist, zählen nur materielle und leistungsbezogene Werte. Emotionen dienen "nur" dem wahren Selbt - und da kommt es jetzt drauf an, ob das wahre Selbst, welches wie oben beschrieben eher schüchtern und bescheiden ist, ob dieses "Wesen" in uns überhaupt gespürt werden kann oder ob zuerst die ganze protzige Fassade drum herum abgebaut und aufgeweicht werden muss. Genau dazu dienen alle die verschiedenen tiefenpschologischen und humanistichen Psychotherapieverfahren.
Besonders tragisch ist, dass im Modus des falschen Selbst wir alle nach immer mehr streben müssen, denn Stillstand ist Rückschritt ! Analog zum zwanghaften Wachstumsdiktat (vgl. Kapitel xx) in der Wirtschaft (deshalb: Zeitalter des Narzissmus, sprich: sekundärer Narzissmus, sprich: falsches Selbst) ist der arme Mensch im Falschen-Selbst-Zustand zu Einkommens- und Ausgabenvermehrung gezwungen. Deshalb ist selbst die dümmste Werbemassnahme noch immer wirksam, auch für hochintelligente Lebewesen...
Also nocheinmal: Wirtschaft und Politik bilden ein unschlagbares Team, wenn es darum geht, die Bürger und Wohnbevölkerung eines Landes zu "falschen Selbsten" zu machen, falls es nicht schon in allerfrühester Kindheit passiert passiert ist (vgl. Kap. XX: Alice Miller: Das Drama). (...)
Bärbel Schwertfeger 2002:
"Heute steht Narzissmus für Selbstwert- oder Identitätsstörungen im weitesten Sinne. Narzissten verleugnen die bedrohenden oder unlustvollen Aspekte der Realität und ersetzen sie durch die Vorstellung der eigenen Grösse, das sogenannte Grössen-Selbst (»Ich bin vollkommen«). Sie sind ständig auf der Suche nach Bewunderung und haben gleichzeitig ständig Angst vor Kränkung. Das Nebeneinander von Minderwertigkeitsgefühlen und deren Abwehr durch Grössenvorstellungen lassen diese Menschen oft als eitel, prahlerisch und rücksichtslos erscheinen. Zugleich sind sie aber äusserst empfindlich und werden schnell depressiv. Der narzisstische Konflikt besteht daher in der Unvereinbarkeit von Grandiosität und Minderwertigkeit als zwei extremen Polen des Erlebens." (Schwertfeger 2002 S.26)
"Das einheitliche Selbstbewusstsein mit festen Werten und Zielvorstellungen, das die Identität eines Menschen ausmacht, gibt es nicht mehr. Doch wenn klare Werte und Fixpunkte fehlen, bleibt als einziges Objekt der Zuwendung nur die eigene Person. Je weniger fassbar die Welt wird, umso eher bezieht man sich auf sich selbst. Die Definitionsleistung fällt, so der Münchner Soziologe Ulrich Beck, auf den Einzelnen zurück.
Die Orientierung wird schwieriger und zur Daueraufgabe, das Gesamtkunstwerk ICH zur Grossbaustelle.
Die Flucht in die narzisstische Grandiosität kann daher durchaus als Schutzmechanismus gegen den immensen Leistungsdruck und die unsichere Zukunft gesehen werden. Wer sich ständig überfordert fühlt, kann so Kraft sammeln. Narzissmus als Ueberlebensstrategie." (Schwertfeger 2002 S.25)
"Narzissten in Führungspositionen sind eine Zeitbombe. Sie haben keine Ahnung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie beachten keine gewachsenen Strukturen. Sie sind Spieler, nur auf ihre eigene Karriere bedacht. Sie vermeiden Feedback wie der Teufel das Weihwasser, um nicht mit eigenen Schwächen konfrontiert zu werden. Sie vergraulen gute Mitarbeiter, weil sie in sich selbst nicht stimmig sind und nicht das tun, was sie sagen. Sie lechzen nach Bewunderung und wenn man sie kritisiert und ihre Grossartigkeit in Frage stellt, dann schlagen sie mit allen Mitteln zurück. Um ihre »narzisstische Kränkung« zu bewältigen, treffen sie oftmals völlig irrationale Entscheidungen und schaden dabei manchmal sogar dem Unternehmen. »Die können ein Unternehmen in den Ruin treiben«, glaubt die Psychoanalytikerin Elisabeth Petershagen.
Doch sie tarnen sich gut: Narzissten sind oftmals auf den ersten Blick genau die High Potentials, die die Unternehmen suchen. Sie sind ehrgeizig, fachlich kompetent und vor allem von sich selbst überzeugt. Sie beeindrucken mit ihrem geschliffenen Auftritt und ihren vielversprechenden Visionen und leider setzen Unternehmen gerade in wirtschaftlich schlechten Zeiten gern auf junge Bluffer, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. (Schwertfeger 2002 S.31f.)
Donald W. Winnicott: Das wahre und das falsche Selbst - Entdeckungen und Erkenntnisse:
Ein Autor, der sich intensiv mit der Entstehung der narzisstischen Problematik auseinandergesetzt hat, ist der englische Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald W. Winnicott. Im Unterschied zu Freud, Klein, Kohut oder Kernberg hat Winnicott mit seinen Theorien keine psychoanalytische Schule gegründet.
Winnicott hat wohl die Entwicklung der Psychoanalyse dennoch mehr als jeder andere Theoretiker beeinflusst (ohne dass ihn dies gleich zum Dissidenten wie z.B. Jung, Reich oder Adler machen würde).
Er ist schwierig einzuordnen, weil er seiner Zeit weit voraus war und erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts genügend gewürdigt wurde. Man kann gut sagen, dass er (ohne es zu wissen oder zu wollen) der "wahre" Begründer des weiter unten v.a. mit Martin Altmeyer in Verbinung gebrachten "interpersonal turn", der relationalen Wende in der Psychoanalyse, ist. Die späte Würdigung liegt auch an der Säuglingsforschung (Daniel Stern, Martin Dornes und andere), welche viele empirische Grundlagen und Belege für Winnicotts Beobachtungen, v.a. der Mutter-Kind-Interaktion, fand.
"Nach Winnicott (1971) kann man den therapeutischen Prozess auch als Aequivalent zum Reifungsprozess beim Säugling und Kind betrachten (S. 248). Im Rahmen einer gelungenen Psychoanalyse oder Psychotherapie kann man im besten Fall das graduell vervollständigen, was in der ursprünglichen Entwicklung unvollendet geblieben ist.
Demgemäss besteht eine grosse Aehnlichkeit zwischen der Aufgabe von Therapeuten und der Aufgabe von Eltern (Winnicott 1971 S.190).
Noch eine weitere Parallele zwischen dem therapeutischen Prozess und der Kindheitsentwicklung zieht Winnicott, indem er behauptet, dass man nur im schöpferischen Prozess sich selbst finden kann. Dies bedeutet für die Therapie, dass sowohl der Analytiker als auch der Patient das „Spielen“ lernen. Dabei geht er „von dem Grundsatz aus, dass sich Psychotherapie in der Überschneidung zweier Spielbereiche vollzieht, dem des Patienten und dem des Therapeuten“ (Winnicott 1971 S.65). Für ihn bedeutet Psychotherapie „nicht, kluge und geschickte Deutungen zu geben; im grossen und ganzen stellt sie einen langfristigen Prozess dar, in dem dem Patienten zurückgegeben wird, was er selbst einbringt. Psychotherapie hat im weitesten Sinne die Funktion des Gesichts, das widerspiegelt, was sichtbar ist. Ich betrachte meine Arbeit gern als einen solchen Vorgang und glaube, dass der Patient, wenn mir diese Arbeit gelingt, sein eigenes Selbst finden, leben und sich als real erleben kann.“ (Winnicott 1971 S.134)
Der Uebergangsraum bei Winnicott und anderen
Unter “Uebergangsraum” versteht Winnicott den “Zwischenbereich des Erlebens, zu dem sowohl die innere Realität als auch das äussere Leben beitragen – ich untersuche daher das Wesen der Illusion, jenes Raumes, der dem Kleinkind zugebilligt wird und dem im Leben des Erwachsenen Kunst und Relition zugehhören.” Winnocott schreibt: “Ich hoffe, ich habe klar gemacht, dass ich nicht präzise vom Teddybären des kleinen Kindes spreche. Es geht mir um den ersten Besitz und um den Zwischenbereich zwischen dem subjektivem und dem, was objektiv wahrgenommen wird.”
"Die Sterne des Kindes sind - im Sinne Heinz Kohuts [in der indirekten Nachfolge zu Winnicott, Anmerkung M.F.] - die Augen der Mutter - und der Glanz des Glücks in ihnen, der auf das Kind zurückfällt und von ihm als Glücksversprechen und Gewissheit des eigenen Werts verinnerlicht wird. Die Mutter und die Welt sind anfangs eins, die Mutter gibt dem Kind im Rahmen dessen, was Margaret Mahler als die „psychische Geburt des Kindes“ bezeichnet hat, also in einem Akt fortgesetzter Schöpfung, seine Realität: Das Kind existiert, weil und insofern die Mutter es sieht. Der Augenkontakt der Mutter zu ihrem Baby stellt die intersubjektive Urform bereit, eine Art Matrix für alle späteren Beziehungen und Kommunikationen.
Der Säugling erfährt sich selber über das Gesicht der Mutter, das ihn anschaut und das sein erster Spiegel ist. Die Mutter leiht ihm ihre Augen. Wenn das Kind seinen Blick um sich herum schweifen lässt, spiegeln ihm die Dinge den mütterlichen Blick wider. Eine Mutter, die ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt und ständig „anderswo ist“, beraubt das Kind seines Realitätsbezugs und damit seiner Wahrheit". (Götz Eisenberg in: www.magazin-auswege.de – 15.2.2012 „Unterm Strich zähl‘ ich“)
Wahres und falsches Selbst - Entstehung und Geschichte
Michael B. Buchholz beschreibt im "Psycho Newsletter Nr. 70", 2008, sehr schön die philosophisch-religiösen Hintergründe von Winnicotts Selbst-Konzeption:
Eine weitere Stufe in der Entfaltung psychoanalytischer Theorienbildung wurde von Freuds „Einführung des Narzißmus“ (1914) betreten. Daraus entwickelte Heinz Kohut eine Psychologie des Selbst. Es geht um Bilder des Selbst, Bilder, die wir von uns selbst haben, Bilder von Grandiosität oder deren Gegenteil, von Kleinheit und damit verbundenem Insuffizienzgefühl. Das Größenselbst wird optimalerweise durch Akzeptanz der Realität auf ein normales Maß an Selbstachtung und Selbstliebe zurückgeführt.
Heute würden wir vielleicht sagen, dass es eine Instanz der Selbstgefühlsregulierung ist.
Freilich blieb der Begriff eines „wahren Selbst“ eigentümlich unverbunden neben der Schule der Selbstpsychologen (Kohut) stehen. Ihm opponiert ein „falsches Selbst“. Diese Begriffe hatte D.W. Winnicott eingeführt.
Obwohl Winnicott bis heute zu den am häufigsten zitierten psychoanalytischen Autoren gehört, wurde sein Begriff eines wahren Selbst kaum rezipiert, gelegentlich von selbstpsychologischer Seite kritisiert. Für philosophische Ueberlegungen ist jedoch Winnicotts Begriff eines wahren Selbst zentral.
Winnicott war auch Kinderanalytiker, so beginnt nach ihm das wahre Selbst schlicht als das Lebendigsein. Ein falsches Selbst läßt u.U. durch übermäßigen Gehorsam und allzu ausschließliche Anpassung das wahre Selbst nicht aufkommen. Das kann zu schweren Krankheitszuständen bis zum Suizid führen. So hat das falsche Selbst eine klare klinische Relevanz (Bollas: „an extremely valuable concept“). Der damit gekennzeichnete Tatbestand kann aber auch durch den Abwehrmechanismus der „Identifizierung mit dem Angreifer“ klassifiziert werden.
Das wahre Selbst, wie Winnicott es schließlich für den Erwachsenen beschreibt, läßt hingegen selbst Winnicotts Anhänger zweifeln, ob es dieses gibt.
Einige Passagen aus seinem Werk „Reifungsprozesse und fördernde Umwelt“ (1965) sollen hier erinnert werden, um sie inhaltlich in den später zu zitierenden Texten aus dem 13. Jahrhundert wiederzuerkennen. Eine erste Bestimmung des wahren Selbst lautet bei Winnicott so:
„Bei Psychoanalytikern mögen die Vorstellung von einem "stillen, schweigenden" Zentrum der Persönlichkeit und die Vorstellung, dass das primordiale Erlebnis in der Einsamkeit stattfindet, häufig erwähnt werden, aber Analytiker kümmern sich gewöhnlich nicht um diesen Aspekt des Lebens“ (249).
Und nun kommt, was beinah wie eine Art Glaubensbekenntnis eingeleitet wird, ein Eindruck, der durch das Wort „heilig“ verstärkt wird:
„Ich glaube, dass es beim Gesunden einen Kern der Persönlichkeit gibt, der dem wahren Selbst der gespaltenen Persönlichkeit entspricht; ich glaube, dass dieser Kern niemals mit der Welt wahrgenommener Objekte kommuniziert, und dass der Einzelmensch weiß, dass dieser Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt werden darf. Dies ist mein Hauptpunkt, die gedankliche Anschauung, die das Zentrum einer intellektuellen Welt und meiner Abhandlung ist. Wenn auch gesunde Menschen kommunizieren und es genießen, so ist doch die andere Tatsache ebenso wahr, dass jedes Individuum ein Isolierter ist, in ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbekannt, tatsächlich ungefunden (...). Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und höchst bewahrenswert ist“ (245).
Winnicott betont immer wieder:
„Man kann der Vorstellung Raum geben, dass bedeutsame Kontaktaufnahme und bedeutsames Kommunizieren schweigend vor sich gehen“ (241).
Winnicott zitiert Erik Erikson: „Friede kommt aus dem inneren Raum“ (250) und resümiert schließlich:
„Ich habe versucht, klar zu machen, dass wir diesen Aspekt der Gesundheit erkennen müssen, das nicht kommunizierende zentrale Selbst, das auf immer gegen das Realitätsprinzip immun ist und auf immer schweigt. Hier ist die Kommunikation nicht nonverbal; sie ist, wie die Sphärenmusik, absolut persönlich. Sie gehört zum Lebendigsein.
Und beim Gesunden geht hieraus die Kommunikation ganz natürlich hervor“ (252).
Hier sind Saiten angeschlagen, die in der Psychoanalyse fremd anmuten. Sie scheinen aus einer anderen Denkwelt zu stammen als aus jenem so vertrauten Naturalismus, den wir der Psychoanalyse sonst meist als selbstverständlich zuweisen. Hat Winnicott diese Sätze nun aus sich selbst geschöpft? Zu einer Herkunft aus anderen philosophischen Traditionen hat er sich nicht geäußert.
Wir brauchen nicht lange zu suchen, um eine solche Tradition zu finden. Zunächst findet sich der Begriff eines wahren Selbst bei Plotin und im Neuplatonismus, wie es der Philosoph Werner Beierwaltes besonders in seinem Buch „Das wahre Selbst“ (Klostermann 2001) dargestellt hat.
In dieser Tradition ermöglicht die „Vergewisserung des eigenen ‚wahren Selbst‘ das Bewusstsein absoluter Transzendenz“ (12).
Damit sind Winnicotts Sätze auf den philosophischen Punkt gebracht. In Winnicotts Aussage, das wahre Selbst sei „for ever silent“, könnten wir mit einigem guten Willen einen Augenblick der Erfahrung des Nicht-Sagbaren (109) erblicken. Als „vernunftbegründetes Schweigen“ (111) ist das nicht irrational. Es ist im Gegenteil Konsequenz und tragende Voraussetzung des vernunftgeleiteten Denkens. In diesem Schweigen eröffnet sich die Möglichkeit des „Denkens des Einen“ (11), dem die Arbeiten Beierwaltes‘ gewidmet sind. Beierwaltes betont, das sei „kein isolierter cerebraler Akt“ (11), sondern, wie er vielfach erklärt, philosophische „Lebensform“.
Dieses Eine ist nach Plotin einfach und ohne innere Differenz, dennoch ist es der Grund, aus dem Vielheit sich entfaltet und umgekehrt, dem alle Vielheit letztlich wieder zustrebt. Das Eine, sofern es dann alle Differenz in sich enthält, ist „das zweite Eine“ Plotins. Es ist die alles, alle Vielheit, durch Eros oder Philia (Liebe) „einend zusammenhaltende Kraft“ (71), der "Nus", der Wesens-Kern also. Leicht erkennt man darin Freuds Lehre über die einigende Kraft der Lebenstriebe und die entzweiende Kraft des Todestriebs und ahnt, warum Freud sich (GW V, S. 20) auf den Eros „des göttlichen Plato“ beruft.
Von diesem Eros heißt es bei Beierwaltes (S.63):
„Dieser innere, das Sein des Denkenden und Handelnden in eine andere Dimension von Einheit erhebende Aufstieg ist durch Eros bewegt, der vom Schönen in seinen unterschiedlichen Intensitätsgraden zu seiner Bewegung nach innen und oben sich faszinieren läßt und dessen Bewegungs-Grund und Ziel letztlich in dem jede Bewegung ‚beruhigenden‘ Einen oder Guten liegt.“
Auch Plotin verweist (wie erneut Freud) auf Empedokles, bei dem neben der einenden Liebe und „Harmonie“ (72) die „Zwietracht“ (71) steht. Plotin lehnt für den Nus den Haß der Zwietracht ab, dieser hat nicht den gleichen ontologischen Rang, und betont den „sphärischen Zustand der Harmonie“ (73), worin erneut Winnicotts Wort über das wahre Selbst anklingt, es sei „wie die Sphärenmusik“. Dieser Nus, das zweite Eine, sei, so Plotin, wie das erste Eine, anfänglich unbewusst und werde durch einen Einungsprozeß mit ihm als eigentliches Selbst bewusst. Das sei letztlich nicht durch diskursives Denken zu erreichen, sondern durch „Bewegung auf immer innigere Einheit, Einfachheit und Identität“ (99)[vgl. Kapitel 8: Resonanz], den „delphischen Imperativ“ (84) hin.
Das „Erkenne dich selbst“ war die Inschrift über dem Tempel von Delphi, zu dem Ödipus pilgerte, als er sein Schicksal erfahren wollte und das er erst erfuhr in der späten Blendung; diese Blendung kann man als reale Kastration auffassen und weiterreichend noch als Symbolik der Wendung hin zu einem inneren Sehen der seelischen Mächte, deren Wahrnehmung Freud aus der griechischen Antike der Psychoanalyse als philosophisches Erbe aufgetragen hatte. Es richtet sich auf das „A-pollon“(86), das Nicht-Vielheitliche hin. Der mythische Gott Apollo wird damit auf die philosophische Ebene gehoben.
In Plotins Philosophie entstand eine „Gestalt des Denkens die Bestand behielt“ (9) und sich bis zum Deutschen Idealismus fortsetzte. Beierwaltes widmet das letzte Kapitel seines Buchs „Plotins Gedanken in Schelling“ dem Neuplatonismus in der Form modernen Bewusstseins (205). Nicht zuletzt bezieht Beierwaltes sich dafür auf moderne Künstler und ihre Selbstaussagen, wie etwa Malewitsch, Klee, Kandinsky, Mondrian, Barnett Newman [vgl. 'Bildtheorie' im Kapitel 2].
Besonderes theoretisches Augenmerk richtet, wie wir oben gelesen haben, Winnicott (1974) auf die Unterscheidung zwischen dem „wahren“ und dem „falschen“ Selbst:
Das wahre Selbst entwickelt sich seiner Ansicht nach in einer hinreichend empathischen und fürsorglichen mütterlichen Umwelt.
Im Falle eines Versagens dieser empathischen Versorgung entsteht ein falsches Selbst, das das wahre Selbst vor den destruktiven mütterlichen Einflüssen schützen soll. Die Definition des Narzissmus als einer Entfremdung von den authentischen Tiefen des Selbst kann als eine Entfremdung von diesem „wahren Selbst“ konzeptualisiert werden, wie sie von Winnicott beschrieben wurde. Seine Arbeiten wurden zunächst von Melanie Klein beeinflusst, er gelangte aber schliesslich zu der Auffassung, dass die Versorgungsfunktionen, die die Mutter in Bezug auf die Bedürfnisse des Babys erfüllt, die wichtigsten Determinanten psychischer Gesundheit darstellen. Das „wahre“ Selbst, das sich auf dieser Grundlage entwickelt, ist das Resultat der Beziehung zu einer „hinreichend guten Mutter“, die nicht nur die Triebbedürfnisse ihres Säuglings wahrnimmt, sondern auch seine Kreativität anerkennt, seine Grenzen respektiert und ein Gleichgewicht zwischen seinen Illusions- und Desillusionserfahrungen herzustellen weiss.
Das wahre Selbst ist ein Potential, dessen Ursprünge in den frühesten Körperempfindungen liegen, wie sie im Kontext der Beziehung mit der Mutter als Umwelt wahrgenommen werden: „Das Wahre Selbst kommt von der Lebendigkeit des Zellgewebes und der Tätigkeit der Körperfunktionen, einschliesslich Herz- und Atemtätigkeit“ (1974, S. 193).
Auch kann nur das wahre Selbst kreativ sein und sich real fühlen, und während „ein wahres Selbst sich real fühlt, führt die Existenz eines falschen Selbst zu einem Gefühl des Unwirklichen oder einem Gefühl der Nichtigkeit“ (1974, S. 193).
In der Therapie bedeutet dies, dass eine Entwicklungsbefreiung durch Regression zu den eingefrorenen Lebensprozessen und ihr „Auftauen“ (1976, S. 187) im Sinne einer Aufhebung der Dissoziation oder Auflösung der falschen Selbst-Anteile gelingen muss.
Heinz Kohut (1976, 1979) entfernte sich theoretisch stark von der Triebpsychologie Freuds und lehnte die grosse Bedeutung der Triebe für die psychische Entwicklung ab. Im Gegensatz zu Kohut ist Winnicott nicht der Ansicht, dass die Destruktivität einzig und allein als Produkt eines Zerfalls der Selbstkohärenz infolge einer Unterbrechung der Beziehung zwischen dem Selbst und seinen Selbstobjekten anzusehen ist. Er hält Destruktivität nicht für ausschliesslich reaktiv und postuliert [wie Freud und Kernberg, M.F.] eine primäre Destruktivität, der er grosse Bedeutung für die Entwicklung beimisst.
Literatur und Links zu Donald W. Winnicott:
Winnicott im Blog von Dunja Voos
Falsches Selbst - Donald W. Winnicott
Winnicott im Blog von Dunja Voos
Winnicott im Blog von Dunja Voos
Winnicott Symposium
Winnicott Institut
Die Suche nach dem wahren Selbst oder "Das Drama des begabten Kindes" (Alice Miller, James Masterson)
In der Nachfolge Winnicotts stehend, zumindest in diesem Punkt, vertritt auch Alice Miller (1981) eine Position des "Falschen Selbstes", wenn sie schreibt, dass die narzisstische Störung die „Isolierhaft des wahren Selbst im Gefängnis des falschen“ ist (S. 11).
Ebenso wie Winnicott geht sie davon aus, dass die Anpassung an elterliche Bedürfnisse zur Entwicklung des falschen Selbst oder der „Als-ob-Persönlichkeit“ führt. Winnicott betont, dass man, wenn der Säugling beginnt zu existieren, anstatt bloss zu reagieren, den Ursprung des wahren Selbst beobachten könne. Nur das wahre Selbst kann kreativ sein, und nur das wahre Selbst kann sich real fühlen“ (Winnicott 1974, S. 193).
In ähnlicher Weise wird dies von Alice Miller (1981) beschrieben:
„Es gehört zu den Wendepunkten der Analyse, wenn narzisstisch gestörte Patienten zu der emotionalen Einsicht kommen, dass all die Liebe, die sie sich mit so viel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren. [...] Hinter dieser Leistung erwacht in der Analyse das kleine einsame Kind und fragt sich: „Wie wäre es, wenn ich böse, hässlich, zornig, eifersüchtig, faul, schmutzig, stinkend vor euch gestanden wäre? Wo wäre eure Liebe dann gewesen? Und all das war ich doch auch!“ (S. 33)
Alice Miller (1981, orig. 1979) beschreibt in ihrem sehr populär gewordenen Buch Das Drama des begabten Kindes den Umstand, dass sich in der Berufsgruppe der Psychotherapeuten besonders viele Individuen mit einer narzisstischen Problematik befinden. Als Erklärung dieser Tatsache führt sie an, dass der Mangel an Liebe und Empathie, den sie erfahren haben, in der Weise zu einer Reaktionsbildung führen kann, dass man anderen Menschen gegenüber besonders empathisch ist.
Quellen:
Alice Millers Sohn in der "WELT", Herbst 2013 - Nicht alles Gold was glänzt...
- Tiedemann, Jens L. (2007). Die intersubjektive Natur der Scham. FU Berlin: Dissertation.
2.2.2. Wohlstandsverwahrlosung - Jeunesse dorée - Verwöhnung
Der österreichische Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier schreibt in "Performer, Styler, Egoisten - Ueber eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben":
"Der Neoliberalismus ist ein Gas (Deleuze). Einem Gas kann man kaum Grenzen setzen. Aus der Oekonomie kommend strömt es ungehindert in alle Diskurse und Lebenswelten ein. Oekonomische Imperative greifen auf alle Sphären der Gesellschaft über: auf Schule, Familie, Gesundheitswesen, Kultur, Bildung usw. Die Gesellschaft ist zum Anhängsel des Marktes geworden.
Wir treffen heute auf ein Phänomen, das in den Sozialwissenschaften als Werteverschiebung vom Postmaterialismus zum Neomaterialismus bezeichnet wird. Der Neomaterialismus steht für eine Grundhaltung, die postmaterielle Werte der 68er Generation wie Solidarität, Toleranz, idealistische Selbstverwirklichung und die Kritik an gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Unterdrückung durch ein neomaterialistisches Wertesetting ersetzt, in dem die beherrschenden Werte Sicherheit, Konsum, sozialer Aufstieg, Nutzenorientierung und Affirmation der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Berechtigt ist nur, was sich vor dem Richterstuhl der ökonomischen Imperative bewähren kann. Was sich nicht verwerten lässt, wird exkludiert, auch wenn es sich dabei um Menschen handelt.
In verschulten und autoritär reglementierten Universitäten, in denen Bildung durch die unkritische Akkumulation von Fachwissen und dessen Abprüfung im geistlosen Multiple-Choice-Verfahren verdrängt wird, werden die Jugendlichen systematisch für die Verwendung im Markt her- und zugerichtet. Kritische Reflexionen sind nicht mehr gefragt. Bildung als Erziehung zur Freiheit, als Persönlichkeitsbildung, als Förderung von kreativen und ästhetischen Fähigkeiten, Bildung der Gesinnung und des Charakters (Humboldt) alles längst verabschiedet und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Am Ende verlässt schön verpacktes Humankapital die bildungsökonomisch hocheffizienten Ausbildungsfabriken.
Doch die gut ausgebildeten Ungebildeten sind ängstliche Kreaturen. Mit begrenztem Horizont und engem Herz geht diese neue Elite durch die Welt, die Angst im Nacken, von anderen, ebenso coolen Charakteren wie sie selbst aus dem Feld geschlagen zu werden.
Quelle: Heinzlmaier, Bernhard (2013, 2te Aufl.). "Performer, Styler, Egoisten: Ueber eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben
Quelle: ......................
Generation Uniform: Wegen dem Internet sehen Junge heute alle gleich aus
Ein tolles Fotoprojekt macht deutlich, dass keiner mehr individuell ist, obwohl jede/r meint er/sie sei gerade besonders originell...
Ich erachte diese neue "freiwillige Uniformität" nicht nur alks negativ, weil hier zeigt sich auch wieder die Dialektik zwischen Anpassung und Abgrenzung welche im "Anerkennungsparadoxon" theoretisch erfasst ist im Widerspruch zwischen Anders-sein-wollen und gleichzeitig Dazu-gehören-wollen. Mehr dazu findet sich im Demokratie-Kapitel wo Benjamins und Honneths Anerkennungstheorien ausführlich dargestellt werden.
Hier soll es erst mal um die kommerzielle Verwertbarkeit dieser unbewussten Identitätssuche bei Heranwachsenden gehen:
- Man merkt es, wenn man in einer Bar ist und rund um einen herum alles die gleichen Hipster-Typen sitzen – mit engen Jeans, Hemd und Nerd-Brille.
- Oder wenn man am Samstagabend die jungen Frauen im Ausgang beobachtet: Sie sehen alle irgendwie wie Doppelgänger aus.
- Diesen Eindruck haben auch die holländischen Fotografen Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek. Seit 1994 dokumentieren sie den Style der Jungen auf der ganzen Welt.
- Und bald merkten sie, dass die Leute immer ähnlicher werden – und zwar egal, zu welcher Szene sie sich zählten.
- Die meisten Jugendlichen seien sich inzwischen sogar erschreckend ähnlich, so die Fotografen. «In Europa können Sie nach Kopenhagen oder Rom oder Berlin oder Madrid und junge Menschen sehen alle gleich aus. Es gibt kaum echte Subkultur.»
Quelle:
Generation Uniform: Wegen dem Internet sehen Junge heute alle gleich. In: Storyfilter vom 24. März 2015
http://www.storyfilter.com/generation-uniform-wegen-dem-internet-sehen-junge-heute-alle-gleich-aus/14277/
Zum Abschluss dieses Kapitels in relativ einfachen Worten Zusammenfassendes eines Publizisten der FAZ (?):
"Narzissten sind auf sich selbst bezogene Menschen, die andere vernachlässigen, egoistische und egozentrische Wesensmerkmale zeigen. Der Eigennutz geht ihnen vor Gemeinwohl und wenn sie lieben, dann nur, um selber geliebt zu werden. Narzissmus bedeutet aber wesentlich mehr als eine schlichte Selbstliebe, Narzissmus ist eine innere Bezogenheit auf das Selbst, um ein inneres Gleichgewicht, Wohlbehagen und Selbstsicherheit aufrechtzuerhalten".
Konzept des "Positiver versus negativer Narzissmus":
"Positiver Narzissmus" meint eine positive Einstellung zu sich selbst, die ein stabiles Selbstwertgefühl bewirkt und erhält. Ein "positiver" Narzissmus äussert sich in einer positiven Einstellung zu sich selbst, d.h. dass diese Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl haben, das auch erhalten bleibt, wenn es Rückschläge gibt. Positiv narzisstische Menschen ruhen in sich selbst, strahlen Wärme aus und sind anderen zugewandt. Postiver Narzissmus ist gesunder Bestandteil einer harmonischen Persönlichkeit.
"Negativer Narzissmus" basiert hingegen auf mangelndem Selbstwertgefühl, der auf einer Säugling-Elternteil-Beziehung beruht, die dem Kind nicht genügend Einfühlungsvermögen und Bestätigung entgegenbrachte. Ein ausgeprägter oder "negativer" Narzissmus bedeutet, dass diese Menschen vorwiegend sich selbst zugewandt sind, ein eher passives Liebesbedürfnis haben und "lieben, nur um geliebt zu werden". Eine Beziehung mit einem Narzissten ist geprägt vom Geben des Partners und Nehmen des Narzissten. Ein Gleichgewicht mit abwechselndem Geben und Nehmen gibt es nicht. Narzissten sind kaum oder gar nicht zu Empathie fähig (Mitgefühl mit anderen). Sie haben (fast) kein Selbstwertgefühl und sind auf ständige Bestätigung von aussen angewiesen. Bleibt diese aus, kommt es zu erheblichen Problemen. Oft neigen negativ narzisstische Menschen auch dazu, andere abzuwerten, um das eigene Ego aufzuwerten.
Die pathologische Form ist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung NPS, die gekennzeichnet ist durch ein grandioses Gefühl eigener Wichtigkeit, Fantasien über grenzenlosen Erfolg und Macht, Glaube an eigene Besonderheit, Verlangen nach übermässiger Bewunderung, übertriebenes Anspruchdenken, ausbeuterische Beziehungen, Empathiemangel, Neid, Arroganz.
Zentrales Symptom ist ein labiles Selbstwertgefühl, häufig verbunden mit dem Gefühl von Leere und die Unfähigkeit, Gefühle, insbesondere Freude, zu empfinden. Als weitere Phänomene finden sich häufig eine erhöhte Verletzbarkeit und Kränkbarkeit sowie eine egozentrische Einstellung. Die charakteristische Haltung der vom Narzissmus Betroffenen ist eine Unbezogenheit anderen Menschen gegenüber, die als Egoismus und Arroganz in Erscheinung tritt. Ehrgeiz und übersteigerte Ansprüche an sich selbst führen häufig zu einem Erschöpfungssyndrom. Hier werden jedoch häufig nicht die eigenen Anteile gesehen, sondern äussere Ursachen wie Arbeitsumstände, der Vorgesetzte etc. verantwortlich gemacht. Die depressiven Verstimmungen wirken flach bis oberflächlich, die dabei bestehende Antriebs- und Schwunglosigkeit wird von den Betroffenen jedoch als sehr belastend erlebt. Auf der körperlichen Ebene finden sich Schlafstörungen, Kopfschmerzen, funktionelle Herzbeschwerden und Sexualstörungen. In näheren Kontakten können die Betroffenen durchaus sehr lebendig, charmant und bestrickend wirken. Insbesondere, wenn sie etwas erreichen wollen, können sie sehr manipulativ auftreten. Häufig präsentieren sie sich jedoch auch emotional kühl, arrogant und verletzend.
Psychologen der Universität von San Diego (Kalifornien) untersuchen seit 1982 den Grad an Selbstverliebtheit und Egoismus der Studenten mit dem "Narcisstic Personality"-Test. Er enthält Fragen wie: "Wenn ich die Welt regieren könnte, wäre sie ein besserer Ort?" oder "Stehe ich gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit?"
Die nach 1982 geborenen Menschen sind demnach die narzisstischste Generation der jüngsten Geschichte und eher weit entfernt von einer sozialen Orientierung. Dieser amerikanische Befund deckt sich mit Jugendstudien aus dem deutschsprachigen Raum, wonach es immer mehr Jugendliche gibt, die wenige tragfähige soziale Beziehungen entwickeln, sich nicht sozial integrieren können und sich letztlich selbst in den Mittelpunkt stellen.
Nach Werner Leixnering (Linz) bildet sich dieser Trend zum Narzissmus auch in der Arbeitswelt ab, denn sie ist seiner Meinung nach nicht mehr so kommunikativ wie früher. Man sitzt einsam vor dem Computer, und immer mehr läuft über Ein-Mann- oder Ein-Frau-Betriebe. Diese Ich-AGs führen zu einem Auf-sich-selbst-geworfen-Sein und dazu, dass die Fähigkeiten, sich in andere hineinzufühlen, verkümmern. Zudem entwickelten sich immer technischer werdende Umweltangebote, wie elektronische Medien, Computerspiele, etc., bei denen man letztlich häufig alleine ist. Hinzu kommt, dass viele Eltern - wohl auf Grund eigener Erfahrungen - ihre Kinder im Hinblick auf den künftigen Berufserfolg heute schon sehr früh stimulieren, keine Rücksicht auf andere zu nehmen.
Die Ursachen des Narzissmus sind neben einer gewissen erblichen Disposition sind vor allem auch die familiären Verhältnisse. Narzissmus ensteht meist in der frühen Kindheit, wenn sich normalerweise das Selbstwertgefühl und die eigene Individualität entwickeln. Häufig werden später narzisstische Kinder wenig wahrgenommen ("ich war wie Luft") und in ihren Bedürfnissen nicht unterstützt oder überfordert ("du bist mein grosser Junge, das schaffst du auch alleine"). Oft werden sie aber auch überhütet, so dass sie keine Gelegenheit haben, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Oft ist die Mutter sehr dominant, der Vater faktisch nicht vorhanden. In Ehen, in denen es kriselt, werden die Söhne dann auch von den Müttern als "Partnerersatz" behandelt und erwarten von ihnen jene Aufmerksamkeit und Zuwendung, die sie vom Partner nicht bekommen. So kann es später durch diese Ueberforderung zu einer auffälligen Diskrepanz zwischen grosser Selbstsicherheit nach aussen und einer inneren Unsicherheit und Kränkbarkeit kommen. Das Kind wird mit doppelten Botschaften konfrontiert, hat Schwierigkeiten sich zu orientieren und lernt das Verhalten zu präsentieren, das ihm die meisten Vorteile einbringt. Dass er auch um seiner selbst willen geliebt wird, auch wenn er keine Leistung bringt, hat der später narzisstische Mensch nie gelernt. So entwickelt sich eine starke Egozentrität. Narzisstisch gestörte Menschen neigen zum geschickten Taktieren mit wenig Rücksicht auf andere und strahlen emotionale Kälte aus.
Nach Ansicht des Psychologen Beat Stübi (2011) war der Narzissmus noch nie so verbreitet wie heute, denn in aktuellen Untersuchungen zeigt jeder vierte Studierende erhöhte Narzissmus-Werte. Er verortet den Ursprung der narzisstischen Entwicklung nicht so sehr in einem Mangel an Aufmerksamkeit und Zuneigung in der Kindheit, sondern dass auch das Gegenteil von mangelnder Aufmerksamkeit zu Narzissmus führen kann: Verwöhnung. "Welche Eltern aus der Mittelschicht halten ihr Kind heute für nur «durchschnittlich»? Viele heutige Kinder lernen, dass sie etwas Besonderes sind und sich alles um sie dreht. Wenn sich das überdurchschnittliche «Talent» dann im Laufe des Lebens nicht bewahrheitet, bleibt nur die Flucht in die «Illusion», um den Selbstwert nicht zu gefährden.
Der deutsche Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff spricht von einer «ICH-Inflation». Sie habe sich so stark entwickelt, weil die sozialen Normen in den letzten 50 Jahren in den westlichen Kulturen stark abgenommen hätten. In diesem Vakuum konnte sich ein «offensiver» Narzissmus ideal verbreiten.
Als Orientierung dienen den Jugendlichen Vorbilder im Showbusiness – sie werden in eine narzisstische Gesellschaft hinein sozialisiert. Auf «Pro7» wird bereits in der sechsten Staffel «Germany’s next Topmodel» gesucht. Bisher haben sich 13374 junge Frauen in 21 deutschen Städten persönlich beworben. Der weiblichen Schönheit wurde immer schon gehuldigt – aber der Schönheitskult war wahrscheinlich noch nie so stark wie heute. In Untersuchungen zeigt sich immer wieder dasselbe Resultat: Wer als «schön» bewertet wird, gilt gleichzeitig auch als «intelligent», «sympathisch» und «erfolgreich» – dies nur aufgrund des äusseren Eindruckes auf einer Foto. Die Realität für die oben genannten jungen Frauen ist hart: Tatsache ist, dass die Mehrheit der Menschen nur durchschnittlich «schön», «intelligent» und «talentiert» ist".
Tertiärer Narzissmus
Mit diesem Kernphänomen meiner Ueberlegungen befasse ich mich im 7. Kapitel eingehender. Es handelt sich hierbei um eine von mir und anderen postulierte Zunahme narzisstischer Selbstwertprobleme aufgrund eines unreflektierten und unbewussten "immer mehr"-Gefühls, einem geheimnisvollen Zwang zum unersättlichen Konsum im deregulierten "Turbokapitalismus" des 21. Jahrhunderts.
Diesem Wachstumszwang kann sich kaum einer entziehen - er erfasst auch Menschen die weder regressiv im primären noch reaktiv im sekundären Narzissmus sich befinden - das ist der Grund weshalb m.E. eine dritte Kategorie der narzisstischen Störung, des narzisstischen Ungleichgewichts hergeleitet und beschrieben werden muss, weil es sich eben nicht um einen "pathologischen Entwicklungsnarzissmus" handelt, sondern um einen durch Werbung und Propaganda hervorgerufenen konditionierten (!) Narzissmus des Kollektivs (es sei an die Konzepte von Lasch, Sennett, Ehrenberg u.a. aus dem 3. Kapitel erinnert sowie an den politisch induzierten Narzissmus der NS-Zeit in Kap. 5), welcher sich tertiär im Erwachsenenalter bislang unauffälliger Individuen manifestieren kann und zu einem suchtartigen Konsum- und Leistungs-Rausch führen kann.
Den Mechanismen dieses nicht mehr individualpsychologisch sondern ökonomisch und medial erzeugten Narzissmus wollen wir im Kapitel 7: "Wachstums- und Konsumkritik" nachgehen. Hier sei einführend und auszugsweise ein ausgezeichneter Text des Kulturphilosophen Philipp Tingler zum Thema zitiert:
Was ist ästhetischer Kapitalismus? Und: Wie schön muss der Mensch als Ware sein?
Wir leben in der spätmodernen, postindustriellen Gesellschaft (...), Identität wird nicht zuletzt durch Dingwelten konstruiert; die Sachen, mit denen man sich umgibt. Eine Kultursoziologie der Dinge beschäftigt sich mit derartigen Identitätskonstruktionen sowie symbolischer Formen sozialer Inklusion und Exklusion über Konsum und Besitz. Klingt beeindruckend, ist aber im Grunde das, was uns Thorstein Veblen schon vor über 100 Jahren mit seinem Konzept des «Geltungskonsums» serviert hat: Dinge geben Auskunft über den gesellschaftlichen Status und das kulturelle Bezugssystem ihrer Besitzer.
Neu ist allerdings die überragende Wichtigkeit und Dominanz des Aesthetischen bei dieser symbolischen Funktion und Bewertung von Dingen. Bereits Sigmund Freud verdanken wir (in seiner Schrift «Das Unbehagen in der Kultur») den Hinweis auf den «Narzissmus der kleinen Differenzen», also Distinktion durch Details, – und ebendas scheint heute das Konsumdogma breitester Kreise zu sein: Distinktion, also Abhebung durch den richtigen Schmortopf, die richtige Reisetasche, den richtigen Nachttisch. «Richtig» heisst dabei eben auch – und vor allem – richtig aussehend; ästhetische, nicht praktische Details stehen im Zentrum der Distinktionsbemühungen beim Konsum von Dingen, Räumen und Ereignissen.
Neu ist ausserdem die Qualität der Dinge überhaupt. Die Welt der Sachen hat sich gewandelt und wandelt sich. Einerseits werden immer mehr immaterielle Phänomene käuflich und damit verdinglicht. Zum Beispiel das reine Gewissen, früher Ergebnis einer moralischen Handlung, heute zum Beispiel die mutmassliche Folge des sogenannten nachhaltigen Konsums. Andererseits werden die Dinge zunehmend anthropomorph: der spätmoderne Mensch ist umgeben von technischen Artefakten, die bisweilen aufgeladen sind mit immenser Identifikation und Personalisierung und Potenz. Dinge können, was früher nur Menschen konnten. Und der Mensch? Verdinglicht sich selbst. Etwa als Paket auf Dating-Apps oder in sozialen Netzwerken.
Der Soziologe Heinz Bude weist in seinem Buch «Gesellschaft der Angst» darauf hin, dass die spätmodernen Datingmärkte, also die kommerzialisierte Beziehungsanbahnung vor allem über Websites und Apps, ihren Benutzern bzw. Kunden eine Illusion andrehten: die Illusion der Wahlfreiheit. Wie als Konsument auf dem Markt. Und wie auf dem Markt, so ist die Präsentation wichtig; wie das Ding, so soll der Mensch ästhetisch ansprechend sein: Männliche Amerikaner, die in ihrem Profilbild nicht direkt in die Kamera schauen, haben beispielsweise eine höhere Erfolgsquote auf Tinder.
Und dann erfolgte gerade der vielkommentierte tränenreiche Rückzug der 19-jährigen Australierin Essena O’Neill von Instagram, die ihren 745’000 Followers beichtet, dass die Kleider auf ihren Selfies gesponsert waren, dass sie für Bilder mit flachem Bauch hungern und sich ihre Akne überschminken musste. «Sie beschrieb also in etwa das Jobprofil, das Heidi Klum ihren Kandidatinnen umreisst, wenn sie das nächste Topmodel werden wollen», stellte die «Süddeutsche Zeitung» dazu völlig zutreffend fest, und zitierte dann Ramón Reichert, Professor für digitale Medienkultur an der Universität Wien, mit folgenden Worten: «Das Problem bei Mädchen wie O’Neill ist, dass ihr Celebrity-Status vor allem auf dem Exhibitionismus ihrer körperlichen Selbstinszenierung beruht.» Naja. Für diese Einsicht brauchen wir keinen Professor. Aber auch das gehört zur Diskursästhetik.
Quelle: Philipp Tingler (2015). 'Was ist ästhetischer Kapitalismus? Und: Wie schön muss der Mensch als Ware sein?' Online: http://blog.tagesanzeiger.ch/blogmag/index.php/39737/was-ist-aesthetischer-kapitalismus/
Der oben bereits vorgestellte englische Kinderarzt Donald W. Winnicott (1995) schildert folgende Urszene:
"Der Blick der Mutter gibt dem Säugling eine erste Ahnung davon, wer er ist; er schaut sie an und spürt in ihrem Gesicht, wie sie ihn sieht. Das wäre der eigentliche Geburtsakt des Selbst, eine reflexive Bewegung nämlich vom Subjekt zum Objekt und wieder zurück, die wir als identitätsstiftende Spiegelung begreifen können.
Eine solche Bewegung – so vermute ich [hier: M.A.] - liegt auch dem Narzissmus zugrunde, der von dieser Urszene seinen Ausgang zu nehmen scheint. Er ist gerade nicht jene Selbstbespiegelung, die ohne Objekt auskommt. Die Anderen sind der Spiegel, in dem wir unser Selbstbild reflexiv erwerben und unser Selbstwertgefühl regulieren, ihnen gilt der unbewusste Blick in der Erwartung von Echo oder Spiegelwirkung. Wir betrachten dabei insgeheim den Anderen, wie er uns betrachtet und reagieren auf das, was wir sehen, vermuten oder phantasieren. Aber wir behaupten zugleich auch die Unabhängigkeit von der Welt und schützen uns vor der schmerzhaften Erfahrung von Abhängigkeit, der wir im Wunsch nach Anerkennung doch unbewusst Tribut zollen.
(...) in deutlicher Anspielung auf Descartes schreibt Winnicott: “Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich.” (Winnicott 1995). An einer anderen Stelle heisst es:
“Ich bekomme (wie ein im Spiegel gesehenes Gesicht) den Beweis zurück, den ich brauche, dass ich als Wesen erkannt worden bin” (Winnicott 1974).
Das klingt ein wenig religiös, aber es gilt für die therapeutische Beziehung, es gilt für den medialen Narzissmus, und es gilt für die conditio humana überhaupt: Videor ergo sum!
(aus: Altmeyer 2002. „Video(r) ergo sum (Ich werde gesehen, also bin ich)“ - Vortrag im Rahmen der 52. Lindauer Psychotherapiewochen 2002 (www.Lptw.de)
2.2.3. Weitere Narzissmus-Konzepte: Relationale Psychoanalyse
"Im Zuge der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse hat sich ein anderes, ein relationales Verständnis des Narzissmus im Rahmen einer Zwei-Personen-Psychologie entwickelt. Demzufolge hat die narzisstische Spiegelfunktion eine unverzichtbare Bedeutung nicht nur für die Identität des Einzelnen, sondern auch für das Gelingen einer Beziehung. Wir brauchen ein Gegenüber, das uns Antworten gibt, Rückmeldungen liefert, ein Echo unseres Selbst zurückwirft. Der Andere fungiert als eine Art unbewusster Spiegel, in dem wir uns erkennen, unser Selbstbild aber auch korrigieren und regulieren können. Im narzisstischen Modus betrachten wir insgeheim diesen Anderen, wie er uns betrachtet und reagieren auf das, was wir sehen, vermuten oder phantasieren. Insofern ist der Narzissmus in einem Zwischenbereich angesiedelt, der das Selbst mit dem Anderen auf eigentümliche Weise verbindet.
In der Fachzeitschrift PSYCHE Nr. 54 (2000) S.142–171 schreibt Martin Altmeyer:
"Der Narzissmus entsteht in einem »intermediären Raum« (Winnicott) und vermittelt zwischen Subjekt und Objekt. Die narzisstische Störung ist ein »Kampf um Anerkennung« (Hegel). Ein an Winnicott orientiertes Modell der intersubjektiven Genese des Selbst, von Bollas und Ogden weiterentwickelt, bildet die Grundlage dieses interdisziplinär orientierten Ansatzes, der Freuds Definition vom Narzissmus als Geliebtwerden, die Entwicklungstheorie der Säuglingsforschung (Stern), das Konzept der Perspektivenübernahme (Mead) und die sozialphilosophische Anerkennungstheorie (Honneth, Benjamin) miteinander verbindet. Erst unter dem Paradigma der Intersubjektivität, so lautet die These, lassen sich die notorischen Widersprüche des psychoanalytischen Narzissmus-Begriffs auflösen.
Es gibt den Narzissmus nicht ohne ein Objekt, so wie es den Säugling nicht gibt ohne die Mutter, könnte man mit einer Paraphrase von Winnicotts bekannter Bemerkung sagen. Ob in der gekränkten Abwendung von der Welt, ob in der Wut auf den Anderen, der die Selbstbestätigung verweigert, ob im Rausch des offen gefeierten Sieges oder in der insgeheim auf Beachtung spekulierenden Selbstinszenierung, ob in der omnipotenten Verfügung über oder in der symbiotischen Unterwerfung unter das Objekt, ob in der entgrenzenden Drogenerfahrung oder im kreativen Prozess der künstlerischen Produktion, ob im gesunden Narzissmus oder in der narzisstischen Störung - das Objekt ist im Spiel, wenn auch nicht immer sichtbar. Es ist geradezu die Abhängigkeit vom Anderen, die im Narzissmus verborgen wird und sich gleichzeitig auf eigentümliche Weise enthüllt. In den vielfältigen Ausdrucksformen dessen, was wir Narzissmus nennen, sind unbewusste Botschaften an die Welt enthalten. Uebersetzt lautet die suggestive Mitteilung etwa:
"Schau mich an, höre mir zu, beachte mich, bewundere mich!"
oder:
"Halte mich, liebe mich, erkenne mich an!"
– sie kann auch heissen:
"Weil/wenn Du das verweigerst, ziehe ich mich von Dir zurück oder greife Dich an!"
oder aber:
"Ich fühle mich grossartig und eins mit der Welt" – vielleicht auch: "mit einer Welt, die mich so behandelt (hat), will ich nichts zu tun haben!"
Im Uebertragungsgeschehen, und das nicht nur bei der Behandlung narzisstischer Störungen, sind wir Adressaten solcher Botschaften, wie wir bei der Analyse unserer Gefühle der Gegenübertragung erkennen.
Im Therapiekapitel am Ende dieses Textes komme ich auf Altmeyer zurück, auch weil er mit seiner Haltung und seinen theoretischen sehr nahe an meinen eigenen liegt.
Literatur zu Altmeyers Narzissmus-Konzeption:
Adorno, T.W & M. Horkheimer (1944): Dialektik der Aufklärung, Amsterdam.
Altmeyer, M. (2000): Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit. Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht) 2. Auflage 2004
Altmeyer, M. (2009): Dreiecksbeziehungen. Annäherungen im interdisziplinären Diskurs über das Subjekt. Psyche Z Psychoanal 63: 399-413.
Altmeyer, M. (2001): Big Brother und andere Inszenierungen von postmoderner Identität. Das neue Subjekt entsteht im Auge der Kamera, Psychotherapie und Sozialwissenschaft 2, Band 3
Balint, M. (1969): Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse, Stuttgart
Honneth, A. (1999): Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Psyche 53
Lacan, J. (1936, 1973): ‘Das Spiegelstadium als Bildner des Ich’, in: ders., Schriften I, Olten und Freiburg i. Br.
Laplanche (1996): Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse. Fischer Frankfurt
Lasch, Ch. (1980): Das Zeitalter des Narzissmus. München
Sennett, R. (1976, 1986): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Fischer Frankfurt.
Singer, W. (1998): Die Entwicklung und Struktur von Repräsentationen im Gehirn. Vortrag im Frankfurter Psychoanalytischen Institut am 8.5.1998
Winnicott, D.W. (1965, 1974): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München.
Winnicott, D.W. (1971, 1995): Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta Stuttgart.
Ziehe, T. (1975): Pubertät und Narzissmus. Frankfurt – Köln.
Zizek, S. (2000): "Die Kamera liebt dich". Unser Leben als Seifenoper. Süddeutsche Zeitung v. 28.3.2000.
Christof Schneck: Die narzisstische Kollusion (Schneck (2014). Management-Coaching X.0: Initial einer erfolgreichen Unternehmensevolution):
A) Auf der individuellen Ebene zeigt sich:
- Narzisstische Verhaltens-, Erlebens- und Ausdrucksweisen sind sehr vielfältig. Narzissmus und narzisstische Verhaltensweisen drücken sich u.a. im Denken, Fühlen, in der Körperwahrnehmung, in Fantasien, Verhalten, Beziehungen, Anspruchshaltungen, Ueberzeugungen und Bedürfnissen aus. Allen gemeinsam ist die Konzentration des seelischen Interesses auf das Selbst bzw. auf ein schwach ausgebildetes Selbst.
- Narzissmus bzw. narzisstische Verhaltensweisen haben sowohl positive (benigne, konstruktive) als auch negative (maligne, pathologische, destruktive) Wirkungen. Narzisstische Erlebens- und Verhaltensweisen sind auf einem Kontinuum von gesund bis pathologisch angesiedelt.
- Es gibt eine lange Tradition und verschiedene Erklärungsmodelle für die Entstehung, Entwicklung, Dynamik und Behandlung narzisstischer Verhaltensweisen.
- Narzissmus ist eine Entwicklungsstörung, die in den ersten drei (bis fünf) Jahren - vorwiegend aus der Beziehung (Bindung) zu den Eltern bzw. zu den primären Bezugspersonen - entsteht.
- Die anderen sind der Spiegel, in dem der Mensch sein Selbstbild reflexiv erwerben und sein Selbstwertgefühl regulieren kann. Die anderen sind es, auf deren Anerkennung der Mensch angewiesen ist und von denen er sich unterscheiden muss, um sich als Individuum zu fühlen.
- Die konstitutive Funktion des Objekts äussert sich ursprünglich in der umfassenden somatotopischen Versorgung des hilflosen Säuglings, wandelt sich allmählich zu einer Spiegelfunktion für das entstehende Selbst.
Im gelungenen Fall einer >gesunden< narzisstischen Entwicklung ist die internalisierte Fürsorgebeziehung gewissermassen unsichtbar: Sie gehört zur selbstverständlichen seelischen Grundausstattung des Selbst und reguliert die innere Balance.
- Die narzisstische Störung sollte als Bewältigungsversuch, bei dem das Gefühl fehlender intersubjektiver Anerkennung im Zentrum unbewusster Fantasien steht und zu kompensatorischen Erlebnis- und Verhaltensweisen führt, verstanden werden. Die Symptome dieser Störung haben reparative Funktion und dienen in vielfältigen Erscheinungsformen dem Versuch, von anderen wahrgenommen und anerkannt zu werden. Die narzisstische Störung zeichnet sich somit durch ein irritiertes oder fehlendes Grundgefühl intersubjektiver Anerkennung aus (Altmeyer 2006, S. 80ff.).
B) Auf der interaktionellen Ebene zeigt sich:
- dass die narzisstische Kollusion ein besonders zu beachtendes Phänomen bei der interpersonellen und interaktionellen Manifestation narzisstischer Verhaltens- und Erlebensweisen ist.
In Anlehnung an die Ausführungen zur narzisstischen Kollusion von Jürg Willi, aber auch an die Ausführungen von Reich, Petermann, Mertens u.a. sollen die beiden Typen narzisstischer Verhaltensweisen grafisch simplifiziert dargestellt werden. Hierbei wird das innere Erleben der Person im unteren Kreis und das äussere Verhalten sowie das von anderen wahrgenommene
im oberen Kreis dargestellt. Die durchgezogenen dickeren Kreise stellen ein ausgeglichenes Selbst im Innen und Aussen dar, ein idealtypisches Verhältnis; die gestrichelten Linien stellen die narzisstischen Ausprägungen der beiden verschiedenen Typen dar.
1.) Der phallisch-narzisstische oder aktive Typus zeichnet sich durch eine nach aussen übersteigerte und demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit aus, um damit sein latentes Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Ihm könnte man zu rufen: »Mach’ dich nicht so gross, so klein bist du doch gar nicht!«
2.) Beim zweiten Typus des Narzissten, dem eher schüchternen, zaghaften und passiven Komplementär-Narzissten ist es genau umgekehrt. Er leidet unter einem nach aussen getragenen manifesten Minderwertigkeitsgefühl, hinter dem sich im Inneren latente Grössenphantasien verbergen. Ihm könnte man zurufen: »Mach’ dich nicht so klein, so gross bist du doch gar nicht!«
Wichtig ist, dass diese beiden Typen in Beziehung zueinander stehen.
Es kann sich hierbei um eine dyadische Beziehung, eine Beziehung Führer-Gruppe oder um die Beziehung eines Einzelnen zu einer Grossgruppe etc. handeln. Zusammen ergänzen sie sich.
Abb. xy: Die narzisstische Kollusion (Schneck 2014)
Abbildung xy verweist dabei auf zwei Dynamiken, eine intrapersonelle und eine interpersonelle:
- Durch die intrapersonelle Dynamik versucht die Person, eine Balance zwischen dem inneren Erleben und dem Verhalten nach aussen herzustellen.
- Durch die interpersonelle Dynamik versuchen zwei Personen eine Balance innerhalb einer Beziehung herzustellen (vgl. Willi 1975, S. 162 ff.).
Die 'narzisstische Kollusion' als dynamisches Phänomen verdeutlicht, dass die narzisstische Persönlichkeit ständig darum bemüht ist, einerseits sich selbst zu regulieren (selbstregulatives Modell) und andererseits die Beziehung zu regulieren (beziehungsregulatives Modell), um eine innere und äussere Balance zu erreichen.
In der psychotherapeutischen Behandlung des Narzissmus ist daher die Beziehung das zentrale Moment. Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient bedarf einer spezifischen Responsivität bzw. einer klinischen Sensibilität [siehe letztes Kapitel, M.F.].
Neben dieser speziellen responsiven Haltung bei der Behandlung der narzisstischen (Persönlichkeits-)Störung gilt es, Phänomene der Uebertragung und Gegenübertragung zu berücksichtigen und zu beachten. In der Behandlung einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind die verschiedenen Entwicklungstheorien theoretisch wie konzeptionell einzubeziehen. Sie geben Richtung und Orientierung.
C) Auf der kollektiven Ebene zeigt sich:
- Narzissmus und narzisstische Verhaltensweisen können in der Dyade, in Gruppen und Kollektiven (Organisationen) und in der Gesellschaft auftreten. Sie finden daher auch in der Kultur, insbesondere der westlichen, ihren Ausdruck.
- Grundsätzlich ist Diana Diamond (2006) zuzustimmen, die von der These einer Reziprozität gesellschaftlicher und psychologischer Aspekte des Narzissmus ausgeht.
- Aufgrund seiner Entstehung und seiner Verbreitung auf allen gesellschaftlichen Ebenen verfügen fast alle Menschen der westlichen Gesellschaft über mehr oder weniger stark ausgeprägte narzisstische Verhaltensweisen.
--> ergänzen: George Herbert Mead: Me, Self and I und Erving Goffman: Wir alle spielen Theater --> Kap. 6 !!!
Plus- und Minus-Symptomatik in den Ausprägungen des Narzissmus - Autoren
- Wink - Blatt bei Diamond 2006
2.2.4. Prä-Relationale Gleichgewichtsmodelle des Narzissmus: Stolorow (1975), Joffe und Sandler u.a.
Hierzu lasse ich wieder einmal HP Hartmann (1997) referieren:
"Joffe und Sandler (1967) sehen den gesunden Narzissmus als einen idealen Zustand von Wohlbefinden, der am stärksten durch die Triebe bedroht ist. Betont wird dabei das Streben nach Sicherheit, Geborgenheit und Wohlbefinden, das abhängig ist von der Uebereinstimmung des Ideal-Selbst mit dem Real-Selbst. Narzisstische Störungen sind Folge einer Differenz beider Repräsentanzen, und es besteht die Motivation zur Herbeiführung eines Gleichgewichts (S.72).
Holder und Dare (1982) definieren Narzissmus nicht mehr durch libidinöse Besetzung, sondern sehen ihn als wesentlich abhängig von Objektbeziehungen und zugehörigen körperlichen Erfahrungen des Säuglings. Mit Narzissmus meinen sie „die Summe der positiv gefärbten Gefühlszustände, die mit der Vorstellung des Selbst (der Selbstrepräsentanz) verbunden werden“ (S. 794 f.). Wohlbefinden stelle sich dann ein, wenn die positiven Aspekte des Selbstwertgefühls die negativen überwiegen. Diese Auffassung eines psychischen Regulationsprinzips, welches das Streben nach Wohlbefinden und Sicherheit als basale Motivatoren des Lebens anerkennt, kommt Kohuts motivationalem Primat des Selbst schon sehr nahe (S.73).
Allerdings galt der Narzissmus schon für Lichtenstein (1964) als Motor für die Herstellung der Identitätsbalance. Lichtenstein spricht von einer primären Identität, die durch die responsive Erfahrung mit der Mutter zustande kommt und nennt die Spiegelerfahrung dieser frühen Identität narzisstisch. Auch Bergler (1949) hielt die Erhaltung eines kohäsiven Selbstgefühls für wichtiger als libidinöse Befriedigungen
Modelle der narzisstischen Homöostase und Gefühlsregulation
Mit der Annahme eines narzisstischen Gleichgewichtszustandes eng verbundene Modellvorstellungen begreifen den Narzissmus im Sinne einer Regulation von Gefühlszuständen, insbesondere des Selbst- und Selbstwertgefühls. Diese letzten Endes auf die von Freud hergestellte Verbindung des Narzissmus mit Formen des Selbstgefühls zurückgehenden Konzepte tauchen in verschiedenen Varianten auf.
Harts Modell des narzisstischen Gleichgewichts
Hart (1947) hat den Vorschlag gemacht, die terminologische Konfusion um den Narzissmus-Begriff zu verringern, indem er die Begriffe des »narzisstischen Gleichgewichts« (narcissistic equilibrium) oder der »narzisstischen Harmonie« (narcissistic harmony) und des »kompensatorischen Narzissmus« (compensatory narcissism) in den Rahmen der klassischen Trieb- und Strukturtheorie einführt.
Beim narzisstischen Gleichgewicht handelt sich gemäss Hart um einen Zustand der Sicherheit des Ich in seinem Verhältnis zum Über-Ich, der seine Wurzeln in der ursprünglichen Harmonie zwischen dem gehorsamen Kind und seinen liebenden Eltern habe. Der kompensatorische Narzissmus erfülle eine Abwehrfunktion bei der Störung dieses Gleichgewichts: Er repariere gewissermassen die gestörte Balance durch Zufuhr von narzisstischer Libido ins Ich, durch die narzisstische Besetzung intemalisierter Objekte, durch narzisstische Objektwahl, durch psychotische Regression oder durch andere seelische Aktivitäten, die sich im Facettenreichtum narzisstischer Erscheinungen ausdrücken. Je nachdem, ob diese Aktivitäten eher mit einer Rückkehr in die primär-narzisstische Welt verbunden sind und damit zu Fehlanpassungen an die Realität führen, oder ob sie, mit Objektliebe verbunden, zu einer besseren Realitätsbewältigung (mastery) führen, spricht Hart von »regressivem«, also pathologischem Narzissmus oder von »progressivem«, also gesundem Narzissmus.
Das Modell des narzisstischen »Idealzustands« von Joffe und Sandler
Joffe und Sandler (1967) schlagen auf der Grundlage einer Unterscheidung von Trieb und Gefühl vor, den Narzissmus als Abweichung von einem »Idealzustand des Wohlbefindens« zu definieren, das durch ein vom Lustprinzip unterschiedenes »Sicherheitsprinzip« reguliert wird. Das Ideal-Selbst ist die individuelle Repräsentanz
dieses Zustands und der Massstab, an dem das aktuelle Selbst gemessen wird. Bei einer Diskrepanz wird »seelischer Schmerz« empfunden, das Hauptmerkmal der narzisstischen Störung. Die Bewältigung dieses Schmerzzustands kann pathologische Formen annehmen.
Dieses Konzept haben Joffe und Sandler später (1969) in ein »Grundmodell der Psychoanalyse« integriert, in dem das »Sicherheitsprinzip« zum grundlegenden Regulationsprinzip erklärt wird, das das Funktionieren des psychischen Apparats regelt, einschliesslich der Realitätsanpassung und der Triebabfuhrprozesse.
Das »Narzissmus-Gegen-Narzissmus«-Modell von Holder und Dare
Alex Holder und Christopher Dare (1982) haben, ausgehend von Joffe und Sandler, Narzissmus in seiner Beziehung zum Selbstwertgefühl und zum Wohlbefinden definiert. Das Selbstwertgefühl speist sich aus fünf verschiedenen Quellen:
1. dem Status der libidinös-aggressiven Triebstrebungen (Befriedigung/Versagung),
2. dem mehr oder weniger befriedigenden Status der Trieb-Sublimierungen,
3. dem Befriedigungs-Status der Ich-Triebe (Gesundheit, Sicherheit, Wärme ...)
4. den rückgemeldeten Bestätigungen emotional wichtiger Objekte,
5. der Beziehung zu den »inneren« Objekten.
Während das Selbstwertgefühl alle Aspekte von Selbstgefühl und Selbstbewertung umfasst, also ein Kontinuum von negativen bis positiven Gefühlszuständen bezeichnet, wird Wohlbefinden dann registriert, wenn die positiven Aspekte des Selbstwertgefühls die negativen Aspekte überwiegen. Narzissmus meint die Summe dieser positiven Aspekte. Die negativen Aspekte werden »gegennarzisstische Faktoren« genannt. Selbstwertgefiihl ist also der Oberbegriff, unter dem Narzissmus, als positiver Anteil, und »Gegen-Narzissmus«, als negativer Anteil, subsumiert werden. Wohlbefinden resultiert aus dem Überwiegen des Narzissmus, Nicht-Wohlbefinden aus dem Überwiegen des Gegen-Narzissmus.
Das funktionale Narzissmus-Modell von Stolorow
Stolorow (1975a) hat mit seiner funktionalen Definition des Narzissmus dessen regulierende Funktion in einem kybernetischen Modell dargestellt: Der Narzissmus umfasst all diejenigen seelischen Aktivitäten, welche die strukturelle Kohäsion, die zeitliche Stabilität und die emotionale Färbung der Selbst-Repräsentation
regeln - wie ein Thermostat die Raumtemperatur.
Quelle: Altmeyer, M. (2004, 2te Aufl.). Narzissmus und Objekt. V&R S.67-71
Integrationsmodelle
Versuche, die Tendenzen zur Konzeption einer eigenständigen, von der libidinösen Entwicklung getrennten narzisstischen Entwicklung zu korrigieren und ein integriertes Verhältnis von Narzissmus, Trieb und Objektbeziehungen neu zu begründen, gehen in verschiedene Richtungen.
Schumachers »Versöhnungsmodell«
Schumacher (1970) hat ein Integrationsmodell vorgelegt, das die Narzissmustheorie Kohuts und das »Sicherheitsprinzip« von Joffe und Sandler mit Annahmen der Triebtheorie versöhnen soll. Er sieht in der primärnarzisstischen Tendenz zur Verschmelzung von Selbst und Objekt die Wurzel des Narzissmus, die sich nicht nur in
seinen Entwicklungsformen, den aus Identifizierungen hervorgegangenen Strukturbildungen des Ideal-Selbst und des Ideal-Objekts, sondern auch in den triebbezogenen Objektbeziehungen zeigt. Im Objekt, mit dem die Verbindung gesucht wird, zeige sich die narzisstische Dimension des Triebanspruchs, nämlich »alles
dem Selbst einzuverleiben«. Es-Regulation im Sinne des Lustprinzips, die auf Triebruhe abziele, und narzisstische Ich-Regulation im Sinne des Sicherheitsprinzips, die auf Wohlbehagen abziele, finden im gleichen Vorgang statt: »Narzissmus ist letztlich ein Aspekt des Triebes« - wie Schumacher meint, oder der Trieb ein Aspekt
des Narzissmus, wie man auch umgekehrt formulieren könnte.
Argelanders Modell eines »reformulierten« Narzissmus
Argeiander (1971) hat ein Modell vorgeschlagen, das dem von Schumacher ähnelt, aber eine stärkere Abgrenzung der narzisstischen Entwicklung vom Triebgeschehen vomimmt. auch wenn beides miteinander interagiert. Die Libido ist mit einer infantilen Repräsentanzenwelt verbunden, sucht Unterbringung in Objektbesetzungen, arbeitet nach dem Lustprinzip und entwickelt sich unter der Bedrohung der sozialen Existenz; auch der Narzissmus hat eine eigene, eben die infantil-narzisstische Repräsentanzenwelt, sucht - aus der nutritiven Mutter-Kind-Einheit stammend - nach der Verbindung mit elementaren Objekten, arbeitet nach dem Selbsterhaltungs- oder Sicherheitsprinzip, realisiert seine Befriedigung im »ozeanischen Gefühl« und entwickelt sich unter der Bedrohung der natürlichen Existenz.
Kernbergs »Verdichtungsmodell«
Auch Kernberg (1979) versucht, den Narzissmus in einem integrativen Modell zu konzipieren. In seiner - nach Modell »hybriden« (1996. S. 24) - Theorie verbindet er die erweiterte Triebtheorie (Melanie Kleins), die entwickelte Ich-Psychologie (Mahlers und Jacobsons), eine Spielart der Objektbeziehungstheorie (Fairbaims)
(...)
Abb XY: Kernbergs Modell eines »pathologisch verdichteten Selbst«
und Anleihen aus der Selbstpsychologie (Kohuts) zu einem Konzept. das den gestörten Narzissmus oder die narzisstische Störung nicht als Entwicklungshemmung auf einer isolierten narzisstischen Entwicklungslinie, sondern als pathologische Verdichtung des Selbst versteht, in das neben dem infantilen grandiosen Selbst auch reale Selbstanteile und idealisierte Objektrepräsentanzen eingehen.
Dem pathologischen Narzissmus gehe eine Geschichte gestörter Objektbeziehungen voraus, die vor allem durch Aggressionen aus den frühen Eltem-Beziehungen und Furcht vor Reaktionen bestimmt seien und deren bedrohlicher Aspekt mit Hilfe der Idealisierung der frühen Objekte abgewehrt werden müsse - eine Annahme, die er von Melanie Klein übernommen hat.
Narzisstische Homöostase
Argelander versucht zwar, mit seinem Konzept die dualistische Triebtheorie zu einer »trialistischen« zu erweitern (1972, S. 24), entfernt sich dabei aber weit vom Libido-Modell. Ganz aufgegeben wird es bei Stolorow (1975a), der sich völlig von den triebtheoretischen Konnotationen des Narzissmus gelöst und ihn funktional definiert im Rahmen eines kybernetischen Modells: Der Narzissmus regelt das Selbstwertgefühl mit Blick auf innere und äussere Bedingungen - wie ein Thermostat die Raumtemperatur. Der funktionale Charakter dieser Definition besteht darin, dass der Narzissmus lediglich als Regulationsmechanismus verstanden wird und diejenigen seelischen Operationen umfasst, die diese Regulation leisten. Als narzisstisch gelten alle seelischen Aktivitäten, die die Funktion haben, den strukturellen Zusammenhalt, die zeitliche Stabilität und die positive Gefühlsfärbung der Selbst-Repräsentation aufrechtzuerhalten (Stolorow 1975a, S. 179). Unter dieser funktional formulierten, weit gefassten Definition lassen sich die vielen widersprüchlichen, als narzisstisch bezeichneten Erscheinungen zusammenfassen:
- Der narzisstische Rückzug und die narzisstische Objektwahl
- ein grandios aufgeblähtes Selbst und die Spiegelungstendenz
- die narzisstische Wut und die Entwertung des Objekts
All diese Symptome können als Manöver verstanden werden, um ein gefährdetes oder verletztes Selbstbild wiederherzustellen.
Die funktionale Sicht, in der Stolorow das Definitionsproblem des Narzissmus-Begriffs zu lösen versucht, ist eigentlich eine kybernetisch-systemische Sicht, in der das Individuum im Kontakt mit der Aussenwelt sein Innenleben regelt. Die Raumtemperatur (metaphorisch für das Selbstwertgefühl) ist von vielen äusseren Faktoren abhängig. Der Thermostat erfasst mit Hilfe von Sensoren diese Faktoren, er »erfühlt« sie sozusagen und reagiert dementsprechend.
Mit Blick auf die Aussenwelt regelt der Narzissmus - in Analogie zum Wärmeregler - einen inneren Zustand. Stolorow unterscheidet letztlich zwei Zielsetzungen dieses Regelungsmechanismus:
die Aufrechterhaltung einer kohärenten und stabilen Selbstrepräsentanz sowie der positiven Gefühlsfärbung dieser Selbstrepräsentanz. Während die Gefühlsfärbung synonym für das Selbstwertgefühl (self-esteem) steht, sind Kohärenz und Stabilität der Selbstrepräsentanz die strukturellen Voraussetzungen für dieses Gefühl. Das Ziel der narzisstischen Regulation besteht also in der Sicherung des Selbstwertgefühls und dessen struktureller Grundlage. Stolorow vermeidet aber die Gleichsetzung von Narzissmus und Selbstwertgefühl und betont den funktionalen Charakter seiner Definition: Der Narzissmus regelt das Selbstwertgefühl, er ist nicht identisch damit. Das zeigt der Vergleich mit dem Thermostat, der auch nicht mit der Raumtemperatur identisch ist, sondern diese angesichts einer Fülle äusserer Faktoren regelt. Der Narzissmus oder narzisstische Aktivitäten setzen dann ein, wenn das Selbstwertgefühl bedroht oder erheblich herabgesetzt ist und dienen dazu, es zu schützen, zu stabilisieren oder wiederherzustellen.
Stolorow bedient sich bei der Entwicklung und Begründung seiner Definition verschiedener Bruchstücke aus der psychoanalytischen Theoriebildung. Von Freud übernimmt er dessen Hinweis auf das Ziel der narzisstischen Objektwahl, nämlich geliebt zu werden und dadurch das Selbstgefühl zu erhöhen. Er verweist auf Balints Konzept der primären Objektbeziehung und ihre existentielle Bedeutung für ein elementares Sicherheitsgefühl. In der Ich-Psychologie Hartmanns und in den Arbeiten von Jacobson findet er mit dem Begriff der Selbst-Repräsentanz die innere »Arena« bezeichnet, in der sich die narzisstischen Aktivitäten abspielen. In den Arbeiten von A. Reich sieht er den funktionalen, auf das Selbstwertgefühl bezogenen Ansatz narzisstischer Aktivitäten, bei Kemberg den Abwehrcharakter, den diese Aktivitäten annehmen können. Er stützt sich auf Kohut und dessen Vorstellung einer Entwicklung narzisstischer Strukturen im Dienste des Selbst und auf das narzisstische Regulationsprinzip von Joffe und Sandler.
Die regulierende Funktion des Narzissmus bei der Aufrechterhaltung von Selbstkohärenz und Selbstwertgefühl findet Stolorow auch als Gemeinsamkeit bei den Klassifikationen des Narzissmus, die Pulver (1972) unterschieden hat, um den Begriff und seine verschiedenen Bedeutungen zu klären: bei der sexuellen Perversion, die das Spiegelbild des eigenen Körpers zum Sexualobjekt nimmt und dabei ein defizientes Selbstbild kompensiert: bei den narzisstischen Modi einer Objektbeziehung, in denen eine intensive innere Abhängigkeit entweder realisiert oder durch äusseren Rückzug abgewehrt wird, in beiden Fällen zum Schutz des Selbstwertgefühls; bei der Entwicklungsphase des primären Narzissmus. in der die primäre Objektbeziehung die Bedingung dafür schafft, dass sich die Strukturen des Selbst und damit die Voraussetzungen des Selbstwertgefühls überhaupt erst entwickeln können.
Die von Pulver als weitere Bedeutungsebene ebenfalls genannte, allerdings wegen ihrer Inkompatibilität mit der Triebtheorie abgelehnte Verbindung von Narzissmus und Selbstwertgefühl steht dagegen im Zentrum von Stolorows Vorschlag. Er bedeutet die Aufgabe eines innengeleiteten Modells, wie es mit der ökonomischen Definition des Narzissmus als einer libidinösen Besetzung des Selbst und mit der Konstruktion eines Gegensatzes von Narzissmus und Objektbeziehung vorliegt. Die Absage an das triebtheoretische Narzissmus-Modell (»freeing the concept of narcissism from an economic definition«) durchzieht den Text Stolorows wie ein Leitmotiv. Die Widersprüche des psychoanalytischen Narzissmus-Begriffs seien »Artefakte« der ökonomischen Definition, die sich in der von Stolorow vorgeschlagenen funktionalen Definition auflösten. Auch der generelle Pathologieverdacht, der auf dem - ökonomisch definierten - Narzissmus lastet, entfalle, wenn man seine Funktion betrachtet und Erfolg oder Nicht-Erfolg als Kriterium zur Unterscheidung von gesundem und krankhaftem narzisstischen Verhalten anlege.
Quelle: Altmeyer, M. (2004, 2te Aufl.). Narzissmus und Objekt. V&R, S. 121-123
Stavros Mentzos: Das Selbst-System und das "Drei-Säulen-Modell"
Nach dem Psychoanalytiker Stavros Mentzos (1984) können vier narzisstische Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleichen der Defizite im Selbstwertgefühl unterschieden werden:
1.) Die erste Möglichkeit besteht darin, durch Regressionen in einen früheren (vermutlich pränatalen) Einheitszustand einen Selbstwert- und Machtzuwachs zu bewirken. Daraus entsteht dann die Grundlage für Verschmelzungsfantasien mit etwas unbegrenzt Grossen.
2.) Im zweiten Fall werden die unangenehmen Aspekte der Realität mit Hilfe von Grössenphantasien verleugnet. Kinder, denen dauernd bestätigt wurde, dass sie ganz besonders und besser als andere Kinder sind, können als Erwachsene Wahnvorstellungen unterschiedlichen Grades (von harmlosen Tagträumereien bis zu psychotischem Grössenwahn) entwickeln.
3.) Drittens kann durch die Idealisierung von anderen Personen, die als omnipotent und allwissend verherrlicht werden, versucht werden, das eigene Selbstwertgefühl zu retten.
Im günstigeren Fall entwickelt sich ein Selbst, das innere Sicherheit, Selbstbewusstsein und ein ruhiges Selbstvertrauen ermöglicht, relativ unabhängig von Anerkennung und Kritik durch andere. Kommt es allerdings zu Krisen, dann kann das Fehlen von Erfolgen oder von Bestätigungen durch andere Menschen zu manifesten Störungen führen.
Quelle: Altmeyer, M. (2004, 2te Aufl.). Narzissmus und Objekt. V&R, S. 71-76
Im Modell von Mentzos wird die gesunde narzisstische Homöostase, die stabile Konstellation des Selbstwertgefühls samt seiner sicheren Regulierung von drei Säulen getragen. Die erste Säule ist die des Urvertrauens, welche darüber bestimmt, über welchen "Fundus von selbstverständlich vorhandener Sicherheit, Selbstvertrauen, Urvertrauen, gesundem Narzißmus" (S.36) jemand verfügt:
Ein gutes »Polster« haben an erster Stelle meistens diejenigen, die das Glück hatten, adäquat und ausreichend »gespiegelt« (Kohut), also bestätigt worden zu sein, sowie alle diejenigen, die ausreichende Kontigenzerfahrungen als Säuglinge hatten, wie auch diejenigen, die schließlich auch von ihren konstitutionellen körperlichen und psychischen Voraussetzungen her reichlich beschenkt wurden.(S.37)
Die zweite Säule repräsentiert die internalisierten Leitbilder, die dritte Säule das Ueber-Ich. Mentzos verbindet bezüglich der Stützungsfunktion dieser drei Säulen den Entwicklungsgedanken einschließlich des wünschenswerten Entwicklungsziels mit der Ueberlegung, welche Mechanismen die jeweilige Säule am besten regulieren und stützen und welche psychischen Störungen bei einem Ausfall der Stützungfunktion drohen könnten. Schematisch lassen sich seine Gedanken in einer Tabelle zusammenfassen:
Säule I: Urvertrauen
Größen-Selbst - Größenphantasien
reifes Ideal-Selbst
Stärkung durch Spiegelung
Manie
Säule II: Leitbilder
symbiotische Abhängigkeit, idealisierte Elternimagines
reifes Ideal-Objekt
Stärkung durch Identifikation
Abhängigkeits-Depression
Säule III: Ueber-Ich
archaisches Ueber-Ich
ödipales Ueber-Ich
Entwicklungsziel
reifes Gewissen
Stärkung durch Anerkennung
Schuld-Depression
Den möglichen Zusammenhang zwischen narzisstischen Krisen und Depressionen beschreibt Mentzos folgendermassen:
"Eine Erschütterung, eine Destabilisierung der Selbstwertregulation oder eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls gehören zu den wichtigsten Anteilen der Psychodynamik der Depression. In gewisser Hinsicht impliziert also jede Depresion eine Art narzißtischer Beeinträchtigung. Sie kann, sofern es sich um eine akut eintretende und auch relativ schnell abkligende Depression handelt, auch als eine Art »narzißtische Krise« betrachtet werden. Es verhält sich aber nicht auch umgekehrt so. Nicht jede akute und vorübergehende Destabilisierung der Selbstwertgefühlregulation, nicht jede narzißtische Krise, stellt gleichzeitig eine Depression dar. Von einer depressiven (narzißtischen) Krise sprechen wir nur dann, wenn diese Destabilisierung zu einer fortschreitenden Hilf- und Ausweglosigkeit infolge zunehmender Blockierung und zum Stillstand des Intrapsychischen führt. Es gibt andere narzißtische Krisen, die mehr durch eine enorme narzißtische Wut oder existentielle Angst oder durch psychosomatische Störungen (Somatisierung) etc. charakterisert werden.
Die Depression ist allerdings eine der häufigsten und klinisch-empirisch die wichtigste Form einer narzißtischen Krise. Sie wird zum Beispiel oft bei Frauen nach dem vierzigsten und bei Männern nach dem fünfzigsten Lebensjahr im Zusammenhang mit angeblichen oder tatsächlichen Vitalitäts-, Leistungs-, Attraktivitäts- und ähnlichen defiziten beobachtet. Männer, die bis dahin gut mit überdurchschnittlichen Leistungen, mit Prestige, Status und Zukunftsaussichten stabilisiert waren, geraten gelegentlich unter den Einfluß des natürlichen Leistungsnachlasses oder akut werdender Lebenssinnfragen oder einer beginnenden Isolierung in eindeutig depressiv gefärbte Krisen - der sog. Midlife-Crisis.
Analoges gilt für Frauen im Klimakterium und Postklimakterium, und zwar völlig unabhängig von involvierten hormonellen Veränderungen. In Wirklichkeit handelt es sich hier also entweder um reaktive Depressionen oder um schon zuvor bestandene latente, aber sich erst unter diesen ungünstigen Bedingungen und Voraussetzungen manifestierende neurotische Depression mit narzißtischer Problematik. (Mentzos 1995 S.175f.)
Die Erschütterung der narzisstischen Homöostase in der Dynamik der Depression
Die Selbstwertgefühlsregulationsstörung ist erst von Bibring (1953), später auch von Sandler (Sandler und Joffe, 1965) und Kohut (Kohult und Woll,
1980) und anderen in den Vordergrund der Bemühungen gerückt, depressive Zustände zu verstehen.
Dabei hat Kohut darauf hingewiesen, wie bedeutend eine fehlende ausreichende, positive Spiegelung des Kindes durch die wichtige Bezugsperson in sehr frühen Entwicklungsstadien ist (»der Glanz in den Augen der Mutter«).
Bibring und Sandler haben überzeugend gezeigt, welche zentrale Stellung das Selbstwertgefühl und das »well being« (Sandler) bei der Aufrechterhaltung der narzisstischen Homöostase besitzen (»narzisstisch« meint hier nicht einen pathologischen Zug oder Zustand, sondern einfach »das den Selbstwert Betreffende«).
Freud hatte schon 1917 auf die starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls in der Depression aufmerksam gemacht.
Rene Spitz und John Bowlby
Schon bei der Darstellung der Bindungstheorie im ersten Teil des Buches ist die Bedeutung von Trennung und Bindungslosigkeit sowie der damit zusammenhängenden Traumatisierungen (sogar schon im Tierexperiment) erwähnt worden. Die bleibende Beeinträchtigung der Bindungsfähigkeit trägt erheblich zur Entstehung der Depression bei.
(...)
SYNTHESEMODELLE - Kernberg-Kohut-Kontroverse der 70er sowie Stern-Green-Kontroverse der 90er Jahre
Diana Diamond (2006):
"Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen Kohut und Kernberg betrifft das Schicksal der Aggression im Rahmen narzisstischer Störungen. Während Kohuts Sichtweise narzisstischer Pathologie eher eindimensional zu nennen ist, zeichnet Kernberg ein überaus differenziertes Bild der einzelnen Abstufungen narzisstischer Pathologie, die'sich daran bemessen, inwieweit das Grössen-Selbst von Aggression durchdrungen ist. Kernbergs Schema ist eine Weiterentwicklung von Rosenfelds (1971] Beschreibung der Dynamik von Patienten, deren grandioses oder idealisiertes Selbst von omnipotenten destruktiven Selbstaspekten vergiftet ist. Kurz, Kernberg (1988b) postuliert unterschiedliche Abstufungen narzisstischer Pathologie, die von narzisstischen Persönlichkeiten auf einem höher organisierten (neurotischen) Niveau mit schwach ausgeprägten antisozialen Merkmalen, bis hin zum malignen Narzissmus reichen, bei dem das Grössen-Selbst von Ich syntoner Aggression durchdrungenjst, die ihrerseits der Identifizierung mit primitiven sadistischen elterlichen Objekten entspringt.
Aus Kohuts und Kernbergs Formulierungen lassen sich zwei Konfigurationen des Narzissmus und seiner Störungsbilder ableiten. Entsprechend seiner Sichtweise der narzisstischen Störung als einer schweren Selbst- und Objektbeziehungspathologie betont Kernberg die ungezügelte Grandiosität dieser Patienten, ihre rücksichtslose Ausbeutung anderer Menschen, ihre emotionale Kälte und Oberflächlichkeit sowie ihre äusserst pathologischen und abgespaltenen Objektbeziehungen.
Kohut wiederum, in Übereinstimmung mit seiner Fokussierung narzisstischer Störungen im Sinne eines Stillstands normativer Entwicklungsprozesse, betont nicht nur die offenkundige Grandiosität, sondern auch die schmerzvoll empfundene Schüchternheit dieser Patienten sowie ihre Beschäftigung mit geheimen Grössenphantasien. Er hat nicht nur den Aspekt der Selbstüberhöhung im Blick, sondern auch die Bereitschaft, sich anderen zu unterwerfen, die als mächtig und omnipotent wahrgenommen werden.
Klinische und empirische psychoanalytische Studien haben dieses Spektrum des Narzissmus, das von dreister Angeberei bis zu verdruckster Zurückhaltung reicht, bestätigt (Bateman 1998; Bursten 1973; Cooper 1998; Gabbard 1986; Gersten 1991; Rosenfeld 1990; Wink 1991).
ROSENFELD (1990):
Rosenfeld (1990) unterscheidet zwischen der emotionalen Unzugänglichkeit und abwehrbedingten Aggression dickfelliger Narzissten und der Fragilität und Vulnerabilität des dünnhäutigen Typus. Gabbard (1986) beschreibt auf der einen Seite den in sich versponnenen und völlig selbstbezogenen Typus, der sich in keiner Weise der Wirkung seines Verhaltens auf andere bewusst ist, auf der anderen Seite den hypervigilanten Typus, der überaus empfindlich auf die Reaktionen seines jeweiligen Gegenübers achtet und dessen Exhibitionismus und Grandiosität sich eher in der Phantasie denn in offener Aufschneiderei äussern.
Gersten (1991) unterscheidet manifest grandiose und "manifest kränkbare Subtvnen. Cooper (1998) zwischen offenem Narzissmus - die Selbstwertregulierung erfolgt hier über grandiose Selbstbestätigung - und verstecktem Narzissmus, der mit masochistischer Verzweiflung und Unterwürfigkeit einhergeht, um die entsprechenden Grössenphantasien von Macht und Einfluss zu stützen. Bürsten (1973) differenziert zwischen verschiedenen Narzissmustypen und dem jeweiligen Entwicklungsniveau ihrer Objektbeziehungen, das vom bedürftigen Typus und seinem verzweifelten Verlangen nach Aufmerksamkeit und omnipotenten Objektphantasien bis hin zum phallisch-narzisstischen Typus reicht, dessen stabilere Selbststrukturen und Internalisierungen
zu entsprechenden Manifestationen des Grössen-Selbst in Form von Zielsetzungen und Idealen führen.
WINK 1991:
Aus einer Reihe von empirischen Untersuchungen, die mit Methoden der Selbst- und Fremdbeschreibung arbeiten, extrahierte Wink (1991) zwei Formen von narzisstischen Störungen: den verdeckt sensitivkränkbaren Typus, wie ihn charakteristischerweise überempfindliche und sozial zurückgezogene Menschen repräsentieren, sowie den grandios exhibitionistischen Typus, dessen Beziehungen von Arroganz, übersteigertem Selbstbewusstsein und aggressiver Selbstbehauptung auf Kosten anderer geprägt sind.
BLATT 1990:
Blatt (1990) wiederum unternimmt den Versuch, narzisstische Störungen im Rahmen einer umfassenderen Theorie normaler und pathologischer Persönlichkeitsentwicklung zu begreifen, die klinische Beobachtungen mit empirischer Forschung verbindet. Die oben zitierten klinisch-empirischen Studien gehen von einem Kontinuum narzisstischer Störungen aus, das den beiden zentralen Entwicklungskonfigurationen, wie Blatt sie benennt, entspricht: eine anaklitische Entwicklungslinie der Bezogenheit und eine introjektive Entwicklungslinie der Selbstdefinition. Beide Stränge stellen unterschiedliche Momente eines Prozesses normaler Persönlichkeitsentwicklung und pathologischer Formationen dar (Blatt u. Blass 1990; 1992; Blatt u. Shichman 1983). Die Errichtung überdauernder zwischenmenschlicher Beziehungen fördert die Selbstentwicklung, so wie umgekehrt intersubjektive Bezogenheit von der Ausbildung eines differenzierten, individuierten Selbst abhängt. Um mit Entwicklungsbrüchen fertig zu werden, greifen Menschen auf Strategien zurück, die Bezogenheit und/oder Selbstdefinition ermöglichen sollen, aber aufgrund ihrer Verzerrtheit und Unangemessenheit in unterschiedlichste Pathologien, wie etwa narzisstische Störungen, münden können (Blatt u. Shichman 1983; Blatt u. Auerbach 2001). Die ungenierte Grandiosität der manifest narzisstischen Persönlichkeit stellt eine Verzerrung des Bedürfnisses nach Einzigartigkeit, Meisterschaft und Perfektion dar, wie es für die introjektive Entwicklungslinie der Selbstdefinition charakteristisch ist, während Idealisierung und Unterwerfung unter ein omnipotentes Gegenüber, wie es für den verdeckten Narzissmus typisch ist, eine Verzerrung der anaklitischen Wünsche nach Bezogenheit .sind. Nach Auffassung von Blatt (1990) neigt die phallisch-narzisstische Persönlichkeit zu introjektiven Abwehrmechanismen der Internalisierung, zur Identifizierung mit dem Aggressor und Ueberkompensation, was die Existenz ungehemmter Grandiosität neben realistisch-angemessenen und sublimatorischen Verhaltensweisen erklärt. Im Gegensatz dazu greift die anaklitisch-bedürftige oder infantile narzisstische Persönlichkeit auf eher primitive Abwehrmechanismen der Idealisierung, Entwertung und Inkorporation derer zurück, die als omnipotent oder uneingeschränkt bedürfnisbefriedigend wahrgenommen werden, um ein fragiles und vulnerables Selbst zu schützen.
2.2.6. Der narzisstische Funktionsmodus bzw. Aggregatszustand und 'Das narzisstische Gleichgewicht'
Das Gleichgewicht des Narzissmus - Das Regulations- und Kompensations-Modell nach Markus Frauchiger 2014
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Hier nochmal zusammenfassend die zwei Grundpositionen der verschiedenen Narzissmus-Theorien wie sie bisher beschrieben wurden:
A) Narzissmus als Abwehr:
Narzissmus als Abwehrmechanismus meint: als Reaktion des Rückzugs vom Objekt eine Hinwendung zum Selbst (Narzissmus als »Selbst-Liebe«).
In diesem Sinne werden alle diejenigen Tendenzen, Phantasien, Befriedigungen usw. narzisstisch genannt, die durch eine Abwendung vom Objekt und eine Hinwendung zum Selbst
charakterisiert sind (libidinösen Besetzung des Selbst)
Gegensatzpaar: narzisstischer Selbstbezug vs. Objektbezug
Objektbezug funktioniert nach dem Lustprinzip (pleasure seeking)
narzisstischer Selbstbezug funktioniert nach dem Sicherheitsprinzip (safety seeking)
B) Narzissmus als Selbst(wert)System:
Narzissmus als Selbst-System umfasst alle Bedürfnisse, Befriedigungen, Affekte, Mechanismen usw., die bei der Selbstkonstitution, Selbstentfaltung und insbesondere der
Regulation des Selbstwertgefühls beteiligt sind.
Was erhöht das Selbstwertgefühl? (narzisstische Zufuhr)
Was gefährdet oder mindert das Selbstwertgefühl ?
(z.B. Kritik, z.B. narzisstische Kränkungen, auf die mit narzisstischer Wut reagiert werden kann)
Gegensatzpaar: Selbst(wert)regulation vs. Triebregulation
Triebregulation funktioniert nach dem Lustprinzip (pleasure seeking)
Selbstwertregulation funktioniert nach dem Sicherheitsprinzip (safety seeking)
Narzisstische Homöostase
Unter einer stabilen Regulation des Narzissmus versteht man die Aufrechterhaltung eines emotionalen Gleichgewichts, einer narzisstischen Homöostase als Zustand, der stabil und
dauerhaftim grünen Bereich ist:
bezüglich des Gefühls von innerer Sicherheit [safety seeking]
roter Bereich: z.B. Kränkungen, Scham, Identitätskrisen
bezüglich des körperlichen und psychischen Wohlbefindens [well being],
roter Bereich: z.B. Alter, Krankheit, Flemm, Stress
bezüglich des Selbstwertgefühls [self esteem],
zwei Extrempositionen:
- narzisstisches Hochgefühl (unrealistisch aufgebläht)
- depressive Verstimmung (unrealistisch aufgelöst)
Was sind reife Reaktionen auf Kritik oder Kränkung?
-> Fähigkeit zur Realitätsprüfung
• Berührt die Kritik einen realen Mangel?
• Kann man diesen Mangel beseitigen?
• Sollte man Nachsicht üben?
• Soll man sich gegen ungerechtfertigte Kritik wehren?
-> Fähigkeit zur Regulierung der Distanz zwischen Real-Selbst und Ideal-Selbst
• Anstrengungen erhöhen (besser werden) und damit sein Real-Selbst nach oben korrigieren
• Ideal-Selbst nach unten korrigieren (und mit seinen Defiziten leben lernen)
Was sind unreife Reaktionen auf Kritik oder Kränkung?
> Verleugnung der Kritik und der schmerzlichen Realität
> Abwertung der Kritiker
> Vernichtungswunsch bezüglich der Kritiker (mit gelegentlichen Taten)
> Idealisierung der eigenen Person: „trifft mich nicht, bin ein Genie“ - „mir kann keiner“
Quelle: Wutke 2009
(...)
Um nicht nur psychoanalytische Modelle zu verwenden, ist es mir wichtig, aufzuzeigen, dass auch in der akademischen Uni-Psychologie einiges sich zum Relationalen hin verändert hat und dies anhand zweier Forscher und deren Ueberlegungen, einerseits in kognitiv-behavioraler Richtung (Grawe), andererseits in systemisch-kybernetischer Richtung (Tschacher) aufzeigen:
Klaus Grawe und Wolfgang Tschacher - zwei Berner "Kybernetiker"
(...)
Die Kernberg-Vorlesungen:
Ralf Zwiebel
Was macht einen guten Psychoanalytiker aus? Grundelemente professioneller Psychotherapie
Otto Kernberg und viele andere (Hrsg., 2006)
Narzissmus - DAS Handbuch zum krankhaften Egoismus
Weitere Narzissmus-Konzepte: Positiver und weiblicher Narzissmus
Dr. Bärbel Wardetzki ist Diplom-Psychologin und Pädagogin. Als Gestalt-, Verhaltens- und Psychotherapeutin betreibt sie in München ihre eigene Praxis. Bärbel Wardetzki ist außerdem in der Supervision, als Coach und Referentin in Seminaren tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind u.a. Sucht und narzisstische Selbstwertprobleme. In ihren Publikationen beschäftigt sie sich mit Narzissmus, Kränkungen und Ess-Störungen:
"Was an uns allen narzisstisch ist, ist das Bedürfnis, dass wir unser Selbstwertgefühl erhöhen. Deswegen spricht man auch vom positiven Narzissmus. Es ist im Grunde genommen ganz schwierig, dieses Wort Narzissmus auf den Punkt zu bringen. Ich würde sagen, es kommt immer darauf an, aus welcher Motivation heraus es jemand tut: Muss ich in die Castingshow, damit ich mich überhaupt wert fühle und bin wertlos, wenn ich nicht genommen werde oder tue ich es, weil ich Lust habe, Interesse habe, weil es mir Spaß macht und weil es mir einfach gut tut.“
"Weiblicher Narzissmus ist kein diagnostischer Begriff. Ich habe es mal so genannt, weil ich es abtrennen wollte von dieser grandiosen Form des Narzissmus und mir war selber nicht klar, dass diese essgestörten Frauen überhaupt eine narzisstische Struktur haben. Für mich waren das damals immer die „grandiosen“ Männer. Dass auch die Menschen, die sich minderwertig fühlen, so ein überhöhtes Selbst entwickeln können, um das Selbstwertgefühl zu stärken und dass das auch Frauen sein können, das war bis dato nicht so deutlich und deswegen habe ich es einfach den weiblichen Narzissmus genannt."
"Narzissten suchen ja eigentlich Liebe und gesehen werden, wie sie sind, und angenommen werden, wie sie sind. Was sie aber kriegen sind die Bewunderungen für ihre Leistungen und ihr Schönsein und das ist das, was bricht.“
"Wie viel Autonomie kann ich haben und ausleben und in Beziehung bleiben? Da ist die Frage: Muss ich mich unterordnen oder muss ich mich sozusagen zum mächtigen Führer machen? Diese Frage muss immer gelöst werden.“
"Menschen mit einer narzisstischen Struktur haben tolle Fähigkeiten, sie sind sehr intelligent, eloquent, haben das Gespür für Macht, können wirklich Dinge vorantreiben, sie haben Visionen - das sind alles Fähigkeiten, die man gerade in einer Führungsposition wirklich braucht. Und dann sozialisieren ja auch die Positionen wiederum den Menschen, d.h. ich passe mich an die Strukturen an und an die Erfordernisse.“
"Die Selbstinszenierung ist, würde ich sagen, in Ordnung, solange sie mir nicht schadet, solange ich damit anderen nicht schade und nicht leide.“
Quelle: http://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/alpha-forum/alpha-forum-wissenschaft/baerbel-wardetzki-100.html
Formen des Narzissmus nach Millon
Millon unterscheidet folgende Formen des Narzissmus:
„Normaler narzisstischer Mensch“: Er erscheint kompetitiv, selbstsicher und erfolgreich.
„Charakterloser Narzisst“: Er ist betrügerisch, ausnutzend und skrupellos, hat häufig damit Erfolg, wird aber auch unter Umständen straffällig.
„Amouröser Narzisst“: Er präsentiert sich verführerisch und exhibitionistisch und kann sich nicht auf tiefe Beziehungen einlassen.
„Kompensatorischer Narzisst“: Er führt ein grandioses Selbst vor, dem jedoch massive Selbstzweifel, Minderwertigkeits- und Schamgefühle zugrunde liegen.
„Elitärer Narzisst“: Er legt ein überhöhtes Selbstwertgefühl an den Tag, ist angeberisch und selbstbezogen, begierig auf sozialen Erfolg und süchtig nach Bewunderung.
„Fanatischer Narzisst“: Er kompensiert sein niedriges Selbstwertgefühl und die reale Bedeutungslosigkeit durch Omnipotenzwahn. Sein Verhalten hat paranoide Züge.
Alternative Sichtweisen: Altmeyer, Dornes und die "relationale Wende"
Aus Sicht einer relationalen Psychoanalyse geht Intersubjektivität der Subjektivität voraus. Bereits die primärnarzisstische Erfahrung des Säuglings beruht auf der Versorgung durch eine „hinreichend gute“ Mutter, in deren Gesicht er etwas von sich selbst erfährt. Im Unbewussten brauchen wir diese Art von Resonanz, um zu erfahren, wer wir sind: Erst der „Spiegel des Anderen“ gibt uns das Gefühl, lebendig, gegenwärtig und anerkannt zu sein. Deshalb enthält auch die anscheinend narzisstische Selbstbezogenheit stets einen verborgenen Bezug zur sozialen Umwelt. Unter diesen Annahmen wird die These diskutiert, dass in Analogie zum intersubjektiv „kontaminierten“ Narzissmus des Einzelnen auch der Gruppennarzissmus nicht von innen entsteht, sondern in der unbewussten Spiegelung durch eine Außengruppe, auf die der narzisstische Modus angewiesen ist, um seine identitätsbildende Wirkung zu entfalten. Ausgehend vom Grundmodell einer reflexiven Identitätsbildung von Kollektiven lässt sich diese These anhand dreier Fallbeispiele von Gruppennarzissmus illustrieren und plausibel machen: der ethnisch-religiös aufgeladenen Gruppenidentitäten in den jugoslawischen Separationskriegen, dem kollektiven Narzissmus im so genannten „Kampf der Kulturen“ und der bis heute von einer gruppennarzisstischen Dynamik begleiteten Spaltungsgeschichte der psychoanalytischen Bewegung.
In der Bedeutung von Eigenliebe, Selbstbezogenheit und Beziehungslosigkeit hat der Narzissmus-Begriff längst Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Im kollektiven Bewusstsein ist er eine Art Gegenbegriff zu dem geworden, was in der Psychoanalyse Objektbeziehung heisst und mit Austausch, Kontakt, Einfühlung oder zwischenmenschlicher Begegnung zu tun hat. Wo Selbstverliebtheit herrscht, wo das eigene Ich im Mittelpunkt steht, ist für reife Beziehungen wenig Raum. Der Andere wird höchstens benutzt für narzisstische Zwecke. Immer noch hat dieser Narzissmusbegriff, metapsychologisch wie klinisch, eine psychopathologische Färbung.
Im Zuge der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse hat sich ein anderes, ein relationales Verständnis des Narzissmus im Rahmen einer Zwei-Personen-Psychologie entwickelt. Demzufolge hat die narzisstische Spiegelfunktion eine unverzichtbare Bedeutung nicht nur für die Identität des Einzelnen, sondern auch für das Gelingen einer Beziehung. Wir brauchen ein Gegenüber, das uns Antworten gibt, Rückmeldungen liefert, ein Echo unseres Selbst zurückwirft. Der Andere fungiert als eine Art unbewusster Spiegel, in dem wir uns erkennen, unser Selbstbild aber auch korrigieren und regulieren können.
Im narzisstischen Modus betrachten wir insgeheim diesen Anderen, wie er uns betrachtet und reagieren auf das, was wir sehen, vermuten oder phantasieren. Insofern ist der Narzissmus in einem Zwischenbereich angesiedelt, der das Selbst mit dem Anderen auf eigentümliche Weise verbindet.
(Martin Altmeyer aus dem "Zertifizierten Fortbildungsprogramm" 2011 der Arbeitsgemeinschaft für integrative Psychoanalyse, Psychotherapie & Psychosomatik Hamburg, Text leicht verändert, M.F.)
Elf Thesen zum Narzissmus aus relational-psychoanalytischer Sicht
These 1: Das Hauptproblem im psychoanalytischen Narzissmus-Diskurs ist die kategoriale Unklarheit seines Kernbegriffs; wir haben keine präzise Vorstellung darüber, was Narzissmus ist oder was wir darunter verstehen wollen.
These 2: Die theoriegeschichtliche Quelle der Konfusion um den Narzißmus-Begriff ist die Ambivalenz in seiner Metapsychologie. Hinter den unterschiedlichen begrifflichen Verwendungen bei Freud lassen sich zwei gegensätzliche Konzeptionen erkennen: eine monadologische und eine umweltbezogene.
These 3: Die historische Folge der kategorialen Schwäche des Begriffs ist eine verwirrende Vielzahl von Narzißmus-Modellen.
These 4: Der Kern einer intersubjektiven Definition des Narzissmus ist seine Umwelt- und Objektbezogenheit.
These 5: Die Versuche einer triebtheoretischen Narzissmus-Definition führen zu den objektpsychologischen Aporien des Libido-Modells.
These 6: Der Narzissmus, als Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl definiert, dokumentiert die Verwandlung einer schützenden und wertschätzenden Beziehung in eine Modalität des Selbsterlebens.
These 7: Die »klassische« psychoanalytische Konzeption des primären Narzissmus muss angesichts der Befunde der Säuglingsforschung korrigiert werden; das primärnarzisstische Erleben, »wenn man nur die Mutterpflege hinzunimmt« (Freud), ist durch eine Theorie der primären Intersubjektivität besser zu erklären als durch die Annahme eines objektlosen seelischen Urzustands.
These 8: Der Narzissmus kann als intersubjektiv vermittelte Selbstbeziehung verstanden werden, die an die Erfahrung von Anerkennung durch Objekte gebunden ist; er setzt Selbstreflexivität voraus, also einen Blick auf das Selbst »aus der Perspektive des Anderen«. Es ist ein Blick mit geringer Distanz; pathologische Formen des Narzißmus entstehen als Antworten auf ein bedrohliches Gefühl verweigerter Anerkennung.
These 9: Eine Definition des Narzissmus, die seine vermittelnde Funktion zwischen Selbst und Objekt erfassen will, braucht als Bezugsrahmen eine intersubjektive Theorie des Selbst, die nur interdisziplinär entwickelt werden kann.
These 10: Eine Objektbeziehungstheorie des Narzißmus kann sich auf eine intersubjektive Tradition in der psychoanalytischen Theoriebildung stützen, der von Freud über Loewald und Winnicott bis zur postkleinianischen Schule und zum amerikanischen Intersubjektivismus reicht.
These 11: Im psychoanalytischen Diskurs der Post-Moderne, der das Selbst dezentriert und damit zugleich in einen intersubjektiven Bezugsrahmen stellt, wird zusätzlich zur inneren und äußeren Realität ein dritter Bereich der vermittelnden Erfahrung erkennbar, in dem auch der Narzißmus anzusiedeln ist.
Quelle: Martin Altmeyer (2000). NARZISSMUS UND OBJEKT - Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit S.226-227
"Die Erfolgsgeschichte des psychoanalytischen Narzissmusbegriffs hatte in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Die Psychoanalyse, damals auf dem Gipfel ihrer gesellschaftlichen Anerkennung, hatte eine neue Strömung hervorgebracht, die als eine Art erweiterte Narzissmustheorie mit dem Namen Kohut eng verbunden und heute als Selbstpsychologie etabliert ist. Im zeitdiagnostischen Diskurs hatte die narzisstische Persönlichkeit die autoritäre als vorherrschenden Sozialcharakter abgelöst und galt in der kritischen Pädagogik gar als „neuer Sozialisationstyp“ (Ziehe 1975). Der Narzissmus war als „protestantische Ethik von heute“ (Sennett 1983) zur Signatur einer ganzen Epoche erklärt geworden."(aus: Altmeyer, Martin (2002). „Video(r) ergo sum (Ich werde gesehen, also bin ich)“ - Vortrag im Rahmen der 52. Lindauer Psychotherapiewochen 2002 (www.lptw.de)
"Dieses Modell der narzisstischen Vereinzelung, das die sozialwissenschaftlichen Analysen einer in unverbundene Individuen zerfallenden Single-Gesellschaft begleitete, hat im Zeitalter des digitalen Kapitalismus offenbar ausgedient. Eine Generation später taugt es womöglich nicht mehr für eine allseitig vernetzte Welt, in der es um Verbindung untereinander geht. Es scheint, als ob die Beziehung zum Anderen, auch wenn sie virtueller Natur ist, ein Revival erlebt. Interaktion ist der Schlüsselbegriff des beginnenden 21. Jahrhunderts, wie wir am Siegeszug der neuen Medien sehen. Die diskursive Hochkonjunktur des Narzissmus zumindest ist vorbei." (ebenda)
"Die Verbindung von Metapsychologie und Zeitdiagnose, die ich Ihnen aufzeigen möchte, liegt in einer intersubjektiven Reformulierung des psychoanalytischen Narzissmusbegriffs (vgl. Altmeyer 2000). Erst ein solcher definitorischer Kunstgriff gestattet uns, charakteristische Erscheinungen des Zeitgeists als verdeckte Suche nach spiegelnder Anerkennung zu deuten, in denen sich das bildet, was ich postmoderne Identität nenne. Um es pointiert auszudrücken:
Im grassierenden medialen Narzissmus kommt eine Basisinteraktion der Menschwerdung zum Vorschein, in der sich das Selbst nicht etwa selbstbespiegelt, sondern sich im Spiegel des Anderen erkennt."
"Das interaktive Medienspiel um das eigene Bild sagt uns etwas Anderes über den Narzissmus, als das, was wir gewohnt sind, wenn wir von der Selbstverliebtheit reden. Ich werde gesehen, also bin ich! Dieses narzisstische Muster der Identitätsfindung scheint sich heute universell etabliert zu haben. Die Spiegelfunktion des Narzissmus, einst eine Domäne von Kleinkindalter, Pubertät und Adoleszenz, ist in einer Welt penetranter Medialisierung derart sozialisiert, dass wir nicht mehr unterscheiden können: Hat hier ein Infantilisierung der Gesellschaft stattgefunden, die im Gegenzug die Kindheit als abgegrenzte Phase zum Verschwinden bringt; oder sollen wir von einer kollektiven Regression unter der totalisierenden Herrschaft der Warenproduktion sprechen sollen, welche auch das Selbst noch zur Ware macht, die verkauft werden muss. Das Videor ergo sum ist gewissermassen das geheime Mantra einer narzisstischen Phantasie, die in den Kapriolen der zeitgenössischen Lebenswelt immer wieder aufs Neue inszeniert wird". (ebenda)
Kernbefund: Nicht mehr Sexualität, sondern Identität sei das seelische Hauptproblem unserer Zeit.
Mitchell SA (2003) Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag, Gießen
Kränkung und Wut, Scham und Würde - zur Diagnostik des Narzissmus
Diagnostik mittels beschreibenden Klassifikationssystemen
Merkmale der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (F 60.81; ICD-10)
– Grössengefühl in bezug auf die eigene Bedeutung (z.B. die Betroffenen übertreiben ihre Leistungen und Talente, erwarten ohne entsprechende Leistungen als bedeutend angesehen zu werden).
– Beschäftigung mit Phantasien über unbegrenzten Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder ideale Liebe.
– Ueberzeugung, „besonders“ und einmalig zu sein und nur von anderen besonderen Menschen oder solchen mit hohen Status (oder von entsprechenden Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen zusammen sein zu können.
– Bedürfnis nach übermässiger Bewunderung.
– Anspruchshaltung; unbegründete Erwartung besonders günstiger Behandlung oder automatischer Erfüllung der Erwartung.
– Ausnutzung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Vorteilsnahme gegenüber anderen, um eigene Ziele zu erreichen.
– Mangel an Empathie; Ablehnung, Gefühle und Bedürfnisse anderer anzuerkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.
– häufiger Neid auf andere oder Überzeugung, andere seien neidisch auf die Betroffenen.
– arrogante, hochmütige Verhaltensweisen und Attitüden.
Merkmale der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (301.81; DSM-IV)
Ein tiefgreifendes Muster von Grossartigkeit (in Phantasie oder Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden
Kriterien müssen erfüllt sein:
(1) hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (übertreibt z.B. die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden),
(2) ist stark eingenommen von Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe,
(3) glaubt von sich „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können,
(4) verlangt nach übermässiger Bewunderung,
(5) legt ein Anspruchsdenken an den Tag, d.h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen,
(6) ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch, d.h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen,
(7) zeigt einen Mangel an Empathie: ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren,
(8) ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie,
(9) zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.
Diagnostik mittels Testdignostik, v.a. Fragebögen
Deneke F-W, Hilgenstock B (1989) Das Narzissmus-Inventar. Bern: Huber
Im deutschsprachigen Raum steht seit 1989 das Narzissmus-Inventar für die Diagnostik relevanter Bereich der Organisation und Regulation narzisstischer Persönlichkeitsstörungen zur Verfügung (Deneke u. Hilgenstock 1989).
Faktorenanalytisch wurden vier Dimensionen konzipiert. Diese vier Dimensionen (mit den jeweiligen Subskalen) stellen plastisch dar, was alles unter Narzissmus zu subsumieren ist:
das bedrohte Selbst (ohnmächtiges Selbst, Affekt-/Impulskontrollverlust, Derealisation/Depersonalisation, basales Hoffnungspotenzial, Kleinheitsselbst, negatives Körper-Selbst,
soziale Isolierung, archaischer Rückzug)
das narzisstische Selbst (Größen-Selbst, Sehnsucht nach dem idealen Selbstobjekt, Gier nach Lob und Bestätigung, narzisstische Wut)
das idealistische Selbst (Autarkie-Ideal, Objektabwertung, Werte-Ideal, symbiotischer Selbstschutz)
das hypochondrische Selbst (hypochondrische Angstbindung, narzisstischer Krankheitsgewinn).
Etwas ausführlicher:
Das bedrohte Selbst, welches sich auf die Instabilität des Selbst bezieht (mit den acht Subskalen ohnmächtiges Selbst, Affekt-Impulskontrollverlust, Derealisation/Depersonalisation, basales Hoffnungspotential, Kleinheitsselbst, negatives Körperselbst, soziale Isolierung, archaischer Rückzug)
das „klassisch“ narzisstische Selbst, welches sich auf Kohuts (1977) Selbsttheorie bezieht (mit den Subskalen Grössenselbst, Sehnsucht nach dem idealen Selbstobjekt, Gier nach Lob und Bestätigung, narzisstische Wut)
das idealistische Selbst, welches zum Teil etwas an Kernbergs (1975) Beschreibungen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung erinnert (mit den vier Subskalen Autarkieideal, Objektabwertung, Werteideal, symbiotischer Selbstschutz) und das
hypochondrische Selbst, welches sich auf den Körper konzentriert (mit den zwei Subskalen hypochondrische Angstbindung und narzisstischer Krankheitsgewinn).
Die Autoren gehen von einem lebenslang wirksamen, sich komplex regulierenden und vielfältig verknüpften Selbstsystem aus, welches motivational durch zwei gegensätzlich wirksame Prinzipien (Streben nach spannungsfreier Ruhe, Streben nach Stimulierung oder Unruhe) bestimmt wird. Die theoretischen Begründungen leiten sie von Joffe und Sandler (1967), Holder und Dare (1982) sowie Kohut (1969) und Kernberg (1975) ab.
(...)
Diagnostik mittels SASB (Lorna S. Benjamin 1996):
Interpersonelle Ansätze zur Diagostik der NPS
Mit dem Diagnostischen Hilfsmittel SASB (als Fragebogen und/oder als Rating-Instrument) kommt die Therapieforscherin und Interpersonale Psychotherapeutin Lorna Benjamin also zu folgenden, die narzisstische Persönlichkeitsstörung kennzeichnenden Merkmalen (Benjamin 1996).
Mittels des SASB (Strukturale Analyse sozialen Verhaltens) versucht Benjamin (1996) den interpersonalen
Kontext zu berücksichtigen, in dessen Rahmen die Symptome einer bestimmten Persönlichkeitsstörung auftreten.
Durch Einbeziehung des interpersonalen Kontexts reduzieren sich die Ueberschneidungen verschiedener Persönlichkeitsstörungen
mit gleicher Symptomatik. Benjamins Modell ist abgeleitet von Sullivans interpersonaler Theorie und dem interpersonalen
Kreismodell von Leary (s. Tress 1993). Es werden drei Bereich interpersonalen Verhaltens unterschieden:
Fokus (mit den Ebenen des interaktionalen Fokus auf dem anderen=aktiv, auf sich selbst=reaktiv, auf dem Umgang
mit sich selbst=Introjekt)
Affiliation (Liebe vs. Haß)
Interdependenz (Autonomie vs. Kontrolle)
Affiliation und Interdependenz werden je nach Fokusebene unterschiedlich klassifiziert. Mit Hilfe dieses Modells können interpersonale Handlungen und Aussagen (auf mikroskopischer Ebene sind dies Sprechakte) in ihrer jeweiligen Gerichtetheit
(aktiv, reaktiv, Introjekt) und Dimensionalität (Affiliation und Interdependenz) über einen Kodierungsvorgang exakt beschrieben werden. Benjamin (1996) versucht dies auch mit den Persönlichkeitsstörungen der Achse II des DSM-IV und kommt, unter Annahme der Darstellung historischer interpersonaler Probleme in den aktuellen Beziehungen sowie damit einhergehenden
Aengsten und Wünschen im SASB zu folgenden, die narzißtische Persönlichkeitsstörung kennzeichnenden Merkmalen (nach Benjamin
1996 S.144):
– kontrollieren, beschämen, angreifen, ignorieren (aktiv);
– behaupten (reaktiv);
– sich selbst lieben, sich selbst vernachlässigen, sich selbst beschämen (Introjekt).
Als Wünsche treten auf:
- geliebt und beschützt zu werden und auf Personen zu treffen, die sich unterwerfen.
Aengste sind:
- beschämt, ignoriert oder kontrolliert zu werden.
Hauptcharakteristik ist ein grandioses Gefühl eigener Bedeutsamkeit sowie Ansprüchlichkeit.
Rücksichtsloser Umgang mit sich selbst stellt eine Ausschlusscharakterisierung dar. Benjamin übersetzt mit Hilfe des SASB die
Items des DSM-IV in eine interpersonale Sprache (s. Benjamin 1996, S. 149–152).
.
.
Weiterführendes zur Strukturalen Analyse sozialen Verhaltens SASB siehe auch:
Strukturalen Analyse sozialen Verhaltens SASB - Markus Frauchiger 1994
Literatur zur Diagostik des Narzissmus:
Deneke F-W (1989) Das Selbst-System. Psyche 43: 577–608
Deneke F-W, Hilgenstock B (1989) Das Narzissmusinventar. Huber, Bern Stuttgart Toronto
Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E (1994) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Huber, Bern
Agency und Communion - Forschungsergebnisse aus der Kognitiven Verhaltenstherapie
Spannend zu beobachten ist auch beim Narzissmus-Thema eine Parallelität in den Forschungstraditionen, meist ohne dass die eine Forschergruppe die andere erwähnen, geschweige denn als Quelle benennen würde. So kommt es, dass auch in der etablierten "Szene" der Kognitiven Verhaltenstherapie, wie sie mittlerweile an den meisten europäischen Universitäten in Postgradualen Studiengängen gelehrt wird sowie in der Grundlagenforschung v.a. der Speziellen- und der Sozialpsychologie von Narzisstischen Persönlichkeitseigenschaften u.ä. die Rede ist.
Beispielhaft soll hier Carmen Amreins 2011 eingereichte Master-Thesis den Stand der (Forschungs-)Dinge erläutern:
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"Das psychologische Konzept Narzissmus scheint die Menschheit schon seit einigen Jahrhunderten zu faszinieren. Die heutige [akademische, M.F. Uni-]Psychologie beschreibt narzisstische Individuen nicht nur mit den Eigenschaften arrogant und selbstverliebt, sondern versucht ein umfassenderes und akkurateres Verständnis von Narzissmus zu entwickeln. Die Erforschung dessen birgt jedoch einige Schwierigkeiten und einige Unklarheiten. Obgleich es den Anschein macht, dass dieses Konstrukt nur auf Selbstgefälligkeit hinweist, steckt weit mehr dahinter.
Angesehene Forscher vermuten, dass die narzisstische Pathologie aufgrund derer rätselhaften Natur so interessant ist (Bosson, Lakey, Campbell, Zeigler-Hill, Jordan & Kemis, 2008).
Für die Erfassung von Narzissmus und dessen Eigenschaften wurden diverse Messinstrumente erarbeitet und noch immer sind Forscher damit beschäftigt diese zu verbessern.
Durch die steten Fortschritte wurden aber in den letzten 20 Jahren Belege erbracht, dass das Konstrukt Narzissmus in zwei Typen zu unterteilen ist; einerseits dürfte es offene und andererseits versteckte Narzissten geben (vgl. Wink, 1991). Die im Alltag bekannte Form des selbstverliebten und selbstbezogenen Menschen, der offen Anerkennung einfordert und immer
der Beste sein will, repräsentiert die offene Form. Da dieser Typ offensichtlicher zu erkennen ist, lag das Augenmerk der Untersuchungen lange Zeit vor allem auf diesem. In neuster Zeit vermehren sich jedoch die Analysen bezüglich des eher wenig bekannten vulnerablen Narzissmus und bringen neue wertvolle Erkenntnisse hervor, um das Konstrukt Narzissmus
umfänglich erfassen zu können.
In der [kognitiven, M.F.] Wissenschaft sind vermehrt auch die Zusammenhänge dieser beiden Narzissmustypen zu anderen psychologischen Konstrukten, vor allem zum Selbstwert, von Interesse. Neuere Studien zeigten wichtige Erkenntnisse bezüglich den empirischen Messungen von explizitem und implizitem Selbstwert und den damit verbundenen Schwierigkeiten auf.
Campbell, Bosson, Goheen, Lakey und Kemis (2007) sowie Gregg und Sedikides (2010) wiesen beispielsweise daraufhin, dass es zu berücksichtigen sei, dass der Selbstwert (explizit oder implizit) unterschiedliche Kategorien aufweist und gewisse Messinstrumente nur spezifische Bereiche (Agency versus Communion) [zwei bekannte Konzepte der empirischen Sozialpsychologie der 60er Jahre, s.u., M.F.] abdecken.
Besser und Kollegen (2009, 2010) fanden in Anlehnung an diese Befunde Zusammenhänge zwischen Agency beziehungsweise Communion und dem unterschiedlichen Verhalten von offenen versus versteckten Narzissten. Einen weiteren relevanten Forschungszweig stellt derjenige der Depression dar, da versteckter Narzissmus eine hohe Korrelation mit dieser Krankheit aufweist und aufgrund dessen zusätzliche Schlussfolgerungen gemacht werden können.
Quelle: Carmen Amrein (2011). Vulnerabler Narzissmus und Selbstwert, unveröffentlichte Masterthesis der Uni Bern
TEIL III: Soziopathie, Psychopathie, Amok und maligner Narzissmus
3.1. PSYCHOPATHIE und Soziopathie als gesteigerter Narzissmus mit starken sozialen Folgen
"Psychopathen rauben keine Bank aus, sie werden Bankenvorstand"
3.1.1. Scham, Schuld, Neid - Kränkung und Wut - die Rückseite des Narzissmus
Zuerst ein paar einleitende allgemeine Worte von Mentzos zu den drei Emotionen Scham, Schuld und Neid:
Schamgefühle signalisieren ein herabgesetztes oder bedrohtes Selbstwertgefühl und entstehen z.B. in einer Situation, in der etwas offen wird, was wir vor der Welt verbergen möchten, weil es uns wenigstens aus subjektiver Sicht bloßstellt oder lächerlich macht. Das Schamgefühl ist ein recht unangenehmes und unlustvolles Gefühl, wodurch es ja auch seine motivierende Funktion entfaltet: Es soll uns veranlassen, den Umstand, der unsere Wertigkeit und Selbstachtung gefährdet, zu vermeiden oder rückgängig zu machen. Von daher kann man, in Analogie zu der Signalangst, auch von einem Signalschamgefühl sprechen. Dies wäre aber die »normale«, die ungestörte Funktion des Schamgefühls. Es motiviert zu einer Korrektur der Umstände oder des eigenen Verhaltens, die dazu führen soll, unsere Wertigkeit zu bewahren. Sehr oft kommt es aber zu einer Störung dieser Funktion.
Scham bzw. die Antizipation der Scham wird genau wie die Angst bei den Angststörungen nicht adäquat und sinnvoll mobilisiert. Sie wird unangemessen erzeugt oder sie persistiert und wird ständig größer. Und nun muss diese Scham (im Rahmen eines kurzschlüssig wirksam werdenden Lust-Unlust-Prinzips) abgewehrt, verborgen, unsichtbar gemacht werden. Bei der sogenannten sozialen Phobie, bei der der Betreffende große Angst hat, sich dem Blick der Anderen auszusetzen, weil er dann von Scham überschwemmt wird, sorgt diese Phobie halbbewusst und allmählich auch automatisch dafür, dass es zu keinen solchen Situationen, zu keiner Schamgefühle erzeugenden Exposition kommt. Bei genauer Analyse stellt man fest, dass hier ein intrapsychischer Konflikt vorliegt: Das natürliche Bedürfnis, Sozialkontakte herzustellen und Bindungen einzugehen, gerät zu einem Gegensatz zu dem Bedürfnis nach Selbstschutz durch Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit. Der Konflikt wird in der sozialen Phobie einseitig pseudogelöst, der Selbstschutz wird auf Kosten der Bindungs- und Kontaktbedürfnisse, die geopfert werden, gesichert.
Das Schuldgefühl, auch ein emotionaler Indikator wie die Scham, signalisiert eine stattgefundene oder bevorstehende Verletzung der Rechte und Bedürfnisse der Anderen. Auch hier kann man sich vorstellen, dass unter normalen Bedingungen das Schuldgefühl als ein Signalschuldgefühl zu einer vom »reifen Gewissen« (vgl. das Kapitel XY über Mentzos' Drei-Säulen-Modell) veranlassten Korrektur und Wiedergutmachung motiviert. Sehr oft jedoch verliert das Schuldgefühl diese Funktion eines angemessenen Signals. Es wird (z.B. unter dem Einfluss eines sehr strengen Ueber-Ich) dann subjektiv als eine unerträgliche Last empfunden. Es muss deswegen abgewehrt werden, also entweder verdrängt oder durch Gegenaktionen (und nicht durch adäquate Korrektur der Realität) wie etwa durch Selbstschädigung gleichsam ausgeglichen werden.
Also auch hier ist ein zumindest subjektiv entstandener Konflikt - der Konflikt zwischen egoistischen Interessen einerseits und Rechten und Bedürfnissen des Anderen andererseits - nicht adäquat und realistisch geprüft und gegebenenfalls korrigiert, sondern mit Hilfe einer masochistischen Strategie quasi ausgewogen worden, wodurch das quälende Schuldgefühl eliminiert oder wenigstens gemindert werden konnte - allerdings meistens nur vorübergehend!
Auch Neidgefühle sind zunächst Indikatoren und Reaktionen auf einen als Minderung des eigenen Selbstwerts empfundenen Vorteil, Vorzug oder Erfolg eines Anderen. Sehr oft bleibt es jedoch nicht bei diesem normalen Ansporn zur Verstärkung eigener Bemühungen. Der Neid verliert seine Signalfunktion und wird zu einem feindseligen Gefühl, mit eventuell auch schädigenden Folgen für den Anderen. Diese betont und extrem selbstbezogene Einstellung und Handlungsbereitschaft steht aber im krassen Gegensatz nicht nur zu den eigenen prosozialen Tendenzen, sondern auch zu sozialen Normen. Aus diesem Grund muss das peinigende und peinlich werdende Neidgefühl versteckt, verdrängt, verleugnet werden. Dadurch wird aber eine produktive Lösung des (intrapsychischen) Konflikts unmöglich gemacht zugunsten einer krankhaften Einengung und letztlich auch Einschränkung der eigenen Entwicklung.
Narzisstische Emotionen - eine soziologische und philosophische Perspektive
„Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ von Axel Honneth
Axel Honneth schildert in Kapitel 6 seines Werkes „Kampf um Anerkennung“, wie ein Individuum in eben dessen Kampf verletzt werden und durch resultierende affektive Erfahrungen gesellschaftlichen Schaden nehmen kann. Er zeigt verschiedene Formen und Grade der Missachtung, also dem Entzug oder der Verweigerung von Anerkennung auf, welche sich auf vielerlei Weisen der Schädigung des positiven Selbstbildes manifestieren können: Von einer psychischen Verletzung etwa, die sich nur auf die Vorenthaltung zentraler Grundbedürfnisse und –rechte beschränkt, über eine Demütigung, wie beispielsweise ein öffentliches Zur-Schau-Stellen einer Person, bis hin zu physischer Gewaltanwendung.
Drei Missachtungsformen
Die grundlegendste Form der Erniedrigung eines Subjekts stellt die Ausübung körperlicher Gewalt wie Folter und Vergewaltigung dar, welche eine schwerwiegende Verletzung des Vertrauens in die eigene physische Autonomie und Kontrolle und somit des Selbst- und Weltvertrauens nach sich zieht. Ebenso wie die Differenzen und Veränderungen gesellschaftlicher Legitimationssysteme ist auch die Wahrnehmung einer moralischen Verletzung von Anerkennung einem stetigen Wandel unterlegen.
Darunter fällt unter anderem die Entziehung von Rechten innerhalb einer Gesellschaft. Aus der Sicht des Subjekts impliziert dies eine abgesprochene Gleichstellung moralischer Zurechnungsfähigkeit und somit die Erniedrigung als Interaktionspartner.
Eine dritte Form der Missachtung stellt die sogenannte „Beleidigung“ oder „Entwürdigung“ dar: Hierbei wird die Person in ihrer „Ehre“ oder „Würde“ verletzt - das Infragestellen des sozialen Werts der persönlichen Fähigkeiten zieht die Sicht auf den eigenen gesellschaftlichen „Status“ in Mitleidenschaft. Auch die individuelle Bewertung sozialer Wertschätzung ist institutionell verankert und unterliegt somit einem historischen Wandlungsprozess. Ebenfalls gemeinsam haben die drei Missachtungsformen eine Beschreibung durch Metaphern, wie z.B. die des „psychischen oder sozialen Todes“ oder der „Kränkung“.
Die Identitätsgefährdung ist bei sozialer Erniedrigung ebenso real wie im physischen Leben durch körperliche Krankheit. Diese Parallelen verleiten dazu, auch für soziale Arten der Mißachtung gleichermaßen Symptome wie Formen negativer Gefühlsempfindungen zu benennen, welche auf die „Krankheit“ aufmerksam machen. Andererseits lassen sich dadurch auch Rückschlüsse ziehen, was die Integrität eines Subjekts konstituiert und wie um deren Preis nach sozialer Demütigung ein praktischer Kampf eingegangen wird. Laut Honneth sind negative emotionale Reaktionen wie Wut, Scham, Kränkung oder Verachtung klare Indikatoren für einen Entzug von Anerkennung.
Diese Gefühle sind Rückstöße nicht erreichter Erwartungshaltungen, welche auf instrumenteller und normativer Ebene gesetzt werden können und bei Misserfolg die Ich-Ideale des Subjekts verletzen. Diese Verletzung, welche in eben beschriebenen emotionalen Reaktionen resultiert, beinhaltet wiederum die Chance der kognitiven Erkenntnis sozialen Unrechts und kann somit politischen Widerstand entfachen. Das Potential der Transformation in politische Energie wird allerdings in nicht geringem Ausmaße von der politisch-kulturellen Umwelt des betroffenen Subjekts beeinflusst.
(...)
AMOK oder das überforderte Individuum in einer entfesselten Multioptionsgesellschaft
»Gesetzt den Fall, Sie sind noch nie Amok gelaufen: wie erklären Sie es sich, dass es noch nie dazu gekommen ist?«
(angelehnt an: Max Frisch (19xx: 22. Frage in den Tagebüchern 19xx-xx), S. xxxxx)
Nachdem wir nun definitiv die Grenze zwischen normalem und pathologischem Narzissmus überschritten haben und nun zu den ganz grossen Gefühlen der Verletzung, Kränkung, Wut und Aggression kommen, m öchte ich zuerst die etwas sanftere Definition von Kohut thematisieren, bevor wir dann mit Kernberg beim Todestrieb und den eher kriegerischen Ansichten zur Narzissmus-Regulation gelangen:
Heinz Kohuts besonderes Konzept bezüglich der Aggression ist die narzisstische Wut, die eine Reaktion auf schwere narzisstische Kränkungen sein kann. Die narzisstische Wut kann Ausmaße annehmen, die das Mass normaler Aggression als Zeichen eines Aggressionstriebes oder des Wut-Affektes bei weitem überschreitet. Kohut (1973b) beschreibt dieses Phänomen wie folgt:
"Die menschliche Aggression ist dann am gefährlichsten, wenn sie an die zwei großen absolutistischen psychologischen Konstellationen geknüpft ist: das grandiose Selbst und das archaische allmächtige Objekt. Der grauenhaftesten Zerstörungsgewalt des Menschen begegnet man nicht in Form wilden, regressiven und primitiven Verhaltens, sondern in Form ordnungsgemäßer, organisierter Handlungen, bei denen die zerstörerische Aggression des Täters mit der absolutistischen Ueberzeugung von seiner eigenen Größe und mit seiner Hingabe an archaische allmächtige Figuren verschmolzen ist. (...)
Es ist selbstverständlich, daß die narzißtische Wut zum großen psychologischen Gebiet der Aggression, des Zorns und der Destruktivität gehört und daß sie ein spezifisches umschriebenes Phänomen innerhalb dieses Gebiets darstellt. Weiterhin entspricht sie, vom Gesichtspunkt der Sozialpsychologie aus, zweifellos der Kampfkomponente der "fight-flight-reaction" (Kampf-Flucht-Reaktion), mit der biologische Organismen auf Angriffe reagieren. Genauer gesagt: es ist leicht zu erkennen, daß das narzißtisch verwundbare Individuum auf tatsächliche oder erwartete narzißtische Kränkungen entweder mit schamerfülltem Rückzug (Flucht) oder mit narzißtischer Wut (Kampf) reagiert. (...)
Narzißtische Wut kommt in vielen Formen vor, ihnen allen jedoch ist ein besonderer psychologischer Anstrich gemeinsam, der ihnen eine eindeutige Stellung im weiten Reich der menschlichen Aggression verleiht. Der Rachedurst, das Bedürfnis, ein Unrecht zu korrigieren, eine Beleidigung auszumerzen, mit welchen Mitteln auch immer, und ein tief eingewurzelter unerbittlicher Zwang bei der Verfolgung all dieser Ziele, der jenen keine Ruhe läßt, die eine narzißtische Kränkung erlitten haben. (...) Der Wunsch, eine passive Erfahrung in eine aktive zu verwandeln (Freud 1920), der Mechanismus der Identifikation mit dem Angreifer (Anna Freud 1936), die sadistischen Spannungen, die sich in jenen Individuen erhalten haben, die als Kinder von ihren Eltern sadistisch behandelt wurden - all diese Faktoren tragen dazu bei, die Bereitschaft des zu Schamreaktionen neigenden Individuums zu erklären, sich in einer potentiell Scham erweckenden Situation eines einfachen Mittels zu bedienen: dem anderen aktiv (oft vorwegnehmend) jene narzißtischen Kränkungen zuzufügen, die zu erleiden man selbst am meisten fürchtet. (...) Der narzißtisch Gekränkte aber kann nicht ruhen, bis er den unscharf wahrgenommenen Beleidiger ausgelöscht hat, der wagte, ihm entgegenzutreten, nicht mit ihm übereinzustimmen oder ihn zu überstrahlen. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« fragt das grandios-exhibitionistische Selbst. Und wenn ihm erwidert wird, jemand anders sei schöner, gescheiter oder stärker, dann kann es wie Schneewittchens böse Schwiegermutter keine Ruhe mehr finden, weil es den Zeugen nicht beseitigen kann, der der Überzeugung, einmalig und vollkommen zu sein, widersprochen hat. (...)
Der narzißtisch Kränkbare hingegen sieht den Feind, der archaische Wut in ihm wachgerufen hat, nicht als autonome Quelle eigenständiger Triebregungen, sondern als Fehler in einer narzißtisch wahrgenommenen Realität - er ist für ihn ein widerspenstiger Teil seines erweiterten Selbst (expanded self). Er glaubt daher, daß er das Recht habe, volle Kontrolle über ihn auszuüben, und seine bloße Unabhängigkeit, ja schon sein Anderssein, stellt eine Beleidigung für ihn dar. (...)
Wir können aber auch, wenn wir das psychodynamische Geschehen mit anderen Worten beschreiben, sagen: jeder neigt zwar dazu, auf narzißtische Kränkungen mit Beschämung und Ärger zu reagieren - quälendste Scham und heftigste narzißtische Wut entstehen jedoch bei jenen Individuen, für die ein Gefühl absoluter Kontrolle über eine archaische Umgebung unabdingbar ist, weil die Aufrechterhaltung ihres Selbst und ihrer Selbstachtung auf der bedingungslosen Verfügbarkeit der billigend-spiegelnden Funktion eines bewundernden Selbst-Objekts beruht oder auf der stets vorhandenen Gelegenheit zur Verschmelzung mit einem idealisierten Selbst-Objekt. (...)
Kann narzißtische Wut gezähmt werden, kann sie unter die Dominanz des Ichs kommen? Die Antwort auf diese Frage ist bejahend, aber das »Ja« ist nicht bedingungslos. (...) Die Umwandlung narzißtischer Wut wird jedoch nicht direkt erreicht - d.h. dadurch, daß man das Ich ermahnt, seine Kontrolle über die Wutimpulse zu verstärken -, sondern sie wird indirekt als Folge der allmählichen Transformation des narzißtischen Nährbodens zustande gebracht, der die Wut speiste. (...) Als letztes will ich nun den Versuch wagen, das Wesen der narzißtischen Wut in metapsychologischen Begriffen zu erklären. (...) Während jedoch die wesentliche Störung, die dem Schamerleben zugrunde liegt, den grenzenlosen Exhibitionismus des grandiosen Selbst betrifft, bezieht sich die wesentliche Störung, die der Wut zugrunde liegt, auf die Omnipotenz dieser narzißtischen Struktur. Das grandiose Selbst erwartet absolute Kontrolle über eine archaische Umgebung, die es im narzißtischen Sinn, d.h. als zum Selbst gehörig, auffasst. (...) Wenn sich die Umgebung jedoch weigert, diese Erwartung zu erfüllen - sei es eine nicht-empathische Mutter, die auf die Wünsche des Kindes nicht reagiert, oder ein Tischbein, das der Zehe des Kindes im Wege ist (...) - dann wird die vordem reibungslos vor sich gehende Entfaltung jener aggressiven Kräfte gestört, die dazu bestimmt waren, die Herrschaft über das Selbst-Objekt auszuüben. (S.533f.)
Theweleits "Das Lachen der Täter" - Warum Menschen Lust am Töten haben
Klaus Theweleit: Emeritierter Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, Schriftsteller und Fußball-Fan.
Er nimmt mit "Das Lachen der Täter" seinen eigenen Anfangsfaden aus den "Männerphantasien" von 1977 wieder auf.
Das Töten ist nicht abstrakt: Dieser rote Faden zieht durch "Das Lachen der Täter" von Klaus Theweleit. Sein Versuch, scheinbar unbegreifliche Gewaltorgien zu erklären, ist für die Leser harter Stoff.
"Das Töten ist kein abstrakter Vorgang; das Erlernen des Tötens schon gar nicht. Jedes Detail der Zerstörung ist körperlich."
Diese scheinbar binsenweise Feststellung ist der rote Faden, aus dem Klaus Theweleit sein "Psychogramm" knüpft. Die zentralafrikanischen Kindersoldaten, deren Tötungszurichtung er Uzodinma Iwealas Roman "Du sollst Bestie sein!" entnimmt, sind nur ein Beweis. Andere Beispiele liefern Kambodscha, Indonesien, Ruanda, Guatemala, ethnische Säuberer auf dem Balkan, uniformierte Mörder des Nazistaats, Lynchmobs und CIA-Folterer der USA, IS-Dschihadisten. Und Anders Breivik, der das ideologische Unterfutter zu seiner Tat gleich mitliefert.
Die vier Elemente von Gewaltorgien
In Breiviks "Manifest" finden sich alle vier Elemente, die angeblich unbegreiflichen Gewaltorgien eigen sind: 1. die Tat bleibt straflos, sie passiert außerhalb geltenden Rechts; 2. sie ist bühnenartig inszeniert; 3. sie wird gefeiert, 4. sie erfolgt in "höherem Auftrag" – eines Staates (der deutschen Nationalsozialsten etwa), eines Widerstands (zur "Rettung des Abendlands" wie bei Breiviks Tempelrittern) oder gottbefohlen.
Zum Feiern gehört ein verstörendes Dauer-Gelächter. Breivik lacht laut hinter den Flüchtenden her; Ruandas mordhetzender Radiosender hat einen "Houseclown"; IS-Postings sind voller Smileys; indonesische Folterer veranstalten fröhliches Re-Enactment ihrer Taten; Wehrmachtsoldaten erzählen sich schenkelklopfend von Massenerschießungen. Auch "normale" Politiker beherrschen es: Die Dulles-Brüder, US-Außenminister John Foster und CIA-Chef Allen, posieren lachend mit Staatschefs, deren Tod sie längst planen.
Wie werden junge Männer zu Killern?
Das Gewebe, das Theweleit knüpft, ist nicht hermetisch-dogmatisch. Es ist breitmaschig, verknotet Schnittmengen, lässt Luft zum Selberdenken, auch zum Widersprechen. Er springt durch Zeiten und Räume, assoziativ, in Gedankenprosa, er referiert und zitiert ausgiebig – Reportagen wie Theorien. Und natürlich nimmt er seinen eigenen Anfangsfaden aus den "Männerphantasien" (1977) wieder auf: den Komplex "Männer-Körper(lichkeit)" und ihre Beziehung zu Herrschaft, Gewalt, Kriegslust, Tod. Wie wird aus einem zarten, verwundbaren kleinen Jungen der killer-kompatible "fragmentarische Körper"? Denn in allen Fällen, die uns heute entsetzen, geht es um Jungs auf dem Weg zum Mannwerden – das heißt, ganz zentral, um die Körpererfahrung namens Sexualität. Die Frage danach ist Theweleits Glutkern, dass sie selbst heute angesichts all der mordenden Adoleszenten nicht gestellt wird, feuert ihn auch zu ein paar massiven Attacken an.
"Das Lachen der Täter" ist harter Stoff. Und das ist gut so. Nach der Lektüre ist einem die ganze neue "Fun!"-Kultur endgültig vergällt. Aber auch gegen die hilft das andere, das subversive Lachen "von unten nach oben", das einen übermächtigen Feind auf Menschenmaß stutzt. Dieser, auch sehr körperliche Aspekt fehlt bei Theweleit. Aber diesen "Faden" spinnen andere furiose Autoren, aus den Witztraditionen, mit denen verfolgte Minderheiten überall und zu allen Zeiten zu überleben versuchen.
Quellen:
Pieke Biermann: Rezension zu Theweleit 2015 im Deutschlandradio
Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter, Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust. Residenz Verlag, Wien 2015
Wie kann einer, der normal wirkt, einen Flugzeugabsturz herbeiführen?
Stichworte: Kontextalismus, ...
Die Frage ist falsch gestellt findet BUND-Leitartikler Jean-Martin Büttner, denn:
"Normal heisst nicht unauffällig.
Als der Co-Pilot den Sinkflug des Airbus A320-211 eingeleitet hatte mit der Absicht, das Flugzeug in den Berg zu lenken; als der Pilot von aussen an die Tür schlug; selbst nachdem die Passagiere im Flugzeug zu schreien angefangen hatten, weil sie realisierten, was mit ihnen geschehen würde – während dieser ganzen Zeit, sie dauerte acht Minuten, blieb es im Cockpit still. Das ergibt die Analyse des Stimmenrekorders, die der leitende Staatsanwalt am Donnerstag veröffentlichte. Das Gerät registrierte nichts ausser den Atem des Co-Piloten. Und der atmete ruhig und regelmässig.
Ein häufig gehörter Satz über das Leben von Massenmördern: Es ist normal verlaufen. Viele der jungen Männer aus dem Westen, die sich den islamistischen Terrormilizen anschliessen, haben eine normale Kindheit durchlaufen. Wenige Nachbarn von Familien, deren Leben in Mord und Selbstmord endete, haben Abnormales bemerkt. Viele Amokläufer an amerikanischen Schulen waren normal zur Schule gegangen, bevor sie ein Maschinengewehr mitnahmen.
Nach letzten Ermittlungen litt der 27-jährige Co-Pilot an einer Krankheit, die er seinem Arbeitgeber verschwiegen hatte. Aber auch er scheint ein normales Leben geführt zu haben, unspektakulär wie ein Linienflug.
Etwas Willkürliches Gerade das macht ihn im Nachhinein so bedrohlich. Wenn ein Täter sich bis zu seiner abnormen Tat normal verhält, lässt er sich nicht als geistig verwirrt, psychotisch oder fanatisch aussortieren, es gibt keine Erklärung für sein Verhalten, von dem sich die anderen distanzieren könnten.
Wenn sich keine schweren Schäden in einer Täterbiografie finden, lässt sich seine Tat noch schwerer deuten oder gar nicht. Das macht sie noch gefährlicher, weil sie etwas Willkürliches bekommt.
Wenn ein normaler Mann den Beschluss umsetzt, 149 Menschen und sich selber umzubringen, offenkundig ohne Hass oder Fanatismus oder Psychose, was ist dann von dieser Normalität zu halten?
Die Frage ist falsch gestellt, weil das entscheidende Wort nicht stimmt. Wer in diesem Kontext normal sagt, meint unauffällig. Das heisst aber nicht dasselbe. Normalität hängt von Kontexten ab: kulturellen, ethnischen, historischen, situativen. In einem Fussballstadion trinkt man Bier aus dem Becher, im Schauspielhaus Champagner aus dem Glas. Am französischen Hof war es normal, Parfüm statt Seife zu benutzen, jede Ecke war ein WC. Das kleine Volk der Urapmin in Papua-Neuguinea betrieb bis in die Sechzigerjahre hinein Kannibalismus, es w ar die anerkannte Weise, mit toten Feinden umzugehen. In manchen katholischen Ländern gelten Marien-Erscheinungen als Ausdruck von Glauben, nicht von Psychose. In Ruanda wurde der Genozid zum Alltag.
Das Fehlen von Gefühlen Normalität meint ein der Situation angemessenes Verhalten, Unauffälligkeit ist eine anpasserische Leistung, das Vermeiden von Auffälligkeit. Unauffällig wirkt normal, kann aber das Gegenteil implizieren.
Viele Pädophile bleiben unauffällig. Psychopathen können sich völlig unauffällig verhalten, gerade weil sie keine Empathie für andere empfinden, keine Nervosität oder Scham.
Das Fehlen von Gefühlen bei ihren Patienten macht Psychologen besonders Sorgen. Depression ist eine unauffällige Krankheit, der Schwermütige versinkt in sich selber. Unauffälligkeit kann bis zur Selbstverleugnung gehen.
Ein Flugzeug voller Passagiere zerschellen zu lassen: Das ist nicht normal, wäre es zu keiner Zeit und in keinem Kontext. Warum der Co-Pilot es getan hat, warum er nicht nur sein eigenes Leben, sondern das seiner Passagiere und Kollegen beenden wollte, lässt sich nicht erklären, weil noch zu wenig über ihn bekannt ist.
Möglicherweise wird es nie eine Erklärung geben.
Aber dass der Täter ein unauffälliges Leben geführt hat: Das ist noch kein Widerspruch zu seiner Tat.
Quelle: DER BUND vom 28.3.2015 S.5
http://www.derbund.ch/panorama/vermischtes/Der-ruhige-Atem-des-CoPiloten/story/28365615
AMOK und School Schootings
In Malaysia und Java ist Amok ein uraltes kulturelles Phanomen und gilt als Ausdruck dafur, dass die gesellschaftliche Harmonie gestört ist (Albrecht, R. 2002, S. 143), wodurch eine unmittelbare Verbindung zu den sozialen Bedingungen des Amok hergestellt wird. Das Phänomen 'Amok' taucht jedoch auch ausserhalb seines kulturellen Herkunftgebietes auf. Wissenschaftlich untersucht und beschrieben wird es seit 1926.
Charakteristisch für den Amoklauf ist seine Dynamik der Tötung und Zerstörung, die, ist sie erst einmal in Gang gekommen, oft nur mit Gewalt zu stoppen ist. Häufig folgt auf die Amoktat ein Suizid oder die Tötung des Amokläufers durch Sicherheitskrafte ("suicide by cop") (Hermanutz/Kersten 2003, S. 95f.). Als weiteres Spezifikum des Amoklaufs gilt die "Zufälligkeit der Opferwahl" (Eisenberg 2000 S.31): Jeder, der zufällig zugegen ist und in das Blickfeld des Täters gerät, ist ein potentielles Opfer desselben.
Von dieser ursprünglichen, kulturell verankerten Erscheinungsform des Phänomens haben sich die Vorfälle, die sich in den letzten Jahren gehäuft an Schulen ereignen, ein Stück weit emanzipiert. Zwar werden auch sie als 'Amok' oder 'Amoklauf' bezeichnet, jedoch weisen sie spezifische Charakteristika auf, die vom ursprünglichen Amok abweichen. Denn die amokartigen Vorfälle an Schulen zeichnen sich in den meisten Fallen durch ein sehr gezieltes, auf bestimmte Personen oder Personenkreise begrenztes Töten aus und weniger durch die für Amok charakteristische 'Blindwütigkeit' (Hermanutz/Kersten 2003, S. 97).
Das Medienspektakel kann, gerade für narzisstische Jugendliche, einen Anreiz darstellen, sich selbst zu Inszenieren. Der Medienrummel, der zu erwarten ist, kann dem Täter schon vorweg das Gefühl geben, "grossartig" und "lebendig" zu sein (Eisenberg 2002a). Eisenberg sieht damit in den Medien "Modelle des Fehlverhaltens", die zur Nachahmung anreizen, weil zukünftige Täter sich mit medial dargestellten Charakteren identifizieren können. Da den School Shootings in der Berichterstattung häufig eindimensionale Ursachen zugeschrieben werden, betrachten zukünftige Täter einen Amoklauf als Lösungsweg für ähnliche Lebenslagen (Robertz 2007 S.15).
Als gesamtgesellschaftliche Wirkmechanismen, die sich in der Tat des Robert Steinhäuser (dem Amokläufer von Winnenden) ausdrücken, macht Richard Albrecht "Prozesse von Enttraditionalisierung, Bindungslosigkeit und Sinnverlust im Prozess beschleunigter Modernisierung" (2002, S. 144) aus. Diese Faktoren, die sich auch als "Differenzierung - Pluralisierung - Individualisierung" fassen lassen, bilden den Inhalt dessen, was als "Anomie" bezeichnet wird (ebd.). Albrecht stellt diese Verfallserscheinungen damit in den Zusammenhang gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse.
Quelle: Birte Hewera (2010). School Shootings und Amok - Perspektiven der Gewaltforschung. In: Imbusch, Peter (Hrsg.). Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt, S.270ff.
Götz Eisenberg: AMOK aus psychoanalytischer und soziologischer Sicht
Auch Götz Eisenberg siedelt in seinem psychoanalytisch orientierten Ansatz die Bedingungen für Amokläufe auf der gesellschaftlichen Ebene an, sofern diese sich auf der individuellen Ebene widerspiegeln. Fur den Amoklauf ist ein vorgangiger Prozess der "Ent-Gesellschaftung" (Eisenberg 2002a) konstitutiv. Das individuelle Resultat ist ein "anomisch vereinsamter Mensch", der aus der "gewohnten Ordnung der Dinge" herausgefallen ist und damit den "sozialen Tod" stirbt. Dieser gesellschaftliche Konflikt wird im seelischen Innenraum "ausgebrütet" und fordert längst vergangene Kränkungen und Zurückweisungen wieder hervor, die der Täter dramatisiert.
Im Falle des Robert Steinhauser vermutet Eisenberg, dass es der Schulverweis war, der seine "narzisstische Achillesferse" getroffen und seinen tiefgreifenden Fundus an Selbstzweifeln", entstanden in frühester Kindheit, wachgerufen hat (Eisenberg 2002b). Auf dieses Ereignis folgte der Rückfall in regressive Formen der Konfliktbewältigung, welcher die Welt in gut und böse einteilt, so dass sich die Ohnmacht und die daraus resultierende Wut im Folgenden von ihrer Verursachung abgelöst und auf andere Objekte verschoben hat. Die Frage, warum ein Mensch sich unter dlesen Bedingungen nicht zu einem einfachen Suizid entschliesst, beantwortet Eisenberg mit der "narzisstischen Katastrophe", die die Gefühle von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit beim Täter auslösen können und die durch die gewaltsame Verlagerung auf die Aussenwelt abgewendet wird (Eisenberg 2002a). Für die Haufung der Vorfälle von Amok macht Eisenberg bestimmte Entwicklungstendenzen innerhalb der Gesellschaft verantwortlich. So würden sich die ökonomischen und sozialen Deregulierungsprozesse, die Begleiterscheinungen des "flexiblen Kapitalismus" (Sennett) ausdrücken, die sich in psychischen Deregulierungen widerspiegelten. Durch die Anforderungen des flexiblen Kapitalismus bildeten die Menschen eine nur noch fragmentarische, borderline-artige Identität aus. Die ehemals etablierte Selbstzwangapparatur verliere damit an Wirksamkeit und die ohnehin vorhandene narzisstische Wut könne kaum noch gebremst werden. Diesen Prozess bezeichnet Eisenberg als "Innenseite der Globalisierung" (Eisenberg 2002a):
"Bekommt diese Gesellschaft nicht vermehrt die Kinder, die ihrem unwirtlichen Schoss entspringt und die sie verdient: zynische, psychisch frigide und moralisch verwilderte Wesen, deren Fühllosigkeit und Grausamkeit unmittelbar den Gewaltkern einer Gesellschaft freilegen, deren einziger kategorischer Imperativ der der Bereicherung um jeden Preis ist und die die Moral auf jenes Minimum schrumpfen lässt, das einen gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt?" (Eisenberg 2000 S.102)
Die Marktmechanismen würden auch auf die privaten, familiären Beziehungen übertragen. Die frühere autoritäre Erziehung sei nur scheinbar einer Erziehungsform voller Verständnis und Duldsamkeit gewichen. Tatsächlich machen sich in vielen Familien Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit gegenüber den Kindem breit, was "neuartigen Formen der Kindesaussetzung" (Eisenberg 2002b) gleichkommt.
Dadurch werden vor allem Kinder und Jugendliche hervorgebracht, deren "kalte Schonungs- und Rücksichtslosigkeit, moralische Indifferenz und latente Feindseligkeit jederzeit in Hass umschlagen kann." (Eisenberg 2002a). So ist es die durch diese gesellschaftlichen Faktoren ausgelöste Regression auf primitive psychische Abwehrmechanismen, die in Kombination mit archaischer narzisstischer Wut fur Amok und Terror verantwortlich sein kann.
Die ursachenorientierten Erklärungsansatze zielen damit auf individuelle, soziale und okonomische Prozesse ab, durch die die Bezie hungen zwischen den Menschen verändert und die Möglichkeiten der Herausbildung stabiler Persönlichkeiten erschwert werden. Amok wird als Symptom für die Schattenseite n der Modernisierung betrachtet. Die Frage, wie man Amoklaufe verhindern kann, wird aus der Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Ursachen abgeleitet (vgl. dazu Waldrich 2007: 114ff.)
Quelle: Birte Hewera (2010). School Shootings und Amok - Perspektiven der Gewaltforschung. In: Imbusch, Peter (Hrsg.). Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt, S.243-292.
Aggression als Folge sozialer und emotionaler „Kälte“
Eisenberg, geb. 1951, orientiert sich einerseits an Gedanken Freuds, darüber hinaus zieht er neuere Untersuchungen der tiefenpsychologischen Jugendforschung heran. Eisenberg arbeitet als Gefangnispsychologe und hat mehrere Bücher zur Gewaltproblematik veröffentlicht. Er schenkt vor allem der „Vaterlosigkeit“ in der gegenwärtigen Gesellschaft Beachtung. Die Problematik einer solchen Entwicklung beschrieb schon vor Jahrzehnten Alexander Mitscherlich.
Nach Eisenberg ist Aggressivität meist die Folge von Erfahrungen „emotionaler Kälte“: Kinder erleben schon früh unzureichende Zuwendung und elterliches Desinteresse - häufig als vermeintliche Liberalität legitimiert. Er begründet diese Annahme damit, dass viele Kinder ohne Väter aufwachsen oder diese kaum mehr als wichtige Bezugspersonen wahrnehmen. Deshalb fehlen ihnen erwachsene Partner, die sie bewundern können, denen sie nacheifern wollen und deren Anforderungen sie sich gerne unterwerfen. Gleichzeitig versuchen Mütter, die Kinder entweder zu sehr an sich zu binden, oder sie vernachlässigen diese zu sehr.
Infolgedessen bilden diese Kinder kaum Urvertrauen aus, erfahren zu wenig „konturierte Persönlichkeiten“, die ihnen innere Sicherheit vermitteln und sie motivieren, sich dem Leben zu stellen und so eine frühkindlich narzisstische (rein selbstbezogene) Haltung zu überwinden. Sie wünschen sich fortwährend innere Geborgenheit und Sicherheit, die sie nicht finden, und kompensieren dieses Defizit mit vermeintlich grandiosen Erfahrungen. Drogen etwa können entsprechende Erlebnisse hervorrufen.
Auch ein Amokläufer sucht ein einmaliges Erleben von Grandiosität. Nach Eisenberg befindet er sich in gewissem Sinne noch immer im Entwicklungsstadium eines Kleinkindes.
Damit ändert sich z.B. die Aufgabe der Schule massiv. SchülerInnen sind häufig auf der Suche nach konturierten Persönlichkeiten, welche ihnen helfen können, aus dem eigenen Narzissmus, aber auch der eigenen Unsicherheit herauszufinden. Sie bedürfen der Erfahrung, dass sie Erwachsenen vertrauen und ihnen etwas Zutrauen können, ihnen vielleicht sogar nacheifern wollen. Ohne solche Erlebnisse im Kindergarten, in der Schule oder in der Freizeit suchen sie sich zwangsläufig fragwürdige andere Orientierungen, die sie nicht von ihrem Narzissmus befreien können, sondern vielmehr in ihren diffusen Wünschen, z.B. nach Grandiosität, bestärken. Killerspiele beispielsweise geben den Spielenden das Gefühl von Stärke und Macht.
Götz Eisenberg in einem ZEIT-Interview aus dem Jahre 2002:
"Dem Amoklauf scheint der soziale Tod vorauszugehen: Ein Mensch fällt aus seiner Ordnung der Dinge und brütet im Privaten und im Innern über seinen Unglücksvorräten. Die Erfahrungen von Unglück, Demütigung, Kränkung sind dann am explosivsten, wenn sie nur noch in sich kreisen.
Gesellschaftliche Konflikte stauen sich in einem seelischen Innenraum, der zu eng ist - bis sich die im Innern tobende Schlacht nach außen verlagert. Die Vorstellung, andere Menschen in Furcht und Schrecken versetzen zu können, wird zu einer Quelle von Macht- und Ueberlegenheitsgefühlen. Um dem unerträglichen Gefühl von Angst und Ohnmacht zu entgehen, wird das Innere selbstmörderisch und mörderisch aussen in Szene gesetzt" (Die Gewalt aus der Kälte, ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler und Amok-Experten Götz Eisenberg mit der Zeit-Journalistin Elisabeth von Thadden).
Amok als ein „Abkömmling“ (S. 50) alltäglicher Gewalt ist ein Produkt sozialer Kälte, die in allen gesellschaftlichen Schichten zu beobachten ist. So dreht sich eine der zentralen Thesen darum, dass Amokläufer nicht erst mit der Tat, sondern bereits vorher einen sozialen Tod gestorben sind.
Sie nutzen das Töten als „grausige Ventilsitte“ (S. 241), um Gesichtsverlust, Kränkungen und permanente Frustrationen in einem für sie nicht zu bewältigenden gesellschaftlichen Leben zu überwinden.
Sie nehmen es mit den letzten ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln selbst in die Hand, damit sie nie mehr ein Mensch vergisst.
Darüber hinaus sieht Eisenberg eine Erklärung für Amokläufe im „medialen Narzissmus“, der bei Planung und Durchführung eine immense Rolle spielt, etwa bei der Wahl des Zeitpunktes.
Ueber die Medienlandschaft wird mit Hilfe des Amoklaufs eine "grandiose Selbstinszenierung" (S. 33) betrieben.
So wird die "Wahrnehmung der Zuschauer [zum] eigentliche[n] Ziel der Tat, nicht ein bloßer Nebeneffekt. Die Medien stellen Resonanzräume zur Verfügung, vermitteln Spiegel- und Echowirkungen
für das unstillbare Bedürfnis nach Gesehen- und Gehörtwerden" (S. 58).
Zudem gestalte es sich schwierig, dem Amoklauf präventiv zu begegnen, obwohl die Gesellschaft mit Hilfe „sozialpolitischer Palliativmedizin“ (S. 69) alles daran setzt. Palliativ insofern, da deren Maßnahmen nicht auf Heilung der Grunderkrankung abzielen, sondern lediglich auf Symptomkontrolle. „Die Krux der Amokprävention besteht im Kern darin, dass das, wonach man sucht, die personifizierte Unauffälligkeit und Durchschnittlichkeit ist" (ebd.).
Unter anderem kommt er zu dem Schluss: "Kriminalität insgesamt stellt ein Feld zur Verfügung, eigene Traumata, Konflikte und Frustrationen chiffriert zu thematisieren und auszuagieren" (S. 149). Und, „wenn die Täter krank sind, so sind sie nicht kränker als die Gesellschaft, in der sie (und wir) leben“ (S. 210).
„Immer mehr Menschen durchqueren die Stadt als offene narzisstische Wunden und lebende Spaltungen, die auf der Suche nach einer Bestätigungsmöglichkeit für ihre Projektionen oder einen Container für innere Ängste und Wut sind. Das, was sie im Inneren bedroht und in Angst versetzt, wird nach außen gestülpt und im anderen deponiert“ (S. 181).
Sehr niveauvoll versucht Eisenberg immer wieder die Frage aufzugreifen, wie sich "angepasste" Individuen unter hiesigen Verhältnissen psychodynamisch verändern bzw. verändern müssen. So konnte ich Folgendes als ein Motto seines Buches erkennen: "Eine Gesellschaft, die nur noch den kategorischen Imperativ der Bereicherung kennt, bekommt die Kinder, die sie verdient!" Und darüber hinaus, so möchte ich ergänzen, auch erziehungsunfähige Eltern, identitätslose Jugendliche und vollkommen entsolidarisierte und fragmentierte junge Männer und (zunehmend) auch Frauen...
"Das Leben in einer vom Markt und seinen Gesetzen vollkommen beherrschten Gesellschaft zwingt die Menschen zu einem Leben in einem Zustand permanenter Verteidigung und Aggression. Wer vorwärts kommen und nicht irgendwann zu den Herausgefallenen und Überflüssigen gehören will, muss sozialdarwinistische Tugenden und Haltungen wie Skrupellosigkeit, Härte und kalte Schonungslosigkeit an den Tag legen. Mitgefühl mit sich und anderen bedeutet in einer Marktgesellschaft Untergang und sozialen Tod“ (S. 158).
Das Phänomen Amok erscheint geradezu als ein „neuer Modus der Spannungsabwehr im Verhaltensrepertoire“ (S. 17) der Menschen und wird so zu einer typischen, das globale Zeitalter auszeichnenden kriminellen Erscheinungsform.
Eisenbergs Analyse ist mehr noch als ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte, die die kapitalistische Gesellschaft an ihrer Achillesferse trifft. So sehr sich die Marktwirtschaft mit der dazugehörigen Ideologie auch zu schützen versucht, bekommt sie die unerwünschten Folgen ihrer eigenen (wohl kalkulierten) Entwicklung immer heftiger zu spüren. „Wenn es uns, den heute lebenden Menschen, nicht gelingt, das Steuer herumzureißen und den Wahnsinn des losgelassenen Marktes zu stoppen, drohen wir am Ende Zeugen eines marktwirtschaftlichen Amoklaufs zu werden, von dem wir alle betroffen sind, nämlich als Opfer“ (S. 249). – Man denke nur an den Aberwitz zeitgenössischer Finanzblasen-Oekonomie oder die sozialen und ökologischen Folgen des Raubbaus an der Natur.
Quellen und Weiterführendes:
- Albrecht, Günter (2002). Soziologische Erklärungsansätze individuel1er Gewalt und ihre empirische Bewährung. In : Heitmeyer, Hagan (Hrsg.). Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden.
- Albrecht , Richard (2002): Ueber Amokläufer und Mehr. Diskurs nach der Erfuner Bluttat über die Schattenseiten der Moderne. In: Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, Jg. 38, Nr. 3, S. 143-152.
- Arendt, Hannah (1970). Macht und Gewalt, München.
- Eisenberg, Götz (2010). "... damit kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind". Pattloch
- Eisenberg, Götz (2000). Amok - Kinder der Kalte, Uber die Wurzeln von Wut und Hass, Reinbek.
- Eisenberg, Götz (2002a). Die niedergerissenen Grenzen im Inneren des Menschen. Ober den Zusammenhang von Amok als kulturellem Muste r und den Lebensbedingungen in globalisierten Gesellschaften. In: Frankfurter Rundschau vom 3.05.2002
- Eisenberg, Götz (2002b). Die menschlichen "Ungeheuer" entspringen unserer Normalität. Nach dem Amoklauf von Erfurt, in: Frankfurter Rundschau vom 11.05.2002.
- Falck, Joschka (2010). "... damit mich kein Mensch mehr vergisst!" Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind - Rezension des gleichnamigen Buches von Götz Eisenberg
- Hewera, Birte (2010). School Shootings und Amok - Perspektiven der Gewaltforschung. In: Imbusch, Peter (Hrsg.). Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt, S. 243-292.
- Robertz, Frank J. (2007). Erfurt - 5 Jahre danach, in: Hoffmann, Wondrak (Hrsg.). Amok und zielgerichtete Gewalt an Schulen. Früherkennung / Risikomanagement / Kriseneinsatz / Nachbetreuung, Frankfurt/M.
- Waldrich, Hans-Peter (2007). In blinder Wut. Warum junge Menschen Amok laufen, Köln.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf Otto F. Kernberg zurückkommen, weil seine Einteilung der narzisstischen Störungen in Schweregrade bzw. in Charakterniveaus, sehr wichtig und elementar fürs Verständnis solch brutaler und bizarrer Erscheinungen wie Serienmord, Sadismus, Folter etc. sind:
Destruktiver und maligner Narzissmus
Quelle: Dammann et al. (2012). Narzissmus. Kohlhammer.
Das Spektrum der schweren narzisstischen Störungen reicht von der
1. narzisstischen Persönlichkeitsstörung (noch vorhandene Fähigkeit, »Gutes« im Anderen anzuerkennen; ein internalisiertes Wertsystem kann in der Regel aufrechterhalten werden etc.) über
2. das Syndrom des malignen Narzissmus (die Fähigkeit, einzelne Objektbezeichnungen aufrechterhalten zu können, ist noch vorhanden - allerdings sind diese zumeist hochidealisiert; es finden sich starke paranoide Tendenzen und ein Wechsel von »psychopathischen« [scheinbare Anpassung bei eigentlichem Dominieren-Wollen] und »paranoiden« Übertragungsformen [sich verfolgt fühlen]) bis hin zur
3. antisozialen Persönlichkeitsstörung (hier herrscht ein Dominieren von Hass in den internalisierten Objektbeziehungen; die Notwendigkeit, »gute Objekte« aufgrund von intensivem Neid zerstören zu müssen; moralische Wertvorstellungen fehlen weitgehend).
Bei den schwersten Formen narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, die man auch als destruktiven Narzissmus bezeichnen kann, dominiert dieses Problem die Beziehung zu den Mitmenschen vollkommen. Solche Personen müssen, um ihren Selbstwert zu regulieren, die Verdienste anderer kleinreden oder für sich usurpieren. Die Beziehungen sind stark manipulativ, d.h. der andere (zum Beispiel Partner oder Mitarbeiter) wird kaum in seiner eigenen (objektalen) Bedeutung gesehen, sondern dient der eigenen Bedürfnisbefriedigung, was beispielsweise durch ein manipulatives Verhalten zu erreichen versucht wird - so z.B. »nehmen«, »erwarten« diese Personen immer, »geben« aber kaum je uneigennützig. Tragischerweise wiederholen somit diese Personen an anderen Menschen die selbst durchgemachte Erfahrung, den anderen nicht wirklich als
Person wichtig zu finden. Kennzeichnend ist auch eine anfängliche Begeisterung für Projekte oder Personen oder deren Idealisierung, mit meist rasch nachfolgender Entwertung. Typisch ist also eine Sichtweise, bei der sich die Personen immer wieder von »Idioten« umgeben sehen. Lässt sich eine Person nicht manipulieren oder entwerten, droht diese als gefährlich, bedrohlich (»Feind«) erlebt zu werden.
Unterhaltszahlungen etwa für die eigenen Kinder werden verweigert. Aufgrund der schlechten Selbstwertregulalion reagieren die Personen häufiger mit großer Kränkbarkeit bis hin zu s i . u k u.u hlialiiger (narzisstischer) Wut (»Stalking« Verhalten).
Ein historisches Beispiel aus der Antike ist Herostratos, der voller Geltungssucht und Neid auf die Architekten seiner Zeit war. Dies motivierte ihn dazu, am 21.07.356 v. Chr. den Artemis-Tempel in Ephesos, eines der Sieben Weltwunder der Antike, niederzubrennen, um selbst berühmt zu werden.
Sutton (1997) beschreibt eine Reihe solcher dysfunktionaler Interaktionsmuster, die diese Persönlichkeiten auszeichnen:
• als Witze getarnte Beleidigungen,
• öffentliches Demütigen,
• ständige, beißende Ironie,
• rüdes Unterbrechen des anderen,
• Ignorieren bestimmter Personen bei Meetings,
• Verletzung der Privatsphäre,
• Grenzverletzungen durch z.B. extreme Neugier (Patienten nehmen Bücher vom Pult),
• Unehrlichkeit,
• fremde Leistungen werden als die eigenen Verdienste ausgegeben.
Das Phänomen des destruktiven oder malignen Narzissmus (wie ihn Rosenfeld oder Kernberg beschrieben haben) stellt eine Kombination dar aus extremem Narzissmus (pathologisches grandioses Selbst) und einer Über-Ich Pathologie (massive Aggression oder antisoziale Züge).
Das Konzept des malignen Narzissmus’ basiert auf Freuds Konzept des Todestriebs und Melanie Kleins Beobachtung von Objekterhaltung und Objektzerstörung bei Kindern.
Es kommt zur Bildung von pathologischen Selbststrukturen und narzisstischen Objektbeziehungen, bei denen Objektabhängigkeit (etwa bei Trennungen spürbar) zu Neid umgewandelt wird. Das ganze Selbst wird (vorübergehend) mit dem grandiosen destruktiven Selbst identifiziert, das über den Therapeuten (die Eltern etc.) triumphieren möchte. Diese Patienten empfinden meist nur Verfolgungsangst, keine Schuldgefühle. Intrapsychisch herrscht die Organisationsform einer »mächtigen Bande« vor, wie sie Rosenfeld beschrieben hat, die sich rächt, wenn ein Teil sich mit dem Positiven zu verbünden versucht. Die Patienten sind gekennzeichnet durch schweren Neid, massive Wut und eine Ueber-Ich-Pathologie (Schuld, Scham) sowie chronische, oft agierte Suizidalität.
Quelle: Dammann et al. (2012). Narzissmus. Kohlhammer.
- Kernberg: Charakterniveaus -> Toegel S. 71 unten
Maligner Narzissmus:
Unter malignem Narzissmus versteht Otto F. Kernberg (1984) eine besondere Form des pathologischen Narzissmus, die gekennzeichnet ist durch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, antisoziales Verhalten, ichsyntonen Sadismus gegen andere oder sich selbst sowie eine ausgeprägte paranoide Haltung (Hartmann 1997, S. 73).
--> Kernberg: Auszuege aus seinem Buch "Narzissmus, Wut und Hass"
(...)
Psychopathie - Soziopathie - Dissozialität - Suizid
Wenn wir im folgenden die Erkenntnisse aus Kapitel 2 und 3 zusammenfassen und ineinander überführen, kommen wir im schlechten Fall zu einer gefährlichen Gemengelage aus individuellen (Kap. 2) und kollektiven (Kap. 3) narzisstischen Kränkungen und Verletzungen, welche in den titelgebenden Symptomen resultieren können: Psychopathie, Soziopathie, Dissozialität und Suizidalität.
Diese im "Tacho-Modell" (Frauchiger 2015, Kap. 2) unten links sich befindenden pathologischen Grenzzustände jenseits des Kipppunktes wo man noch auf neurotischem Niveau (Kernberg) kompensieren könnte, stellen die heftigsten und sozial auffälligsten Formen der narzisstischen Entgleisung bzw. Ungleichgewichtes dar.
Um die Entstehung psychopathischer Pathologie beschreiben zu können, ziehe ich denselben im ersten Kapitel verwendeten Text von Heinz Henseler heran (Henseler 2000), diesmal zitierend aus den Seiten 84 und 85:
Die pathologische Reaktion auf eine Kränkung
"Es erhebt sich die Frage, was eintritt, wenn die bisher erörterten Kompensationsmechanismen [vgl. Kernbergs Charakterniveaus oben und auch Kap. 2] versagen und noch primitivere Massnahmen mobilisiert werden. Schon wegen des schematischen Charakters unserer Vorstellung von der Entwicklung des narzisstischen Systems [im Sinne Kohuts, M.F.] und wegen der schwierigen Einfühlung in derart frühkindliche Zustände ist freilich nicht zu erwarten, dass sich eine systematische Ableitung aller Möglichkeiten ergibt.
Eine Möglichkeit aber müsste die sein, der narzisstischen Katastrophe, dem völligen Zusammenbruch des narzisstischen Gleichgewichts, dadurch zu entgehen, dass man ihr aktiv zuvorkommt, indem man sein Selbstgefühl rettet, auf seine Identität als Individuum aber verzichtet, was gleichbedeutend ist mit einer Regression auf den harmonischen Primärzustand.
Die Phantasien, die hinter einem solchen Agieren stehen, müssten Ruhe, Erlösung, Verschmelzung, Wärme, Geborgenheit, Triumph, Seligkeit u.a. beinhalten. Mit dem Agieren verbindet sich die Vorstellung, die Gefahr der narzisstischen Katastrophe, des totalen Verlassen- und Ausgeliefertseins überspringen zu können und in dem dann erreichten Zustand «Sieger» zu bleiben.
Die Mythologien sind voll von solchen Beispielen: Die Verherrlichung des Heldentodes, die Hochschätzung des Freitodes, die Todesverachtung enthalten die Vorstellung, dass durch aktives Vorwegnehmen des Todes ein Zustand ewiger Grösse erreicht werde. Ihre grossartigste Ausprägung hat diese Vorstellung psychologisch gesehen in der christlichen Kreuzestheologie gewonnen.
Regressive Formen infantiler Grossartigkeit und die Aktivierung narzisstischer Wut
Das Erleben der eigenen Person tendiert zurück in das Reich infantiler Grossartigkeit. Es kommen die alten Repräsentanzen des grandiosen Selbst und der idealisierten Objekte wieder zum Tragen. Die Idealisierung bläht das Selbst und die Objekte auf, was die unerwünschte Konsequenz hat, dass nicht zu leugnende Mängel ebenfalls zu einer bedrohlichen Grösse aufgebauscht werden; denn wenn ein idealer Mensch versagt, ist das keine Bagatelle, sondern ein Skandal. Da die Verleugnung nicht streng durchzuhalten ist, kommt es so zu einem ständigen Oszillieren zwischen Grössenphantasien und unrealistisch hohen Minderwertigkeitsgefühlen, also negativen Grössenphantasien. Den Grössenphantasien entspricht konsequenterweise eine Erhöhung des Anspruchsniveaus, das ebenfalls illusionäre Züge tragen muss. Anders ausgedrückt ist ein hochgespanntes, realitätsfernes Ich-Ideal zu erwarten.
Natürlich werden diese Ideale unerbittlich durch ein strenges, rigides infantiles Ueber-Ich eingefordert. Ein Mensch, der überharte Vorstellungen von sich hat, wird auch seine Kräfte und Fähigkeiten magisch überhöht einschätzen. Das gilt besonders für Aggressionen, die dem Narzissmus wegen ihrer Machtqualität besonders nahestehen. Aggressive Impulse werden in ihren Auswirkungen katastrophal, ja vernichtend phantasiert und müssen deswegen sorgfältig in Schach gehalten werden. Es kommt hinzu, dass ein überhartes Ich-Ideal Aggression unter Umständen überhaupt verpönt.
Das strenge Gewissen wird schon ihr Auftauchen übelnehmen. Darüber hinaus müssen Aggressionen sorgfältig abgewehrt werden, da sie die für diese Menschen besonders wichtigen Objektbeziehungen gefährden. (Zur Qualität der «narzisstischen Wut» vgl. KOHUT 1973 b, besonders S.540ff).
Narzisstische Objektbeziehungen
Eine besondere Rolle spielen die zwischenmenschlichen Beziehungen von Personen, die ihren Narzissmus durch Verleugnung und Idealisierung schützen müssen.
Freud hat 1914 darauf hingewiesen, dass man einen anderen Menschen aus zwei Grunden lieben kann: entweder weil er wegen seiner besonderen Eigenarten irgendwelchen Bedürfnissen von mir entgegenkommt (sog. "Anlehnungstyp") oder weil er in irgendwelchen Aspekten dem Bild meiner eigenen Person entspricht, weil ich mich in ihm wiederfinde, kurz: weil ich mich selber in ihm lieben kann ("narzisstischer Typ der Objektwahl, narzisstische Objektbeziehung"). Diese beiden Möglichkeiten stehen jedem Menschen offen und sind gemäss Henseler nicht pathologisch.
"Jeder kennt das Hochgefühl, das in einem aufsteigt, wenn er einen Menschen trifft, der genau seine Ansichten, z.B. in Sachen Politik, teilt. Man hupt erfreut, wenn man einem Wagen mit dem Kennzeichen der eigenen Stadt im fernen Ausland begegnet. Trifft man unverhofft einen alten Schulkameraden, vergisst man die Zeit, weil man erst einmal ausgiebig mit ihm reden muss - nicht weil der Schulkamerad so ausnehmend sympathisch, sondern weil er eben einer von der alten Penne ist.
Solche Beispiele lassen sich beliebig vermehren: Der Kollege desselben Betriebs, der Parteigenosse, der Vereins- oder Corpsbruder, der Wissenschaftler der gleichen Schule, der Anhänger der gleichen Konfession usw. werden sehr leicht hochgeschätzt bzw. unreflektiert bevorzugt, nicht weil der Betreffende die Hochschätzung wirklich verdiente, sondern weil man sich in ihm identifizierend wiedererkennt. Natürlich gehen in diese Beziehungen auch Elemente der Vertrautheit ein, die aus Erfahrungen mit realen Objekten stammen. Unübersehbar ist aber die Tendenz zur Vergrösserung, zur Idealisierung, und diese hat narzisstische Qualität, weil sie eine Funktion für das eigene Selbstgefühl erfüllt.
Der Partner, der Objekt einer solchen Beziehung wird, nimmt die unerwartete Hochschätzung in der Regel mit angenehmer Ueberraschung wahr.
Narzisstische Objektbeziehungen werden von den Beteiligten lange Zeit als ideal empfunden. Sie zeichnen sich aus durch raschen Kontakt, Unkompliziertheit, gegenseitige Bestätigung und das Fehlen von Aggression.
Eine Gruppe von Gleichgesinnten z.B., die darangeht, ein Projekt zu verwirklichen, hat zu Anfang sehr wenige Schwierigkeiten miteinander. Es herrscht eine gewisse Euphorie, eine Selbstverständlichkeit im Umgang, eine unbefragte Sicherheit bezüglich der Einstellung der anderen vor, die nicht der Realität zu entsprechen braucht, sondern weithin eine Projektion idealisierter eigener Erwartungen darstellen kann.
Es ist festzuhalten, dass narzisstische Objektbeziehungen etwas Normales, Ubiquitäres, ja Wichtiges sind, obwohl sie auf einer Illusion basieren. Gefährlich werden sie erst dann, wenn sie nicht nur eine Möglichkeit sind, sondern starre Bedingung einer zwischenmenschlichen Beziehung werden.
Das Gefährliche daran ist, dass an die Illusion nicht gerührt werden darf.
Sollte sich im Laufe der Zeit zeigen, dass das Objekt die vermutete Eigenschaft gar nicht hat, versagt das Objekt also in seiner narzisstischen Funktion, so ist das für solche Menschen nicht nur ärgerlich, sondern katastrophal.
Gerade narzisstisch labile Menschen greifen aber gern nach der Möglichkeit, den vermeintlichen oder tatsächlichen Mangel der eigenen Person durch andere, die diesen Mangel auch oder die diesen Mangel gerade nicht haben, ausgleichen zu lassen.
Ein selbstunsicherer Mann nimmt sich gern eine ebenfalls unsichere Frau oder aber das Gegenteil, eine besonders strahlende Frau, die ihm und anderen beweist, dass er eben doch ein richtiger Mann ist. - Jemand, der Selbstzweifel hat, verbündet sich gern mit einem betont selbstsicheren Partner oder mit einem Leidensgenossen. Beispiele könnten vermehrt werden.
Haben selbstunsichere Menschen einen Partner gefunden, der so ist wie sie, der so ist, wie sie früher einmal waren, oder der so ist, wie sie eigentlich sein möchten, bedeutet das eine hohe narzisstische Zufuhr, einen Gewinn von Sicherheit, womit ihr labiles narzisstisches System stabilisiert wird. Da der narzisstische Charakter der Objektbeziehungen aber eine starre Bedingung ist, sind solche Verbindungen sehr konfliktanfällig. Sie sind meist flüchtig.
Wegen der Enttäuschungen nimmt die Zahl der Beziehungen zunehmend ab. Vielfach finden solche Menschen aber Partner, mit denen sie sich über längere Zeit verbünden. In diesen Fällen besteht die Gefahr, dass sie dem narzisstischen Konflikt nicht ausweichen können und dass durch das Versagen des Partners in seiner spezifischen narzisstischen Funktion das narzisstische Gleichgewicht zusammenbricht. (Henseler 2000 S.82f.)
Narzissmustheorie und suizidale Psychodynamik
Mit diesen Ueberlegungen ist die psychoanalytische Narzissmustheorie so weit dargelegt und entwickelt worden, dass die Frage aufgeworfen werden kann, ob sie sich tatsächlich als das erwartete umfassende und den Einzelphänomenen angemessene Bezugssystem erweist.
Fünf Thesen
Es dürfte schon aufgefallen sein, dass sich in das aus der Theorie abgeleitete Bild des narzisstisch gestörten Menschen und seiner Möglichkeiten, sein Selbstgefühl zu schützen, viele Einzelheiten des idealtypischen Bildes von der suizidalen Persönlichkeit und ihrer Selbstmordhandlung einfügen lassen.
Tatsächlich erweisen sich folgende Thesen als äusserst fruchtbar zur Erklärung der Eigentümlichkeiten und scheinbaren Widersprüchlichkeiten des typischen Suizidanten:
1. Der zur Selbstmordhandlung neigende Mensch ist eine in ihrem Selbstgefühl stark verunsicherte Persönlichkeit.
2. Das heisst für sein/ihr subjektives (bewusstes und auch unbewusstes) Erleben, dass er/sie sich vermehrt bedroht fühlt, in einen Zustand totaler Verlassenheit, Hilflosigkeit und Ohnmacht zu geraten, aus dem er/sie sich selber nicht retten kann.
3. Zum Schutz seines Selbstgefühls bedient er sich deshalb in hohem Masse der Realitätsverleugnung und der Idealisierung der eigenen Person wie seiner Umgebung.
4. Reichen diese Schutzmechanismen nicht aus, muss er zu noch primitiveren Mitteln greifen, nämlich zu Phantasien vom Rückzug in einen harmonischen Primärzustand.
5. Indem er/sie diese Phantasie in Handlung umsetzt, kommt er/sie der drohenden narzisstischen Katastrophe aktiv zuvor und rettet für sein Empfinden sein Selbstgefühl. Er/sie verzichtet zwar auf seine/ihre Individualität zugunsten einer Verschmelzung mit einem diffus erlebten primären Objekt, gewinnt aber Sicherheit, Geborgenheit, Ruhe und Seligkeit.
Quelle: Henseler, Heinz (2000 4.Aufl.). Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Projektive Identifizierung und maligner Narzissmus
Den Mechanismus, den wir hier ablaufen sehen, hat Melanie Klein „projektive Identifizierung“ genannt. Der junge Mann deponiert seine eigene innere Hölle unvermittelt im erstbesten Mensch, der seinen Weg kreuzt. Um sich selbst vor einem Kollaps seines Selbstwertgefühls und einer drohenden psychotischen Entgrenzung und zu retten, tötet und verletzt er einen anderen Menschen, dem auf dem Wege der Projektion die eigenen Absichten untergeschoben werden. Der Täter glaubt, nachdem er den anderen zum Container seiner eigenen Gefühle und Intentionen gemacht hat, sich verteidigen zu müssen und in Notwehr zu handeln.
In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Oktober 2009 liefert der Präsident der neu gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin, Jürgen Körner, einen Ueberblick über den Stand der Gewaltforschung. Er unterscheidet zwischen drei unterschiedlich aggressiven Tätertypen: dem reaktiven Gewalttäter, der sich schnell beleidigt fühlt und dann seine aufflammende Wut nicht beherrschen kann; dem instrumentellen Gewalttäter, der nur dann aggressiv wird und bedenkenlos zuschlägt, wenn er anders seine – oft dissozialen – Ziele nicht erreichen kann; und schliesslich einem Gewalttäter, der scheinbar vollkommen grundlos zuschlägt.
Zum Verständnis diesen letzten Tätertyps, der uns in jüngster Zeit so beschäftigt, greift Jürgen Körner ebenfalls auf den von Melanie Klein geprägten Begriff der projektiven Identifizierung zurück und erläutert diesen an folgendem Beispiel: „Ein Jugendlicher sagte im Gespräch, er habe nach ein paar Bier seine Wohnung in ‚grossem Frust’ verlassen, habe schon geahnt, ‚dass was passieren wird’, und dann sei er einem Mann begegnet, der ‚schon so guckte’. ‚Ich dachte, der denkt, da kommt Dreck’, fuhr er fort. Dann sei klar gewesen, dass er den niederschlagen werde. Wie lässt sich eine solche Gewalttat erklären? Der Jugendliche, der glaubte, der andere hielte ihn für ‚Dreck’, war gequält von der Phantasie, er sei selbst nichts als Dreck, und er suchte einen x-Beliebigen, dem er dieses vernichtende Urteil zuschieben konnte. Im anderen also sieht er die Selbstentwertung, die ihn so kränkt, und er schlägt ihn nieder, um den vermeintlichen Aggressor und damit die Kränkung unschädlich zu machen.“ (magazin-auswege.de – 15.2.2012 „Unterm Strich zähl‘ ich“)
Narzissmus und Paranoia wachsen zusammen
Auf der Stufe schwerer und schwerster Pathologie wachsen das narzisstische und paranoide Element zusammen und immer mehr Aggression dominiert die Psyche. In projektiver Identifikation meint man genau zu wissen, dass man überall von Verrätern umzingelt ist, die Welt ist ein einziger Kampfplatz, man selbst allerdings der beste Kämpfer, weil man grausamer, gerissener und skrupelloser als alle anderen ist. Im Syndrom des malignen Narzissmus tritt uns diese Haltung in aktiver Variante entgegen, spielgelbildlich gibt es eine passive Variante, die sich durch parasitäres Verhalten und chronische Ausbeutung anderer und der Gesellschaft darstellt. Man zerstört “das Schweinesystem” von innen, dadurch, dass man es maximal ausnutzt, so kann man chronisch ausbeutendem Verhalten noch den ideologischen Anstrich geben, etwas Gutes zu tun.
Die narzisstische Unfähigkeit dankbar zu sein, sich aber als grossartig zu empfinden, vermischt sich hier mit dem paranoiden Wunsch ein stiller und verkannter Kämpfer für das Gute zu sein, in einer durch und durch schlechten Welt.
(...) Der paranoide Gegenpol zeigt hier auch schon grandiose Züge. Ich und meine auserwählten Freude, wir wissen, wie die Welt funktioniert, was eine Tendenz zu Verschwörungstheorien entstehen lässt. Der Paranoiker meint eine Gefahr zu kennen, die nur er und ein paar Auserwählte sehen können. Andere gelten als dumm, gerissen oder verführt. Oft verschreiben sich Paranoiker einer grösseren Sache oder der Phantasie einer grösseren Idee, das moralische Element des Paranoikers, der sich gerne als Aufklärer sieht. Das misstrauische Gefühl, hintergangen zu werden, ist allgegenwärtig, auch in Partnerschaften, was zu Dauerkonflikten führen kann.
Jeder vermeintliche Gegenbeweis verschärft das Misstrauen nur, denn die paranoide Logik ist: “Wer mir was beweisen will, wird sicher was zu verbergen haben, warum sollte er mir sonst was beweisen wollen?”. Gerne stellt er die Frage, wem das nutzt, wer einen Vorteil davon hat. Güte und Freude an der Freude anderer kann der Paranoiker, als Motiv, nicht nachvollziehen. (Carsten Börger in "www.Psyheu.de")
Paradox: Gesünder und gefährlicher
Es ist im Grunde kein Hannibal Lecter, der uns in der glücklicherweise sehr seltenen antisozialen Persönlichkeit begegnet. Der völlige Empathiemangel bedeutet, sich nicht in andere hineinversetzen zu können und erlaubt deshalb wenig realistische Planung, weil diese auch immer das antizipierte Verhalten anderer betrifft. Mehr als kriminelle Bandenchefs können Soziopathen nicht werden.
Anders beim Syndrom des malignen Narzissmus. Es besteht aus den vier Bausteinen: Narzisstische Persönlichkeitsstörung, paranoide Persönlichkeitsstörung, Sadismus und ich-syntone Aggression. Menschen mit malignem Narzissmus sind besser organisiert als antisoziale Persönlichkeiten, die ganz am Ende des Spektrums narzisstischer Pathologien stehen. Maligne Narzissten sind “gesünder”, wenn man so will. Und vielleicht haben sie die gefährlichste Krankheit der Welt.
Sie können sich in grossen Organisationen halten, wenngleich nicht alle dorthin streben oder offen aggressiv sind. Doch die Schlimmsten kennt man: Saddam Hussein, Josef Stalin, Adolf Hilter. Sie sind misstrauisch und grausam, rächend, mitleidlos und brutal, der differentialdiagnostische Unterschied zur Antisozialen Persönlichkeit ist minimal. Antisoziale Persönlichkeiten sind komplett unfähig, nichtausbeutende Beziehungen zu irgendeinem Lebewesen einzugehen, sei es zu einem Hund oder Raubkumpanen. Genau das macht sie auch unheilbar. Maligne Narzissten haben diese Fähigkeit.
Deshalb hat die böse Geschichte von der gefährlichsten Krankheit auch eine Chance auf ein Happy End: Das, was diese Menschen besonders gefährlich macht, ihre minimale Fähigkeit zur Empathie, ist auch das Tor zur Heilung. Man kann sie therapeutisch erreichen und welche sozialen und politischen Faktoren auch immer sonst noch eine Rolle spielen, zumindest aus therapeutischer Sicht kann man sagen, dass der nächste Hitler verhindert werden könnte. (Carsten Börger in "www.Psyheu.de")
--> Kevin Dutton: Psychopathen - 2013
--> HARE
--> NPI-Skalen
--> Joe Navarro - Spiegel April-2014: Psychopathen-Typologie und neues Buch
SCHAM, WUT, GEWALT und die fehlende (Selbst-)Anerkennung
Das ANerkennungs-Konzept von Honneth kommt zwar erst im Psychotherapie-Kapitel ausführlich zur Sprache - hier dennoch eine erste synthetische Zusammenschau klassischer Positionen (Freud, Kernberg) und relationaler, bindungstheoretischer Sichtweisen.
Ueber den Zusammenhang von Scham und Wut, welche bis zu psychopathischem Verhalten führen kann, schreiben Fonagy et al. 2004:
„Brutalisierung im Kontext von Bindungs-Beziehungen erzeugt intensive Scham. Wenn diese sich mit einer daraus folgenden Schwäche in der Fähigkeit zur Mentalisierung verbindet, dann kann dies ein mächtiger Auslöser für Gewalt werden, weil die Intensität der Demütigung während der traumatischen Erfahrung nicht durch Mentalisierung abgeschwächt werden kann. Nicht-mentalisierte Scham wird in der Folge als Zerstörung des Selbst erlebt; wir haben dies ‘selbstdestruktive Scham’ genannt.“ (S.167)
Dieser Sichtweise folgend kommen Gewalt und Aggression dann zum Einsatz, wenn es dem Individuum nicht gelungen ist, die erfahrenen Affekte auf eine psychische Ebene zu heben und zu „mentalisieren“. Fonagy (2004b) nennt dies den „Modus psychischer Aequivalenz“, in dem Denkmuster der frühen Kindheit weiter wie ein Ding behandelt werden, das sowohl der inneren als auch der Außenwelt angehört. Die nicht-mentaliserte Scham wird dann als Zerstörung des Selbst erlebt.
Für Fonagy et al. (2004a, S. 205) spielt dieses Konzept der „selbstdestruktiven Scham“ eine Schlüsselrolle in ihren Untersuchungen über Gewalt in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter. Der maligne Charakter der Brutalisierungserfahrung wurzelt diesen Autoren nach in der Intensität der mit ihr verbundenen Demütigung. Die Angriffe können nicht verarbeitet und erträglich gemacht werden, weil die Fähigkeit fehlt, den durch die Entmenschlichung der Bindung erzeugten Schmerz zu mentalisieren.
Ohne die Anerkennungstheorie direkt zu benennen, passen folgende Worte exakt zu meiner Hauptthese des "Kampfes um Anerkennung" um ein narzisstisches Gleichgewicht zu erreichen, sei es echt oder kompensatorisch:
Nach Fonagy et al. (2004) wird unerträgliche Scham dadurch erzeugt, daß „einem die Menschlichkeit in ebenjenem
Augenblick, in dem man zu Recht erwartet, anerkannt und für wertvoll erachtet zu werden, abgesprochen wird“ (S.428). Der durch eine Brutalisierung vulnerable Mensch fühlt sich wie einen Gegenstand behandelt. Die Scham ist in dieser Sicht ein höherentwickelter Abkömmling dieses basalen Schmerzaffektes. Freud (1914) hat darauf hingewiesen, daß das Selbst auf die Liebe des Objektes angewiesen ist, da diese dann zur Selbstliebe wird. Fonagy et al. (2004) beschreiben anschaulich, wie Kälte das Fehlen von Wärme anzeigt – so wie das charakteristische Merkmal eines nach Liebe hungernden Selbst die Scham sei. Genauso wie die Kälte ist die Scham „ungemein schmerzhaft, erzeugt aber, sobald sie eine bestimmte Intensität
erreicht, das Gefühl der Taubheit oder Abgestorbenheit“ (S.429). Der einzige Umgang mit dieser selbstdestruktiven Scham und Demütigung ist hierbei eine selektive, aber massive Verleugnung der Subjektivität sowohl des Objektes als auch des Selbst.
Dies erklärt auch zum Teil die psychischen Mechanismen, die auf der Täterseite zugrunde liegen. Der Gewaltausbruch resultiert demnach selten aus blinder Wut. Sie ist ein verzweifelter Versuch, das fragile Selbst vor dem Anstrum von Scham zu schützen, die häufig unabsichtlich durch einen Anderen ausgelöst wird.
„Die empfundene Demütigung, die das Individuum in dem fremden Teil des Selbst zu containenen versucht, wird dann zu einer existentiellen Bedrohung, die unverzüglich externalisiert werden muss. Sobald dies geschehen ist und sie als Teil der Repräsentation des Opfer im Innern des Täters wahrgenommen wird, scheint es möglich zu sein, sie ein für allemal zu zerstören.“ (Fonagy et al. 2004 S.429f.)
So verstanden ist die Gewalttat eine Geste der Hoffnung, eine Wunsch nach einem Neuanfang, selbst wenn sie in der Realität gewöhnlich nur den tragischen Ausgang darstellt.
Alternatives Konzept zur Aggression - die relationale Sichtweise
Martin Altmeyer:
(...) Betrachten wir die alte Frage nach der Herkunft der Aggression. Stammt sie aus dem Triebleben oder ist sie eine Reaktion auf Frustration – kommt das Böse von innen oder von außen?
Allmählich wächst in der modernen Psychoanalyse die Einsicht, dass diese Alternative obsolet ist. Menschliche Destruktivität ist weder endogen noch exogen erklärbar. Sie ereignet sich zwischen Menschen, in überstrapazierten Interaktionsstrukturen. Sie resultiert z.B. aus einer affektiv aufgeladenen Beziehungs- oder Gruppenspannung, die unlösbar scheint und sich entlädt. Die zerstörerische Wut ist Ergebnis einer zusammenbrechenden Kommunikation, die selbst im Zusammenbruch noch szenische Botschaften an das Gegenüber enthält. Gewalt „spricht“ eben doch, man muss ihre Sprache nur verstehen lernen und den Subtext der Inszenierung lesen, um die Botschaften zu entschlüsseln. Das fragwürdige Gattungsprivileg ist intersubjektiv (oder interreligiös oder interkulturell) kontaminiert: Auch der Akt der Entgrenzung des Selbst durch die Vernichtung des Anderen lässt sich als entgleiste Suche nach Anerkennung interpretieren." (Altmeyer, M. - Ringen um Anerkennung in und zwischen Gruppen - Co-Referat zu Axel Honneth: Das Ich im Wir, Frankfurt 2003)
Mit der relationalen Wende und dem Anerkennungskonzept haben wir eine gute Ueberleitung gefunden um uns in den nächsten beiden Kapiteln der kollektiven Wirkmacht narzisstischer Ungleichgewichte zuzuwenden.
Konzept "Pathologischer Narzissmus"
Der pathologische Narzissmus (Kernberg 1978) beginnt dort, wo Menschen dazu benutzt werden, das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren, ohne auf die Bedürfnisse des Anderen Rücksicht zu nehmen (Wirth 2006). Daher ist er gut an der Qualität der Beziehungen zu erkennen. So neigen Narzissten unter anderem dazu, ihr grandioses Selbstbild sich durch Bewunderung bestätigen zu lassen, Menschen zu dominieren oder auszubeuten - so als wollten sie eine selbst empfundene Minderwertigkeit und Ohnmacht dadurch kompensieren, dass sie anderen zugefügt wird. (Dirk Revenstorf)
Narzissten sind auf sich selbst bezogene Menschen, die andere vernachlässigen, egoistische und egozentrische Wesensmerkmale zeigen. Der Eigennutz geht ihnen vor Gemeinwohl und wenn sie lieben, dann nur, um selber geliebt zu werden. Narzissmus bedeutet aber wesentlich mehr als eine schlichte Selbstliebe, Narzissmus ist eine innere Bezogenheit auf das Selbst, um ein inneres Gleichgewicht, Wohlbehagen und Selbstsicherheit aufrechtzuerhalten. Narzissmus ist daher nicht zwangsläufig abnorm oder krankhaft.
Psychopathie fördernde Arbeitsbedingungen und ihre Folgen
Micha Hilgers: Man muss sich den völligen Empathiemangel dieses Menschen vorstellen. Als die Maschine auf den Abgrund zuraste, muss er ja die Schreie gehört, die Panik gespürt haben. Der Aufwand, den L. wählte, spricht für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Das Gefühl der Größe, der Gottähnlichkeit, die Macht über Leben und Tod – das genießen diese Menschen. Er inszeniert den final-triumphalen Abgang als Herrscher über Leben und Tod. Und natürlich wusste er, dass wir, die Medien, die Gesellschaft, noch lange über sein Handeln reden würden. Großartige Phantasien über das Selbst in der Nachwelt gehören mit zu einer solchen Tat. (15. April 2015: http://www.zeit.de/wissen/2015-04/germanwings-psychische-stoerung-micha-hilgers)
Zusammenfassende Berichterstattung zum Germanwings-Amoklauf eines psychopathischen Co-Piloten
Der Co-Pilot Andreas Lubitz war offenbar psychisch krank - und damit in der Branche nicht allein. Psychiater und ein Pilot berichten von starkem Leistungsdruck und einer Atmosphäre der Angst.
(...)
Diese Erkenntnisse passen zu den Aussagen von Psychologen, Psychiatern und eines Flugkapitäns gegenüber SPIEGEL ONLINE. Sie zeichnen ein besorgniserregendes Bild vom Umgang mit psychischen Problemen in der Luftfahrtbranche. Depressionen, Alkoholsucht, chronische Müdigkeit und Überarbeitung werden demnach oft totgeschwiegen. Einen offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen gebe es nicht, stattdessen herrsche ein Klima von Verdrängung und Karriereangst.
(...) Für noch problematischer halten Experten und Insider die Tatsache, dass die Psyche der Piloten im späteren Berufsleben fast gar kein Thema mehr ist. Stattdessen verschlechtere sich die Situation immer weiter. "Der Druck vom Management nimmt immer weiter zu", sagt ein Flugkapitän, der seit 20 Jahren in der Branche tätig ist. "Die Krankschreibungen wegen chronischer Ermüdung und psychischen Problemen haben drastisch zugenommen." Mitunter würden deshalb auch Flüge gestrichen.
In der Branche setzt man darauf, dass die Piloten dies selbst erkennen und melden würden. "Es ist in der Verantwortung des Piloten selbst, dass er sich medizinische Hilfe holt", sagte Jörg Handwerg, Sprecher der Pilotenvereinigung Cockpit. Die Kollegen achteten aufeinander. Wenn sich jemand ungewöhnlich benehme, werde er angesprochen und aufgefordert, sich Hilfe zu besorgen.
(...) Kolitzus sieht ein weiteres Problem darin, dass psychische Erkrankungen in der Gesellschaft und insbesondere in manchen Berufen noch immer mit einem Stigma behaftet sind. Als Beispiel nennt er den Suizid des früheren Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke. "Der Umgang mit psychischen Erkrankungen ist seitdem nicht besser geworden, weder gesamtgesellschaftlich noch im Profifussball", so Kolitzus. In der Luftfahrtbranche sehe es nicht anders aus.
Nicht alle betroffenen Kollegen würden sich krankschreiben lassen, so der Flugkapitän, der aus Angst vor beruflichen Nachteilen anonym bleiben möchte. "Die Leute funktionieren trotzdem. Manche schaffen das mit Alkohol oder Medikamenten."
Der Psychologe Diepgen hält ein "aufmerksames Umfeld" und "sanktionsfreies Kommunizieren" für wichtiger als regelmäßige Untersuchungen. "Eine Atmosphäre, in der human mit dem Problem umgegangen wird, wäre hilfreich." Dass es dazu aber kommt, hält er für unwahrscheinlich. "Die Öffentlichkeit hat keine Toleranz für psychische Erkrankungen."
Der Flugkapitän sieht das ähnlich. "Ueber psychische Probleme kann unter Piloten nicht offen geredet werden. Das verbietet meist der Anspruch an sich selbst, und die Kollegen würden jemanden mit solchen Schwierigkeiten auch nicht akzeptieren." Deshalb sei es falsch, Co-Pilot Lubitz als Einzelfall abzutun:
"Das System an sich macht krank".
Quelle: Becker, Markus (2015). Psychische Krankheiten bei Piloten: Verdrängen, verleugnen, verschweigen. SPIEGEL Online, abgerufen am 29.3.2015
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/germanwings-psychische-probleme-werden-in-der-branche-verdraengt-a-1025983.html
Der fehlerhafte Mensch? Ausgeschlossen!
Das Einknicken vor dem Druck, Job und Familie in Einklang zu bringen, also gleichzeitig im Beruf zu reüssieren und als soziales Wesen zu glänzen, um ein ebenfalls von den Medien propagiertes, makelloses Mustermann-Ideal zu erfüllen, ist nicht vorgesehen: Wer Fehler macht, wer Schwäche zeigt, gilt als stigmatisiert - er wird zum Sonderling. Im Spätkapitalismus hat längst das Individuum selbst diese Konformisierung vom Staat und von den Unternehmen übernommen; wir sind uns selbst unser größter Schinder.
Der französische Philosoph Michel Foucault nannte diesen Effekt "Selbsttechnologie": Der Einzelne sieht sich selbst in einer Art Bringschuld gegenüber dem System. Hinzu komme, wie der Soziologe Heinz Bude unlängst in seinem Aufsatz "Gesellschaft der Angst" formulierte, ein Optimierungszwang, der gerade die mittlere Generation von heute in Depressionen stürzen könne: "Früher sagte man: Ich bin, der ich bin. Heute denkt man: Ich bin, der ich sein könnte", so Bude im Interview mit SPIEGEL ONLINE. Ob sich auch Andreas Lubitz solchen Drücken ausgeliefert sah?"
Quelle: Andreas Borcholte im Spiegel Online vom 4. April 2015
Egoistisch, skrupellos, falsch: Narzissten machen anderen Mitarbeitern das Leben schwer. Wie geht man mit solchen Chefs oder Kollegen um?
Als „Karstadt-Retter“ wurde Nicolas Berggruen anfangs gefeiert. Der Investor blendete alle mit seinem Charisma – doch nichts von dem, was Berggruen versprach, hielt er ein. Zuerst verkauften seine Manager die Filetstücke und schließlich auch noch den Rest von Karstadt. Kein Cent Eigenkapital wurde investiert, stattdessen presste Berggruen Millionen aus dem Unternehmen heraus, wie Medien berichteten.
Blender wie Berggruen finden sich in allen Bereichen der Arbeitswelt, in hohen wie niedrigen Positionen – und mit ihnen auszukommen ist schwierig, weiss Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. In ihrem neuen Buch "Blender im Job: Vom klugen Umgang mit narzisstischen Chefs, Kollegen und Mitarbeitern" (Scorpio Verlag) gibt sie Tipps, wie eine Zusammenarbeit trotzdem gelingen kann.
Im ersten Teil des Buches erklärt Wardetzki den Begriff und erläutert, wie sich ein normaler Narzissmus von einem krankhaften und negativen unterscheidet. Außerdem beschreibt die Therapeutin unsere narzisstische Gesellschaft: „Wir lassen uns blenden von Aktienkursen und beruhigenden Aussagen der Staatschefs. Wir wiegen uns in einer Sicherheit, die keine wirkliche ist. Wir glauben, alles erreichen zu können, wenn wir nur wollen und uns genug anstrengen.“
Doch hinter der optimierten Fassade bröckelt es: „Reichtum, Luxus und Statussymbole erkaufen wir uns auf Kosten der weniger Wohlhabenden und Armen und durch die Ausbeutung der Welt.“ Das sei ein zentraler narzisstischer Mechanismus: „Hauptsache, der äußere Schein glänzt, wie es innen aussieht, geht keinen etwas an.“ Am Arbeitsplatz sieht das nicht anders aus – darauf geht die Autorin im zweiten Teil ein.
Typisch Narzisst:
• Er erlebt Wut, Scham und Demütigung als Reaktion auf Kritik und kann sich keine Fehler eingestehen bzw. leugnet diese.
• Er geht Beziehungen ein, in denen der andere nur dem eigenen Nutzen dient. Seine Fähigkeit zur Empathie geht gegen Null.
• Ein Narzisst besitzt ein übertriebenes Selbstwertgefühl (= Selbstüberschätzung). Er macht sich größer als er ist und erlebt sich und seine Probleme als einzigartig.
• Er fordert permanente Aufmerksamkeit und Bewunderung und reagiert mit starken Neidgefühlen.
Mein Chef ist ein Narzisst – was nun?
Therapeutin Wardetzki warnt vor einem allzu charismatischen Vorgesetzten oder Kollegen: Er könnte sich als narzisstisch entpuppen, mit allen Vor- und Nachteilen. „Seien Sie im Umgang mit ihm besonnen, denn seine Idealisierung kann schnell in Entwertung kippen.“
Hier ein paar ihrer zahlreichen Tipps für den Umgang mit einem narzisstischen Chef, die natürlich immer auch vom jeweiligen Typ abhängen:
- Fairness hilft nicht: Alle bisherige Loyalität und Vereinbarungen mit dem Chef nützen nichts, wenn wir Untergebene etwas tun, was in seinen Augen Verrat ist. „Wir können noch so fair gewesen sein, es spielt keine Rolle mehr, es wird nur die momentane Unfairness gesehen, wegen der wir bestraft oder verstoßen werden. Denn alles, was vorher war, gilt in den Augen des narzisstischen Menschen nun nichts mehr“, so Wardetzki.
- Kein Lob erwarten: Viele Vorgesetzte loben weniger, als es die Motivation und das Bedürfnis der Mitarbeiter erfordert. Arbeitnehmer sollten es nicht persönlich nehmen sondern die Zustimmung an anderer Stelle suchen, statt beleidigt zu sein.
- Nicht vertrösten lassen: Narzisstische Vorgesetzte neigen häufig dazu, Konflikte zu vermeiden – stattdessen werden diejenigen, die das Problem haben, entweder nicht ernst genommen oder es wird ihnen als ihre eigene Schuld zurückgegeben. Die Autorin rät: „Benennen Sie klar, was Sie belastet und formulieren Sie Ihre Wünsche. Damit zeigen Sie Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit. Denn das Problem liegt nicht bei Ihnen, dass Sie sich entwertet fühlen, sondern bei der Führungskraft, die unfähig ist, Konflikte anzugehen.
Quellen: Wardetzki, Bärbel (2015): Blender im Job.
Bärbel Wardetzki, geboren 1952, ist Diplom-Psychologin und Dr. phil. Sie lebt in München und ist dort als Psychotherapeutin, Supervisorin und Coach tätig.
2.3.8. Kränkbarkeit als Leitsymptom unserer Zeit?
...................
vgl. auch das Paranoia-Unterkapitel weiter unten sowie das Esoterik-Kapitel mit den Abschnitten zu Populismus und Nazismus.
Verführen, Belügen, Manipulieren aus psychologischer Sicht
Es gibt wenig in unserer Zeit und Gesellschaft, was so empört - aber auch wütend und hilflos zugleich macht. Gemeint sind Betrug, Verführung, Lüge, Manipulation, kurz: Täuschungs-Verbrechen. Und dies auch noch an den Hilfloseren, oft auch Älteren, Alleinstehenden, vom Leben ohnehin Benachteiligten.
Deshalb stellt sich oft die Frage: Was sind das für Menschen? Irgendetwas muss doch - neben genetischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Einflüssen - diese Persönlichkeits-Entwicklung folgenschwer geprägt haben. Was weiß also die Wissenschaft, vor allem die forensische Psychologie und Psychiatrie dazu zu sagen? Was sind die Motive, Hintergründe, Gelegenheiten, am Schluss aber auch die folgenreichen Fehl-Entscheidungen, vor allem Fehleinschätzungen und damit das juristische Ende einer solchen „Laufbahn“?
Und zuletzt: Kann man diese Menschen ändern, therapeutisch? (Volker Faust in "Psychiatrie heute")
Man hakt das "Verführen, Belügen, Manipulieren, kurz: grenzwertiges bis eindeutig kriminelles Verhalten zu Lasten seiner Mitmenschen, gerne unter „Alltag“ ab, als unerfreulicher Preis bösartigen zwischenmenschlichen Verhaltens.
Manchmal hat man Mitleid, manchmal sogar eigene Befürchtungen, zumindest ein ungutes Gefühl. Aber immerhin: Man ist wenigstens nicht selber betroffen. Und eine gewisse Mit-Schuld „blau-äugiger“, unvorsichtiger oder vielleicht sogar gewinn-süchtiger Opfer ist auch nicht auszuschließen. Jetzt sind sie sicher schlauer, aber auch ärmer und verbittert. Vielleicht trifft sie’s nicht so hart, hoffentlich; vielleicht trifft es aber auch in gnadenloser Ungerechtigkeit hilflose, oft ältere Mitmenschen. Auf jeden Fall: Ein weiteres Beispiel für: „So schlecht können Menschen sein“. Und das vor unserer Haustür, in einer doch ansonsten "heilen Welt" (Volker Faust).
Das psychopathische Zeitalter?
Als traurige Fortsetzung und Steigerung des u.a. von Lasch und Sennett beschriebenen narzisstischen Zeitalters (ca. 1970-2010) welches dem von Adorno beschriebenen autoritären Charakter der (Nach-)Kriegszeit folgte (ca. 1900-1970), sieht es aktuell ganz so aus, als würde sich ein Zeitalter der Psychopathie, wo Depression, Amok und Suizid zum tristen Alltag gehören, heraufziehen.
Der bereits mehrfach hier zitierte Autor Eisenberg äussert sich hierzu in folgenden, drastischen Worten:
"Das Zeitalter des Narzissmus [ich würde es sogar Psychopathie nennen, M.F.] gebiert Kälte und Indifferenz und stählt sich in Selbstoptimerung:
„Wir sind Zeugen einer anthropologischen Mutation und erleben mit, wie sich der wahrhaft kapitalistische und flexible Mensch herausbildet, der vor keinerlei Hemmungen vor nichts mehr zurückgehalten wird.“ (Eisenberg 2015 S.212)
Der neue Typus des Sozialcharakters im neoliberalen Zeitalter ist schmerzunempfindlich, zeigt mangelnde Empathie und blinde Risikofreude, wirkt oberflächlich charmant, ist bindungs- und skrupellos, anpassungsfähig, zynisch-kalt, er ist der funktionale Psychopath, die der Entwicklungsstufe des Kapitalismus gemäße Charaktermaske. Die einen sind die Führungskräfte in der Finanzwelt, die anderen füllen die Gefängnisse.
Quelle: magazin-auswege.de – 14.2.2015 Rezension zu Götz Eisenberg (2015). Zwischen Amok und Alzheimer: Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus
Das darwinistische Prinzip im Konkurrenzkampf misst sich am Inszenierungswert. Konsum ist oberste Bürgerpflicht und macht die Konsumgesellschaft zu einer Gegenwartsgesellschaft, die unter kollektivem Gedächtnisverlust leidet. Es zählt nur das Hier und Jetzt. Individualisierung und Flexibilisierung führt zu einer Infantilisierung der Erwachsenen, die sich tendenziell in Kleidung, Umgangsformen, Sprache etc. nicht mehr von den Jugendlichen unterscheiden wollen. Nicht Rückgrat und Charakter sind gefragt, sondern Opportunismus (S.187).
Das Mantra der Wachstumsideologie macht die Welt nicht zu einer besseren und potenziert weltweit soziale Verwerfungen. Forcierte Leistungskonkurrenz und forcierter gesellschaftlicher Wandel „erschüttert das eingespielte Gleichgewicht zwischen der Struktur der äußeren Realität und der Identitätsstruktur der Menschen und wird zur Quelle von Wirklichkeitsverlust und seelischer Krankheit. Sie hoffen, dass eines Tages die äußere Realität wieder zu ihrem inneren Text passt.“ (S.76/77)
So treibt es Menschen in die Arme rechtspopulistischer Menschenfänger. „Weil unter der Schicht normalen, angepassten Verhaltens primitive internalisierte Objektbeziehungen und um die Spaltung gruppierte Abwehrmechanismen latent fortbestehen, geraten Demokratie, Rechtsstaat und Vernunft in Krisenzeiten regelmäßig in Gefahr. Ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit und Angstfreiheit ist unabdingbare Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft.“ (S.130)
Quelle: Brigitte Pick: Rezension zu Götz Eisenberg (2015). Zwischen Amok und Alzheimer. In: magazin-auswege.de vom 14.2.2015
Literatur und Links zu Narzissmus:
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Britton, R, Feldman, M und Steiner, J (2001). Narzißmus, Allmacht und psychische Realität. Tübingen: edition discord.
Eilts, HJ (1998). Narzißmus und Selbstpsychologie. Zur Entwicklung der psychoanalytischen Abwehrlehre. Tübingen: edition discord.
Green, A (2004). Die tote Mutter. Psychoanalytische Studien zu Lebensnarzissmus und Todesnarzissmus. Gießen: Psychosozial.
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Grunberger, B und Dessuant, P (). Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Henseler, (). Religion – llusion? Eine psychoanalytische Deutung. Göttingen: Steidl.
Joffe, WG/Sandler, J (). Ueber einige begriffliche Probleme beim Studium narzisstischer Störungen. Psyche – Z Psychoanal, ??, ???–???.
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Die Zukunft der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Näcke, P. ??????. Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualitaet / Archiv fuer Psychiatrie, Berlin, ??, ???–???.
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Ricoeur, P (1974). Die Interpretation - Ein Versuch zu Freud. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bärbel Wardetzki
Eitle Liebe: Wie narzisstische Beziehungen scheitern oder gelingen können
Bärbel Wardetzki
Nimm's bitte nicht persönlich: Der gelassene Umgang mit Kränkungen
Bärbel Wardetzki
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Bärbel Wardetzki
Kränkung am Arbeitsplatz: Strategien gegen Missachtung, Gerede und Mobbing
Martha Stout
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Luise Reddemann (2013, Hrsg.)
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Kinder egozentrischer Eltern: Eine Kindheit mit narzisstischen Eltern bewältigen. Zu einem neuen Selbstverständnis finden
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EGO: Das Spiel des Lebens - Homo oeconomicus 2.0 trifft Big Data!
Identität, Selbstwertgefühl und Persönlichkeit:
James F. Masterson - Die Sehnsucht nach dem wahren Selbst
Das belastende Gefühl von Sinnlosigkeit, Leere und Ueberdruss
Bärbel Wardetzki - Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung
Interessantes und hilfreiches Buch zur weiblichen Spielart des Narzissmus
Bärbel Wardetzki - Ohrfeige für die Seele
Wie wir mit Kränkung und Zurückweisung besser umgehen können
Bärbel Wardetzki - Eitle Liebe
Wie narzisstische Beziehungen scheitern oder gelingen können
Heinz-Peter Röhr - Wege aus der Abhängigkeit
Destruktive Beziehungen überwinden
Heinz Henseler - Narzisstische Krisen
Selbstmordversuche als Krise des Selbstwertgefühls
Kathrin Asper - Verlassenheit und Selbstentfremdung
Neue Zugänge zum therapeutischen Verständnis der Depression
Otto F. Kernberg - Borderline und pathologischer Narzissmus
DER Klassiker - uralt aber immer noch unerreicht in Prägnanz und Aussage
Otto F. Kernberg - Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Eines der ersten Bücher über psychodynamische Therapiemöglichkeiten: Kernbergs Objektbeziehungstherapie
Heinz Kohut - Narzissmus
Kernbergs grosser Gegenspieler in Sachen psychodynamischer Narzissmus-Forschung: Kohuts Selbstpsychologie
Rainer Sachse - Histrionische und Narzisstische Persönlichkeitsstörungen
Neuste Erkenntnisse zur Therapie schwieriger Persönlichkeitsstörungen
James F. Masterson - Die Sehnsucht nach dem wahren Selbst
Das belastende Gefühl von Sinnlosigkeit, Leere und Ueberdruss
Bärbel Wardetzki - Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung
Interessantes und hilfreiches Buch zur weiblichen Spielart des Narzissmus
Heinz-Peter Röhr - Vom Glück, sich selbst zu lieben
Wege aus der Selbstentfremdung
Heinz-Peter Röhr - Narzissmus
Das innere Gefängnis
Stephen M. Johnson - Der Narzisstische Persönlichkeitsstil
Narzissmus als Persönlichkeitsstil
Neville Symington - Narzissmus
Neue Erkenntnisse zur Ueberwindung psychischer Störungen
Vamik D. Volkan, Gabriele Ast - Spektrum des Narzissmus
Psychoanalytische Psychotherapie eines Narzissten
Heinz Henseler - Narzisstische Krisen
Selbstmordversuche als Krise des Selbstwertgefühls
Marianne Leuzinger-Bohleber et al. - Identität und Einsamkeit
Zur Psychoanalyse von Narzissmus und Beziehung
Kathrin Asper - Verlassenheit und Selbstentfremdung
Neue Zugänge zum therapeutischen Verständnis der Depression