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Falkenweg 8
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Vom digitalen Narzissmus zum analogen Selbst - Regulations- und Relationskonzepte für Psychotherapie und Gesellschaft
Markus Frauchiger, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP in CH-3012 Bern
Markus Frauchiger: CV, Lebenslauf und Vernetzung des Autors
Veröffentlichung und Reproduktion nur auf Anfrage beim Autor möglich - dies ist ein vorläufiges Arbeitspapier, welches kontinuierlich erweitert wird.
- EINLEITUNG: Dialektische Einführung in die beiden Koordinaten
- NARZISSMUS: Regulation und Kompensation des Selbstwertes
- SELBST: Soziologische Dimensionen des Selbstwertes im "Zeitalter des Narzissmus"
- ENTWICKLUNG: Identität, Gegenwartsmomente und die "Fesseln der Liebe"
- ESOTERIK: Populismus, "das falsche Selbst" und der manipulierbare Mensch
- BEZIEHUNG: Empathie und Bezogenheit - Würdigung, Kongruenz und Echtheit
- TECHNIK: Vom Anthropozän zum Posthumanismus - Konsum, Wachstum, Medien und digital-visueller Narzissmus
- RESONANZ: Emotion, Intuition und "Embodiment, Enactment, Empowerment"
- DEMOKRATIE: Von der Aufmerksamkeit zur Anerkennung der "Andersheit des Anderen"
- PSYCHOTHERAPIE: Wirkfaktoren dialektischer Psychotherapie
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LITERATUR: Quellenangaben und Bücher
"Liebe und Zuwendung lassen sich nicht verordnen.
„Vor allem aber“, schrieb Adorno in seinem berühmten Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ aus dem Jahr 1966,
„kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren.
Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch.“
"Wenn Kälte und Indifferenz, die aus der Grundstruktur dieser Gesellschaft stammen, inzwischen bis in die Poren des Alltagslebens und die intimen Binnenwelten der Menschen vorgedrungen sind und sogar das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern prägen, ist es zu spät. Man darf sich nicht wundern, dass unter solchen Bedingungen vermehrt psychisch frigide und moralisch verwilderte Menschen heranwachsen. Der nur an privater Nutzenmaximierung interessierte und zur Einfühlung in andere unfähige „Psychopath“ droht zur sozialpsychologischen Signatur des globalen Zeitalters zu werden. Es mag sein, dass heutige Kinder weniger geschlagen und körperlich gezüchtigt werden, aber dafür haben sie unter neuartigen Entbehrungen zu leiden, die womöglich nicht minder grausam sind. Nietzsches Satz: „Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?“ hat offensichtlich nichts an Aktualität eingebüsst. (Götz Eisenberg: "Kinder leiden unter neuartigen Entbehrungen" in der "Augsburger Allgemeinen" vom 29.5.2011)
Entwicklungspsychologie des Narzissmus und das Konzept der dialektischen Intersubjektivität
Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm hat den Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und den Verhaltensweisen und Charakterstrukturen der Menschen gründlich erforscht. Nach Fromm wird in der Waren-Gesellschaft schon in der Kindheit der „Marketing-Charakter“ herausgebildet.
So heisst es schon bei Kindern: "Spielzeug statt Zuwendung" oder "Geld statt Liebe". An die Stelle persönlicher Bindungen treten materielle Belohungen für Wohlverhalten. So entsteht ein ganz auf den Markt und seine Anforderungen ausgerichteter Menschentypus, der seinen Selbstwert vorwiegend durch das „Haben“ bestimmt. Und wie bei einer Ware ist es ihm wichtig, „sich selbst zu verkaufen“. Der persönliche Marktwert definiert sich in hohem Masse durch materielle Statussymbole. Geld und Geld ausgeben haben daher eine wichtige Funktion, die anzeigt, in welchem Ausmass man gefragt ist und mitspielen kann. Weiterführendes zum Marketing-Charakter in Kapitel 7: Wachstumskritik.
Im Entwicklungskapitel weiterfahren möchte ich mit der Sozialphilosophin, Feministin und relationalen Psychoanalytikerin Jessica Benjamin aus New York:
"Die Mutter gebraucht ihre Stimme, ihre Mimik und ihre Hände, um das Kind anzusprechen. Das Baby reagiert mit seinem ganzen Körper, es zappelt und blickt aufmerksam, es sperrt sein Mündchen auf oder lächelt glücklich. Und dann beginnt manchmal ein Tanz der Interaktion, bei dem beide Partner so fein aufeinander abgestimmt sind, dass sie sich ganz im Einklang bewegen. (...) Wenn in der Interaktion die Stimuli zu stark werden, reguliert das Baby seine Erregung, indem es den Kopf abwendet. Wenn die PartnerIn dies richtig deutet, nämlich als Aufforderung sich zurückzuhalten, dann erlebt das Baby ein Nachlassen der Spannung, ohne deshalb die Verbindung und den Austausch aufzugeben. Das Baby kann also das Mass seiner Erregung kontrollieren, indem es die/den Andere(n) reguliert.
Denn es fühlt: Die Welt reagiert, es selbst hat einen Effekt erzielt. Wenn dem Baby dies nicht gelingt, erlebt es einen Verlust an äusserer und innerer Kontrolle.
Wir können aber auch beobachten, wie diese gegenseitige Regulierung versagt, wie die Einstimmung scheitert. Nämlich, wenn das Baby erschöpft oder zerstreut ist, wenn die Mutter gelangweilt oder deprimiert ist, wenn das Baby nicht reagiert und die Mutter dadurch aus dem Gleichgewicht kommt. Dann erleben wir nicht nur einen Mangel an spielerischem Verhalten, sondern sozusagen ein Antispiel, bei dem das frustrierte Bemühen um Anerkennung schmerzlich offenbar wird (...) Auf jeden Versuch des Babys, sich der Stimulation durch die Mutter zu entziehen, wobei es den Blick abwendet, den Kopf wegdreht, den Körper zurückwirft, reagiert die Mutter mit einer Verfolgung des Babys (...). Es ist als verstünde sie seine Botschaft, es in Ruhe zu lassen als Scheitern ihres eigenen Bemühens um Anerkennung.
Während die positive Reaktion des Babys die Mutter in ihrem Dasein bestätigen kann, vernichtet seine Reaktionslosigkeit die Mutter manchmal in ihrem Selbstvertrauen. Wenn die Mutter dann ihr reaktionsloses Baby schaukelt und kitzelt, und - sich vorbeugend - ruft, "Schau mich doch an!" dann erzeugt sie aus Verzweiflung darüber, nicht anerkannt zu werden, einen Kreislauf negativer Anerkennung. So erkennen wir schon in diesen frühesten Interaktionen, wie das Streben nach Anerkennung in einem Machtkampf ausarten kann (...). Bei einem negativen Kreislauf der Anerkennung hat die Person das Gefühl, dass Alleinsein nur durch Vernichtung der aufdringlichen Anderen möglich ist; dass Einstimmung nur möglich ist durch Unterwerfung unter die Andere" (Benjamin 1985 S.29ff).
Die hier gezeichnete Auffassung von Wechselseitigkeit hebt sich ab von all jenen Entwicklungstheorien, die sich auf die innerpsychische Dynamik des Individuums reduzieren sowie von solchen, die nur die Seite der Autonomie betonen.
Benjamins Perspektive umfasst demgegenüber die gleichzeitige Existenz zweier lebendiger Subjekte. Benjamin führt ihre anerkennungstheoretischen Einsichten lebensgeschichtlich weiter hin zu Beziehungsgestalten erwachsener Frauen und Männer, was sie in ihrem Hauptwerk "Die Fesseln der Liebe" eindrücklich beschreibt.
Klassische und neuere psychoanalytische Auffassungen von menschlicher Entwicklung
• Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung; Phasenlehre
• Piagets Theorie der dialektischen Entwicklung
• Robert Kegans "Stufen des Selbst"
• Prozesse der Introjektion und Projektion (Melanie Klein 1930)
• Theorie der Entwicklung von Separation und Individuation (Margaret Mahler 1952)
• Entwicklung des narzisstischen Systems (Heinz Kohut 1975)
• Psychoanalytische Säuglings- und Kleinkindforschung (Daniel Stern 1990, Martin Dornes 1993)
• Bindungstheorie (John Bowlby 1969)
• Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy 2002)
• Integratives Entwicklungskonzept der "Relationalen Psychoanalyse" (Martin Altmeyer 2006)
Wie wir bereits ganz am Anfang dieses Buches in Anlehnung an Heinz Henseler (2000 S.74-80) gesehen bzw. gelesen haben, streiten sich die "Gelehrten" v.a. über zwei grundlegend verschiedene Sichtweisen, was die Entstehung des Narzissmus, aber auch die Entwicklung des Menschen ganz allgemein, anbelangt:
"Primärer Narzissmus" versus "primäre Intersubjektivität"
Es handelt sich um den seit den 70er-Jahren (sog. Kohut-Kernberg-Kontroverse, Neuauflage in den 90ern in der sog. Stern-Green-Kontroverse, vgl. Kap. 6) aufgeflammten Schulenstreit innerhalb der Psychoanalyse, einem Antagonismus von "Triebtheoretikern" einerseits und "Intersubjektivisten" andererseits.
Dieser Dialektik von Struktur und Dynamik bzw. von eher autoritären gegenüber eher beziehungsorientierten psychotherapeutischen Haltungen kann mit einem in diesem Buch zu entwickelnden 'Integrativen Modell des Narzissmus' und des Menschen begegnet werden. Dies war der Fokus im vorletzten Kapitel, wo es um den Narzissmus im engeren Sinne ging.
In diesem Kapitel hier soll es um die Entwicklungstheorien des Individuums gehen, weg vom pathologischen Narzissmus hin zur Entwicklung des gesunden Selbst, v.a. bezüglich der Frage wann und wie sich ein 'wahres' bzw. wann und wie sich ein 'falsches Selbst' herausbildet (Die Selbstkonzepte Winnicotts, Horneys etc. werden später in Kapitel 8 dargestellt).
Grundlagen und Antworten hierzu bietet v.a. die Säuglingsforschung und die Bindungstheorie, aber auch die klassischen Freudschen und Kleinianischen Entwicklungstheorien haben nach wie vor Wichtiges beizutragen. Mit letzteren wollen wir anfangen:
Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung: Die klassische Phasenlehre
Stufen der sexuellen Entwicklung (erweitertes Modell): oral, anal, phallisch, oedipal, latent, pubertär, adoleszent, genital
Entwicklung und Funktion des narzisstischen Systems: Der harmonische Primärzustand im primären Narzissmus Freudscher Prägung
Eine Grundannahme der klassisch-psychoanalytischen Narzissmustheorie besteht darin, sich den frühesten psychophysiologischen Zustand des Kindes nach dem Modell der intrauterinen Einheit von Mutter und Kind vorzustellen.
"Dieser Ur- oder Primärzustand muss ein Zustand von Harmonie, Behagen, Spannungsfreiheit, fragloser Sicherheit und Geborgenheit sein. Der Fötus unterscheidet noch nicht zwischen sich und den Objekten der Umwelt. Er erlebt das intrauterine Milieu noch nicht als etwas, das ausser ihm existiert. Das «ausser ihm», jedenfalls im Sinne umrissener Objekte, gibt es für ihn noch nicht.
Aehnliches kann man, wenigstens für grössere Zeitraume, auch für die frühe Säuglingszeit voraussetzen. Diesen harmonischen Primärzustand kann man nicht erinnern, man kann ihn aber erschliessen
a) aus dem Verhalten des Säuglings,
b) aus der dunklen Erinnerung oder Sehnsucht, die in jedem Menschen steckt und die sich in Mythen vom Paradies, vom goldenen Zeitalter o.ä. niedergeschlagen hat,
c) aus tief regressiven Zuständen, wie wir sie vor allem in der Psychopathologie beobachten, und
d) aus den Anstrengungen, die im Laufe der psychischen Entwicklung unternommen werden, einen solchen Zustand wieder zu erreichen. (ebenda S. 74)
FREUD meint dazu: «Die Entwicklung des Ichs besteht in einer Entfernung vom primären Narzissmus und erzeugt ein intensives Streben, diesen wiederzugewinnen» (1914, Ges.W. Bd.10, S.167).
Freud (1914) spricht vom primären Narzissmus und nimmt einen subjektiven Zustand grossartiger Unabhängigkeit von der Umwelt an.
Balint (ab 1932, z.B. 1960) spricht vom Stadium der primären Liebe und meint damit, es gebe sehr primitive Objektbeziehungen prinzipiell von Anfang an.
Der harmonische Primärzustand im primären Narzissmus bei Sigmund Freud
"Eine Grundannahme der klassisch-psychoanalytischen Narzissmustheorie besteht darin, sich den frühesten psychophysiologischen Zustand des Kindes nach dem Modell der intrauterinen Einheit von Mutter und Kind vorzustellen." (Henseler 2000 S.74)
"Dieser Ur- oder Primärzustand muss ein Zustand von Harmonie, Behagen, Spannungsfreiheit, fragloser Sicherheit und Geborgenheit sein. Der Fötus unterscheidet noch nicht zwischen sich und den Objekten der Umwelt. Er erlebt das intrauterine Milieu noch nicht als etwas, das ausser ihm existiert. Das «ausser ihm», jedenfalls im Sinne umrissener Objekte, gibt es für ihn noch nicht.
Aehnliches kann man, wenigstens für grössere Zeiträume, auch für die frühe Säuglingszeit voraussetzen. Diesen harmonischen Primärzustand kann man nicht erinnern, man kann ihn aber erschliessen
a) aus dem Verhalten des Säuglings,
b) aus der dunklen Erinnerung oder Sehnsucht, die in jedem Menschen steckt und die sich in Mythen vom Paradies, vom goldenen Zeitalter o.ä. niedergeschlagen hat,
c) aus tief regressiven Zuständen, wie wir sie vor allem in der Psychopathologie beobachten, und
d) aus den Anstrengungen, die im Laufe der psychischen Entwicklung unternommen werden, einen solchen Zustand wieder zu erreichen.
FREUD meint dazu: «Die Entwicklung des Ichs besteht in einer Entfernung vom primären Narzissmus und erzeugt ein intensives Streben, diesen wiederzugewinnen» (1914, Ges.W. Bd.10, S.167).
Ueber die Existenz eines solchen harmonischen Primärzustandes besteht wie erwähnt also relative Einigkeit in der Literatur. Uneinigkeit besteht in der Bezeichnung und der metapsychologischen Beschreibung dieses Zustandes: Freud (1914) spricht vom primären Narzissmus und nimmt einen subjektiven Zustand grossartiger Unabhängigkeit von der Umwelt an, Balint (ab 1932, z.B. 1960) als einer von Freuds "Gegenspielern", spricht vom Stadium der primären Liebe und meint damit, es gebe sehr primitive Objektbeziehungen prinzipiell von Anfang an.
Henseler (2000 S.79) schreibt dazu:
"Da die Entwicklung des narzisstischen Systems in enger Wechselwirkung mit den oben beschriebenen psychosexuellen Entwicklungsphasen verläuft, ist anzunehmen, dass die idealisierenden Vorstellungen inhaltlich von den verschiedenen Stufen der Libidoentwicklung mitbestimmt werden.
In Anlehnung an ABRAHAM (1924), ERIKSON (1950), BIBRING (1953), HEIMANN (1962), DANNEBERG (1968), SCHUMACHER (1970), STAEWEN-HAAS (1970) und BELAND (1971) wurde versucht, die Inhalte der zu erwartenden Vorstellungen zu entwerfen [vgl. nebenstehende Tabelle aus Henseler 2000 S.78].
Literaturangaben:
Abraham, Karl (1924). Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido. Wien: Int. psychoanal. Verlag.
BELAND. H.: Bemerkungen zum Selbstgefühl. in: Psychoanalyse in Berlin. Meisenheim: Hain 1971.
BIBRING, E. (1953); The Mechanism of Depression, in: Greenacre, Ph. (ed.7: Affective Disorders, 3. Printing. New York: Int. Univ. Press, 1968, 13-48.
DANNEBERG, E.: Dynamische und ökonomische Aspekte der Entwicklung des Ueber-Ichs. Psyche 22 (1968), 365-383.
ERIKSON. E. H. (1950): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: E. Klett 1965.
HEIMAHN, P.: Bemerkungen zur analen Phase. Psyche 16 (1962), 420-439.
Schumacher, W. (1970). Bemerkungen zur Theorie des Narzissmus. Psyche 24, 1-22.
"Wer die Welt dialektisch versteht, sieht sie immer in Entwicklung, auch den Menschen.
Dialektische Psychologie ist darum immer auch Entwicklungspsychologie".
August Flammer 2008
Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung
Dialektisch-'epigenetische' Entwicklungskonzeption
Als quasi dialektisches Komplementärereignis zu den psychoanalytischen Entwicklungskonzepten mit Fokus Emotion lasse ich im folgenden die Konzepte des Genfer Entwicklungspsychologen Jean Piaget "hochleben" (mit Fokus Kognition), weil diese für unsere Konzeption einer 'Dialektischen Psychotherapie' sehr zentral und definierend sind:
"Die kognitive Entwicklung des Menschen lässt sich als gestuftes, dialektisches Fortschreiten des Geistes durch die Aufhebung von Widersprüchen verstehen (Kesselring 1981).
Neben den verschiedenen Entwicklungsstadien sind dabei gerade die allgemeinen Funktionsprinzipien des Veränderungsprozesses für die kausale Psychotherapie interessant, weil sie auch noch für das Denken und Lernen im Erwachsenenleben gelten.
Der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe (= Wissenschaftstheoretiker) Jean Piaget (1896-1980) beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit der geistigen Entwicklung von Kindern. Piaget hob im Gegensatz zum Behaviorismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte, die Bedeutung der kognitiven Komponente beim Lernen hervor.
Während der Behaviorismus davon ausging, Lernen sei jederzeit durch bestimmte Reiz-Reaktions-Konstellationen (Konditionierung) möglich, vertrat Piaget die Ansicht, dass die geistige Entwicklung des Menschen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten und in universellen Stadien verlaufe (Piaget 1992).
Piagets epigenetische Entwicklungstheorie ist Teil seiner allgemeinen Erkenntnistheorie und vertritt den Ansatz, dass Entwicklungsprozesse wirkliche Neuerungen hervorbringen. Piaget geht außerdem von der konstruktivistischen Annahme [vgl. Kap.1 und 6] aus, dass Kinder ihr Weltwissen spielerisch ausprobieren und aktiv konstruieren müssen, um sich der Umwelt anzupassen. Denken und Handeln gehen dabei Hand in Hand." (vgl. http://www.kausalepsychotherapie.de/dialektik2.htm)
Grundbegriffe in Piagets epigenetischer Entwicklungstheorie
Jean Piaget interessierte sich weniger für die Lerninhalte, sondern vor allem für die Elemente, die bei allen Lernprozessen entweder gleich bleiben oder sich nach entwicklungsbedingten Gesetzmässigkeiten verändern. Zur ersten Kategorie gehören die Funktionen Assimilation und Akkommodation, zur zweiten die Kategorien Strukturen und Schemata.
Strukturen und Schemata: „Schemata sind generelle begriffliche Rahmen oder Wissensstrukturen und enthalten Vorannahmen über bestimmte Gegenstände, Menschen und Situationen und die Art ihrer Beziehungen“ (Zimbardo 1995 S.336). Sie ordnen Informationen in Kategorien und sind untereinander in Netzwerken verknüpft. Als sensomotorische oder kognitive Kategorien geben sie uns Orientierung und unterstützen unsere Koordination und Handlungsplanung. Strukturen sind gegenüber einzelnen Schemata komplexer organisiert und müssen nach Piaget noch weitere Bedingungen erfüllen.
Funktionen: Nach Piaget wird der Mensch mit zwei fundamentalen Tendenzen geboren: Zum einen ist dies die Tendenz zur Organisation [vgl. die Gestaltgesetze in Kap.2], zur Integration der eigenen Prozesse in kohärente Systeme. Zum anderen ist dies die Tendenz zur Adaptation, d.h. zur Anpassung an die Umgebung. Diese erfolgt mittels zweier fundamentaler Prozesse, die als komplementäre Funktionen zu verstehen sind. Beide dienen der aktiven Anpassung des Individuums an seine Umwelt und dem Erreichen eines Gleichgewichtes zwischen beiden. Aus dem Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation erwachsen Lernprozesse, resultiert kognitive Entwicklung.
Assimilation: Wahrnehmungen der Umwelt werden den kognitiven Strukturen angepasst. Das bedeutet, Informationen, die das Individuum aus seiner Umwelt aufnimmt, werden so verändert, dass sie zu einem bereits existierenden Schema passen. Die vorhandenen Schemata erweitern sich also dadurch, dass sie sich ähnliche Erfahrungen einverleiben und damit zu Eigen machen.
Akkommodation: Wenn eine neue Erfahrung zu keinem Schema passt bzw. im Widerspruch zu den bisherigen Strukturen steht, muss das Schema auf die Umweltbedingungen abgestimmt und so verändert werden, dass die neue Information integrierbar wird.
Aequilibration: Jeder Mensch ist bestrebt, durch Assimilation und Akkomodation immer wieder ein Äqulilibrium, also einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Es ist Ziel jeglicher Aktivität. Tatsächlich wechseln sich Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszustände kontinuierlich ab und treiben so die geistige Entwicklung erst an. Denn jedes neue Ungleichgewicht, z.B. durch eine Wahrnehmung, die im Widerspruch zum bisherigen Schema steht, macht das Finden eines neuen Gleichgewichts auf höherer Ebene notwendig [vgl. unten: Dialektik]. Die Konzeption von Assimilation und Akkommodation ist demnach dialektisch.
Dezentrierung stellt ein weiteres wichtiges Konzept in Piagets Entwicklungstheorie dar. Es beschreibt die Tendenz zur zunehmenden Objektivierung der eigenen Sicht. Während der Säugling zuerst vollkommen seiner egozentrischen Weltsicht verhaftet ist, gewinnt das Kind im Laufe seiner Entwicklung eine immer weniger subjektive Perspektive (Fischer 2007) [ausser bei einer narzisstischen Entwicklung!, s.u.].
Entwicklungsstadien in Piagets epigenetischer Entwicklungstheorie
"Piaget unterscheidet mehrere Entwicklungsstadien, die jedoch alle die folgenden Merkmale besitzen (Piaget 1992):
- Universalität: Sie sind (mit zeitlichen Unterschieden) in allen Kulturen nachweisbar.
- Hierarchische Struktur: Stadien bauen aufeinander auf, wobei jedes Stadium durchlaufen werden muss, bevor das nächste folgt.
- Qualitative (nicht nur quantitative) Unterschiede bestehen zwischen den Stadien.
- Aequilibration auf jeder Entwicklungsstufe. Das Gleichgewicht zwischen Schemata (Auseinandersetzungsmöglichkeiten) und Umwelt hält vorläufig, bis es durch fortschreitende Erfahrungen gestört und durch Assimilation oder Akkomodation auf eine höhere Entwicklungsstufe transformiert werden muss, welche die Erfahrungen der früheren einschliesst.
Als Grundlage der Entwicklungstheorie thematisiert Piaget den engen Zusammenhang von Handeln und Denken. Alle Formen des Denkens haben ihren Ursprung in konkreten Handlungen: Das Kind beginnt tastend seine Umwelt zu erkunden. Im Laufe der Jahre ist es in der Lage, das Denken immer weiter vom Tun zu abstrahieren, bis beides beim Erwachsenen schließlich ganz unabhängig voneinander funktioniert. Dieser Prozess lässt sich durch einige charakteristische Phasen beschreiben. Die Grenzen zwischen den einzelnen Stadien verlaufen dabei fließend und die folgenden Altersangaben sind lediglich als ungefähre Werte zu verstehen.
- Sensomotorisches Stadium (0-2 Jahre)
- Präoperationales Stadium (2-7 Jahre)
- Anschauliches Denken (4-7 Jahre)
- Konkretoperationales Stadium (7-11 Jahre)
- Formal-logisches Stadium (ab 12 Jahren)
- Dialektisches Stadium nach Riegel [im Erwachsenenalter, wenn überhaupt..., s.u.]
Nebenstehende Tabelle fasst die Charakteristika der jeweiligen Stufen zusammen:
"Charakteristisch für die Entwicklungsstufe des reifen dialektischen Denkens ist quasi die Rezentrierung der konkret-operationalen Phase auf höherem Niveau (Fischer 2007). Alles, was dort schon möglich war, ist jetzt auch auf abstrakter und vor allem reflektierter Ebene möglich. So wird das formale Denken mit seinen polarisierten Wahr-Unwahr-Vorstellungen relativiert. Inhalt und Form verbinden sich (Fischer 2007) [vgl. auch unten das 'Mentalisierungskonzept'].
Fischer (2007) versteht diese Stadienfolge im Sinne zweier Triaden dialektischer Entwicklung: Die Phase präoperationalen Denkens negiert das sensomotorische Stadium, dann werden beide in der Stufe konkreter Operationen dialektisch aufgehoben. Diese Stufe stellt gleichzeitig den Ausgangspunkt der zweiten Triade dar. Denn das formal-logische Stadium negiert das konkretoperationale, die Stufe dialektischer Operationen wird dann zur Metaebene.
Der Stufenübergang vollzieht sich dialektisch durch die Aufhebung von Widersprüchen. Die kognitiv-emotionale Veränderungsentwicklung im therapeutischen Kontext verläuft in ähnlicher Weise.
Dialektische Konzeptionen gehen davon aus, dass sich Entwicklung durch die Ueberwindung von Widersprüchen und Gegensätzen vollzieht. Dynamik ist damit ein weiteres Kennzeichen der Dialektik (Fischer 1989). Beide Elemente sind Bestandteil psychodynamischer Ansätze. Auf diese Ausrichtung der Psychoanalyse, die „unbewusst dem Zug des dialektischen Denkens“ folgt, wies bereits Schraml (1960) in den 1960er Jahren hin. Fischer führt diesen Ansatz weiter, da er dafür plädiert, dass die Dialektik als implizites Merkmal der Psychoanalyse bewusst wird (Fischer 2005). Eine explizit dialektische Psychoanalyse zielt darauf, die natürliche Selbstheilungstendenz des Patienten freizusetzen, indem dieser seine Selbstwidersprüche erkennt, überwindet und seine eigene Wahrheit findet. Jenseits von Deutung, Einsicht oder Ressourcenorientierung setzt der Patient so ganz aus sich selbst heraus und gemäß seiner eigenen Entwicklung gesundheitsfördernde Veränderungen in Gang (ebd.).
Die Negation der Negation als psychotherapeutischer Transformationsprozess
Uebertragen auf das therapeutische Setting erreicht man eine Negation der Negation als dialektische Erfahrung in folgenden Schritten (Fischer 2000):
a) Ausgangsstufe: Entweder – Oder (Negation)
Eine eigentlich kontinuierliche (Beziehungs)Polarität erfährt eine primäre Negation, die man als Entweder-Oder-Formulierung ausdrücken kann. Ein Beispiel wäre ein aufgespaltenes Verständnis einer Partnerbeziehung, demzufolge Menschen nur in totaler Nähe oder aber entfremdet und getrennt sein können. Wichtig ist, diesen Ausgangspunkt als Negation erst einmal bewusst zu machen und die Gegensätze frei zu entfalten.
b) Uebergangsstufe: Weder – Noch (Dekonstruktion)
In der Übergangsphase kommt die Negation der Negation zum Tragen: Dabei werden beide Extreme verneint. Demnach lässt sich im Beispiel Beziehung weder als extreme Nähe noch als Entfremdung verstehen. Das aufgespaltene Verständnis von Beziehung muss überarbeitet, d. h. dekonstruiert werden. Ambivalenz und inneres Suchen sind typisch für diese Phase.
c) Metastufe: Relativierung und Transformation (Konstruktion)
Auf der Metaebene wird eine neue Verbindung der beiden Pole entwickelt. Diese lässt sich jedoch nur erreichen, wenn die absoluten Gegensätze der Ausgangsstufe relativiert werden. Deshalb stellt die Metaebene auch nicht einfach eine Sowohl-als-auch-Lösung dar, schließlich können die beiden Anfangspunkte nicht unverändert integriert werden, sondern müssen ihre Qualitäten transformieren. Zudem erfolgt dieser Prozess über mehrere Stufenübergänge. Das gelungene Veränderungsergebnis zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass die dialektische Aufhebung in dreifacher Hinsicht erfüllt ist: Der ursprüngliche Selbstwiderspruch ist eliminiert und die Bedeutung der Polaritäten bewahrt durch seine Integration in einer neuen Metaebene. Im Beispiel entspräche dies einer individuell auszugestaltenden Beziehungsform, in der sich Nähe und Distanz der Partner gegenseitig bedingen und verbinden.
Diesen Prozess bezeichnet Gottfried Fischer (2007) auch als „vertikale Transformation“, weil hier Veränderung über verschiedene Ebenen hinweg erreicht wird. Der Transformationsverlauf lässt sich auch unabhängig von der jeweils inhaltlich betroffenen Polarität als Aufspaltung von Selbst und Aussenwelt begreifen. Nach diesem Verständnis besteht die Negation in der Spaltung in die „Wahrnehmung eines Problems, das ausschließlich als Teil der Außenwelt erscheint […] und in das Selbst als regulative Instanz der Problembearbeitung (ebd.).“ Solange das Problem aber als etwas Fremdes und Anderes erscheint, fehlt die Selbstbezüglichkeit der Situation. Durch die Negation der Negation muss dann die Beziehung von Subjekt und Umwelt erst wiederhergestellt und ihr Gegensatz auf der Metastufe integriert werden, so dass das Problem durch das Selbst regulierbar wird.
An diesem allgemeinen Ablauf erkennt man, wie zentral die Arbeit mit inneren Widersprüchen und das Wiederherstellen ihrer ursprünglichen Einheit im Rahmen einer dialektischen Psychotherapie ist. Deshalb gilt auch für die 'Kausale Psychotherapie' die nachstehende Definition der psychodynamisch-dialektischen Psychotherapie, welche betont allgemein verständlich und für Patienten leicht nachvollziehbar ihre Orientierung an der philosophischen Dialektik formuliert:
„Psychodynamisch-dialektische Psychotherapie ist die Wissenschaft vom Ausstieg aus Beziehungslabyrinthen und lebensgeschichtlich eingefahrenen ‚Sackgassen’. Sie beschreibt die innere Logik von Konflikten und Paradoxien und lehrt die Kunst, sie als Selbstwiderspruch zu erkennen, um aus dem Labyrinth herauszufinden (Fischer 2005 S.8).“
Die dialektische Zeitstruktur
Das dialektische Denken betrachtet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht „als getrennte Grössen, sondern als Momente des übergreifenden zeitlichen Prozesses“ (Fischer 2007). In diesem Verständnis ist die Gegenwart nicht mechanisch durch die Vergangenheit determiniert. Vielmehr wird sie ebenso gut durch die Zukunft bestimmt, nämlich durch die zukunftsgerichteten Pläne und Ziele, mit denen die gegenwärtige Problemlage überwunden werden soll [hier Alfred Adlers 'Individualpsychologie' ähnelnd]. Darüber hinaus verändert eine positive Zukunftsperspektive auch die Interpretation der Vergangenheit. Damit stellt die Zukunft im dialektischen Sinne die Negation der Vergangenheit dar. Deren Negation ist die Gegenwart als Moment des Werdens und Uebergangs von Vergangenheit und Zukunft (Fischer 2007).
Dieses psychische Zeiterleben bietet mit seiner natürlichen dialektischen Struktur eine gesunde Reaktionsmöglichkeit auf Problemsituationen. Dabei kann Hegels Begriff der 'Aufhebung' zur Erklärung herangezogen werden. Erfolgreiche Problembewältigung sieht demnach so aus, dass der bisherige Lösungsweg auf einer Metaebene reflektiert (elevare) und das Problem ausgeräumt wird (eliminare), wobei das Gedächtnis sowohl die Ausgangslage als auch die Lösungsmöglichkeit speichert (conservare). Das Erinnern der Vergangenheit schliesst die Problemsituation in der Gegenwart ab und macht diese frei für die Zukunft.
Psychische Störungen sind dagegen durch eine Auflösung der natürlichen dialektischen Zeitstruktur charakterisiert: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fehlt die innere Verbindung. Stattdessen bilden Zukunft und Vergangenheit isolierte Gegenpole, denen die vermittelnde Funktion der Gegenwart abgeht. Die Vergangenheit dehnt sich unangemessen aus und determiniert nun wirklich die Gegenwart, so dass diese nicht zur (positiven) Zukunft werden kann. Das psychische Zeiterleben ist damit quasi eingefroren. Die Aufgabe der Psychotherapie besteht nun darin, die dialektische Zeitstruktur wieder freizusetzen, indem Vergangenheit und Gegenwart zunächst negiert (eliminare) und anschließend rekonstruiert (conservare) werden, bis sie auf einem übergeordneten Level in den Zukunftsentwurf des Patienten integrierbar sind" (vgl. http://www.kausalepsychotherapie.de/dialektik2.htm) [Weiterführendes hierzu im Psychotherapie-Kapitel 10].
Lawrence Kohlberg: Theorie der moralischen Entwicklung
Kohlberg geht mit seiner ebenfalls stufenförmig fortschreitendenden Theorie auf die moralisch-praktischen Aspekte der menschlichen Entwicklung ein:
• Die erste Stufe ist die Orientierung an Strafe und Gehorsam, d.h. das Richtige wird getan, um Strafe zu vermeiden.
• Die zweite Stufe ist die des Zweckdenkens, was bedeutet, daß Regeln dann befolgt werden, wenn dies jemandem unmittelbar nützt; Gerechtigkeit wird auf dieser Stufe ebenfalls stark betont.
• Auf der dritten Stufe herrscht die Orientierung an der Uebereinstimmung mit anderen vor, was bedeutet, daß gegenseitige Erwartungen im zwischenmenschlichen Bereich erfüllt werden.
• Auf der vierten Stufe orientiert sich ein Individuum an den Normen der Gesellschaft und stützt damit das soziale System, wobei hier das Gewissen über die Einhaltung von Gesetzen wacht.
• Die fünfte Entwicklungsstufe ist die der Orientierung an einem Sozialvertrag, man hält sich an Gesetze, weil man einsieht, daß sie zum Wohle aller da sind.
• Die sechste und letzte Stufe bildet die Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzipien, wie z.B. Gerechtigkeit und die Würde des Menschen. Auf dieser hohen moralischen Stufe werden die Prinzipien auch dann vertreten, wenn sie Gesetzen widersprechen (Kegan 1994 S.79ff.).
„Die Entwicklungs-Stufen des Selbst“ von Robert Kegan
Der an Psychoanalyse sowie Piaget und Kohlberg sich orientierende Harvardprofessor Robert Kegan beschreibt sein entwicklungspsychologisches Modell als aufsteigende Spirale, die durch fünf verschiedene Stadien führen kann.
Seine fünf Stufen (vgl. Abbildung rechts) nennt er Subjekt/Objekt-Gleichgewichtszustände.
Kegan unterscheidet die wichtigen Etappen in unserem Ich-Erleben danach, welche Wahrnehmungen und Erlebnisse wir jeweils als zu uns gehörig, subjektiv oder »meinhaft« erleben und was uns als objektiv, und nicht zu uns gehörig, erscheint. Auf alles, was einem Subjekt als ein Objekt vorkommt, kann es Bezug nehmen.
Viele EntwicklungspsychologInnen gehen auch heute noch von einer Monaden-Konzeption aus (ein dialektisches Gegenstück dazu stellt u.a. Altmeyers Relationale Entwicklungstheorie dar, s.u.). Das bedeutet, dass bei einem Neugeborenen alle Wahrnehmungen in einem subjektiven Raum auftauchen und noch keine Unterschiede zwischen »innen« und »aussen« gemacht werden.
Hunger, der von innen kommt, wird ähnlich unangenehm erlebt, wie zum Beispiel grelles Licht, das von aussen auf es einwirkt. Genauso ist es mit angenehmen Erlebnissen. Diesen Gleichgewichtszustand nennt er die Stufe 0 bzw. das »einverleibende Selbst«, vgl. Abb. unten rechts. Die Aussenwelt wird hier völlig ins Ich-Erleben integriert oder anders ausgedrückt: Alles ist »ich«, es gibt noch kein »du«, was dem Zustand einer Symbiose oder eben einer Monade entspricht.
Kegan schuf mit „Entwicklungsstufen des Selbst“ eine Entwicklungstheorie, die es ermöglicht, die Phasen des Wachstumsprozesses besser zu erkennen. Der Harvard-Psychologe versteht die Entwicklung vom Säugling bis zum reifen Erwachsenen als einen Prozess, der dialektisch (!) zwischen zwei Polen pendelt: Zwischen dem Drang nach Individualität und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Der Antrieb, die Energie stammt aus dem Subjekt selbst, das ähnlich einer Rakete immer wieder Teile abstösst und zum Objekt werden lässt. Auf jeder Stufe dieses «Subjekt-Objekt-Gleichgewichts» werden die Gleichgewichtsverhältnisse neu organisiert und Konflikte produktiver bewältigt als zuvor.
Diese vier Stufen werden von Kegan als Ergebnisse eines bestimmten Subjekt-Objekt-Gleichgewichts betrachtet (Kegan 1994 S.64).
Ein Gleichgewicht wird dann aufgegeben, wenn die kognitiven Strukturen des Kindes nicht mehr ausreichen, um neue Informationen der Umwelt zu verarbeiten (Assimilation), ein neues Gleichgewicht wird dadurch gewonnen, daß die inneren Strukturen umorganisiert werden (Akkomodation) (Zimbardo 1983 S.122). Durch das Heraustreten aus einer Stufe kann eine Beziehung mit dieser eingegangen werden. So kann beispielsweise ein Kind in der konkret-operativen Phase sein voroperatives Denken, seine Wahrnehmungen, gewissermaßen von außen betrachten und diese hinterfragen. Nun ist es aber in das konkret-operative Denken, die „reversiblen Operationen“ (Kegan 1994 S.65), eingebunden, was bedeutet, daß es diese Gedankengänge noch nicht objektivieren kann. Durch diese Umorganisation der Bedeutung und durch das Wechselspiel zwischen Differenzierung und Reintegration wird Entwicklung ermöglicht.
Für unser Thema hier besonders interessant ist auch bei Kegan wiederum die letzte Stufe, welche ähnlich der von Riegel hinzugefügten fünften Stufe in Piagets Entwicklungstheorie, dem dialektischen Stadium, und der Kohlbergschen sechsten Stufe wo es um den Erwerb von fundamentalen ethische Prinzipien (Ethischer Universalismus, ähnlich Nussbaums aristotelischem Essentialismus in Kap.9) geht: Die Stufe der überindividuellen Zugehörigkeit, vgl. Abb. rechts.
Entwicklung als dialektische Bewegung
Der zuletzt erwähnte Robert Kegan hat ähnlich wie Klaus Riegel dem von Piaget entwickelten Stufen-Konzept eine fünfte Stufe hinzugefügt und diese interessanterweise "post-formal/dialektisch" (Abb. dazu s.o.) genannt:
Auf der soziomoralischen Ebene stimmt das überindividuelle Gleichgewicht in etwa mit Kohlbergs fünfter Stufe überein. Die Orientierung an allgemeingültigen Prinzipien und nicht nur an veränderbaren Gesetzen, gewinnt an Bedeutung. Die Menschen auf der fünften Stufe sind zu echter Intimität fähig, denn sie akzeptieren die Identität und die Integrität des Partners, der Partnerin "als eine Person aus eigenem Recht" (Jessica Benjamin).
Auf der überindividuellen Gleichgewichtsstufe ist die Person in die wechselseitige Durchdringung der Systeme eingebunden und die Kultur der Intimität ermöglicht ihr echte und erwachsene Liebesbeziehungen, in denen die Partner die dialektische Spannung zwischen a) der Differenzierung und b) der Verschmelzung auszuhalten bereit sind und gelernt haben eine Fähigkeit zur interdependenten Selbstbestimmung zu kultivieren (vgl. Kegan 1994 S.315ff.).
"Verschiedene Forscher sahen sich im Zuge des wachsenden Interesses an Erwachsenenentwicklung herausgefordert, eine postformale Stufe zu formulieren, die sich
qualitativ von der formaloperatorischen Stufe unterscheiden resp. über sie hinausreichen sollte. Die Grenzen formalen Denkens werden insbesondere darin gesehen, dass sie gegenüber der Komplexität, den Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten der Lebenswirklichkeit Erwachsener blind bleiben (Labouvie-Vief 1985).
Riegel (1975) hat als erster eine fünfte dialektische Stufe vorgeschlagen, auf welcher Widersprüche nicht gleich aufgelöst, sondern als mindestens vorläufig akzeptiert werden. Nach einem anderen Postformalisten, Sinnott (2003), arbeiten post-formale Denkerinnen und Denker mit multiplen, sich widersprechenden formalen logischen Systemen, deren jeweiliger Nutzen in Abhängigkeit von kontextuellen Bedingungen abgewogen wird" (Flammer/Gasser 2007 S.22).
Robert Kegan fordert dazu auf, die Welt, bzw. die Zusammenhänge zwischen Ding und Prozess in dialektischen Beziehungen zu sehen und weniger in gegensätzlichen Polen, die sich ausschließen; die Spannung zwischen Differenzierung und Integration wird hier als entwicklungsbedeutsam, als Motor der Entwicklung, erachtet. „Gegenstand dieses Buches ist der Mensch, wobei mit dem Begriff ‘Mensch’ gleichzeitig auf eine Aktivität und auf ein Ding verwiesen wird - auf eine immer fortschreitende Bewegung, die ständig einer neuen Gestalt entgegenstrebt“ (Kegan 1994 S.27). Mit der Uebernahme dieser gestalttheoretischen Sichtweise (vgl. Kap.1 und 6) betont Kegan die Einheit und Ganzheit des Menschen, welche auch bestehen bleibt, wenn sich die Erscheinung verändert. Die Person wird als dynamisches Ganzes betrachtet und ist mehr als die Summe ihrer Teile. „Wir nennen also allgemein 'Gestalten' solche Gebilde, die, wie Piaget richtig bemerkt hat, ihre Form dem Gleichgewicht von Kräften verdanken“ (Metzger 1986 S.130).
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"Es liegt in der Dialektik der Grenze begründet, dass der Tastsinn ebenso die Trennung von der Welt begründet wie die ursprüngliche Kommunikation mit ihr. […] Die Haut ist daher zugleich trennende und verbindende Grenzfläche, Sinnes- und Ausdrucksorgan. […]
Von Anfang an geschieht in der Mutter-Kind-Beziehung auch eine ›Abgrenzung durch Kontakt‹: Indem die Mutter das Kind streichelt und liebkost, hilft sie ihm ebenso zur Erfahrung seiner Eigenständigkeit, wie sie es ihre Nähe und Wärme spüren lässt. Umgekehrt kann mangelnder physischer Kontakt zur Mutter zu der bleibenden Empfindungs- und Kontaktarmut des Schizoiden führen. Die Bedeutung der leiblichen Berührung geht also weit über eine lustvolle Stimulation hinaus; sie ist die erste Sprache, in der das Kind angesprochen und durch die sein Selbstempfinden geweckt wird" (Fuchs 2000 S.114f)
Quelle: Fuchs, Thomas (2000). Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: .........
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Entwicklung der Narzisstischen Kränkbarkeit
Die Urverunsicherung und die Trennung von Selbst und Objekten
Heinz Henseler (2000) beschreibt diese erste "narzisstische Kränkung" des Säuglings wie folgt:
"Nicht zu bezweifeln und von hoher theoretischer Bedeutung ist die Tatsache, dass mit zunehmender Wahrnehmungsfähigkeit, mit wachsenden Bedürfnissen und mit den unvermeidlichen Frustrationen des extrauterinen Lebens dieser harmonische Primärzustand in Frage gestellt und erschüttert wird.
Das hat zwei wichtige Folgen: Die eine ist ein enormer Anreiz für die Ich-Entwicklung. Das Kleinkind entnimmt den Unlusterlebnissen die Erfahrung, dass es ausser ihm etwas gibt, das mit ihm nicht identisch ist. Ueber verschiedene Vorstufen entstehen langsam die ersten inneren Bilder der eigenen Person (Selbstrepräsentanzen) und der [Anderen, M.F.] Objekte (Objektreprasentanzen), die nunmehr als getrennte Einheiten erlebt werden können.
Die andere Folge ist eine unerträgliche Enttäuschung und Verunsicherung, die mit peinigenden Gefühlen von Angst und Aerger einhergehen. Da das Kind nicht über die Möglichkeiten verfügt, sich den Unlusterfahrungen zu entziehen oder sie durch Abwehrmechanismen unschädlich zu machen, und da es auch bei sorgfältiger Pflege unmöglich ist, diese Unlusterfahrungen stets in erträglichen Grenzen zu halten, werden Angst und Aerger immer wieder die Grenze des Reizschutzes durchbrechen und traumatische Erfahrungen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Erschöpfung herbeiführen.
Auf eine Phase grossartigen und selbstverstandlichen Behagens, von Harmonie und innerer Sicherheit folgt also die traumatische Erfahrung des Gegenteils, eine Erfahrung, die als katastrophal erlebt wird und die man vielleicht mit Urverunsicherung [quasi das Gegenteil von Eriksons "Urvertrauen", M.F.] bezeichnen kann.
In der Mythologie hat sich diese Erfahrung in den Bildern vom Himmelssturz der Engel oder von der Vertreibung aus dem Paradies niedergeschlagen.
Dieser Urverunsicherung entgeht kein Mensch. Sicher ist aber, dass es enorme Unterschiede gibt, wieweit und wie gut die Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht von den Pflegepersonen ausgeglichen werden. Wie katastrophal die Urverunsicherung aber erlebt wird, geht unter anderem aus den Anstrengungen hervor, einem Wiedererleben dieser Verunsicherung zu entgehen." (ebenda S.75)
Kompensationsmechanismen
Die Kompensationsversuche dieser 'Urverunsicherung' beschreibt H. Henseler (2000) folgendermassen (ebenda S. 76f.):
Um der drohenden Erschütterung des Selbstgefühls zu entgehen, stehen dem Menschen vier Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung, die zwar verschiedenen Entwicklungsstadien angehören, aber noch im späteren Leben eine Rolle spielen. Es sind
1. die Regression auf den Primärzustand
2. Verleugnung und Idealisierung
3. Angleichung an die Realität
4. Verinnerlichung
ad 1) Die primitivste und früheste Möglichkeit ist die der Regression. Entsprechend dem Entwicklungszustand des Kleinkindes, das Phantasie und Realität eben erst zu unterscheiden beginnt, kann eine drohende Verunsicherung dadurch aktiv vorweggenommen werden, dass durch Phantasie und Agieren (Umsetzen der Phantasie in Handlung) die eben gewonnene Individualität oder persönliche Identität wieder aufgegeben wird zugunsten von Verschmelzungsphantasien.
Wunschvorstellungen von Aufgabe der Identität zugunsten einer Wiederverschmelzung spielen eine grosse Rolle im frühkindlichen, aber auch im erwachsenen Leben. Das Bedürfnis, ganz eins zu sein mit dem anderen, im anderen aufzugehen u.a., drückt diesen Wunsch aus.
ad 2) Eine zweite Möglichkeit, sich ein sicheres Selbstgefühl zu bewahren, besteht darin, dass man tatsächliche oder vermeintliche Mängel der eigenen Person, die das Selbstgefühl bedrohen, verleugnet und durch die Phantasie vom Gegenteil ersetzt, sich selbst also idealisiert, etwa nach der Formel: Es stimmt gar nicht, dass ich ein Versager bin; im Gegenteil, ich bin ein verkanntes Genie.
Unsere Erziehung besteht zu wesentlichen Teilen darin, den Kindern Illusionen von Grossartigkeit zu vermitteln. Wir betonen, wie gross, wie schön, wie lieb, wie tüchtig, wie unglaublich stark, wie überraschend klug sie schon seien. Darüber hinaus geben wir ihnen lange Zeit das Gefühl, als Eltern unerschütterlich sicher, allmächtig, allwissend, einmalig zu sein.
Offenbar spüren wir, dass das Kind lange Zeit das Gefühl braucht, entgegen den Wahrnehmungen der Realität ein grandioses Wesen zu sein, das von hochidealen Personen umgeben ist (Kohut 1971 spricht vom «mirroring», der bestätigenden und beifälligen Widerspiegelung des kindlichen Selbst seitens der Mutter).
Entwicklungsgeschichtlich ist unübersehbar, dass das Kind in sich die Bilder (Repräsentanzen) eines grandiosen Selbst und idealisierter Eltern aufbaut und auf diese Illusion lange Zeit nicht verzichten kann.
ad 3) Die dritte Kompensationsmöglichkeit besteht in der Angleichung an die Realität. Im Laufe der Jahre geht die Entwicklung des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen ja so weiter, dass die Idealisierung der eigenen Person wie die Idealisierung der Eltern und der anderen nahestehenden Beziehungspersonen ersetzt wird durch realitätsgerechtere Einstellungen. Das ist ein langsamer Prozess, der günstigenfalls im Laufe der Pubertät einigermassen abgeschlossen wird. Am Ende stehen also die Repräsentanzen eines realen Selbst und realer Objekte [realer Anderer wäre die "menschlichere" Wortwahl der relationalen Psychoanalyse, vgl. Kap. 6, M.F.].
ad 4) Merkwürdigerweise kann ein Mensch auf ein gewisses Mass an Vollkommenheitsillusion nicht verzichten. Es ist ein allgemeiner psychischer Mechanismus des Menschen, Verluste von Befriedigungen nicht einfach hinzunehmen, sondern durch Verinnerlichung (Internalisierung) wenigstens zum Teil aufzuheben. Die Verinnerlichung idealer Aspekte ist die vierte Kompensationsmöglichkeit einer Bedrohung des Narzissmus. Jeder Mensch trägt neben dem realen Bild der eigenen Person (reales Selbst) in sich in ein dunkles, kaum bewusstes, aber erschliessbares Idealbild seiner selbst, welches ihm die Gewissheit gibt, bei allen tatsächlichen Fehlern und Mängeln im Grunde doch «ganz in Ordnung» zu sein.
Dieses sogenannte Idealselbst (Begriff von Sandler, Holder und Meers 1963) ist ein kleiner Privatwahn, den wir uns gönnen, weil wir ohne ihn nicht leben können. Das Ideal-Selbst hat eine Art Pufferfunktion. Würden wir uns jeweils so fühlen, wie es dem realen Bild unserer Person entspricht, würden wir ständig hin und her gerissen sein in unserem Selbstgefühl. Das Ideal-Selbst kann diese Schwankungen dämpfen, indem es dem Ueber-Ich und der Aussenwelt gleichsam versichert: Tatsächlich bin ich heute miserabel, aber das ist nur vorübergehend;eigentlich und im Grunde bin ich gut. [zur Strukturtheorie Freuds siehe Ausführungen weiter unten, M.F.]
Auch auf die idealen Aspekte unserer frühen Erziehungspersonen können wir nicht verzichten; denn die Illusion der allwissenden, unfehlbaren und allmächtigen Elternautorität verinnerlichen wir im Ueber-Ich, die dazugehörenden idealen Massstäbe im Ich-Ideal. Der narzisstische Anteil am Ich-Ideal/Ueber-Ich-System ist ablesbar an dem Nimbus, an dem Absolutheitsanspruch, der von ihm ausgeht (Argelander 1971).
Die Entwicklung der narzisstischen Selbst- und Objektrepräsentanzen beinhaltet also eine zunehmende Annäherung an die Realität, ohne dass die idealisierenden Vorstellungen völlig aufgegeben werden können. [Hervorhebungen wie immer von mir, M.F.]
Strukturale Psychoanalyse: Entwicklung nach Jacques Lacan
Lacans Theorie des Spiegelstadiums
"Im Jahr 1936 formuliert Jacques Lacan auf einer internationalen Tagung von Psychoanalytikern in Marienbad erstmals die Theorie des Spiegelstadiums, eine Theorie der Identitätsbildung. Dieser Theorie zufolge ist der faktische Zustand zu Beginn eines Menschenlebens nicht die sanfte, saumselige Unschuld eines Säuglings, sondern Psycho-Verheerung, Terror von Trieben, Desorganisation.
Lacan gibt das Portrait eines „Wesens, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege“, dessen physiologische Funktionen noch ratlos und ungeordnet sind: corps morcele, zerstückelter Körper. Dennoch fällt die Identitätsbildung, das Fanal der organisierten Person, in genau diesen diffusen Zustand: zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat kommt es zur „jubilatorischen Aufnahme seines Spiegelbildes.“ (Lacan: Schriften I. Weinheim/Berlin 1973, S.64.)
Das Subjekt antizipiert eine de facto inexistente, illusorische Ganzheit im Spiegelbild bzw. in einem kleinen anderen: das erste Auftauchen einer glorreichen und despotischen Erscheinung des Selbst an einer Stelle, wo es gerade kein Selbst, sondern nur Schein, Spiegelflimmern, Strahlungsausbruch einer lebenslangen Lüge gibt. Glorreich, despotisch und fatal: am Ab-Grund des Ich steht eine Rimbaudsche Entfremdung: 'ich ist ein anderer'. Lacan kennzeichnet diese Entfremdung als ein „Drehmoment (...), wo das Individuum aus seinem eigenen Bild im Spiegel, aus sich selbst, eine triumphale Uebung macht, bei der es sich um ein antizipiertes Ergreifen der Herrschaft handelt.“ Es geht um Herrschaft.
Es geht um eine noch wahnhaft ungezügelte Herrschaft, um die absolute und ideale Herrschaft des Ich, die der im Spiegel erscheinende Glanzträger, das Ideal-Ich, irradiiert. Eher ist es eine Sucht nach Herrschaft und zugleich das Gegenteil von Herrschaft, sofern ihr anderes die totale, mörderische Abhängigkeit vom alter ego ist — das Subjekt ist abhängig, es ist ausgeliefert, es kann sich als ein einheitliches Sein projizieren nur durch Vermittlung eines kleinen anderen, eines Spiegelbilds „das ihm das Phantom seiner eigenen Herrschaft gibt.“ (Lacan: Das Seminar I. Freuds technische Schriften 1953-1954. Weinheim/Berlin 1978 S.189.)
Ein Phantom und nicht mehr: die vom Spiegelbild, vom Ideal-Ich, suggerierte Ganzheit ist eine Täuschung. Es gibt kein ganzes fürsichseiendes Ego, geschweige denn zwei von der Sorte, es gibt nur zwei unterschiedliche diskrete Zustände, die permanent ineinander umschlagen: ein dialektisches Oszillieren zwischen dem Real-Sein des zerstückelten Körpers in kreatürlicher
Abhängigkeit und dem Schein von Souveränität, den das Ideal-Ich abstrahlt, jene Projektion, über die sich Ich als Ich konstituiert. Lacan pointiert die entscheidenden Züge dieser oszillatorischen Beziehung, die sich übersetzen läßt in eine relationale (und nicht reale) Beziehung zwischen dem einen oder dem anderen, anhand von Hegels Dialektik von Herr und Knecht".
Quelle: Bitsch, Annette (2003). Auf Leben und Tod - Das Gesetz bei Hegel und Lacan. In: FAKtisch - Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag (Hrsg. von Peter Berz, Annette Bitsch und Bernhard Siegert). München: Wilhelm Fink.
Entwicklungspsychologie des Strukturalismus
WHORF: Bedeutung von Sprache - GEHLEN: Mängelwesen Mensch - LACAN: Spiegelstadium
In seinem Buch »Sprache – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie« schrieb Anfang der 1960er-Jahre der amerikanische Sprachphilosoph und Kulturanthropologe Benjamin Lee Whorf:
»Es ist die Annahme, das Sprechen geschehe völlig frei und spontan, es ›drücke lediglich aus‹, was immer wir es gerade ausdrücken lassen wollen. Diese Illusion resultiert aus der folgenden Tatsache: Die zwingenden Formen in unserem scheinbar freien Redefluss herrschen so völlig autokratisch, dass Sprecher und Zuhörer von ihnen unbewusst gebunden sind wie von Naturgesetzen. (...) Die Strukturphänomene der Sprache sind Hintergrundphänomene, die man gar nicht oder bestenfalls sehr ungenau wahrnimmt – so wie die winzigen Stäubchen in der Luft des Raumes. Besser noch kann man sagen, alle Sprechenden unterliegen linguistischen Strukturen ungefähr so, wie alle Körper der Schwerkraft unterliegen. Die automatischen, unwillkürlichen Strukturschemata der Sprache sind nicht für alle Menschen die gleichen, sondern in jeder Sprache andere.« (Whorf 1984 S.20).
--> Einschub über Saussure und den Strukturalismus
"Der Strukturalismus breitete sich als ein Systemdenken aus, das den Menschen, seine Vergesellschaftung und die ihn umgebenden Dinge unter die Ordnung und Kohärenz der ihm als vorgängig erachteten sprachlichen und sprachanalogen Strukturen setzte. Leitdisziplin war die vom Genfer Sprachwissenschafter Ferdinand de Saussure entwickelte strukturale Linguistik, welche der Sprache einen eigenständigen und umschriebenen Gegenstandsbereich zuwies und die ihr zugrundeliegenden autonomen Strukturen und Gesetze innerhalb bestimmter kultureller Räume und begrenzter Epochen freilegte. Damit verbunden war die Erkenntnis einer nicht-hierarchischen Beziehung von Denken und Sprache bzw. die Auffassung, dass sich Denken und Sprache gegenseitig konstituieren" (Ruhs 2010 S.32).
"Der Eintritt des Kindes in die symbolische Ordnung
"Der dritte Abschnitt des Spiegelstadiums (etwa um den 14. Lebensmonat) mit der allmählichen Identiizierung des körperhaft erlebten Ichs mit dessen Abbild in der Umwelt ist auch der erste Schritt in die ödipale Beziehungskonstellation: Als unvollständiges und Hilfe benötigendes Wesen ist das Kind darauf angewiesen, von der Mutter begehrt zu werden, womit es seinen Wunsch veräußerlicht und ihn zum Objekt des Wunsches des Anderen macht. Das erste Wunschobjekt wäre demnach ein Wunsch, der darin besteht, gewünscht zu werden. Damit der Andere begehrt, muss er aber einen Mangel empinden, was für eine Mutter nach der Geburt des Kindes in besonderem Maß der Fall ist. So identiiziert sich das Kind mit dem fundamentalen mütterlichen Mangel und damit unbewusst mit dem Phallus als das, was der Mutter fehlt.
In diese imaginäre Beziehung tritt nun eine dritte Figur als Spielverderber ein: Der »Vater« als etwas, was die Mutter außer dem Kind noch begehrt, in der Regel die konkrete Person Vater.
Diese Instanz ist Träger eines Gesetzes oder des Gesetzes schlechthin, da sie dem Kind die phallische Identiikation verwehrt und damit der Mutter den Besitz des Phallus in der imaginären Gleichung Kind = Penis. Diese Begegnung mit dem Vater als Träger des Gesetzes stellt für Lacan die zweite Stufe des Ödipuskomplexes dar.
In der weiteren Stufe schließlich identiiziert sich das Kind mit der väterlichen Instanz und tritt damit in die symbolische Ordnung, in die Ordnung der Sprache ein. Der Vater ist nämlich, seiner grundlegenden Rolle nach, weder der Zeugende (realer Vater), noch das Objekt einer erlebten Beziehung (imaginärer Vater), sondern der Träger eines Wortes, das das Gesetz bedeutet. In diesem Sinn geht es um die Funktion des symbolischen Vaters bzw. um die Vatermetapher, welche Lacan »le nom-du-pére« nennt" (Ruhs 2010 S.39-40).
"Genauso, wie es vom imaginären Ich zum symbolischen Subjekt vorangeschritten ist, hat sich auch sein Gegenüber vom imaginären Doppelgänger zum sprechenden Anderen verwandelt. Dadurch wird aber die Spaltung der Selbstrepräsentanz nicht aufgehoben, sondern verdoppelt: nach der Repräsentation bzw. Entfremdung durch das Bild findet der Mensch auch in der Sprache keine Seinsgrundlage. Auch von den Signifikanten wird er nur repräsentiert. Wenn das Subjekt »Ich« sagt, wird seine Spaltung ofenkundig: es ist sowohl Subjekt der Aeusserung als auch Subjekt der Aussage. Deshalb kennzeichnet Lacan das reife, aber stets gespaltene Subjekt mit dem schräggestrichenen Symbol S/" (Ruhs 2010 S.41).
Sprachentwicklung und Strukturalismus
"Wie die Sprachwissenschaft (etwa nach Roman Jacobson) zeigt, kann sich ein Diskurs entlang zweier semantisch verschiedener Linien entwickeln: Ein Thema bringt ein anderes entweder durch Aehnlichkeiten oder durch Nachbarschaft hervor. Für die Bezeichnung dieser Dimensionen der Substitution einerseits und der Kontiguität andrerseits verwendet [Lacan] die Begrife Metapher bzw. Metonymie. Zeigt etwa die Ersetzung des Ausdrucks »Empindsamer Mensch« durch den Begrif »Mimose« die Wirkungsweise der Metapher, so wird im Ausdruck »ein Glas trinken« der metonymische Prozess sichtbar [ebenso wie z.B. "Berlin hat angerufen"]. Darauf baut sich auch der lexikalische, vertikale Wortbeziehungen berücksichtigende bzw. grammatikalische, horizontale Wortbeziehungen berücksichtigende Schatz einer Sprache auf.
Diese Grundvorgänge der bewussten Sprache, die am augenfälligsten in der Poesie zutage treten, hat Freud allerdings schon frühzeitig im Bereich des Unbewussten aufgezeigt. Die Traumdeutung ist strenggenommen nichts anderes als die Beschreibung einer sprachanalytischen Aesthetik des Traums, deren Regeln Freud weiterhin in den Fehlhandlungen, im Witz und im neurotischen Symptom wiederfindet, so dass er daraus eine allgemeine Rhetorik des Unbewussten ableiten kann, eine Rhetorik, die sich hauptsächlich an den Gesetzen der Verdichtung und Verschiebung orientiert. Diese Prozesse entsprechen durchaus den Begriffen von Metapher und Metonymie, so dass Lacan Freud als einen Vorläufer der modernen Linguistik betrachtet, der allerdings noch nicht über ein adäquates Begriffsinstrumentarium verfügte.
Das Unbewusste ist, so gesehen, ein Ort von unterdrückten und verschobenen Signifikanten, der sich durch die umfassende Bewegung der Verdrängung vom fundamentalen Signifikanten des Phallus ausgehend gebildet hat. Diese Signifikanten gehören nach Lacan allerdings weniger einer wörtlichen als vielmehr einer buchstäblichen Ordnung an, weil sie sonst zu sehr an den Sinn gebunden wären. Tatsächlich hat Freud den Traum mit einem Rebus verglichen und das Wort, dessen sich der Traum genauso wie die Neurose zur Entstellung bzw. zur Verdichtung und Verschiebung bedient, nicht nach seinem Inhalt bewertet, sondern nach seinen formalen Beziehungen zu anderen Elementen, sei es Wort, Rede oder Bild. In dieser Hinsicht imponiert das Unbewusste als Schriftsystem. Sprache und Schrift kommen uns von außen, vom Anderen her, der spricht und schreibt. So ist das Unbewusste auch der Andere, der in uns spricht und dessen Rede in uns eingeschrieben ist. Damit versucht Lacan auch, dem negativen Begrif des Unbewussten, der eine Nähe zu dem einer anderen Kategorie zugehörigen Bewusstsein suggeriert, einen positiven Begriff entgegenzusetzen" (Ruhs 2010 S.42-44).
Literatur:
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Saussure de, F. (1967) : Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Walter de Gruyter, Berlin
Entwicklungspsychologie des Strukturalismus: Saussure und Peirce
Das Lebewesen ›Mensch‹ ist ein Mängelwesen (Arnold Gehlen) und erhält Sprache als Antwort auf seine Hilflosigkeit. Die einzige Sprache des Neugeborenen sind Artikulationen voller Unbestimmtheit und Offenheit: Schreien, Kreischen, Lallen, Quieken und Jauchzen – all dies gehört zum riesigen Repertoire kleinkindlicher Aeusserungen. Die Frage, die deshalb alle Eltern bewegt, lautet: ›Was willst du?‹ Da das Baby nicht sprechen kann, sind sie auf ihre Interpretationen angewiesen. Ihre Körpersprache, ihre Mimiken und Gesten, ihr Sprechen und all die sorgend-umsorgenden wie mahne nd-verzweifelten Haltungen und Handlungen beherbergen zwar immer Unsicherheiten, doch gleichzeitig sind es Signale und Zeichen, die das Kleinkind von ihnen zur Antwort auf sein Schreien erhält.
(...) Aus dem Fundus solch ausdifferenzierter Sprachwelten der Eltern erhalten Kleinkinder die Antwort auf ihre sprachlose Befindlichkeit und werden über Sprache in die Familienbande eingebunden und mit ihnen verbunden.
Es versteht sich von selbst, dass zwischen Bedarf des Kindes und Anspruch der Eltern ein unhintergehbarer Unterschied bestehen bleiben muss, der zur Folge hat, dass Eltern niemals den kindlichen Bedarf vollständig einlösen können. Das rätselhaft bleibende Artikulieren des Kleinkindes bleibt grundsätzlich immer unlösbar und nicht beantwortbar, und allen Eltern bleibt nur der Versuch, diesen Bedarf durch ihren An-Spruch im wahrsten Sinne des Wortes zu stillen.
Aufgrund dieses Sachverhalts wird verständlich, dass jeder sprachliche Zugriff auf Welt immer mit dem Manko der Unvollständigkeit behaftet ist. Doch gleichzeitig markiert diese Lücke den Ort von Freiheit, den uns Sprache gibt. Solange sprachliche Zeichen nicht eineindeutig festgelegt sind, bleibt die Möglichkeit bestehen, mithilfe von Zeichen neue Sinnzusammenhänge zu stiften. Dieses Potenzial von Sprache ist Motor von Literatur im Besonderen und von Kunst im Allgemeinen. Die Besonderheit von Lyrik zum Beispiel ist es, durch kreative Sprachgestaltung neue Sinnbezüge zu stiften und Bedeutungsgehalte zu schaffen. Gerade der ungewöhnliche, gegen die Alltäglichkeit des Sprachgebrauchs gerichtete Umgang mit sprachlichen Zeichen erlaubt es, neue Denkräume und Denkzusammenhänge zu artikulieren.
Diese durch die Zeichennatur von Sprache bedingte irreduzible Differenz darf aber auch als Motor für den Spracherwerb des Kindes gewertet werden. Doch statt ins Paradies der Worte kommt es vom Regen in die Traufe. Mit dem Spracherwerb ist das Kleinkind gezwungen, seinen Bedarf als Bedürfnis mit der Sprache seiner Eltern, seiner Herkunft und damit seiner Kultur zu artikulieren. Das Drama des Mängelwesens ›Mensch‹ wiederholt sich erneut. Sehr bald wird das Kind die Erfahrung machen, dass Worte, Zeichen, Signale, Gestik und Mimik gleichwohl nicht hinreichen, alles zu bedeuten, was man empfindet, fühlt und denkt. Dieser Mangel ist grundlegend und kennzeichnend für das, was Menschsein ausmacht, weshalb Religionen Orte wie das Paradies erfunden haben, wo diese irreduzible Differenz als aufgehoben versprochen wird.
Doch das Paradies ist der Ort des Todes und nicht von dieser Welt. Deshalb sind Menschen gezwungen, mit den Gegebenheiten des Irdischen zurechtzukommen. Das heisst zuallererst: Die Sprache, die sie als Kleinkinder ab dem Alter von zwei Jahren erlernen, ist die Sprache ihrer Eltern – und damit erlernen sie mit dieser Sprache zugleich auch deren Vorstellungen, Wünsche, Aengste, Glücksgefühle, Abhängigkeiten, Haltungen und Werte.
Ueber Sprache wird das Kind zu einem sich mitteilenden, weil kommunizierenden Mitglied des Familiensystems, was auch heisst, dass es ›Nein‹ sagen kann.
- Vorsprachliche Artikulationen kennen nur ein ›Entweder – Oder‹
- sprachlich Artikuliertes aber beinhaltet immer auch ein ›Sowohl – als auch‹.
So kann das Kind sagen, dass es keinen Brei essen möchte, doch zugleich mitteilen, dass es lieber Pudding wolle; sein Nein ist kein absolutes, sondern immer ein Angebot, dessen Durchsetzbarkeit erprobt werden kann. Mit anderen Worten: Mit Sprache ist das Feld eröffnet, auf dem man manipulieren kann.
LACAN: Das Spiegelstadium als "Bildner des Ich"
In jener frühkindlichen Entwicklungsphase vor und nach seinem Spracherwerb werden beim Kleinkind zugleich psychische Grundstrukturen herausgebildet, die für die Beziehung des Menschen zu sich selbst, d.h. seinem Selbstbild, wie aber auch gegenüber seinen Mitmenschen von fundamentaler Bedeutung sind. Es sind dies zwei Grundmodelle, die ein Leben lang jenes Spannungsfeld begründen, das unser Menschsein ausmacht und aus dem viele zwischenmenschliche Störungen und psychische Instabilitäten hervorgehen. Diese beiden Grundmodelle bestimmen unser Verhältnis zur Sprache und zum Gespräch, und gleichzeitig machen sie deutlich, über welche Mechanismen das Mängelwesen ›Mensch‹ sein Manko vergessen machen will oder anerkennen muss.
I. Ordnung des Imaginären
"Das erste Grundmodell, das in der vorsprachlichen Zeit strukturbildend greift, ist die Ordnung des Imaginären, deren Bedeutung und Funktion für die menschliche Psyche sich beispielhaft entlang des so genannten »Spiegelstadiums« (Lacan 1949) erläutern lässt:
Im Alter zwischen dem 6. und 18. Monat begrüßt das Kleinkind sein Spiegelbild mit ausgelassener Freude. Im Spiegel nimmt es eine körperliche Ganzheit wahr, die seiner tatsächlichen senso-motorischen Inkoordination widerspricht. Es sieht einen ›ganzen‹ Menschen, das heißt: es sieht die Gestalt eines ganzen Menschen. Im Gegensatz zum Spiegelbild aber ist das Kleinkind ein von Mängel bestimmtes: es kann nicht selbstständig laufen, kann noch nicht sprechen und ist deshalb ganz von der Sorge und Fürsorge seiner Eltern abhängig.
Was es als Ganzheit wahrnimmt, ist ein virtuelles Bild: das Spiegelbild. Seine Realität: eine imaginäre".
Diese Struktur einer Verkennung bestimmt in vielfältiger Weise die Beziehung des Menschen zu seinem Selbstbild und zu den Personen seiner Umwelt. Wer hat es nicht schon erlebt, dass er in anderen Personen ein Vorbild sah, dem er gleich werden wollte. »Ich möchte ein solcher werden wie …« – so wert- und sinnvoll Vorbilder sein können, auf der Ebene von virtuellen Bildern gehorchen sie der Logik der Verkennung.
Wenn Menschen mit dem Bild ihres Stars zum Friseur oder zum Schönheitschirurgen gehen, dann bewegen sie sich in ihrem Begehren auf der Ebene des Spiegelstadiums. Sie wollen sich diesen Spiegelbildern annähern, weil sie glauben, auf diesem Weg ihre eigene Unvollständigkeit kompensieren zu können.
(...) Da das Verhältnis von Körpergefühl und Spiegelbild immer von Defiziten bestimmt ist, besteht ein Spannungsfeld, das in seinen schlimmsten Ausprägungen tödlich ist. Defizite befördern das Suchtverhalten; Defizite können neben endloser Verehrung und Idolatrie aber auch in ihr Gegenteil umschlagen: in Hass, Aggressivität, Neid und Missgunst. Kurzum: Die Welt des Imaginären, die nach der Logik des Spiegelstadiums strukturiert ist, ist offen für all die Selbst- und Fremdverletzungen, die ein konstruktives Miteinander unmöglich sein lässt. In dieser Welt gibt es nämlich nur eine Form der Auseinandersetzung, die letztlich sprachlos oder selbstbezüglich ist (aus: Lämmle/Haase 2002 S.32-36).
II. Ordnung des Symbolischen
"Das zweite Grundmodell, das im Zuge des Spracherwerbs zum Tragen kommt, ist die Ordnung des Symbolischen.
Mit der Welt des Symbolischen begegnen wir der Welt von Schriftlichkeit, bindender Verbindlichkeiten wie Verträge, Examina, Eide, und von tatsächlicher Macht. Sich hierin zurechtzufinden heißt zuallererst in die symbolischen Ordnungen ›eingeschrieben‹ werden: Ein Kind, dessen Geburt nicht vom Standesamt registriert und bestätigt wurde, existiert nicht; ein
Arzt, der praktizieren will, muss von der Ärztekammer seine Approbation erhalten haben; eine Ehe, auch wenn sie nur noch auf dem Papier bestehen sollte, ist eine rechtsgültige Verbindung zweier Menschen, über deren Form und Inhalt auch Gesetze bestehen.
Sich in der Welt des Symbolischen zurechtzufinden heißt nicht nur, die von den jeweiligen symbolischen Ordnungen geforderten Voraussetzungen zu erfüllen (ohne Abitur kann man nicht studieren, ohne Wahl kommt man nicht ins Parlament u.a.), sondern sich zugleich auch den Gesetzen und Regeln dieser Ordnungen zu unterstellen".
(...) "Symbolische Ordnungen schaffen Verbindlichkeiten, die bewirken. Wer sich in ihnen zurechtfinden will, muss ihre Gesetze und Regeln anerkennen. Wer sie umgehen will, muss entweder hochstapeln oder betrügen bzw. versuchen, ihre Repräsentanten zu bestechen. Mit anderen Worten: Nur kriminelle Machenschaften taugen, die Ordnung des Symbolischen zu unterlaufen. Natürlich
sind Menschen listig und haben sich moderatere Formen der Manipulation überlegt, wie zum Beispiel Parteiungen, Seilschaften, persönliche Beziehungen – aber letztlich sind dies nur Spielarten des Imaginären, mit denen man dem Symbolischen seine Härte nehmen möchte.
Der Übergang vom Imaginären zum Symbolischen ist auch durch unser Sprechen markiert. Das Sprechen in der Welt des Imaginären ist ein leeres Sprechen. Es lebt von Floskeln, Stereotypen, Worthülsen und »Man sagt«-Reden. Die Welt des Symbolischen hingegen ist ein volles Sprechen, weil dieses Sprechen bewirken muss und bewirken will: Nur ein solches Sprechen hat Veränderungen zur Folge und kann im wahrsten Sinne des Wortes ein konstruktives Sprechen genannt werden, weil es spürbare Konsequenzen hat, die verantwortet werden. Im vollen Sprechen wird der Mensch in seinen symbolischen Einschreibungen angesprochen, von denen er unbewusst weiß, dass sie sein Fühlen, Denken und Handeln bestimmen" (Lämmle/Haase 2002 S.38-39).
Quellen:
Brigitte Lämmle, Frank Haase (2002). Erklär mir deine Welt - Das Geheimnis der Gesprächsführung von Brigitte Lämmle. Hamburg: Hoffmann & Campe
Lacan, Jacques (1949). »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«. In: Jacques Lacan [1973], Schriften I, Walter-Verlag: Olten, S.61-70).
Whorf, Benjamin Lee (1984): Sprechen – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek, S. 20.
Das Spiegelstadium bei Jacques Lacan
Die folgenden Seitenangaben in Perners Text beziehen sich auf Lacan's wegweisenden Text aus dem Jahre 1949: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion (Schriften I, S. 61-70).
"Wenden wir uns nun der Abhandlung von Lacan zu, in der er das Erscheinen des Selbst als die Entstehung von etwas grundlegend Neuem beschreibt, als Auftauchen einer Gestalt im Sinne der Gestalttheorie, einer Gestalt, die das Subjekt für sich und für andere annehmen wird. Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist ein beobachtbares Phänomen, dessen Entdeckung er James Baldwin zuschreibt. Es besteht darin, daß
1. das Menschenjunge vom sechsten Lebensmonat an sein Bild im Spiegel als Bild seiner selbst erkennen kann (S. 63); daß es
2. auf das Erscheinen dieses Bildes im Spiegel in einer deutlichen und einer starken Weise reagiert: durch die „illuminative Mimik des Aha-Erlebnisses“ (S. 63) sowie den Versuch, dieses Bild in einer Art „jubilatorischer Geschäftigkeit“ wieder zu erhaschen; und daß es
3. auf das, was es im Spiegel sieht, mit Gesten reagiert, mit deren Hilfe es zwei Verhältnisse untersucht:
a) das Verhältnis seiner gespiegelten Bewegungen zur gespiegelten Umwelt und
b) das Verhältnis dieses ganzen „virtuellen Komplexes“ zur Realität (S. 63).
Dieses Phänomen, das sich über einen Zeitraum hinweg beobachten läßt, der zwischen dem sechsten und dem achtzehnten Lebensmonat liegt, enthüllt, so Lacan, nicht einfach ein passageres psychologisches Phänomen, sondern „eine ontologische Struktur der menschlichen Welt“ (S. 64).
Versuchen wir zunächst, das Spiegelstadium zeitlich zu situieren, d.h. im Kontext der frühkindlichen Entwicklung, wie sie von anderen analytischen Autoren beschrieben worden ist.
Sein Beginn koinzidiert
- mit dem Uebergang von der oralen Phase des Einverleibens zur analen des Tauschens (S. Freud)
- dem Ueberwinden des primären Narzißmus (S. Freud)
- dem Ueberwinden der depressiven Position (M. Klein)
- dem Ueberwinden der symbiotischen Illusion (M. Mahler)
- den ersten Anzeichen der Fremdenangst (R. Spitz) als Ausdruck der Fähigkeit, den Anderen als Anderen und damit sich als vom Anderen unterschieden zu erfassen.
Es begründet das Phänomen der Spiegelübertragung (Kohut) und stellt ein grundlegendes schöpferisches Moment des Subjekts dar (Winnicott), vielleicht bildet es die Grundlage des Schöpferischen selbst".
Quelle: Achim Perner: Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Schriften I, S. 61-70) im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman, S.4-5: http://www.freud-lacan-berlin.de/res/Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf
Jacques Lacans Ueberlegungen gehen von einer einfachen Frage aus:
Was sieht das Kind von sechs Monaten eigentlich im Spiegel und womit identifiziert es sich?
In diesem Alter ist das Kind – der Mensch ist, wie schon Freud hervorhob, eine physiologische Frühgeburt [s.a. Portmann] – noch nicht in der Lage, seinen motorischen Apparat zu kontrollieren. Im Unterschied zum gleichaltrigen Affenjungen kann es mit sechs Monaten noch nicht sitzen, stehen oder gar gehen, und zwar nicht wegen einer Schwäche seiner Muskeln, sondern wegen der unvollkommenen Reifung seines Nervensystems.
Sehen wir uns eine medizinisch orientierte Entwicklungspsychologie an, um kurz den Entwicklungsstand eines sechsmonatigen Säuglings zu skizzieren (L. Joseph Stone, Josef Church: Kindheit und Jugend. Einführung in die Entwicklungspsychologie, Band 1, Stuttgart 1978):
"Der Säugling kann in diesem Alter weder kriechen noch sitzen (vier bis acht Wochen später wird er damit beginnen), aber er beginnt, seine Hände koordiniert zu bewegen und Gegenstände gezielter zu untersuchen, z.B, ihre Rückseite, was auf eine aufkommende räumliche Vorstellungsfähigkeit schließen läßt. Er zeigt die ersten adäquaten Reaktionen auf die kommunikativen Reaktionen anderer, z.B. auf den Ausdruck von Freude oder Aerger. Er hat Freude an passiven Versteckspielen ["gugus-dada"] und beginnt damit, Erwachsene seiner Umgebung nachzuahmen. Er beginnt, in das Lachen der Erwachsenen einzustimmen und bald darauf versucht er, durch sein Lachen das ihre hervorzurufen. Er beginnt zu lallen und lange bevor er sprechen kann, findet der Säugling „Mittel und Wege, anderen mitzuteilen was er möchte, und seine Wünsche gehen weit über die Befriedigungen körperlicher Bedürfnisse hinaus." (S. 101)
In diesem Alter wird er seine Füße entdecken, aber „zunächst erkennt das Baby die Füße nicht als Teile seines Körpers, sondern sieht sie als sonderbare Gegenstände an, die gelegentlich (…) in sein Gesichtsfeld treten.“ (Lacan S. 87) So ist der Säugling in diesem Alter, in dem die ersten Zähne wachsen, überrascht, daß es ihn schmerzt, wenn er in seinen Fuß beißt. Dies ist nur eines von vielen Zeichen dafür, „daß das Baby nicht von Geburt an einfach in seiner Eigenschaft als funktionsfähiges biologisches Wesen seinen eige-
nen Körper erkennt, sondern daß der Körper, sein Ausmaß und seine Fähigkeiten zu fühlen und zu handeln während einer langen Lehrzeit durch eine Reihe von Entdeckungen erfahren werden müssen.“ Der Säugling kann sogar „verschiedene Teile seines Körpers gebrauchen, bevor es sie richtig entdeckt hat.“ (S. 90)
Wie finden in dieser Beschreibung eine deutliche Diskrepanz zwischen Unvollkommenheit der körperlichen Entwicklung und der psychischen , die ihr voraneilt. Beim Säugling, der noch weit davon entfernt ist, sich selbständig bewegen zu können, erwachen intersubjektive Wahrnehmungen, kommunikative Fähigkeiten und Wünsche, die „weit über die Befriedigungen körperlicher Bedürfnisse hinausgehen.“ Das heißt, der Säugling beginnt in diesem Alter, den Zustand seiner objektiven Hilflosigkeit subjektiv als sol-
chen zu erleben.
Dieser Befund ist von entscheidender Bedeutung für Lacans Interpretation dessen, was das Kind erlebt, wenn es das Bild seiner selbst im Spiegel erkennt: Es sieht und erkennt das Bild eines zusammenhängenden Körpers, den es in diesem Alter noch gar nicht als einen zusammenhängenden Körper erlebt (wie Verhaltensbeobachtung zeigt und die Neuroanatomie beweist). In diesem Augenblick, in dem das Kind durch die Entdeckung seines Spiegelbildes die Tatsache seines Daseins erfaßt 15 , erfaßt es zugleich seine Unvollkommenheit. Es sieht im Spiegel seinen ganzen Körper, den es als solchen aber noch nicht erleben oder spüren kann.
Es sieht, mit anderen Worten, im Spiegel das Bild einer Ganzheit, der keine subjektive Erfahrung entspricht. Das Bild, in dem der Säugling jubilierend sich selbst erkennt, ist, wie Lacan schreibt, eine „Fata Morgana“ (S. 64), die keine Erkenntnis, sondern eine „Verkennungsfunktion“ begründet (S. 67), eine Verkennung, die konstitutiv dafür ist, daß der Mensch sein animalisches Dasein übersteigt. Das gleichaltrige Schimpansenjunge, dem Säugling an „motorischer Intelligenz“ weit überlegen, erfaßt nach einer kurzen Untersuchung die objektive „Nichtigkeit des Bildes“ (S. 63) 16 und verliert das Interesse daran, während das Menschenjunge sich selbst erkennt und damit die Tatsache seines Daseins erfaßt. D.h. der Mensch konstituiert sich, noch bevor er, wie Lacan ihn später bezeichnet, zum „Sprechwesen“ (parlêtre) wird, als ein Bild-, genauer: als ein eingebildetes [!] Wesen. Tatsächlich kann man im Spiegelstadium die Begründung der menschlichen Einbildungskraft und zugleich die Selbstbegründung des Menschen durch seine Einbildungskraft sehen. Durch die Identifizierung des Subjekts mit seinem Spiegelbild (image spéculaire) entsteht im Spiegelstadium die Imago des Selbst.
Quelle: Achim Perner: Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Schriften I, S. 61-70) im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman, S.6-7: http://www.freud-lacan-berlin.de/res/Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf
Bis zu diesem Zeitpunkt kann das Kind noch nicht zwischen sich und der Umwelt unterscheiden, weil es noch keine Vorstellung von sich und damit auch keine Vorstellung vom anderen hat. Es lebt bis dahin in einem narzißtischen Universum, in dem die verschiedenen Objekte, denen es begegnet, sich wie Sterne bewegen, die erscheinen und wieder verschwinden. In dem Moment, in dem das Kind sein Spiegelbild als Bild seiner selbst erfaßt, sieht es im Spiegel nicht einfach nur sich, sondern es sieht sich in seiner Umwelt. Diese Umwelt hat es auch vorher schon gesehen, aber - und das ist das Neue – nicht sich darin. Das Kind sieht dabei im Spiegel einen ganzen, zusammenhängenden Körper, den es aufgrund der „spezifischen Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt“ (S. 66) aber noch nicht als solchen erfahren kann. Es erlebt seinen Körper in dieser Zeit noch als „zerstückelt“, eine Erfahrung, von der Lacan sagt, daß sie in der analytische Erfahrung ihren Widerhall in bestimmten Träumen und der „fantasmatischen Anatomie“ der hysterischen Konversionssymptome hat (S. 67). Man könnte dem noch die Klinik der Psychosen hinzufügen, in der sich die Phantasmen, die vom „Bild des zerstückelten Körpers ausgehen“, am eindrücklichsten zeigen (die Arbeiten von Paul Schilder, Paul Federn und Gisela Pankow handeln davon), oder die Ausarbeitungen von Françoise Dolto, die an den Zeichnungen von Kindern ihr „unbewußtes Körperbild“ abliest. Die Erfahrung, die das Kind im Spiegelstadium macht, ist von dieser Diskrepanz zwischen seiner Körperfahrung und seinem Spiegelbild gekennzeichnet, das ihm etwas zeigt, was es noch nicht hat:
„Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt.“ (S. 67)
Man kann diese Erfahrung als eine Vor-Spiegelung beschreiben, und zwar im vierfachen Sinn des Vor: im ontologischen, insofern ein Bild immer etwas zeigt, was es nicht ist („Ceci n’est pas une pipe“ hatte Margritte auf das Bild einer Pfeife geschrieben); im psychischen des sich-etwas-Vormachens (der Verkennung, S. 69), im räumlichen, insofern ich das Bild meiner Selbst vor mir sehe, also da, wo ich nicht bin (als „eine „Gestalt im Außerhalb“, S. 69) und schließlich im zeitlichen, insofern das Kind im Spiegel etwas sieht, was es noch nicht ist und das es somit antizipiert (S. 67). Die Struktur dieser Erfahrung stellt ein wirkliches Transzendieren der Realität des Gegebenen dar, das zur Folge hat, das unser Bewußtsein kein bloßes Abbild der Welt ist, sondern sich ein Bild davon macht, wie die Welt nicht ist, aber sein soll. Dieses Bild, das das Kind im Spiegel sieht, ist, wie Lacan mit Bezug auf die Gestalttheorie sagt, „eher bestimmend als bestimmt“ (S. 64), d.h. es wirkt sich gestaltend auf das Subjekt aus, das eine bestimmte Gestalt sieht:
„Daß eine ‚Gestalt’ bildnerische Wirkungen auf den Organismus auszuüben vermag, ist durch (…) biologisches Experimentieren bezeugt. (…), das zeigen konnte, „daß die Reifung der Geschlechtsdrüsen bei der Taube den Anblick eines Artgenossen unbedingt voraussetzt (…) und daß die gleiche Wirkung auch erzielt wird durch das Aufstellen eines Spiegels in der Nähe des Individuums, so daß es sich darin sehen kann.“ (S. 65)
In diesem Sinn schreibt Lacan der Identifikation des Kindes mit seinem Spiegelbild eine gestalterische, umwandelnde Wirkung zu, eine wirkliche Metamorphose, die sich nicht auf seine physiologische Reifung, aber auf die Hervorbringung einer psychischen Struktur auswirkt.
Diese Identifikation stellt so etwas wie eine existenzielle Urerfahrung dar, aus der das Kind als Person (das lat. persona bedeutet Maske) hervorgeht. Diese Erfahrung ist aber von der oben erwähnten Diskrepanz zwischen der sinnlichen Erfahrung des zerstückelten Körpers und dem Bild des ganzen Körpers gekennzeichnet, mit dem das Kind sich identifiziert. Wir hatten oben gesehen, daß die Imago des Selbst eine Beziehung zwischen der Innenwelt und der Umwelt herstellt, indem das Subjekt sich mit dem Bild seines Körpers in der Umwelt identifiziert.
Wir hatten aber auch gesehen, daß genau dadurch das Universum des primären Narzißmus aufgegeben wird, in dem es noch keine Unterscheidung von Umwelt und Innenwelt gibt. Mit der Herstellung dieser Beziehung geht deshalb ein „Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt“ einher, der „die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen“ hervorbringt (S. 67).
Weil das Kind, das bisher in einer Innenwelt befangen war, sich nun mit seinem Bild in der Umwelt identifiziert, stellt diese Identifikation zugleich eine Entfremdung des Subjekts von sich selbst, eine „entfremdende Bestimmung“ dar. Das Kind identifiziert sich mit etwas, das zugleich es selbst und doch nicht mit ihm identisch ist. Jeder Blick in den Spiegel (jeder wirkliche Blick, denn natürlich kann ich auch an mir vorbei oder durch mich hindurchschauen) enthüllt die wesentliche Struktur dieser Erfahrung: Ich sehe mich (mein Äußeres) dort, im Spiegel, wo ich nicht bin, aber ich spüre mich (mein Inneres) hier, wo ich bin und mich nicht sehe. Das Bild meiner selbst, das ich im Spiegel sehe, ist mir deshalb vertraut und doch irgendwie fremd, nicht selten sogar befremdend. Und ich merke auch, daß dieser Blick auf mich im Spiegel hin- und hergeht zwischen meinem Blick und dem Blick der anderen, d.h. jenem Blick auf mich, wie die anderen mich sehen bzw. sehen sollen. So liegt dem Verhältnis des Subjekts zu seinem Selbst, das es verkörpert, eine doppelte Entfremdung zugrunde: eine Entfremdung seines Sehens durch die Uebernahme des Blicks der anderen, und eine Entfremdung seines Seins, d.h. eine Entfremdung zwischen dem, was es wirklich ist und spürt und dem, was es sieht. Lacan hat das Subjekt darum als ein grundsätzlich gespaltenes bezeichnet, und weil das Subjekt sich im Spiegelstadium mit dem identifiziert, was es nicht ist, hat er von einem grundsätzlichen „Seinsmangel“ (manque-à-être) des „Sprechwesens“ (parlêtre) gesprochen, das sich hier als ein eingebildetes Selbst erweist (als eine „jemagination“, wie man dann auf Französisch sagen könnte).
Wegen dieser Nicht-Identität zwischen dem Subjekt und seinem Selbst, wegen der Spaltung, die seine Identifikation mit seinem Spiegelbild hervorgerufen hat und wegen der Entfremdung, die damit einhergeht, ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst von einer aggressiven Spannung gekennzeichnet, die sich in unterschiedlicher Weise symbolisch zeigen, symptomatisch äußern oder handelnd manifestieren kann, von der Grimasse, der finsteren Miene und dem aufgesetzten Gesicht zum Body-Building und der Anorexie, in der die narzißtische Wut des Subjekts auf sich selbst zum Ausdruck kommt, bis zum Angriff auf den Anderen, dessen Blick das Subjekt nicht erträgt und den verschiedenen Formen der Autodestruktivität.
Quelle: Achim Perner: Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Schriften I, S. 61-70) im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman, S.8-10: http://www.freud-lacan-berlin.de/res/Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf
"In den ersten sechs Monaten ist das Kind, bezogen auf das Nervensystem und die Körperflüssigkeiten, physiologisch noch unentwickelt. Dies führt zu einer mangelhaften Koordination der Motorik und des Gleichgewichts. Dies verursacht die ursprüngliche Hilflosigkeit des Kindes, sowohl im Verhältnis seiner Organe zueinander als auch zu seinen Mitmenschen (Freuds „motorische Hilflosigkeit“19). Die Hilflosigkeit äußert sich in Triebspannungen und, später beim Erwachsenen, in Fantasien des zerstückelten Körpers. Die durch die Unkoordiniertheit entstehende psychische Spannung wird dadurch gelöst, dass ein Bild der Ganzheit auf das Kind einwirkt, was es ihm ermöglicht, die Körperbeherrschung in einem gestalthaften Körperbild zu antizipieren. Aus diesem Grunde begrüßt es sein Körperbild mit Begeisterung – es nimmt „seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt“, wie Freud sagt. Das affektiv besetzte Körperbild übt auf das Kind eine formende Wirkung aus: es identifiziert sich mit ihm.
Zugleich aber ist das Spiegelstadium der Beginn einer Entfremdung. Denn im Spiegel sieht das Kind eine körperliche Einheit, die es selbst noch gar nicht fühlt. Es identifiziert sich mit etwas, das es nicht ist, nämlich mit der „totalen Form des Körpers“, und zwar an einem Ort, an dem es sich nicht befindet (nämlich im Spiegel). Deshalb ist das Erkennen im Spiegel zugleich ein imaginäres Verkennen und führt zur Spaltung des Subjekts in „moi“ (Ideal-Ich, das „imaginäre Subjekt“) und „je“, das soziale Ich. Daraus folgt der im Deutschen paradox klingende Satz: „Das ich ist nicht das Ich.“ – „Le je n’est pas le moi.“
Spiegelphase; franz.: stade du mirroir
In der Geschichte der Psychologie wird die Spiegelmetapher des öfteren zur Verdeutlichung sogenannter narzisstischer Objektbeziehungen herangezogen. Den Begriff „Spiegelstadium“ (auch „Spiegelphase“) hat 1935/36 der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan in die Diskussion eingeführt. Er bezeichnet den entwicklungspsychologischen Abschnitt zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat: Das noch weitgehend hilflose Kind entdeckt im Spiegelbild seinen eigenen Körper als eine ganzheitliche Einheit und Gestalt, mit der es sich identifiziert; es findet eine imaginäre Konstituierung des Ich (des „moi“ in Unterscheidung vom „je“) statt. Das Kind erlebt diesen Vorgang freudig und lustvoll, gleichzeitig aber auch angstbesetzt aus Furcht vor einer Zerstückelung dieser Einheit („Fragmentierungsangst“). Lacan hat diese Phase dann weitergehend als ständiges Problem für den Menschen als Gattung angesehen, denn dem Menschen gefällt dieses ihm als vollkommen erscheinende Bild im Spiegel und er verteidigt es entschieden gegen alle Anzweiflungen hinsichtlich seiner Selbstgewissheit. Letztlich handelt es sich um eine narzisstische Selbsttäuschung, die jedoch überlebensnotwendig ist.
Die frühe Rolle in der Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung und der Aneignung von Körperlichkeit, die Lacan der Visualität und dem Sehen als einem Begehren zubilligt, hat dazu geführt, dass der Terminus „Spiegelstadium“ durch die französischen Theoretiker Jean-Louis Baudry und Christian Metz in einer psychoanalytisch ausgerichteten Filmtheorie etabliert wurde. Dabei wird die Leinwand in der Funktion eines Spiegels gesehen, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass der Leinwand-Spiegel in Bezug auf den Betrachter einen blinden Fleck aufweist.
Neben Erörterungen der Filmtheorie über Ort und Funktion des Betrachters in Bezug auf den kinematographischen Apparat haben sich Filmemacher des Konzepts vom Spiegelstadium bedient, um Prozesse der Ichfindung ebenso zu beschreiben wie Gefährdungen dieses Ichs zu symbolisieren. Robert Altman hat in Images / dt.: Spiegelbilder (1971) versucht, Spiegelstadien zu visualisieren, um damit das Fortschreiten der psychischen Erkrankung seiner Protagonistin zu zeigen. Die postmoderne Welt der Matrix-Filme (USA 1999-2003, Andy & Larry Wachowski) – bereits Lacan spricht im Zusammenhang mit dem Spiegelstadium von einer „symbolischen Matrix“ – lässt den Helden gleichsam ständig in Spiegelstadien geraten, die von den Gefahren der Fragmentierung und Dekomposition begleitet sind.
Vier Grundannahmen der Lacanschen Theorie
Lacans Theorie lässt sich vereinfacht in vier Grundannahmen zusammenfassen:
Das Ich entwickelt sich im Spiegelstadium, welches die grundlegende Matrix der Subjektivität bildet.
Das Subjekt ist ein Sprachwesen, das heißt durch die symbolische Ordnung der Sprache geprägt: „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert.“
Das Subjekt ist ein begehrendes Subjekt. Da das Objekt des Begehrens (Objekt klein a) immer schon verloren ist, ist es ein grundsätzlicher Mangel, der das Begehren des Menschen aufrechterhält.
Die menschliche Psyche konstituiert sich in der unauflösbaren Trias Imaginäres-Symbolisches-Reales (RSI).
Kritik an Lacans Spiegelstadium als Antithese: Leib-Selbst vs. imaginäres Spiegel-Selbst
Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass Lacans Spiegelstadium viele Kritiker und Kritiken auf den Plan rief. Nebst den "Baby-Watchern" um Daniel Stern (s.u.) war und ist dies insbesondere der Karlsruher Philosophie-'Papst' (zumindest was das Feuilleton betrifft, nebst Richard David Precht, wohlgemerkt ;-) Peter Sloterdijk:
"Von wo an Lacan sich irrt:
Die von Anbeginn problematische Imago-Orientiertheit der psychoanalytischen Beziehungs-Theorien wurde durch Jacques Lacan mit seinem legendären Theorem vom Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion 1 von 1949 ins Extrem getrieben. Lacan setzt ein frühkindliches Befinden voraus, das immer schon geschlagen ist von der Unmöglichkeit,
sich selbst zu ertragen. Für Lacan ist jeder Säugling von unheilbaren Vernichtungszuständen zersplittert. Die Psychose ist seine Wahrheit und Wirklichkeit, von Anfang an und unausweichlich. Er stürzt in die Welt, ohnmächtig und verraten, als der immer schon zerstückelte Körper, der seine Fragmente kaum zusammenzuhalten vermag. Die Wahrheit wäre, daß die Zerstückelung der Ganzheit vorausginge und daß einer Urpsychose überall das erste Wort gehörte. Für ein so von Grund auf dissoziiertes, in seiner Verlorenheit gärendes Wesen müßte begreiflicherweise – läßt man sich für einen Moment auf die Suggestionen des Analytikers ein – der Anblick seines eigenen umrißstabilen Bildes dort drüben im Spiegel überaus erbaulich sein, weil das Subjekt sich in jenem imaginären Dort endlich und zum ersten Mal als Ganzform ohne Riß und Makel wahrzunehmen vermöchte. Das Selbstbild im Spiegel käme hier als Befreier von einem unerträglichen Selbstgefühl ins Spiel. Erst das Bild dort im Spiegelraum bewiese mir, gegen mein evidentes Selbstgefühl, daß ich kein Monstrum bin, sondern ein wohlgeratenes Menschenkind in den schönen Grenzen seiner organischen Gestalt. Sich im Spiegel als »das bin ja ich selbst« erkennen hieße demnach: das mit einem Male aufblitzende Bild anzulachen, seine Integrität als Heilsbotschaft zu vernehmen und jubelnd befreit in einen imaginären Ganzbildhimmel emporzufahren, in dem die vorangehende wirkliche und wahre Zerrissenheit nie mehr eingestanden werden müßte. Endlich könnte das Infans seine demütigende Zerstückelung und seine tobende Ohnmacht hinter sich lassen; es wäre ihm mit einemmal gegeben, neu-unverwundbar durchs Spiegelglas hindurch in den Bildraum hinauszuschweben und wie ein transfigurierter Held ins Reich einer wahnhaften Integrität einzugehen – strahlend erlöst von dem elenden Primärzustand, in den es von nun an nie wieder zurückkehren zu müssen meint, vorausgesetzt, daß der Traumschild des inkorruptiblen Bild-Ichs sich gegen alle späteren Störungen behauptet. Demnach müßte die Ich-Entwicklung stets und unvermeidlich mit einer rettenden Selbstverkennung einsetzen: Die imaginäre Erscheinung dort draußen und drüben – mein Bild als heiles, ganzes, rettendes – holte mich, indem ich nun es radikal an meiner Statt annehme, aus der bildlosen Hölle meines gespürten Frühlebens heraus und böte mir das wunderbar trügerische Versprechen, künftig immer auf dieses Bild zu – wie unter Illusionsschutz – leben zu dürfen. Mein illusionäres Bild von mir dort draußen in der Sichtbarkeit – im Imaginären oder im verklärten Visuellen – wäre durch seine Wohlgeratenheit und Ganzheit gleichsam ein für mich allein verfaßtes Evangelium, es wäre ein Versprechen, das mich vorwegnimmt und mich konsolidiert. Sobald ich es in mich aufgenommen hätte, läge es auf dem Grund meiner selbst als frohe Botschaft von meiner Auferstehung aus der Frühvernichtung. Mein Bild, meine Urtäuschung, mein Schutzengel, mein Wahn (Sloterdijk 2013 S.110-111).
Auch wenn ich diese Gegenrede Sloterdijks etwas spöttisch eingeleitet habe, möchte ich seine nun folgenden Einwände doch erst nehmen, weil sie eine Brücke bilden zum Resonanz-Kapitel 8, in welchem den Emotionen und v.a. dem "Leib-Selbst" breiten Raum eingeräumt wird. Lacans Kognitivismus erfährt hier eine erste Erweiterung hin zu einem optimistischeren Menschenbild, welches davon ausgeht, dass der Säugling von Anfang an ein Gefühl für sich selbst hat. Sloterdijk postuliert hier vergleichbar mit Petzold, Stern, Altmeyer u.a., ein im Gegensatz zu Lacans "corps morcelée", bereits intrauterin integriertes und ganzheitliches Selbst:
"Es läßt sich ohne Aufwand zeigen, daß dieses berühmteste frühe Theoriestück aus dem Korpus der Lacanschen Doktrinen eine glanzvolle Fehlkonstruktion darstellt – errichtet auf der Basis mutwilliger und pathetischer Falscheinschätzungen der frühen dyadischen Kommunikation zwischen dem Kind und seinem Ergänzer-Begleiter, der, von den pränatalen Supplementierungsmedien abgesehen, in der Regel die Mutter ist. Das eigene Spiegelbild kann nämlich als solches nichts in den »Selbst«-befund des Kindes einbringen, was nicht in diesem schon längst auf der Ebene von vokalen, taktilen, interfazialen und emotionalen Resonanzspielen und deren inneren Sedimenten angelegt wäre [das Lacansche Reale!].
Vor jeder Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild »weiß« ein nicht-vernachlässigtes Infans sehr gut und sehr genau, was es heißt, ein unversehrtes Leben im Inneren eines tragend-enthaltenden Duals zu sein. In einer hinreichend wohlgeratenen psychischen Zwei-Einigkeitsstruktur taucht die bildliche Selbstwahrnehmung bei dem Kind, das okkasionell seine Spiegelung in einem gläsernen, metallischen oder wässerigen Medium bemerkt, als erheiternde, neugierig machende zusätzliche Wahrnehmungsschicht über einem bereits dichten, vertrauenspendenden Gewebe von Resonanzerfahrungen auf; keineswegs erscheint das Bild im Spiegel als die erste und allesüberflügelnde Information über das eigene Ganz-Sein-Können; es gibt allenfalls einen initialen Hinweis auf das eigene Vorkommen als kohärenter Körper unter kohärenten Körpern im realen Sehraum. Aber dieses integre Bild-Körper-Sein bedeutet fast nichts gegenüber den prä-imaginären, nicht-eidetischen Gewißheiten von sinnlich-emotionaler Dual-Integrität. Ein Kind, das in einem hinreichend guten Kontinuum heranwächst, ist über die Gründe seines Enthaltenseins in einer Erfüllungs-Form längst aus anderen Quellen ausreichend unterrichtet. Sein Interesse an Kohärenz ist weit vor der spiegeleidetischen Information mehr oder weniger befriedigt. Es lernt durch sein erblicktes Spiegelbild keine radikal neue, exklusiv im Visuell-Imaginären fundierte Glücks- und Seinsmöglichkeit kennen. Im übrigen bleibt zu beachten, daß vor dem 19. Jahrhundert die meisten Haushalte Europas keine Spiegel besaßen, so daß schon unter dem schlichtesten kulturgeschichtlichen Aspekt das Lacansche Theorem, das sich wie ein überzeitlich gültiges anthropologisches Dogma gebärdet, gegenstandslos erscheint.
Ist freilich das Resonanzspiel zwischen dem Kind und seinem ergänzenden Gegenüber durch Ambivalenzen, Vernachlässigungen, Sadismen belastet, so wird sich im Kind natürlich eine Neigung anbahnen, sich an die dünnen Momente positiver Ergänzungserfahrung zu klammern – seien es prekäre Freundlichkeiten der Bezugspersonen, seien es autoerotische Rückzugsträume, seien es Identifizierungen mit den unverwundbaren Helden von Märchen und Mythen. Ob der frühe Anblick des eigenen Bildes im Spiegel psychotischen Kindern auf der Schwelle von der Säuglings- zur Kleinkindzeit wirklich zu imaginären Auferstehungen durch optisch gestützte Integritätsphantasmen verhilft, ist eine empirisch völlig ungeklärte Frage. Der von Lacan überhöhte Sonderfall, daß das werdende Subjekt sich aus sich heraus ins Bild stürzt, um dem gespürten Mißverhältnis in der eigenen zerstückelten Haut zu entgehen und in der Bild-Welt etwas trügerisch Ganzes zu werden, stellt jedenfalls, sollte er je eine kasuistische Realität besitzen, nur einen pathologischen Grenzwert dar. Seinen Sitz im Leben könnte er nur in verelendeten Familienstrukturen und in Milieus mit einer Neigung zu chronischer Säuglingsvernachlässigung haben. Für jede Ich-Gründung, die sich so über die Flucht in die Bild-Illusion der Intaktheit vollzogen hätte, ließe sich in der Tat jene paranoide Labilität vorhersagen, die Lacan, von seiner Selbstanalyse ausgehend, zu Unrecht als allgemeines Merkmal der Psyche in den Kulturen aller Zeiten herausstellen wollte. Immerhin wäre, wenn auf dem Grund eines Selbst sich wirklich überall ein selbstverblendendes Imaginäres dieses Typs finden ließe, auch schon erklärt, warum das Subjekt in einem Lacanschen Universum nur im Symbolischen sein Heil oder zumindest seine Ordnung finden sollte. Vor einer konstitutiven Psychose rettet nur die Unterwerfung unter das symbolische Gesetz. Aber was ist das, wenn nicht die Fortsetzung des Katholizismus mit scheinbar psychoanalytischen Mitteln? Gewiß wird niemand Verletzungen von überall her so rasend hellsichtig wittern wie ein Subjekt, das sein Ganz-Sein-Können von der Verteidigung phantastisch überspannter Hochglanzbilder des eigenen Ich abhängig gemacht hätte; aber daß basale Ich-Bildungen im Imaginären nach diesem Modus die universelle Regel wären, kann nur behaupten, wer die eine Extravaganz durch eine zweite stützt. Dies heißt die Psychologie selbst in den Dienst der Psychose stellen.
Schon früh hat sich Lacan einem Urpsychose-Dogmatismus ausgeliefert, der seinen Motiven nach nicht psychoanalytischen, sondern kryptokatholischen, surrealistischen und paraphilosophischen Interessen verpflichtet war. Seiner Tendenz und Tonart nach ist Lacans epatantes Theorem vom Spiegelstadium eine Parodie auf die gnostische Lehre von Befreiung durch Selbsterkenntnis; nach problematischem Vorbild wird hier die Erbsünde durch die Erbtäuschung ersetzt, ohne daß je deutlich würde, ob die Täuschung etwas sei, was besser zu konservieren oder zu überwinden wäre. Es sei in jedem Fall die anfängliche Selbstverkennung, die den Subjekten so unentbehrliche wie verhängnisträchtige Trugbilder ihrer selbst zuspielte – Lacan sprach gelegentlich von der »orthopädischen« Funktion des primären Trugbildes. Wer also könnte ohne das Rückgrat der Selbsttäuschung psychisch integer überleben – und wer soll ein Interesse daran haben, es dem Subjekt zu brechen? Zugleich soll aber die Täuschung sein, was sie ist – ein Trugbild, das durchschaut werden muß, sofern von ihm selbstgefährdende Verlockungen ausgehen. Sich selbst erkennen oder nicht erkennen – das ist hier die Frage. Um so schlimmer für die, denen niemals aus einem angeblichen Imaginären – und erst recht nicht aus einer realen Liebe – das glaubwürdige Bild des eigenen Ganz-Seinkönnens entgegenkam" (Sloterdijk 2013 S.112-113).
Quellen:
Lacan, Jacques (1975). Écrits, Paris 1966, S.93-100; Deutsch in: Schriften I, Frankfurt am Main, S.6-70.
Sloterdijk, Peter (2013). Von wo an Lacan sich irrt. In: ders. Mein Frankreich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. hier: S.110-114
Literatur:
Baudry, Jean-Louis: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat. In: Der kinematographische Apparat. Hrsg. v. Robert F. Riesinger. Münster: Nodus 2003, S. 27-39.
Horatschek, Annegreth: Spiegelstadium. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998, S. 494-495.
Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: ders.: Schriften. 1. Hrsg. v. Norbert Haas. Olten/Freiburg: Walter 1973, S. 61-70 [u.ö.].
Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Münster: Nodus 2000, bes. S. 44-56.
Lacan, Jacques (1975). Das Spiegelstadium als Bildner der IchFunktion (1949). In: Ders.: Schriften I. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 61-70.
Freud, Sigmund (2000). Hemmung, Symptom und Angst (1926). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 6. S. Fischer, Frankfurt am Main, S. 227-310, hier: S. 305.
Freud, Sigmund (2000). Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 133-203, hier: S. 184
Melanie Klein: Frühe Phasen der Entwicklung
Melanie Klein beschrieb eine frühe Entwicklung, charakterisiert durch zwei hauptsächliche Entwicklungsphasen - sie sprach von Positionen:
- von der paranoid-schizoiden Position
- und der depressiven Position.
In der ersten Phase, der paranoid-schizoiden Position, entwickeln sich alle positiven Affekte getrennt von allen negativen, d.h. die psychische Erfahrung steht unter dem Einfluss von Affekten, entweder total positiven oder total negativen Affekten. Die libidinöse internalisierte Selbst- und Objektrepräsentanz ist vollkommen getrennt von der aggressiv geladenen, negativen Selbst- und Objektrepräsentanz.
Diese Trennung, primitive Dissoziation oder Spaltung, beschreibt Klein als den ersten, wichtigsten Abwehrmechanismus, der die Aufgabe hat, eine ideale Vision von sich selbst und der Welt von allen gefährlichen, negativen, frustrierenden Zuständen zu trennen und so zu schützen.
Schizoid steht für gespalten, paranoid für die frühen projektiven Tendenzen, die eigenen negativen Affekte auch nach aussen zu projizieren und so böse Objekte zu sehen, die dieses Leiden, die diese Negativität verursachen.
Diese paranoid-schizoide Phase wird nach Klein innerhalb der ersten Lebensjahre langsam ersetzt durch eine Toleranz der Integration dieser positiven und negativen Welt, d. h. das Baby toleriert es, sich manchmal als perfekt und manchmal als elend zu empfinden.
Das heisst, es kommt zu einer Integration der positiven und negativen Repräsentanzen des Selbst. Parallel werden die Vision von der perfekten Mutter und die der bösen Mutter zu einer realistischen Mutter zusammengefügt, die gute wie auch schlechte Aspekte hat, der gegenüber man Ambivalenz fühlt, wobei unter normalen Umständen aber die positiven Gefühle vorherrschen. So verändert sich nach Melanie Klein die paranoid-schizoide Position und geht in die sogenannte depressive Position über. Depressiv, weil sie - im Gegensatz zur früheren Projektion in der paranoid-schizoiden Phase - eine Toleranz der eigenen aggressiven Gefühle erlaubt. Diese Toleranz gegenüber dem Wahrnehmen der eigenen aggressiven Tendenzen ist der Ursprung von Schuldgefühl, Depression und der Gewissensfunktion des Ueber-Ich.
Melanie Klein konzipierte so den Ursprung von Ich, Es und Über-Ich im Rahmen einer Objektbeziehungstheorie neu. In dieser Konzeption erkannte die Psychoanalyse die fundamentale Wichtigkeit
und die angeborene Natur der Affekte und ihre Funktion in der Organisation früherer Objektbeziehungen an.
Andere Psychoanalytiker, darunter insbesondere John Bowlby untersuchten zeitlich parallel dazu die Verhaltensaspekte dieser frühen Entwicklungen und entwickelten die moderne Bindungstheorie, die dann zu einer unabhängigen Wissenschaft des frühen Verhaltens und der Beziehung zwischen Baby und Mutter wurde. (Kernberg 2012, S. 48-49)
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus
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Quelle: Erikson, E.H. (1973, orig. 1959). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.
Die vier Thesen von Donald W. Winnicott:
"Prä-relationale" Entwicklungskonzepte vor dem "relational turn"
1. »Es gibt den Säugling gar nicht!«
Mit dieser These hat Winnicott gemeint, dass es den Säugling immer nur zusammen mit der mütterlichen Fürsorge gibt, die eine haltende Umwelt bildet (1974, S. 50). Wo ein Säugling ist, ist auch eine Mutter, die ihn trägt - oder zumindest ein Bettchen oder Kinderwagen, in dem er liegt.
Als abgegrenztes Wesen erscheint er nur einem Dritten. In einem Verweis auf Freud zitiert Winnicott (wie schon Balint vor ihm) die Fussnote, die dieser als Ergänzung einiger Ueberlegungen zum Lustprinzip angefügt hat: Ein rein am Lustprinzip orientiertes seelisches System, das der Säugling realisiere, sei dann lebensfähig, so Freud, »wenn man nur die Mutterpflege hinzunimmt«.
Diese eher beiläufige Erwähnung der mütterlichen Funktion durch Freud taucht in der gleichen Fussnote noch einmal auf, und zwar im Bild vom »in die Eischale eingeschlossene(n) Vogelei«, für das, so Freud, »sich die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt«. Darauf beruft sich Winnicott, wenn er den primären Narzissmus als Zustand des Säuglings versteht, in dem die Beziehung zur Mutter so selbstverständlich vorausgesetzt ist, dass sie (vom Säugling selbst) nicht wahrgenommen wird und (in der Theorie) in einer monadischen Konstruktion des Narzissmus verschwindet.
Der primäre Narzissmus ist eine in eine elementare Interaktion eingebettete Erlebnisform, seine Objektlosigkeit ist eine »Fiktion« (Freud).
2. »Die Fähigkeit zum Alleinsein beruht auf der Erfahrung der Gegenwart eines anderen Menschen!«
Diese Bemerkung ist in einem Aufsatz enthalten, in dem Winnicott die These aufstellt, Alleinsein-Können sei kein ursprünglicher Zustand, sondern verdanke sich der beruhigenden Erfahrung, in Anwesenheit eines anderen Menschen allein zu sein (Winnicott 1974).
Gemeint ist mit dieser paradoxen Formulierung, dass die Erfahrung »Ich bin allein« eine Entwicklung voraussetzt, in der erst eine verlässliche Umwelt dem Kind erlaubt, zunächst »Ich« und dann »Ich bin« zu sagen. Erst aus dieser verlässlichen Umweltbeziehung (in der Regel identisch mit der mütterlichen Anwesenheit und Fürsorge, die die Unreife des Säuglings ausgleicht) entwickelt sich dessen Fähigkeit, sich abgrenzen und allein sein zu können. Winnicott nennt das Verhältnis des Säuglings, der allein sein kann, zu seiner Mutter »Ich-Bezogenheit« - im Gegensatz zur Es-Bezogenheit, bei der es um die Befriedigung libidinöser Bedürfnisse geht.
Diese Art von Ich-Bezogenheit kommt dem nahe, was ich unter gesundem Narzissmus verstehe. Es ist eine Ich-Bezogenheit, die die Anwesenheit des Objekts selbstverständlich voraussetzt, ohne sie eigens zu registrieren.
In einer späteren Arbeit hat er diese früheste Art der Objektbeziehung von der »Objektverwendung« unterschieden, in der das Objekt in seiner Eigenständigkeit anerkannt wird, »als ein Wesen mit eigenem Recht« (1995, S. 105).
3. »Der Säugling erlebt nur, wenn er fallengelassen, er erlebt nicht, wenn er gehalten wird!«
In dieser dritten These Winnicotts wird der selbstverständliche Charakter der primären Beziehung deutlich.
Befriedigende mütterliche Fürsorge werde nicht bemerkt. Für den Säugling sei die Halte-Beziehung so elementar, dass sie nicht wahrgenommen werde, vergleichbar mit dem Sauerstoff der uns umgebenden Luft (1974 S.147). Erst das Versagen dieser existentiell wichtigen Beziehung werde registriert, und zwar nicht als Verlust einer Beziehung, sondern als Vemichtungsangst, als endloses Fallen. Die Funktion des Haltens als frühestes Stadium der mütterlichen Fürsorge ist die Kehrseite der Abhängigkeit des Säuglings.
Sie werde von der Mutter durch Einfühlung in und Anpassung an dessen Bedürfnisse so selbstverständlich geleistet, dass sie dieser Funktion kaum bewusst werde. Die Mutter-Kind-Beziehung habe in dieser frühen Phase eine basale Bedeutung, die sich dem Bewusstsein weitgehend entziehe. Auch in der Rekonstruktion von Erfahrungen aus dieser Phase in der psychoanalytischen Beziehung sei diese Beziehung nicht bewusstseinsfahig (1974 S.147).
Winnicott versteht diese Fürsorge der Mutter in der Halte-Phase als »Fortsetzung der physiologischen Versorgung, die den pränatalen Zustand kennzeichnet« (S.64). Auch und gerade das körperliche Halten, das Winnicott »eine Form der Liebe« nennt, charakterisiert diese Phase und bildet die Grundlage der ersten Objektbeziehung des Säuglings (S.63).
4. »Die optimale Anpassung der Mutter wird irgendwann zum Entwicklungshindernis für das Kind!«.
Erst wenn sich der Säugling aus der Verschmelzung mit der Mutter löst, eigentlich »die Mutter aus seinem Selbst herausgelöst hat« (S. 73),12 wird die absolute Einfühlung zum Entwicklungshindemis. Das ist die vierte These Winnicotts: Die Mutter, die über die Zeit hinaus immer schon weiss, was das Kind will, hemmt dessen seelisches Wachstum.
Weshalb? In der Verschmelzung erfährt der Säugling die Befriedigung seiner Bedürfnisse durch die einfühlsame Mutter als eigene Macht. Er hat die Illusion von magischer Kontrolle und Omnipotenz.
Eine Mutter, die durch eine zu gute Einfühlung diese Illusion auch dann noch aufrechterhält, wenn der Säugling bereits in der Lage ist, die Mutter von seinem Selbst zu unterscheiden und ein Bedürfnis zu signalisieren, hemmt damit den Prozess der Desillusionierung.
Dieser Prozess ist aber für die Entwicklung der Realitätswahmehmung und der Objektbeziehungen notwendig. Von einem Verhalten der optimalen Anpassung an die Bedürfnisse des Säuglings wechselt die Mutter dann über zu einem Verhalten der optimalen Versagung. Sie wartet auf die Signale des Kindes und ermöglicht ihm so, sich selbst zu artikulieren und das Objekt zu »erschaffen«. Die Frustration, die sich aus dieser »Wartezeit« ergibt, fördert die Unterscheidung von »Ich« und »Nicht-Ich«. Im Konzept der »optimalen Versagung« ist sie von elementarer Bedeutung bei der Trennung von Selbst und Objekt und notwendig zum Aufbau einer Aussenwelt. In Winnicotts Verständnis sind die aggressiven Äusserungen des Säuglings in dieser Phase Ausdruck des Destruktionstriebs. der »das Aeussere in seinem Wesen erst erschafft« (1995, S. 109), auch wenn er es natürlich »vorfindet«.
Wenn das Objekt diese Destruktion überlebt, wird es zum Teil der Realität und kann »verwendet« werden. Dabei wechselt der Säugling zwischen inneren Zuständen, in denen er in der Verschmelzung lebt und die unbedingte Anpassung braucht, und solchen, in denen er sich schon getrennt erlebt und Signale geben kann.
Dementsprechend variiert auch die »gute« Mutter ihr Verhalten zwischen optimaler Einfühlung und optimaler Versagung.
Mit Hilfe dieser scheinbar paradoxen Entwicklungstheorie Winnicotts lässt sich die intersubjektive Genese einer Selbstbeziehung rekonstruieren, die im intermediären Raum zwischen Kind und Mutter entsteht. Die Gegenwart des haltenden Objekts ist für das entstehende Selbst so selbstverständlich, dass es ohne sie nicht vorstellbar ist. In diesem Zustand »absoluter Abhängigkeit« scheint das Objekt aber der omnipotenten Kontrolle des Subjekts zu unterliegen.
Diese primärnarzisstische Illusion weicht erst später der Ahnung einer »relativen Abhängigkeit« vom Objekt, bevor die Anerkennung von dessen »relativer Unabhängigkeit« eingeleitet wird. Gemeinsam mit dem Selbst, so Winnicott, wird auch das Objekt »erschaffen«, sobald eine zunächst optimal einfühlsame Mutter, über die der Säugling noch eine Illusion von Macht und Kontrolle hat, ihm allmählich erlaubt, sich von ihr abzugrenzen und in einem Prozess der Desillusionierung eine Unterscheidung zwischen Objekt und Selbst zu installieren und Realität aufzubauen.
Sie muss sich vom Säugling angreifen lassen, er muss sie symbolisch zerstören, das Objekt muss den Angriff überleben - erst dann ist es in seiner Unabhängigkeit erkannt, das heisst, anerkannt und taugt zur »Objektverwendung« (1995). Erst das Ueberleben der Mutter gibt ihr den Status eines der absoluten Verfügbarkeit entzogenen Objekts, das in seiner Unabhängigkeit anerkannt werden kann. Das ist aber nur die eine Seite einer dialektischen Interaktion, deren andere Seite (und Voraussetzung) die Anerkennung des Kindes durch die Mutter ist: Nur wenn es sich anerkannt fühlt, kann es selber anerkennen.
Für eine intersubjektive Theorie des Narzissmus ist dieser Zusammenhang, auch wenn er kompliziert klingt, kein epistemologischer Eiertanz, sondern er enthält das Rätsel der Emergenz. Erst aus der Erfahrung der Anerkennung durch das primäre Objekt taucht das Selbst als etwas Eigenes auf. Zugleich weicht die Illusion der eigenen Unabhängigkeit der Ahnung der Abhängigkeit von einem Objekt, dessen Unabhängigkeit allmählich anerkannt wird. Der Narzissmus begleitet diesen Prozess der Differenzierung als exzentrischer Blick auf das Selbst aus der Perspektive des Objekts:
als Erbe des Lächelns (oder anderer spiegelnder Aeusserungen) der Mutter. Er entstammt in seiner primären Form einer Zeit, in der das Objekt für das auftauchende Selbst noch »subjektives Objekt« und damit der eigenen Kontrolle unterworfen war, und hält in seinen späteren Entwicklungsformen unter dem Thema der Anerkennung die Verbindung zur Welt aufrecht. Die entwicklungspsychologische Verknüpfung der Illusion der eigenen Unabhängigkeit mit dem Bedürfnis, anerkannt zu werden, dem Erkennen der eigenen Abhängigkeit und der Anerkennung der Unabhängigkeit des Objekts liefert den »Stoff«, aus dem der Narzissmus gemacht ist. So könnte man in Abwandlung einer jener rätselhaften Bemerkungen von Winnicott sagen, der die Fähigkeit, in Gegenwart des anderen allein zu sein, zum »Stoff« erklärt hat, »aus dem Freundschaft gemacht ist« (1974, S. 42). Die Frage der intersubjektiven Anerkennung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zwischen Selbst und Objekt bildet den intersubjektiven Kern des Narzissmus. Sie überdauert im Verhältnis des Selbst zu sich als Objekt.
Quelle: Weike, Kerstin (2007). Adoleszenzkonflikte in der Schule: Eine empirische Studie mit Ueberlegungen zu Schule als "potential space", S. ... - ...
Donald W. Winnicott
Es folgt ein langer Originaltext des m.E. wichtigsten Entwicklungspsychoanalytikers aus dem Jahre 1960. Dies um ein Gefühl, eine Resonanz (siehe Kap. 8) für die beiden unterschiedlichen Pole im Kontinuum zwischen innerem und äusserem Selbst (vgl. mein eigenes Selbstkonzept in Kap. 8) zu bekommen:
"Die defensive Natur des falschen Selbst" [Titelgebung: M.F.]
Seine Abwehrfunktion liegt darin, das wahre Selbst zu verbergen und zu beschützen, was immer dieses auch sein mag. Sofort wird es möglich, die Organisationen
des falschen Selbst zu klassifizieren:
1. Am einen Extrem: das falsche Selbst stellt sich als real dar, und Beobachter neigen dazu, zu glauben, dies sei die wirkliche Person. In Lebensbeziehungen, Arbeitsbeziehungen und Freundschaften beginnt das falsche Selbst jedoch zu versagen. In Situationen, in denen eine ganze Person erwartet wird, fehlt dem falschen Selbst etwas Wesentliches. An diesem Extrem ist das wahre Selbst verborgen.
2. Weniger extrem: Das falsche Selbst verteidigt das wahre Selbst; das wahre Selbst wird jedoch als Potential anerkannt und darf ein geheimes Leben führen. Hier ist das deutlichste Beispiel einer klinischen Erkrankung als Organisation mit einem positiven Ziel, der Bewahrung des Individuums trotz abnormer. Umweltbedingungen.
Dies ist eine Erweiterung des psychoanalytischen Konzepts vom Wert der Symptome für den Kranken.
3. Mehr zur Gesundheit hin: Das falsche Selbst hat ein Hauptanliegen: die Suche nach Bedingungen, die es dem wahren Selbst ermöglichen, zu seinem Recht zu kommen. Wenn solche Bedingungen nicht zu finden sind, dann muß eine neue Abwehr gegen die Ausbeutung des wahren Selbst errichtet werden, und wenn
das zweifelhaft erscheint, ist die klinische Folge Selbstmord.
Selbstmord in diesem Zusammenhang ist die Zerstörung des totalen Selbst, um die Vernichtung des wahren Selbst zu vermeiden. Wenn der Selbstmord die einzige Abwehr gegen einen Verrat des wahren Selbst ist, fällt es dem falschen Selbst zu, den Selbstmord zu organisieren.
Dieser bringt natürlich auch seine eigene Zerstörung mit sich, beseitigt aber zugleich die Notwendigkeit seiner weiteren Existenz, da seine Funktion die Bewahrung des wahren Selbst vor Schaden ist.
4. Noch weiter zur Gesundheit hin: das falsche Selbst ist auf Identifikationen aufgebaut (wie z.B. bei der erwähnten Patientin, deren Kindheitsumwelt und deren wirkliche Kinderfrau der Organisation des falschen Selbst viel Farbe verliehen).
5. Beim Gesunden: das falsche Selbst wird repräsentiert durch die ganze Organisation der höflichen und gesitteten gesellschaftlichen Haltung, durch den Umstand, könnte man sagen, daß man »sein Herz nicht auf der Zunge trägt«. Viel hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, auf Omnipotenz und auf den Primärvorgang allgemein zu verzichten; der Gewinn ist die Stellung in der Gesellschaft, der niemals durch das wahre Selbst allein erlangt oder gewahrt werden kann.
Bisher habe ich mich in den Grenzen der klinischen Beschreibung gehalten. Selbst in diesem begrenzten Bereich ist das Erkennen des Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Seihst falschen Selbst jedoch wichtig. Es ist z.B. wichtig, daß Patienten, die im Grunde falsche Persönlichkeiten sind, nicht an Psychoanalyse-Kandidaten zur Analyse im Rahmen eines Ausbildungsprogramms überwiesen werden. Die Diagnose »falsche Persönlichkeit« ist hier wichtiger als die Diagnose des Patienten nach üblichen psychiatrischen Klassifikationen. Auch in der Sozialarbeit, wo alle Arten von Fällen angenommen und in Behandlung behalten werden müssen, ist diese Diagnose »falsche Persönlichkeit« wichtig, um die extreme Frustration zu vermeiden, die mit einem therapeutischen Scheitern trotz anscheinend vernünftiger, auf analytischen Prinzipien beruhender Sozialarbeit verbunden ist. Besonders wichtig ist diese Diagnose bei der Auswahl von Ausbildungskandidaten für Psychoanalyse oder psychiatrische Sozialarbeit, das heißt, für die Auswahl von Ausbildungskandidaten für praktisch-psychotherapeutische Arbeit aller Art. Das organisierte falsche Selbst ist mit einer Starrheit der Abwehr verbunden, die eine Entwicklung während der Lehrzeit verhindert.
Der Intellekt und das falsche Selbst
Eine besondere Gefahr erwächst aus der nicht seltenen Verknüpfung zwischen dem intellektuellen Ansatz und dem falschen Selbst. Wenn sich ein falsches Selbst in einem Individuum mit einem hohen intellektuellen Potential aufbaut, besteht eine starke Tendenz, daß der Intellekt der Ort des falschen Selbst wird, und in
diesem Fall entwickelt sich eine Dissoziation zwischen intellektueller Aktivität und psychosomatischer Existenz. (Man muß annehmen, daß beim Gesunden der Intellekt nicht etwas ist, was das Individuum auf der Flucht vor dem psychosomatischen Sein ausnützt.
Wenn diese doppelte Abnormität eingetreten ist, daß 1. das falsche Selbst aufgebaut wurde, um das wahre Selbst zu verbergen, und 2. das Individuum versucht, das persönliche Problem durch die Anwendung eines vortrefflichen Intellekts zu lösen, entsteht ein klinisches Bild, dessen Eigenart darin besteht, daß es sehr leicht täuscht. Die Welt mag akademische Erfolge von hohen Graden zu sehen bekommen und schwer an das sehr reale Leiden des betreffenden Individuums glauben können, das sich um so mehr als »leerer Popanz« fühlt, je mehr Erfolg es hat. Wenn solche Individuen sich auf die eine oder andere Weise zerstören, anstatt den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen, ruft dies immer ein Gefühl der Erschütterung bei jenen hervor, die große Hoffnungen in das Individuum gesetzt hatten.
Aetiologie
Diese Konzepte werden für den Analytiker hauptsächlich dadurch interessant, daß er untersucht, wie sich ein falsches Selbst am Anfang, in der Beziehung zwischen Säugling und Mutter, entwickelt, und (noch wichtiger) wie ein falsches Selbst in der normalen Entwicklung kein signifikanter Zug wird.
Die Theorie, die sich auf dieses wichtige Stadium in der ontogenetischen Entwicklung bezieht, gehört zur Beobachtung des Säugling-zu-Mutter-Lebens (regredierter Patient-zu-Analytiker), und es gehört nicht zur Theorie der frühen Ich-Abwehrmechanismen, die gegen Es-Impulse aufgebaut werden, wenn auch diese zwei Themen sich überschneiden.
Um zu einer Darstellung des relevanten Entwicklungsprozesses zu gelangen, ist es unerläßlich, Verhalten und Einstellung der Mutter zu berücksichtigen, denn in diesem Bereich ist die Abhängigkeit real und fast absolut. Man kann nicht feststellen, was geschieht, indem man sich allein auf den Säugling bezieht.
Wenn wir nach der Ätiologie des falschen Selbst forschen, untersuchen wir das Stadium der ersten Objektbeziehungen. In diesem Stadium ist der Säugling meistens unintegriert und niemals voll integriert; die Kohäsion der verschiedenen sensomotorischen Elemente ist dem Umstand zu verdanken, daß die Mutter den Säugling hält, manchmal physisch, und ständig im übertragenen Sinn. Periodisch verleihen die Gesten des Säuglings einem spontanen Impuls Ausdruck; die Quelle der Geste ist das wahre Selbst, und die Geste zeigt die Existenz eines potentiellen wahren Selbst an.
Wir müssen die Art untersuchen, wie die Mutter dieser infantilen Omnipotenz begegnet, die sich in einer Geste (oder einer sensomotorischen Gruppierung) offenbart. Ich habe hier die Vorstellung von einem wahren Selbst mit der spontanen Geste in Verbindung gebracht. In diesem Abschnitt in der Entwicklung des Individuums ist die Verschmelzung der Motilität und erotischer Elemente im Begriff, eine Tatsache zu werden.
Die Rolle der Mutter
Man muß die Rolle untersuchen, die die Mutter spielt, und dabei finde ich es praktisch, zwei Extreme zu vergleichen; am einen Extrem ist die Mutter gut genug, am anderen ist sie nicht gut genug.
Man wird fragen: Was ist mit dem Ausdruck »gut genug« gemeint? Die Mutter, die gut genug ist, begegnet der Omnipotenz des Säuglings und begreift sie in gewissem Maß. Sie tut dies wiederholt. Durch die Stärke, die das schwache Ich des Säuglings dadurch bekommt, daß die Mutter die Omnipotenzäußerungen des Säuglings praktisch zur Wirkung bringt, beginnt ein wahres Selbst zum Leben zu erwachen.
Die Mutter, die nicht gut genug ist, kann die Omnipotenz des Säuglings nicht praktisch zur Wirkung bringen, deshalb unterläßt sie es wiederholt, der Geste des Säuglings zu begegnen; statt dessen setzt sie ihre eigene Geste ein, die durch das Sich-Fügen des Säuglings sinnvoll gemacht werden soll. Diese Gefügigkeit auf seiten des Säuglings ist das früheste Stadium des falschen Selbst und gehört zur Unfähigkeit der Mutter, die Bedürfnisse ihres Säuglings zu spüren.
Es ist ein wesentlicher Teil meiner Theorie, daß das wahre Selbst nur eine lebende Realität wird, wenn es der Mutter wiederholt gelingt, der spontanen Geste oder sensorischen Halluzination des Säuglings zu begegnen. (Dieser Gedanke hängt eng zusammen mit Frau Sechehayes Vorstellung, die in dem Ausdruck »symbolische Verwirklichung« enthalten ist. Dieser Ausdruck hat in der modernen psychoanalytischen Theorie eine große Rolle gespielt, aber er ist nicht ganz richtig, da es die Geste oder Halluzination des Säuglings ist, die wirklich gemacht wird, und das Ergebnis ist die Fähigkeit des Säuglings, ein Symbol zu benützen.)
Es gibt in dem Schema der Ereignisse gemäß meiner Formulierung nun zwei mögliche Linien der Entwicklung. Im ersten Fall ist die Anpassung der Mutter gut genug; infolgedessen beginnt der Säugling, an eine äußere Realität zu glauben, die wie durch Magie erscheint und sich verhält (wegen der relativ erfolgreichen Anpassung der Mutter an die Gesten und Bedürfnisse des Säuglings), und die so handelt, daß es keinen Zusammenstoß mit der Omnipotenz des Säuglings gibt. Auf dieser Grundlage kann der Säugling allmählich die Omnipotenz abschaffen. Das wahre Selbst hat eine Spontaneität, und diese ist mit den Ereignissen der Welt verknüpft worden. Der Säugling kann jetzt anfangen, die Illusion des omnipotenten Erschaffens und Lenkens zu genießen; dann kann er allmählich das illusorische Element erkennen lernen, die Tatsache, daß er spielt und phantasiert. Hier ist die Grundlage für das Symbol, das zunächst sowohl die Spontaneität oder Halluzination des Säuglings ist, als auch das geschaffene und schließlich besetzte äußere Objekt.
Zwischen dem Säugling und dem Objekt ist irgendetwas oder irgendeine Aktivität oder Empfindung. Insofern, als dieses den Säugling mit dem Objekt verbindet (nämlich mütterliches Teil-Objekt), ist es die Grundlage der Symbolbildung. Andererseits, insofern, als dieses Etwas trennt, anstatt zu verbinden, ist seine Funktion, zur Symbolbildung zu führen, blockiert.
Im zweiten Fall, der mehr zu unserem Thema gehört, ist die Anpassung der Mutter an die Halluzinationen und spontanen Impulse des Säuglings mangelhaft, nicht gut genug. Der Prozeß, der zur Fähigkeit des Symbolgebrauchs führt, kommt nicht in Gang (oder er wird unterbrochen), womit ein Sich-Zurückziehen des Säuglings von bereits gewonnenen Vorteilen einhergeht.
Wenn die Anpassung der Mutter am Anfang nicht gut genug ist, könnte man erwarten, daß der Säugling physisch stirbt, weil die Besetzung äußerer Objekte nicht in Gang gesetzt wird. Der Säugling bleibt isoliert. Aber in der Praxis lebt der Säugling, nur lebt er falsch. Der Protest dagegen, in. eine falsche Existenz hineingezwungen zu werden, ist von den frühesten Stadien an zu beobachten.
Das klinische Bild zeigt allgemeine Reizbarkeit und Ernährungs- und andere Funktionsstörungen, die jedoch klinisch verschwinden können, nur um in einem späteren Stadium in
schwerwiegender Form wieder aufzutauchen.
In diesem zweiten Fall, wo die Mutter sich nicht gut genug anpassen kann, wird der Säugling zum Sich-Fügen verführt, und ein gefügiges falsches Selbst reagiert auf Umweltforderungen, und der Säugling scheint sie zu akzeptieren. Durch dieses falsche Selbst baut der Säugling ein falsches System von Beziehungen auf, und mit Hilfe von Introjektionen gelingt ihm sogar der Anschein, real zu sein, so daß das Kind aufwachsen und genau wie die Mutter, die Pflegerin, die Tante, der Bruder werden kann oder wie derjenige, der eben zu diesem Zeitpunkt den Schauplatz beherrscht. Das falsche Selbst hat eine positive und sehr wichtige Funktion: das wahre Selbst zu verbergen, was es dadurch tut, daß es sich den Umweltforderungen fügt.
Bei den Extrembeispielen der Entwicklung eines falschen Selbst ist das wahre Selbst so gut versteckt, daß Spontaneität in den Lebenserfahrungen des Säuglings nicht vorkommt. Sich-Fügen ist also das Hauptmerkmal, mit Nachahmung als spezieller Ausprägung. Wenn der Grad der Spaltung in der Person des Säuglings nicht zu groß ist, kann es ein gewisses, fast persönliches Leben
durch Nachahmung geben, und es kann dem Kind sogar möglich sein, eine besondere Rolle zu spielen, nämlich die des wahren Selbst, wie es wäre, wenn es existierte.
Auf diese Weise kann man den Ursprung des falschen Selbst aufspüren; man sieht nun, daß es eine Abwehr ist, eine Abwehr gegen das Undenkbare, die Ausbeutung des wahren Selbst, die zu seiner Vernichtung führen würde. (Wenn das wahre Selbst jemals ausgebeutet und vernichtet wird, gehört dies zum Leben eines Säuglings, dessen Mutter nicht nur »nicht gut genug« in dem oben erklärten Sinn war, sondern auf quälende unregelmäßige Weise einmal gut, einmal böse. In diesem Fall hat die Mutter als Teil ihrer Krankheit ein Bedürfnis, in denen, die in Kontakt mit ihr sind, ein Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst Durcheinander zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Dies kann in einer Uebertragungssituation erscheinen, wo der Patient versucht, den Analytiker verrückt zu machen [Bion, 195 a; Searles, 1959].
Dies kann in so hohem Grad auftreten, daß es die letzten Spuren der Fähigkeit eines Säuglings zerstören kann, das wahre Selbst zu verteidigen.) In meiner Abhandlung Primary Maternal Preoccupation (»Primäre Mütterlichkeit«) 1956 a habe ich versucht, das Thema von der Rolle, die die Mutter spielt, zu entwickeln. Ich gehe in dieser Abhandlung von der Annahme aus, daß die gesunde Frau, die schwanger wird, allmählich einen hohen Grad der Identifizierung mit ihrem Säugling erreicht. Diese entwickelt sich während der Schwangerschaft, ist zur
Zeit des Wochenbetts auf dem Höhepunkt und nimmt in den Wochen und Monaten danach allmählich ab. Diese gesunde Sache, die den Müttern geschieht, hat sowohl hypochondrische als auch sekundäre narzißtische Folgen. Diese spezielle Orientierung der Mutter auf ihren Säugling ist nicht nur von ihrer eigenen seelischgeistigen Gesundheit abhängig, sondern wird auch von der Umwelt beeinflußt.
Im einfachsten Fall bewältigt der Mann, unterstützt von einer gesellschaftlichen Einstellung, die sich selbst aus der natürlichen Funktion des Mannes entwickelt hat, die äußere Realität für die Frau und macht es so ungefährlich und vernünftig für sie, sich zeitweilig nach innen zu wenden und auf sich selbst zentriert zu sein.
Ein Diagramm davon ist dem Diagramm einer paranoid kranken Person oder Familie ähnlich. (Man wird hier erinnert an Freuds [1920] Beschreibung des lebendigen Bläschens mit seiner aufnehmenden kortikalen Schicht...)
Die Entwicklung dieses Themas gehört nicht hierher, aber es ist wichtig, daß die Funktion der Mutter verstanden wird. Diese Funktion ist keineswegs eine neuere Entwicklung, die zur
Zivilisation oder zur Verfeinerung oder zum intellektuellen Verständnis gehört. Es ist keine Theorie annehmbar, die nicht den Umstand berücksichtigt, daß Mütter diese wesentliche Funktion
schon immer gut genug erfüllt haben. Diese wesentliche mütterliche Funktion befähigt die Mutter, um die frühesten Erwartungen und Bedürfnisse ihres Säuglings zu wissen und befriedigt sie persönlich insofern, als der Säugling sich wohlfühlt. Wegen dieser Identifikation mit ihrem Säugling weiß sie, wie sie ihr Kind halten muß, so daß das Kind anfängt zu existieren und nicht zu reagieren. Hier ist der Ursprung des wahren Selbst, das nicht Wirklichkeit werden kann ohne die spezialisierte Beziehung der Mutter zu ihm, eine Beziehung, die man mit einem gewöhnlichen Wort: Hingabe bezeichnen könnte.
Das wahre Selbst
Das Konzept von einem »falschen Selbst« braucht als Gegengewicht eine Formulierung dessen, was man angemessenerweise als das wahre Selbst bezeichnen könnte. Im frühesten Stadium ist das wahre Selbst die theoretische Position, von der die spontane Geste und die persönliche Idee ausgehen. Die spontane Geste ist das wahre Selbst in Aktion. Nur das wahre Selbst kann kreativ sein, und nur das wahre Selbst kann sich real fühlen. Während ein wahres Selbst sich real fühlt, führt die Existenz eines falschen Selbst zu einem Gefühl des Unwirklichen oder einem Gefühl der Nichtigkeit.
Wenn das falsche Selbst in seiner Funktion erfolgreich ist, verbirgt es das wahre Selbst oder findet eine Möglichkeit, das wahre Selbst zum Beginnen eines Lebens zu befähigen. Ein solches Ergebnis kann auf allerlei Arten erreicht werden, aber wir beobachten aus besonderer Nähe jene Fälle, in denen das Gefühl, die Dinge seien real oder der Mühe wert, während einer Behandlung auftritt.
Meine Patientin, von deren Fall ich gesprochen habe ist nahe dem Ende einer langen Analyse an den Anfang ihres Lebens gekommen. Sie hat keine wirkliche Erfahrung, sie hat keine Vergangenheit. Sie beginnt mit fünfzig Jahren vergeudeten Lebens, aber sie fühlt sich endlich real, und darum will sie nun leben.
Das wahre Selbst kommt von der Lebendigkeit der Körpergewebe und dem Wirken von Körperfunktionen, einschließlich der Herzarbeit und der Atmung. Es ist eng verknüpft mit der Vorstellung vom Primärvorgang und ist am Anfang im wesentlichen nicht reaktiv gegenüber äußeren Reizen, sondern primär. Es hat wenig Sinn, eine Idee vom wahren Selbst zu formulieren, es sei denn, um zu versuchen, das falsche Selbst zu verstehen, denn eine solche Formulierung tut nichts weiter, als die Details der Erfahrung des Lebendigseins zusammenzusammeln.
Allmählich wird der Säugling so differenziert, daß es besser ist zu sagen, das falsche Selbst verbirgt die innere Realität des Säuglings, anstatt zu sagen, es verberge das wahre Selbst.
Mittlerweile hat der Säugling eine begrenzende Membran hergestellt, er hat ein Innen und ein Außen und hat sich in erheblichem Maß der mütterlichen Fürsorge entwunden.
Es ist wichtig, zu beachten, daß nach der hier formulierten Theorie das Konzept von einer individuellen inneren Realität von Objekten zu einem späteren Stadium gehört als das Konzept vom sogenannten wahren Selbst. Das wahre Selbst erscheint, sobald es auch nur irgendeine psychische Organisation des Individuums gibt, und es bedeutet wenig mehr als die Gesamtheit der sensomotorischen Lebendigkeit.
Das wahre Selbst entwickelt rasch Komplexität und nimmt zur äußeren Realität durch äußere Prozesse Beziehungen auf, durch Prozesse, wie sie sich im Lauf der Zeit im einzelnen Kind entwickeln. Der Säugling wird dann fähig, ohne Trauma auf einen Reiz zu reagieren, weil der Reiz ein Gegenstück in der inneren, psychischen Realität des Individuums hat. Der Säugling erklärt sich dann alle Reize als Projektionen, aber dies ist ein Stadium, das nicht notwendigerweise erreicht wird; manchmal wird es nur zum Teil erreicht oder es wird erreicht und geht wieder verloren. Wenn dieses Stadium erlangt worden ist, ist der Säugling in der Lage, das Gefühl der Omnipotenz zu behalten, selbst wenn er auf Umweltfaktoren reagiert, von denen der Beobachter erkennen kann, daß sie für den Säugling wirklich von außen kommen. Dies alles liegt Jahre vor der Fähigkeit des Kindes, durch vernünftige Ueberlegung das Wirksamwerden des reinen Zufalls einzubeziehen.
Jeder neue Lebensabschnitt, in dem das wahre Selbst nicht ernsthaft unterbrochen worden ist, führt zu einer Verstärkung des Gefühls, real zu sein, und damit geht eine wachsende Fähigkeit des Säuglings einher, zwei Gruppen von Erscheinungen zu ertragen.
Dies sind:
1. Unterbrechungen der Kontinuität des Lebens aus dem wahren Selbst. (Hier kann man sehen, auf welche Weise der Geburtsvorgang traumatisch sein könnte, wie z.B. wenn es Verzögerungen ohne Bewußtlosigkeit gibt.)
2. Reaktive Erlebnisse oder Erlebnisse des falschen Selbst, die auf einer Grundlage von Gefügigkeit zur Umwelt in Beziehung stehen.
Dies wird der Teil des Säuglings, dem man (vor dem ersten Geburtstag) beibringen kann, »Ta« zu sagen, oder, mit anderen
Worten, dem man beibringen kann, die Existenz einer Umwelt anzuerkennen, die intellektuell akzeptiert wird. Gefühle der Dankbarkeit können folgen oder auch nicht.
Das normale Äquivalent des falschen Selbst
Auf diese Weise entwickelt der Säugling durch natürliche Vorgänge eine Ich-Organisation, die an die Umwelt angepaßt ist; aber dies geschieht nicht automatisch, und es kann tatsächlich nur geschehen, wenn zunächst das wahre Selbst (wie ich es nenne) eine lebendige Realität geworden ist, weil sich die Mutter den Lebensbedürfnissen des Säuglings gut genug angepaßt hat. Das wahre Selbst hat im gesunden Leben einen Aspekt des Sich-Fügens, eine Fähigkeit des Säuglings, sich zu fügen und nicht preisgegeben zu werden. Die Fähigkeit zu Kompromissen ist eine Errungenschaft. Das Äquivalent des falschen Selbst in der normalen Entwicklung ist das, was sich im Kind zu sozialem Gebaren entwickeln kann, etwas Anpassungsfähiges. Beim Gesunden stellt dieses soziale Gebaren einen Kompromiß dar. Beim Gesunden hört der Kompromiß aber zugleich auf, zulässig zu sein, wenn es um entscheidende Fragen geht. Wenn dies geschieht, kann das wahre Selbst sich gegenüber dem gefügigen Selbst durchsetzen. Klinisch ist dies ein ständig wiederkehrendes Problem der Adoleszenz.
Grade des falschen Selbst
Wenn die Beschreibung dieser beiden Extreme und ihre Aetiologie akzeptiert wird, ist es nicht schwierig für uns, in unserer klinischen Arbeit die Existenz eines hohen oder geringen Grades der Abwehr durch ein falsches Selbst einzukalkulieren, deren Spielraum von dem gesunden höflichen Aspekt des Selbst bis zum wirklich abgespaltenen gefügigen falschen Selbst geht, das irrtümlich für das ganze Kind gehalten wird. Es ist leicht zu erkennen, daß diese Abwehr durch ein falsches Selbst manchmal die Grundlage für eine Art von Sublimation sein kann, wie z. B. wenn ein Kind zum Schauspieler heranwächst. Was Schauspieler angeht, so gibt es jene, die sie selbst sein und auch Schauspieler sein können, während es andere gibt, die nur schauspielern können, und die völlig orientierungslos sind, wenn sie nicht in einer Rolle stecken und wenn man sie nicht schätzt oder ihnen Beifall zollt (sie als existent anerkennt).
Das gesunde Individuum, dessen Selbst einen gefügigen Aspekt hat, das aber existiert und ein kreatives und spontanes Lebewesen ist, hat zugleich eine Fähigkeit, Symbole zu gebrauchen. Mit anderen Worten, Gesundheit ist hier eng verbunden mit der Fähigkeit des Individuums, in einem Bereich zu leben, der zwischen Traum und Realität liegt, dem Bereich, den man das »kulturelle Leben« nennt. (Siehe Uebergangsobjekte und Uebergangsphänomene, 1951.)
Im Gegensatz dazu findet sich, wo ein hoher Grad der Spaltung zwischen dem wahren Selbst und dem falschen Selbst besteht (das das wahre Selbst verbirgt), eine schlechte Fähigkeit des Symbolgebrauchs und eine Verarmung des kulturellen Lebens. An Stelle kultureller Aktivitäten beobachtet man bei solchen Menschen äußerste Ruhelosigkeit, Konzentrationsunfähigkeit und ein Bedürfnis, aus der äußeren Realität störende Einflüsse auf sich zu ziehen, so daß die Lebenszeit des Individuums mit Reaktionen auf diese Störungen ausgefüllt werden kann.
Klinische Anwendung
Wir haben schon erwähnt, wie wichtig es ist, die Persönlichkeit des falschen Selbst zu erkennen, wenn eine Diagnose zum Zweck der Beurteilung eines Falles für die Behandlung oder zum Zweck der Beurteilung eines Kandidaten für psychiatrische oder sozialpsychiatrische Arbeit gestellt wird.
Konsequenzen für den Psychoanalytiker
Wenn diese Betrachtungen sich als gültig erweisen, muß der praktizierende Psychoanalytiker von ihnen auf folgende Weise betroffen werden:
a) In der Analyse einer falschen Persönlichkeit muß der Umstand erkannt werden, daß der Analytiker nur zum falschen Selbst des Patienten über dessen wahres Selbst sprechen kann. Es ist, als ob eine Kinderschwester ein Kind brächte und der Analytiker zunächst das Problem des Kindes erörterte, wobei kein direkter Kontakt zum Kind hergestellt wird. Die Analyse beginnt
erst, wenn die Schwester das Kind mit dem Analytiker alleingelassen hat, und wenn das Kind fähig geworden ist, mit dem Analytiker allein zu bleiben, und angefangen hat zu spielen.
b) Am Punkt des Übergangs, wenn der Analytiker beginnt, mit dem wahren Selbst des Patienten in Berührung zu kommen, muß es eine Periode äußerster Abhängigkeit geben. Dies wird in der analytischen Praxis oft übersehen. Der Patient wird krank oder gibt dem Analytiker auf irgendeine andere Weise eine Chance, die Funktion des falschen Selbst (der_Kinderfrau) zu übernehmen, aber der Analytiker sieht in diesem Augenblick nicht, was geschieht; infolgedessen versorgen andere den Patienten, und er wird während einer Zeit der verkleideten Regression auf Abhängigkeit von diesen anderen abhängig, und die Gelegenheit wird versäumt.
c) Analytiker, die nicht bereit sind, die schwere Bürde der Bedürfnisse von Patienten auf sich zu nehmen, die in dieser Weise abhängig werden, müssen ihre Fälle sorgfältig so auswählen, daß keine mit einem falschen Selbst darunter sind.
In der psychoanalytischen Arbeit kann es Vorkommen, dass Analysen endlos weitergehen, weil sie auf der Grundlage einer Arbeit mit dem falschen Selbst durchgeführt werden. Im Fall eines männlichen Patienten, der schon ziemlich lange in Analyse gewesen war, bevor er zu mir kam, begann meine Arbeit mit ihm erst wirklich, als ich ihm klargemacht hatte, daß ich seine Nicht-Existenz erkannte. Er machte die Bemerkung, all die gute Arbeit, die im Lauf der Jahre mit ihm getan worden sei, sei vergeblich gewesen, denn sie sei auf der Basis geleistet worden, daß er existiere, während er nur falsch existiert habe. Als ich gesagt hätte, ich hätte seine Nicht-Existenz erkannt, habe er das Gefühl gehabt, es sei zum erstenmal eine Kommunikation mit ihm zustande gekommen. Was er meinte, war, daß sein wahres Selbst, das seit seiner Säuglingszeit versteckt gewesen war, jetzt mit seinem Analytiker in Kommunikation gewesen
war, und zwar auf die einzige Weise, die nicht gefährlich war.
Dies ist typisch für die Art und Weise, wie dieses Konzept die psychoanalytische Arbeit beeinflußt.
Ich habe von einigen weiteren Aspekten dieses klinischen Problems gesprochen. Zum Beispiel habe ich in 'Withdrawal and Regression' (»Rückzug und Regression«), 1954a, in der Behandlung eines Mannes die Entwicklung meines Kontakts mit (seiner Version von) einem falschen Selbst in der Übertragung über meinen ersten Kontakt mit seinem wahren Selbst bis zu einer direkten Analyse nachgezeichnet. In diesem Fall mußte der Rückzug in Regression verwandelt werden, wie ich es in der Abhandlung beschrieben habe.
Einen Grundsatz könnte man aufstellen: daß wir in dem Bereich unserer analytischen Praxis, der das falsche Selbst betrifft, feststellen, wir kommen besser voran, wenn wir die Nicht-Existenz des Patienten anerkennen, als wenn wir lange auf der Basis von Abwehrmechanismen des Ichs mit dem Patienten arbeiten. Das falsche Selbst des Patienten kann in der Analyse der Abwehr endlos Zusammenarbeiten, da es gewissermaßen in dem Spiel auf der Seite des Analytikers steht. Diese wenig lohnende Arbeit läßt sich nur mit Gewinn abkürzen, wenn der Analytiker auf das Fehlen irgendeines wesentlichen Zuges hinweisen und es spezifizieren kann: »Sie haben keinen Mund«, »Sie haben noch gar nicht angefangen, zu existieren«, »Physisch sind Sie ein Mann, aber Sie wissen aus Erfahrung nichts über Männlichkeit« und so weiter. Diese Erkenntnis wichtiger Tatsachen, die im richtigen Augenblick klargemacht werden, machen die Bahn frei für die Kommunikation mit dem wahren Selbst. Ein Patient, der lange eine vergebliche Analyse auf Grund eines falschen Selbst gehabt hatte, das eifrig mit einem Analytiker zusammenarbeitete, der geglaubt hatte, es sei sein ganzes, heiles Selbst, sagte zu mir: »Das einzige Mal, wo ich Hoffnung gespürt habe, war, als Sie mir sagten, Sie könnten keine Hoffnung sehen, und doch mit der Analyse fortfuhren.«
Auf dieser Grundlage könnte man sagen, das falsche Selbst (wie die vielfältigen Projektionen auf späteren Entwicklungsstufen) täuscht den Analytiker, wenn er nicht bemerkt, daß es dem falschen Selbst, wenn man es als eine ganze, funktionierende Person ansieht, so wohlgegründet es auch sein mag, an etwas fehlt, und daß dieses Etwas das wesentliche zentrale Element der kreativen Originalität ist.
Viele weitere Aspekte der Anwendung dieses Konzepts werden im Laufe der Zeit beschrieben werden, und es kann sein, daß das Konzept selbst in mancher Hinsicht geändert werden muß. Wenn ich über diesen Teil meiner Arbeit berichte (der Verbindung zur Arbeit anderer Analytiker hat), tue ich es, weil ich der Ansicht bin, daß dieses moderne Konzept vom falschen Selbst, das das wahre Selbst verbirgt, zusammen mit der Theorie seiner Ätiologie eine bedeutsame Wirkung auf die psychoanalytische Arbeit haben kann.
Soweit ich sehen kann, bringt es keine wesentliche Veränderung der Grundtheorie mit sich.
Quelle: Winnicott, Donald W. (1960). Ich-Verzerrung in Form des wahren und des falschen Selbst. In: Reifungsprozesse und Umwelt................., S. 185-199
Kerstin Weike:
"Nach Winnicott (1971) kann man den therapeutischen Prozess auch als Aequivalent zum Reifungsprozess beim Säugling und Kind betrachten (S. 248). Im Rahmen einer gelungenen Psychoanalyse oder Psychotherapie kann man im besten Fall das graduell vervollständigen, was in der ursprünglichen Entwicklung unvollendet geblieben ist.
Demgemäss besteht eine grosse Aehnlichkeit zwischen der Aufgabe von Therapeuten und der Aufgabe von Eltern (Winnicott 1971 S.190).
Noch eine weitere Parallele zwischen dem therapeutischen Prozess und der Kindheitsentwicklung zieht Winnicott, indem er behauptet, dass man nur im schöpferischen Prozess sich selbst finden kann. Dies bedeutet für die Therapie, dass sowohl der Analytiker als auch der Patient das „Spielen“ lernen. Dabei geht er „von dem Grundsatz aus, dass sich Psychotherapie in der Überschneidung zweier Spielbereiche vollzieht, dem des Patienten und dem des Therapeuten“ (Winnicott 1971, S. 65). Für ihn bedeutet Psychotherapie „nicht, kluge und geschickte Deutungen zu geben; im grossen und ganzen stellt sie einen langfristigen Prozess dar, in dem dem Patienten zurückgegeben wird, was er selbst einbringt. Psychotherapie hat im weitesten Sinne die Funktion des Gesichts, das widerspiegelt, was sichtbar ist. Ich betrachte meine Arbeit gern als einen solchen Vorgang und glaube, dass der Patient, wenn mir diese Arbeit gelingt, sein eigenes Selbst finden, leben und sich als real erleben kann.“ (Winnicott 1971 S.134)
Der Uebergangsraum
Unter “Uebergangsraum” versteht Winnicott den “Zwischenbereich des Erlebens, zu dem sowohl die innere Realität als auch das äussere Leben beitragen – ich untersuche daher das Wesen der Illusion, jenes Raumes, der dem Kleinkind zugebilligt wird und dem im Leben des Erwachsenen Kunst und Relition zugehhören.” Winnocott schreibt: “Ich hoffe, ich habe klar gemacht, dass ich nicht präzise vom Teddybären des kleinen Kindes spreche. Es geht mir um den ersten Besitz und um den Zwischenbereich zwischen dem subjektivem und dem, was objektiv wahrgenommen wird.”
"Die Sterne des Kindes sind - im Sinne Heinz Kohuts [in der indirekten Nachfolge zu Winnicott, Anmerkung M.F.] - die Augen der Mutter - und der Glanz des Glücks in ihnen, der auf das Kind zurückfällt und von ihm als Glücksversprechen und Gewissheit des eigenen Werts verinnerlicht wird. Die Mutter und die Welt sind anfangs eins, die Mutter gibt dem Kind im Rahmen dessen, was Margaret Mahler als die „psychische Geburt des Kindes“ bezeichnet hat, also in einem Akt fortgesetzter Schöpfung, seine Realität: Das Kind existiert, weil und insofern die Mutter es sieht. Der Augenkontakt der Mutter zu ihrem Baby stellt die intersubjektive Urform bereit, eine Art Matrix für alle späteren Beziehungen und Kommunikationen.
Der Säugling erfährt sich selber über das Gesicht der Mutter, das ihn anschaut und das sein erster Spiegel ist. Die Mutter leiht ihm ihre Augen. Wenn das Kind seinen Blick um sich herum schweifen lässt, spiegeln ihm die Dinge den mütterlichen Blick wider. Eine Mutter, die ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt und ständig „anderswo ist“, beraubt das Kind seines Realitätsbezugs und damit seiner Wahrheit". (Götz Eisenberg in: www.magazin-auswege.de – 15.2.2012 „Unterm Strich zähl‘ ich“)
Quelle: Weike, Kerstin (2007). Adoleszenzkonflikte in der Schule: Eine empirische Studie mit Ueberlegungen zu Schule als "potential space", S. ... - ...


Heinz KOHUT: Die Funktion des gesunden narzisstischen Systems
Berücksichtigt man die in nebenstehender Tabelle dargestellten Wechselwirkungen und dynamischen Veränderungen des Systems, lässt das Kohutsche Entwicklungs-Modell (hier in der modifizierten Version von Henseler 2000, S. 79) folgende Vorstellungen über die Funktionsweise des Regulationssystems zu:
Im Zentrum des Systems steht das reale Selbst. Es ist Träger des Selbstgefühls, erhält aber eine Rückendeckung, eine Art «Pufferung» durch das Ideal-Selbst, das in einer engen funktionellen Einheit mit dem realen Selbst gesehen werden muss.
Die Funktionseinheit aus realem Selbst und Ideal-Selbst steht im Mittelpunkt dreier Einflussmöglichkeiten:
1. den negativen oder positiven affektiven Besetzungen,
2. der Kritik bzw. dem Lob der realen-Objekte und
3. der Kritik bzw. dem Lob des Ich-Ideal/Ueber-Ich-Systems.
Aufgabe des Ich als regulierender Instanz ist es, zu vermitteln bzw. auszugleichen, d.h. für ein gesundes Selbstgefühl zu sorgen.
Bei Henseler lesen wir zu Kohuts Entwicklungstheorie weiterführend folgendes (Henseler 2000, S. 80):
Beobachtet man das narzisstische System, wie es konkret funktioniert, macht man einige wichtige Entdeckungen, die vom theoretischen Idealtypus abweichen. Das narzisstische System ist nämlich sehr regressionsanfällig, d.h. der Umgang mit uns selbst und unseren Objekten entspricht oft nicht dem Modell der reifsten Stufe; vielmehr können entwicklungsgeschichtlich frühere Mechanismen leicht wieder die Oberhand gewinnen. Derartige Regressionen, soweit sie flüchtig und unschwer reversibel sind, sind praktisch bei allen Menschen zu beobachten. Sie sind nicht nur nicht pathologisch; sie stehen vielmehr im Dienste des ICH, wie am Beispiel der narzisstischen Objektbeziehungen [gezeigt werden kann]:

Die Pathologie des narzisstischen Systems
Wie liegen die Verhältnisse nun bei einem Menschen, dessen narzisstisches System sich nicht so ungestört entwickeln konnte?
Zu erwarten ist, dass das zentrale Symptom eines gestörten narzisstischen Systems ein labiles Selbstgefühl sein muss. Die Dynamik narzisstischer Störungen läst sich am Umgang mit Kränkungen am besten studieren. Nach den theoretischen Erwartungen wird ein Mensch Kränkungen mit den Kompensationsmechanismen begegnen, die ihm aus seiner Entwicklung vertraut sind und sich bewährt haben. Vermutlich wird er sie in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Entstehung benutzen, also
1. die Realitätsprüfung und eventuell Realitätsangleichung sowie
2. den Rückzug auf verinnerlichte Idealbilder; wenn das nicht ausreicht,
3. die Verleugnung und die Idealisierung und wenn das nicht genügt,
4. Verschmelzungsphantasien und deren Agieren als Ausdruck der Regression auf den harmonischen Primärzustand.
DANIEL STERN und die 'Boston Study Group': Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung
"Schon wenige Wochen nach der Geburt kann dann beobachtet werden, dass der Säugling zu beiden Eltern eine Beziehung aufnimmt, der Vater tritt also nicht erst, wie Mahler meinte, in der Wiederannäherungskrise in der Mitte des 2. Lebensjahres in der Welt des Kindes in Erscheinung. Die Säuglingsforschung zeigte, dass der Säugling nicht zwangsläufig in einer symbioseähnlichen Dyade mit der Mutter lebt, sondern im Gegenteil schon im Alter von wenigen Wochen deutlich voneinander unterscheidbare Beziehungsmuster zu mehr als einer Bezugsperson haben kann und „zu triadischen und polyadischen Beziehungen befähigt ist“ (v.Klitzing 2002 S.868). Allerdings zerfallen solche tri- und polyadischen Formen im Säuglingsalter „schnell in mehrere dyadische, weil diese leichter zu stabilisieren sind“.
(...) Die Triangulierungsdynamik, wie sie sich unter der Perspektive der Säuglingsforschung darstellt, ist nun nicht mehr wie bei Melanie Klein von einer Enttäuschung an der versagenden Mutter ausgelöst oder durch die Aengste vor der Wiederverschlingung durch die Mutter der Wiederannäherungskrise bei Margaret Mahler erzwungen.
Die Säuglingsforschung beschreibt ein Baby, das, sofern es die Möglichkeit hat, von Beginn an bestrebt ist, mehrere Beziehungen zu unterschiedlichen Objekten aufzubauen und sich auch bald schon für die Beziehungen zwischen diesen interessiert.
Nun muss der triangulierende Dritte nicht notwendigerweise der Vater sein, diese Position kann auch durch andere Personen ausgefüllt werden oder, wie wir gesehen haben, durch in der inneren Welt der Mutter repräsentierte Objekte oder trianguläre Strukturen.
Der reale Vater ist allerdings deshalb besonders dazu prädestiniert, die Rolle des Dritten zu übernehmen, weil er besonders viele Bedingungen erfüllen kann, die Triangulierung ermöglichen und erleichtern: Er ist für die Mutter wie für das Kind ein wichtiges Objekt; auf ihn ist das Begehren der Mutter gerichtet, d.h. er hat besonders gute Chancen, die Aufmerksamkeit der Mutter vom Kind weg auf sich zu lenken; Mutter und Vater haben eine wechselseitige Beziehung, von der das Kind teilweise ausgeschlossen bleibt; Mutter und Vater haben besonders viele gemeinsame Phantasien über das Kind; der Vater hat das der Mutter entgegengesetzte Geschlecht und ist damit leicht als Kontrast zur Mutter wahrzunehmen; und der biologische Vater bleibt als Bezugsperson meist länger erhalten als ein Dritter in einer nicht biologisch basierten Beziehung zum Kind. Dazu kommt, dass das Vater-Mutter-Paar eine Grundfigur in einem kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit darstellt, Vater und Mutter verkörpern diese Grundfigur ideal, obwohl sie „nicht unbedingt von 'biologischen Vätern und Müttern' oder überhaupt von Männern und Frauen verkörpert zu werden“ braucht (Benjamin 1988 S.103)".
Quelle: Grieser, Jürgen (2003). Von der Triade zum triangulären Raum. In: Forum für Psychoanalyse 19: S.103
Daniel N. Stern’s „Entwicklung des Selbst“ - aus der Sicht von Thure von Uexküll et al. 1997 S.127–133:
Selbst- und Beziehungsentwicklung
Nach D. Stern (1991, 1992) wird die kindliche Entwicklung in den ersten beiden Jahren - also auch schon in der präverbalen Zeit - durch vier aufeinanderfolgende Selbstempfindungen oder -gefühle ("senses of self") als primäre organisierende und strukturierende Prinzipien gesteuert. Unter dieser Perspektive lassen sich mehrere Zeitabschnitte beschreiben, in denen sich auch besondere Formen intersubjektiver Bezogenheit ("domains of relatedness") herausbilden. Die Entwicklung, die also den "anderen" stets einbezieht, verläuft zwar in einer bestimmten reifungsbedingten Abfolge und die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf, aber die Selbst- und Beziehungsaspekte jeder einzelnen Phase bleiben in den weiteren Verwicklungen des gesamten Lebens - als steuernde und erlebbare Prinzipien - erhalten und wirksam (Bohleber 1989; Johnen 1990, 1991a, 1991b; Johnen und Cluss 1991; Köhler 1990; Schüssler und Bertl-Schüssler 1992a). Die im folgenden vor allem nach Stern zusammengefassten Erkenntnisse der Säuglingsforschung, die durch einige Ueberlegungen Sanders (1975) ergänzt werden, haben einen engen Bezug zur Ich-, Selbst- und Objektbeziehungspsychologie der Psychoanalyse.
"Welt der Gefühle"
In der Zeit von der Geburt bis zum dritten Monat kann von einem auftauchenden oder entstehenden Selbst ("sense of an emergent self" mit "domain of emergent relatedness") gesprochen werden. Die Grenzen zur Umwelt, zwischen innen und aussen, sind dabei noch unscharf. Das Leben setzt sich aus einzelnen Augenblicken zusammen, und die Gerichtetheit der Zeit wird noch nicht erfahren. Das Erleben findet in einzelnen Episoden statt und noch nicht vor dem Hintergrund eines zusammenhängenden Zeitflusses. Personen oder Gegenstände werden v.a. über die von ihnen hervorgerufenen unterschiedlichen Gefühle erlebt. Als erfahrbarer Raum gilt dem Säugling der Bereich, den er mit den Armen durchmessen kann. Dieser durch die motorischen Möglichkeiten definerte „Erlebnisraum" ist übrigens ein wesentlicher Aspekt der Konzentrativen Bewegungstherapie (Becker 1981; Müller-Braunschweig 1990a). In diesem Zeitabschnitt stehen folgende angeborene Eigenschaften und Fähigkeiten des Säuglings, die sich zum grossen Teil aus den genannten Motivationssystemen ableiten lassen, bereits zur Verfügung:
1. Es findet sich ein Nebeneinander mehrerer abgestufter Bewusstseinszustände ("states"), die unterschiedlichen physiologischen Aktivitätsabstufungen entsprechen und die Basis der verschiedenen Bedürfnisse bilden (Lichtenberg 1991a; Wolff 1966). So können Schreien, aufmerksame Wachheit, ruhige Wachheit, REM-Schlaf und Nicht-REM-Schlaf unterschieden werden. Beim Neugeborenen stellen zwar Schlafen und Stillen von Durst und Hunger wichtige Bedürfnisbefriedigungen dar, für das Erkunden der Umwelt und die Kontaktaufnahme zu den Pflegepersonen ist aber der Zustand der aufmerksamen Wachheit von entscheidender Bedeutung.
2. Von Geburt an besteht eine Tendenz zur aktiven Erkundung der Umwelt, ein Bedürfnis nach Reizaufnahme im Wachzustand mit bestimmten taktilen, visuellen, akustischen, gustatorischen, olfaktorischen, aber auch geometrischen Präferenzen (Stork 1986). Dies betrifft etwa bestimmte Geschmacksrichtungen oder vertraute Töne, v.a. aber Gesicht, Stimme und Geruch der Pflegeperson. Die Kontingenz von eigener Aktivität und Folgen in der Umwelt, auf deren Bedeutung schon Bettelheim (1983) hingewiesen hat, ist ein wichtiger Motivationsfaktor zur Anregumg sensomotorischer Systeme. Mit Recht wird diese Aktivität des Säuglings als eine "rudimentäre Form von Intentionalität" (Stork 1986, S. 14) bezeichnet. Beim Einstellen auf neue Reize spielen die Uebereinstimmung mit anderen Ereignissen (Bekanntheitsgrad) und der Zusammenhang von Ursache und Wirkung von Abläufen (Kausalität) eine grosse Rolle. Neben der Stimulationssuche besteht ebenfalls schon früh die Möglichkeit zur Regulation der Reizaufnahme und damit des Erregungsniveaus durch Abschirmung (Mikrovermeidungsmöglichkeiten), z.B. durch (Blick-)Abwendung, Wegstossen, Ins-Leere-Schauen oder Schreien (Brazelton und Cramer 1991; Brazelton et al. 1974). Bei der Regulation der Reizaufnahme spielt die Haut auch als Organ der Be- und Abgrenzung wahrscheinlich eine besonders wichtige Rolle. Dies wird nicht nur durch die Bedeutung der mütterlichen taktilen Kontaktaufnahme unmittelbar nach der Geburt nahegelegt, sondern auch durch das Verständnis einiger Hauterkrankungen als "frühe Störungen" und das bereits erwähnte "therapeutische Anfassen".
3. Nach Stern werden die angeborenen kategorialen Affekte von den Vitalitätsaffekten unterschieden. Als kategorial werden die reinen, durch bestimmte quantitative Reizmuster ausgelösten Affekte wie z.B. Ueberraschung, Traurigkeit oder Freude bezeichnet (Eibl-Eibesfeldt 1984; Krause 1983; Tomkins 1981). Bei den Vitalitätsaffekten handelt es sich um dynamisch-kinetische Handlungserfahrungen, die im Alter von 2 1/2 Monaten in den beiden Dimensionen Aktivierungsgrad und hedonische Tönung (d.h. Grad des Lust-Unlust-Charakters) fassbar sind. Als dritte Dimension kommt mit ca 4 1/2 Monaten - also erst im nächsten Abschnitt der Selbstentwicklung - die Möglichkeit zur Differenzierung nach der (internalen oder externalen) Herkunft des Auslösers hinzu. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass körperbezogene Therapieverfahren gewöhnlich zwar am Körpererleben und an Sinneswahrnehmungen ansetzen, dass sie aber durchaus auch mit dem Auftreten und Erleben von Affekten zu tun haben und diese verändern können. So sind bestimmte Körperwahrnehmungen mit den Affekten gekoppelt, die in der frühen Interaktion bedeutsam waren. Auch kann die Entdeckung der eigenen Körperwelt Affekte wie Freude und Ueberraschung, aber auch Trauer und Wut auslösen.
4. Primitive, aber differenzierte Wahrnehmungen in allen Sinnesmodalitäten sind von Geburt an möglich, wobei von allen Wahrnehmungsdimensionen zunächst der Intensität besondere Bedeutung zukommt. Im Alter von etwa 3 Wochen lässt sich eine transmodale Wahrnehmungsweise und -integration, also eine intersensorische Koordination (Schüssler und Bertl-Schüssler 1992a) belegen. Die durch die fünf Sinne wahrgenommenen Qualitäten können - mittels abstrakter Enkodierungen von Intensität, Zeitablauf, Rhythmus und Gestalt - ineinander übersetzt werden. So wird beispielsweise ein im Mund getasteter Schnuller von einem wenige Tage alten Säugling im Vergleich mit anders geformten Schnullern allein beim Anschauen "wiedererkannt". Oder es tritt eine Schreckreaktion auf, wenn das Kleinkind beim Anblick der Mutter eine andere Stimme hört. Durch diese transmodale Wahrnehmung wird die Entwicklung eines Gefühls für Uebereinstimmung (Stimmigkeit) und Zusammengehörigkeit, aber natürlich auch von Unterschiedlichkeit und Abgegrenztheit gefördert. Episoden und Objekte werden global erfasst, was der von Spitz (1989) beschriebenen "koenästhetischen Wahrnehmungsweise" entspricht. Die Wahrnehmungs- und Erfahrungseinheiten werden noch nicht in einzelne Elemente (Selbst, Objekt, Emotion und Kognition) differenziert.
Wie andere körperbezogene Therapieverfahren zielt auch die FE [Funktionelle Entspannung] auf das Erreichen dieser frühen Erfahrungseinheiten (Johnen 1991a). Zusammen mit dem Spuren des eigenen Körpers schaffen diese Erlebenseinheiten eine Verbindung zwischen Körpererleben, Emotion und Beziehung.
5. Auch einfache kognitive Funktionen sind bereits nach der Geburt vorhanden. Als frühe Lernformen können konditioniertes Lernen, Gewöhnung und Nachahmung genannt werden. So kann etwa die Mimik Erwachsener bereits im Alter von 3 bis 10 Tagen imitiert werden. Hierbei wird angenommen, dass der Säugling propriozeptiv das spürt, was er bei der Pflegeperson sieht und nachahmt. In den ersten Lebensmonaten steht handlungsorientiertes Lernen im Vordergrund, im Verlauf des 2. Lebensjahres wird über die innere Abbildungsfähigkeit von Sinneseindrücken schliesslich symbolische Repräsentation möglich. Was nun die auftauchende, die beginnende Beziehungsform angeht, bilden sich in den ersten 3 bis 4 Wochen wesentliche Elemente von Austausch, Abfolge und Ordnung innerhalb der Mutter-Kind-Dyade aus. Es entsteht eine erste Syntax der Konversation im Mutter-Kind-System (Sander 1975, 1983). Dabei handelt es sich um einen Dialog mittels non- und averbaler Kommunikationsweisen. Das Zusammenspiel, das Ineinandergreifen der Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Mutter und Kind wird als „fit" oder "match" bezeichnet.
"Wie von ungefähr will man das gleiche"(Stork 1986). Die Mutter steht dabei v.a. immer wieder vor der Aufgabe, Bedürfnisse und Verhalten des Kindes zu deuten und zu beantworten. Die Mutter erlebt Freude und Erfolgsgefühle beim Deuten und Befriedigen der kindlichen Bedürfnisse, der Säugling erlebt Wohlsein durch mütterliche Hilfe und Pflege. Störungen dieser frühen Interaktionen können zu schweren Beeinträchtigungen führen (Müller-Braunschweig 1990b). Sander (1975) hat die ersten drei Monate der Mutter-Kind-lnteraktion als "initiales Einspielen" bezeichnet. Die in diesem Abschnitt entstehende Basis für Zusammenspiel und zwischenmenschliches Vertrauen wird von der FE in der Weise berührt, als ein Gefühl von Stimmigkeit („fit" bzw. "match“) entstehen kann, wenn Körpererleben und Benennung in der therapeutischen Situation übereinstimmen (Johnen 1991b).
Neben der direkten Kommunikation zwischen Mutter und Kind kommt dem "Spielraum" (Winnicott 1958), dem "privaten Raum in der Zeit" (Sander 1983) eine besondere Bedeutung zu. Das Kind ist in Gegenwart einer anderen Person allein. Es befindet sich in einem Gleichgewichtszustand ohne innere oder äussere Anforderungen und kann seine ersten eigenen Initiativen entwickeln. Hier befinden wir uns bereits im Uebergangsbereich zum Kern-Selbst.
In den meisten Psychotherapien, insb. aber in den Körpertherapien (siehe Kap. 8) wie z.B. der FE (Funktionellen Entspannung) wird der Patient immer wieder ermutigt, in Gegenwart des Therapeuten, aber ohne dessen unmittelbares Eingreifen, das Eigenerleben seines Körpers im spielerischen Tun zu fördern.
Die Aufgabe dieser ersten Phase der Selbstentwicklung ist das Herstellen von Uebereinstimmung und Zusammengehörigkeit bei sich selbst, v.a. was den eigenen Körper angeht, und mit der Umwelt, v.a. im Hinblick auf die Mutter. Damit werden die Grundlagen für Sicherheit und Vertrauen gelegt.
"Welt der Kontakte"
Zwischen dem 3. und 7. Lebensmonat entsteht das Kern-Selbst ("sense of a core self" mit "domain of core relatedness"), das vier Bereiche umfasst, die allmählich eine Struktur bekannter und verlässlicher Erfahrungen bilden: Der "sense of agency" (Selbsttätigkeit) meint die Erfahrung von Urheberschaft und Aktivität, der "sense of affectivity" (Selbstaffektivität) das Erleben eigener Affekte und erwarteter Verhaltensweisen des "Anderen", der "sense of coherence" (Selbstkohärenz) bezeichnet das Erleben von physischer Ganzheit und der "sense of continuity" (oder "self-history", Selbstgeschichte) schliesslich die Erfahrung von Identität über die Zeit mit eigener Geschichte. An diesen Aspekten des Kern-Selbst lässt sich die Vorgehensweise der FE besonders gut veranschaulichen. Den "sense of agency" etwa erfuhr eine Patientin mit psychosomatischen Störungen erstmals in einer Therapiestunde, als sie spürte, dass sie mit ihrem sich beim Einatmen entfaltenden Rücken die Hand der Therapeutin wegdrücken konnte. Dieses Erlebnis löste bei ihr heftige emotionale Erschütterungen aus (Mitteilung von T. Woelk, zit. n. Müller-Braunschweig 1992b).
Weiter wird der "sense of coherence " dadurch angesprochen, dass die Arbeit an einem Teil des Körpers Veränderungen in anderen Körperteilen zur Folge hat, und der "sense of continuity" durch wiederholte Erfahrungen, die über die Zeit hinweg - etwa während einer längeren Behandlung mit der FE, aber natürlich auch bei anderen Formen der Psychotherapie - gemacht werden.
Von grosser Bedeutung sind in dieser Zeit erste Gedächtnisinhalte. Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung von Ereignissen erfolgen beim Kleinkind zunächst ganzheitlich. Sein Gedächtnis ist episodisch organisiert und enthält v.a. solche Wahrnehmungen, Stimmungen und Affekte, die in der Interaktion mit der Mutter von Bedeutung sind. Stern spricht von "sensomotorisch-affektiven Erfahrungseinheiten" (1979), Lichtenberg von "affektiven Handlungs-Reaktionsmustern" (1991a). Allmählich entstehen aus den Einzelepisoden ähnlicher Abläufe generalisierte Episoden, die die Struktur des Ablaufes von Ereignissen abbilden und die der im 2. Lebensjahr entstehenden symbolischen Repräsentation vorausgehen.
In dieser Zeit bilden sich verschiedene Rhythmen zwischen Mutter und Kind heraus, die von der Situation des Anblickens und Angeblicktwerdens - vermutlich im Anschluss an das Stillen - ihren Ausgang nehmen. Es kommt zu einem "Spiel", bei dem es darum geht, dass sich die Blicke von Mutter und Kind in einem überwiegend vom Kind bestimmten Rhythmus treffen. Das Verständnis dieser sich in Sekundenbruchteilen abspielenden Interaktionen war überhaupt erst mit den modernen Aufzeichnungs- und Analysemethoden möglich.
Die grosse Bedeutung, die physiologische und interaktionale Rhythmen bereits im Entwicklungsprozess der frühen Säuglingszeit haben, wird von der FE dadurch aufgenommen, dass sie Spüren und Verändern des Körpererlebens an den basalen, unwillkürliches und willkürliches Tun verbindenden Atemrhythmus koppelt (Fuchs 1989).
Folgende Interaktionsformen bzw. -rhythmen können bereits als Aspekte der Kernbezogenheit unterschieden werden:
1. Bei den alternierenden Episoden (Beebe 1985) erfolgt die Interaktion im Wechsel, also diachron. Die Zyklen des Rhythmus sind genau aufeinander abgestimmt, Stern spricht von "dyadischen Reiz-Reaktions-Prozessen" (1979) bzw. von "Reziprozität" (1991). Bei dieser Interaktionsform handelt es sich um einen "Vorläufer des Erwachsenendialoges" (Köhler 1990). Als Beispiel sei der Wechsel von Zu- und Abwenden genannt.
2. Die koaktiven Episoden (Beebe 1985) sind durch synchrone Interaktionen charakterisiert. Dabei handelt es sich nicht nur um zeitliche Simultanität, sondem auch um Uebereinstimmung im Hinblick auf Inhalt und Intensität der beteiligten Affekte. Stern (1979) spricht von einer "programmierten dyadischen Verhaltenssequenz". Dieses Zusammenspiel, das zu stark affektiv besetzten Bindungen führt, ist für die Entwicklung der Intimität von grosser Bedeutung. Gemeinsames Lachen kann hier beispielhaft angeführt werden.
3. Als weitere Form sozialer Handlungen ist der "Spielraum" (nach Winnicott und Sander) bereits genannt worden.
Sander (1975) nennt die Zeit vom 4. bis zum 6. Monat die des affektiven und psychosozialen "reziproken Austausches". Er betont, dass die immer wiederkehrenden Handlungsabläufe von Pflege, Ernährung und Spiel für die ersten motorisch-koordinativen Bewegungsabläufe und die kognitiven Funktionen des Kindes von grosser Bedeutung sind und darüber hinaus zu einer beglückenden Gegenseitigkeit führen. Hier sei auf die Bedeutung von sich regelmässig wiederholenden Handlungsabläufen in der verbalen Psychotherapie (Regelmässigkeit der Stunden, Therapieunterbrechungen als Krisenzeiten), aber auch in körperbezogenen Verfahren hingewiesen. In diesem zweiten Entwicklungsabschnitt sind das Einüben von sozialem Austausch, das Erleben von Bindung und Intimität wesentlich.
"Welt der Gedanken"
Zwischen dem 7. und dem 18. Monat entstehen das subjektive Selbst ("sense of a subjective self") und die subjektive Bezogenheit ("domain of intersubjective relatedness") Etwa ab dem 7. Monat ist das Kind zum Erleben mentaler Zustände (Gefühle, Motive, Intentionen) fähig. Es merkt, dass es hinter dem (äusseren) Verhalten ein (inneres) Erleben, "seine eigene private Gedankenwelt" (Stern 1991) gibt. Dazu trägt die sogenannte Affektabstimmung ("affect attunement") wesentlich bei, bei der die Mutter die beim Kind wahrgenommenen Gefühlszustände in einer anderen Weise, nämlich in einer anderen Sinnesmodalität widerspiegelt und damit sein Erleben bestärkt. Dieser Vorgang setzt bei beiden Interaktionspartnern die bereits erwähnte transmodale Wahrnehmung voraus. An die Stelle der Imitation des Kindes durch die Mutter tritt "ein Eingehen und Sicheinstellen der Mutter auf das, was im Inneren des Kindes vor sich geht" (Köhler 1986, S. 87) oder - präziser formuliert - auf die in seinem Verhalten zum Ausdruck kommenden Vitalitätsaffekte. Dadurch wird auch das Erleben und Wiedergeben der mentalen Zustände des anderen, das Teilen gemeinsamer und das Erleben unterschiedlicher Erfahrungen auf präverbaler Ebene möglich. Mit der affektiven Einstimmung beginnt nicht nur die Bedeutungsvermittlung, die beim späteren Erwerb von Symbolisierungsfähigkeit und Sprache fortgesetzt wird, sondern es werden auch die Kommunikationsfähigkeit und die Intersubjektivität weiterentwickelt. Für die Intersubjektivität sind neben den genannten gemeinsamen Affektzuständen v.a. gemeinsame Intentionen und die gemeinsame Aufmerksamkeit von Bedeutung.
Etwa mit dem 8. Lebensmonat, in der Zeit also, in der das Kleinkind sich durch die beginnenden Fortbewegungsmöglichkeiten auch in Gefahr bringen kann, tritt das Erleben von Furcht erstmals auf. Damit einhergehend erhalten die Affekte, die zuvor ausschliesslich der Aktivierung der Pflegepersonen dienten, auch eine direkte Bedeutung für das Kind selbst. Neben die kommunikativ-soziale Funktion nach aussen tritt die Signalfunktion nach innen (Köhler 1986). Zur "Welt der Gedanken" gehören auch die beginnende kognitive Funktion des Ueberprüfens von Hypothesen und Erwartungen sowie die Vorgänge des Spezifizierens bzw. Generalisierens.
Für den Zeitraum der Entwicklung von subjektivem Selbst und intersubjektiver Beziehung stellt Sander (1975) drei Aspekte heraus. Zunächst verweist er für die Zeit des 7. bis 9. Monats auf "erste Initiativen", die der Säugling innerhalb des mütterlichen Sicherheits- und Umsorgungssystems ergreift. Diese Eigeninitiativen begleitet die Mutter mit ermutigender Unterstützung oder Einspruch. Zwischen dem 10. und 13. Monat ist die "Verfügbarkeit der Mutter", deren Manipulierbarkeit und Grenzen das Kleinkind gleichzeitig austestet, von grosser Bedeutung. Erfahrungen und - v.a. soziales - Lernen werden von den mütterlichen Reaktionsweisen geformt. Die anschliessende Zeit bis etwa zum 20. Monat nennt Sander die "Phase der Selbstdurchsetzung". Das Kind entdeckt eigene Handlungsmotivationen, die z.T. in Konflikt mit den mütterlichen Motiven geraten. Ein Ueberwiegen der Eigenmotivation fördert jeweils die Entwicklung der kindlichen Autonomie. In diesem Zeitabschnitt entfalten sich also v.a. Grundlagen der Intersubjektivität und die Fähigkeit zur Empathie.
"Welt der Wörter"
In der Zeit ab dem 15 Monat bildet sich das verbale Selbst ("sense of a verbal self" mit "domain of verbal relatedness"). Im einzelnen entstehen v.a. die Fähigkeiten zu Selbstreflexion und symbolischer Repräsentation sowie - im engen Zusammenhang damit - zum Produzieren und Begreifen von Sprache. Mit dem Spracherwerb entstehen neue Möglichkeiten der Verständigung. Sander (1975) spricht von "shared awareness", Stern (1992) vom "Teilen von Bedeutungen". Mit der Herausbildung von Symbolisierung und Sprache entsteht zunächst zum episodischen das semantische Gedächtnis (Tulving 1983). Dieses ist nach Begriffen und Symbolen, nach Regeln und Klassen geordnet. Es enthält nicht Einzelerlebnisse, sondern Verallgemeinerungen, also Wissen und nicht nur Erinnerungsspuren. Seine Struktur ist verbal und symbolisch und nicht – wie die des episodischen Gedächtnisses – präverbal und sensorisch.
Die Entstehung der Symbolisierungs- und Sprachfähigkeit, die Ausbildung der "semiotischen Funktion" (Piaget und Inhelder 1991), markiert einen durchaus zwiespältigen Entwicklungsschritt, da das frühere ganzheitliche Erleben von dieser Zeit an dual kodiert wird bzw. zwei Bereichen angehört, dem vorsprachlich erfahrbaren und dem symbolisier- und verbalisierbaren (Schmoll und Haltenhoff 1993). Stern spricht von "parallelen Wirklichkeiten". Vermutlich können nicht alle Erfahrungen auch symbolisch repräsentiert werden, was wohl besonders für die Gefühlszustände und die interpersonellen Erfahrungen zutrifft. Nach Lichtenberg (1991a) zerfällt das kindliche Selbst in ein "erlebendes" und ein "begriffliches Selbst", was an die Gegenüberstellung Freuds (1915) von den "Sach-" und "Wort-vorstellungen" erinnert (vgl. Loewald 1986). Kleinkinder bewegen sich über einen längeren Zeitraum zwischen diesen beiden – präverbalen bzw. verbalen – Formen des Selbsterlebens und der Bezogenheit hin und her, Stern (1992) spricht von einer "Krise des Selbstverständnisses". Die ursprünglichen Erfahrungseinheiten werden nicht mehr global, sondern zunehmend distinkt in ihren einzelnen Kategorien Wahrnehmung, Kognition und Handlung erlebt. Insgesamt ergibt sich durch Reflexion und Symbolisierung für das Kleinkind eine neue Struktur der Wirklichkeit, wozu auch das Erleben der Zeit und ihrer Gerichtetheit gehört.
In der Terminologie des Situationskreiskonzeptes beginnt in dieser Zeit die Entsteheung einer je "individuellen Wirklichkeit" (v.Uexküll und Wesiack 1988).
An der Reaktion des Kindes auf sein Spiegelbild lässt sich die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit am Beispiel der Selbstrepräsentation gut verfolgen (Lichtenberg 1991a). Gegen Ende des ersten Lebensjahres ruft das Spiegelbild – wie andere neue Erfahrungen auch – zunächst ein durch Freude und Interesse charakterisiertes Verhalten hervor. Eine im Gesicht des Kindes angebrachte Markierung führt ebensowenig zu einer besonderen Reaktion wie ein verzerrtes Spiegelbild. Zu Beginn des zweiten Jahres ist das Verhalten angesichts des eigenen Spiegelbildes durch Ernst und geringere Aktivität gekennzeichnet. Eine verzerrte Wiedergabe wird bemerkt, und ein Farbklecks auf Stirn oder Nase wird auf dem Spiegel, nicht aber im eigenen Gesicht berührt. Im Alter von 15 – 22 Monaten schliesslich berührt das Kleinkind den Farbfleck in seinem Gesicht.
An diesen Verhaltensänderungen lässt sich ablesen, dass das Spiegelbild zunächst als Auslöser einer handlungsbezogenen Reaktion aufgefasst wird. Erst nach einem Uebergangsstadium, in dem das Bild zu einem Anschauungsobjekt "da draussen" geworden ist, an dem nun auch Veränderungen festgestellt werden, kann es als Spiegelung des Selbst wahrgenommen werden. In ähnlicher Weise dürfte auch der Aufbau der anderen Selbstrepräsentanzen sowie der Objektrepräsentanzen ablaufen. Dieser Prozess führt im Verlauf der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres allmählich zu einer Konstituierung des "ganzheitlichen Selbst" (Lichtenberg) und zu einer sicheren Differenzierung zwischen dem Selbst und der "Welt der Objekte" (E. Jacobson 1973).
Die Wirksamkeit körperbezogener Psychotherapieverfahren kann dadurch erklärt werden, dass sie einen methodisch angeleiteten Weg zum Wiedererleben der globalen, ganzheitlichen Wahrnehmungsweise aufzeigen (vgl. Kap. 11). So können bei der FE durch Kopplung an den (Atem-)Rhythmus, durch wenige Wiederholungen kleinster Veränderungen und durch Nachspüren (Fuchs 1989) unbewusste, dem willkürlichen Zugriff entzogene körperliche Funktionen und Haltungen erreicht und evtl. verändert werden. Nach Sander (1975) entwickeln Mutter und Kind in der Zeit des verbalen Selbst, v.a. aber zwischen dem 24. und 30. Monat eine neue Ebene der Gegenseitigkeit, die besonders durch "Anerkennung" gekennzeichnet ist. Das mütterliche Verständnis für die zunehmende Aktivität und Expansivität des Kindes, aber auch das Bereithalten von Geborgenheit fordern die Lösung von ihr und das Entstehen von Selbstkonstanz.
Zusammengefasst sind die Möglichkeiten zur Symbolisierung und zur sprachlichen Verständigung die Hauptcharakteristika dieses vierten Lebensabschnittes.
Die Mahlerschen Postulate (siehe oben), insbesondere dasjenige des frühkindlichen Autismus, wurden in den 1980 und '90er Jahren v.a. von Daniel Stern und W. Lichtenberg empirisch und theoretisch gründlich widerlegt bzw. relativiert. Gemäss diesen Autoren (u.a.) sind Babys bereits in den ersten Wochen zu differentieller Wahrnehmung fähig.
Daniel Stern modifizierte deshalb die Mahlersche Entwicklungstheorie in den angesprochenen Punkten (siehe Stern 1991 und 1992 oder auch Petzold 1993). Sterns Konzeption postuliert einen "aktiven", "kompetenten" Säugling:
Nach Daniel Stern (1991 und 1992) wird die kindliche Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren, also auch schon in der präverbalen Zeit, durch vier aufeinanderfolgende Selbstempfindungen oder -Gefühle ("senses of self") als primär organisierende und strukturierende Prinzipien gesteuert. Unter dieser Perspektive lassen sich mehrere Zeitabschnitte beschreiben, in denen sich auch besondere Formen intersubjektiver Bezogenheit ("domains of relatedness") herausbilden. Die Entwicklung, welche den "anderen" also stets einbezieht, verläuft zwar in einer ganz bestimmten reifungsbedingten Abfolge, aber die Selbst- und Beziehungsaspekte jeder einzelnen Phase bleiben in den nachfolgenden Lebensabschnitten, als steuernde und erlebbare Prinzipien, erhalten und wirksam:
1. "Welt der Gefühle"
In der Zeit von der Geburt bis zum dritten Monat kann von einem auftauchenden oder entstehenden Selbst ("sense of emergent self") gesprochen werden. Die Grenzen zur Umwelt, zwischen innen und aussen, sind dabei noch unscharf. Das Leben setzt sich aus einzelnen Augenblicken zusammen, und die Gerichtetheit der Zeit wird noch nicht erfahren. Das Erleben findet in einzelnen Episoden statt und noch nicht vor dem Hintergrund eines zusammenhängenden Zeitflusses. Personen oder Gegenstände werden v.a. über die von ihnen hervorgerufenen, unterschiedlichen Gefühle erlebt.
Die Aufgabe dieser ersten Phase der Selbstentwicklung ist das Herstellen von Uebereinstimmung und Zusammengehörigkeit bei sich selbst, v.a. was den eigenen Körper angeht, und mit der Umwelt, v.a. im Hinblick auf die primäre Bezugsperson. Damit werden die Grundlagen für Sicherheit und Vertrauen gelegt (vgl. auch Erikson 1982).
2. "Welt der Kontakte"
Zwischen dem 3. und dem 7. Lebensmonat ensteht das Kern-Selbst ("sense of a core-self"), welches vier Aspekte umfasst:
- Selbsttätigkeit (Erfahrung von Urheberschaft, vgl. Bandura’s "self-efficacy-expectation")
- Selbstaffektivität (Erleben eigener Affekte und erwarteter Verhaltensweisen des "Anderen")
- Selbstkohärenz (Erleben der eigenen physischen Ganzheit)
- Selbstgeschichte (Erfahrung von "Identität" über die Zeit mit eigener Geschichte)
In diesem zweiten Entwicklungsabschnitt sind das Einüben von sozialem Austausch, das Erleben von Bindung und Intimität wesentlich.
3. "Welt der Gedanken"
Zwischen dem 7. und dem 18. Monat entsteht das subjektive Selbst und die subjektive Bezogenheit. Das Kind merkt, dass es hinter dem "äusseren" Verhalten ein "inneres" Erleben, "seine eigene private Gedankenwelt" (Stern 1991) gibt. Die Fähigkeit der Affektabstimmung ("affect attunement") wird ebenfalls in dieser Phase erworben.
In diesem Zeitabschnitt entfalten sich also v.a. Grundlagen der Intersubjektivität und die Fähigkeit zur Empathie.
4. "Welt der Wörter"
In der Zeit ab dem 15. Monat bildet sich das verbale Selbst. Im einzelnen entstehen die Fähigkeit zu Selbstreflexion und symbolischer Repräsentation sowie zum Produzieren und Begreifen von Sprache ("Teilen von Bedeutungen", Stern 1991). Wichtig ist ebenfalls, dass jetzt zusätzlich zum episodischen das semantische Gedächtnis (sensu Tulving) entsteht. Diese Ausbildung der "semiotischen Funktion" (sensu Piaget) markiert einen durchaus zwiespältigen Entwicklungsschritt, da das frühere ganzheitliche Erleben von dieser Zeit an dual codiert wird. Insbesondere Gefühlszustände und interpersonale Erfahrungen können oft nicht symbolisch repräsentiert werden. Nach Lichtenberg (1991) zerfällt deshalb das kindliche Selbst in ein "erlebendes" und ein "begriffliches" Selbst (Stern spricht von "parallelen Wirklichkeiten").
Der Uebergang in dieser Symbolisierungskrise (Piaget: erreichen des operationalen Stadiums) bedeutet also auch einen Verlust von von unmittelbarem Empfinden, weil von jetzt an die sprachliche Symbolisierung sozusagen neben dem Erleben herläuft und somit analoge in digitale Information umgewandelt wird. Das Wiedergewinnen dieser frühkindlichen, "unbewussten" Fähigkeit zu ganzheitlicher Wahrnehmung ohne sofortige Interpretation ist oft ein zentrales Anliegen in Psychotherapien.
Zusammengefasst sind die Möglichkeiten zur Symbolisierung und zur sprachlichen Verständigung die Hauptcharakteristika dieses vierten Lebensabschnittes.
Das Kind hat somit die von den meisten Erwachsenen geteilte Welt der sprachlichen Kommunikation bereits erreicht, obwohl es natürlich selber noch kein solcher ist.
Die weiteren Entwicklungsschritte sind ab zwei Jahren bereits so individuell, dass sie nicht mehr in allgemeingültige Phasen eingeteilt werden können (Stern 1991, Lichtenberg 1991, Petzold 1993 u.a.), obwohl beispielsweise Erik Erikson eine heuristisch nützliche Konzeption einer "lebenslangen" Entwicklung erstellt hat (Erikson 1982).
Quelle: Stern, Daniel N. (1985). Die interpersonale Welt des Babys. Stuttgart: Klett-Cotta
Entwicklung des Kindes aus Sicht der Intersubjektivitätstheorien
Welches Interesse hat ein Subjekt, den Anderen zu entdecken, wenn nicht mehr Triebabfuhr alleiniges Movens ist, soziale Kompetenzen zu entwickeln? Oder muss der Andere gar nicht erst entdeckt werden, sondern ist existentielle Voraussetzung für die individuelle Entwicklung?
Es gibt dazu unterschiedliche Erklärungstheorien, einige gehen von einer stärker genetischen Ausstattung des Säuglings aus, andere beschreiben den Erwerb der intersubjektiven Kompetenz ausschliesslich sozial. Zu den ersteren gehört Stein Bråten mit seiner Idee eines inneren „virtuellen Anderen“ (vgl. Dornes 2002).
Danach ist das sich entwickelnde Selbst von Beginn an intrapsychisch dyadisch konstruiert, es erwartet den Anderen, um ihn in seinen inneren Raum einzulassen.
Der spätere reale Andere betritt den intersubjektiven Raum, der bereits innerlich existiert und nur noch ausgestaltet werden muss.
Stephen A. Mitchell beschreibt den „Ausgestaltungsprozess“ dann so: „Am Anfang steht eine relationale, eine soziale, eine sprachliche Matrix, in der wir uns selbst erst entdecken. Innerhalb dieser Matrix bildet sich die individuelle Psyche bzw. sie kristallisiert sich heraus, mitsamt subjektiv erlebten inneren Räumen. Mit anderen Worten: Zwischenmenschliche Beziehungen generieren intrapsychische Beziehungen, die auf zwischenmenschliche Beziehungen verändernd zurückwirken, wodurch sich die intrapsychischen Beziehungen verändern und so weiter.“ (Mitchell 2000, 99f.)
Jessica Benjamin spezifiziert die Entstehung der intersubjektiven Kompetenz als eine sich entwickelnde Kompetenz: Das Selbst erwirbt ein Bewusstsein von sich als handelnder Person durch die Interaktion, durch den Blick des Anderen auf sich selbst. Benjamin spricht von der existentiell notwendigen Anerkennung durch ein anderes Subjekt, also einer wechselseitigen Anerkennung zweier Subjekte.
Donna Orange et al. (2006) gehen einen Schritt weiter: „Dagegen haben wir den Begriff Intersubjektivität immer für ein Feld oder ein System reserviert, das sich im Zusammenspiel zwischen zwei oder mehreren Erfahrungswelten konstituiert, die ihrerseits relational verfasst sind.
Das Dogma von der abgeschlossenen Psyche haben wir mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen und stattdessen jene in einem radikal-phänomenologischen Sinn lebensweltlicher Zusammenhänge zu erfassen gesucht, aus denen sich all unsere Selbst- und Beziehungserfahrungen zusammensetzen.“ (161 f.) Nach dieser Vorstellung wird die intersubjektive Kompetenz des Kindes ausschließlich durch soziale Interaktion erworben, sie sind Ko-Konstruktionen der jeweiligen Beziehungspartner. Bewusste und unbewusste Erfahrungen liegen zwischen und nicht in den Subjekten.
Für welche Sichtweise man sich auch entscheidet: die systemtheoretische oder die Relation zweier Subjekte, auf jeden Fall aber werden die Erwartungen und Bedürfnisse des Subjekts durch diejenigen der Interaktionspartner/innen modifiziert. Stern fasst die Forschungslage so zusammen: „Die entwicklungspsychologischen Befunde zeigen, dass der Säugling mit seiner Geburt in eine intersubjektive Matrix eintritt … Mit der Entwicklung neuer Fähigkeiten und dem Erwerb neuer Erfahrungen gleitet der Säugling in die intersubjektive Matrix hinein, die ihrer eigenen Ontogenese folgt.“ (Stern 2005, 103)
Quelle: Mittelsten Scheid, B. (2012). Die Bedeutung der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse für eine gruppenanalytische Supervision. In: Dinger, W. (Hrsg.). Gruppenanalytisch denken – supervisorisch handeln - Gruppenkompetenz in Supervision und Arbeitswelt. Kassel: Uni-Selbstverlag.
BOWLBY: Bindungstheorie
Die Bindungstheorie untersucht die normale und sog. unsichere Form früher Bindungen. Sie erklärt, wie unter negativen Umständen abnormale frühe Bindungen den negativen Aspekt früher Erfahrungen und negative Affekte verstärken können, sodass das negative Segment der frühen Erfahrung prädominant wird und in der depressiven Phase keine Integration erfolgt.
Kurz zusammengefasst: Der Mutter kommt eine wichtige Funktion zu in der Organisation des Affekts des Babys. Wenn das Baby zum Beispiel entsetzliche Angst zeigt und die Mutter verständnisvoll reagiert - „Du hast Angst, Du fürchtest Dich, hast Angst ...“, also empathisch gegenüber der Angst des Babys ist und sie versteht, dann zeigt sie eine konkordante Reaktion und zugleich aber auch, durch ihre ruhige Art, dass sie diese Angst nicht teilt. Das ist die normale Reaktion der Mutter. Wir nennen sie kongruent, aber markiert.
Hat jedoch auch die Mutter entsetzliche Angst und reagiert sie ängstlich - „Du hast Angst, Du bist erschrocken, Du hast Angst...“, dann ist dies auch eine kongruente Reaktion, aber sie ist nicht markiert und verstärkt das Angstgefühl des Babys. Eine ständige kongruente, aber nicht markierte Reaktion verstärkt dann die negative Affektzone.
Oder aber, das Baby hat Angst und die Mutter reagiert gleichgültig - „Ah, Du hast Bauchweh, Du hast Bauchweh ...“, dann ist die Reaktion markiert, aber nicht kongruent, und das Baby fühlt sich nicht verstanden. Auch das verstärkt die negative Reaktion. Das heisst also, eine unsichere Bindung, die sich aufgrund chronischer abnormaler Interaktionen in der frühen Bindung entwickelt, verstärkt das negative Segment der Affekte und führt zu einer Verstärkung des aggressiven Teils des inneren Erlebens, das weiterhin die Spaltung benötigt. Und somit bleibt diese frühe Situation stabil und gelangt nicht zur normalen Integration. Hier haben wir also bei abnormaler Bindung ein wichtiges ätiologisches Element für die chronische Prädominanz des aggressiven Sektors bei der Entwicklung einer inneren Welt.
Weiterführendes: Fonagy Peter (2006). Bindungstheorie und Psychoanalyse. Klett-Cotta, Stuttgart
Bindungstheorie aus kognitiv-behavioraler Sicht (Klaus Grawe 2000)
"Das Bindungsmotiv kann als Grundbedürfnis im Sinne von Epstein und das „innere Arbeitsmodell“ als die auf dieses Bedürfnis bezogenen motivationalen und deskriptiven Schemata aufgefasst werden. Vielleicht wäre es tatsächlich sinnvoll, die auf dieses Gmndbedürfnis bezogenen motivationalen Schemata als Beziehungsschemata zu spezifizieren.
Ungünstige Beziehungsschemata entwickeln sich nach diesen Vorstellungen dann, wenn entweder die Erreichbarkeit der Bezugspersonen nicht gegeben ist oder wenn auf seiten der Bezugspersonen mangelnde „Feinfühligkeit“ besteht, wenn also die Bezugspersonen entweder konsistent oder inkonsistent-unvorhersehbar nicht zugänglich sind.
„Die Abweisung führt zu einer emotionalen Entfremdung des Kindes von der Bindungsperson, die Unvorhersagbarkeit macht es übermässig abhängig von ihr, d.h. das Bindungssystem ist wegen der Angst vor Verlust der Bindungsperson chronisch aktiviert. In einer ungestörten Bindungsbeziehung erhält das Kind Trost, Fürsorge und Schutz, wenn es danach verlangt, es kann aber auch seiner Neugier und seinen sozialen Wünschen nach neuen Bekanntschaften nachgehen, ohne von der Bindungsperson ungebührlich gehindert oder gar dafür bestraft zu werden“ (Grossmann 1990 S.232).
Mary Ainsworth und Mitarbeiter (Ainsworth et al.1978) entwickelten ein standardisiertes Beobachtungsverfahren zur Untersuchung, wie Kinder auf Trennung von ihren primären Bezugspersonen reagieren. Dabei werden in der Regel Kinder zwischen 11 und 20 Monaten untersucht. Mit diesem Beobachtungsverfahren wurden später auch von vielen anderen Arbeitsgruppen empirische Untersuchungen zum Bindungsverhalten durchgeführt (s.dazu die Ueberblicke bei Schmidt/Strauss 1996, sowie bei Strauss/Schmidt 1997). Aus diesen Untersuchungen schälten sich vier immer wieder vorkommende Bindungsmuster heraus, die nach den gerade vorangegangenen Ueberlegungen gewissermassen als Momentaufnahme der bis dahin entwickelten Beziehungsschemata der untersuchten Kinder angesehen werden können:
1. Kinder mit sicherem Bindungsverhalten. Sie reagieren mit Beunruhigung auf eine Trennung von der Mutter und suchen sofort ihre Nähe, wenn sie wiederkommt. Dieses Bindungsmuster geht mit einem guten Urvertrauen einher und ermöglicht die Entwicklung konfliktfreier intentionaler Schemata zur Befriedigung des Bindungsbedürfnisses.
2. Kinder mit unsicherer Bindung und vermeidendem Beziehungssverhalten. Sie vermeiden nach einer Trennung Nähe und Kontakt zur Mutter und reagieren schon auf die Trennung selbst nicht mit der bei sicher gebundenen Kindern üblichen Beunruhigung.
3. Kinder mit unsicherer Bindung und ambivalentem Beziehungsverhalten. Diese Kinder sind während der Trennung sehr verängstigt und wechseln nach Rückkehr der Mutter zwischen einer aggressiven Ablehnung des Kontaktes und der Suche nach Nähe. Diese Kinder sind nach der Trennung ganz mit der Beziehung beschäftigt und unfrei für andere Aktivitäten.
4. Kinder mit unsicherer Bindung und desorganisiert/desorientiertem Beziehungsverhalten (Main 1991). Diese Kinder reagieren auf Trennung von und Rückkehr der Bindungsperson mit bizarren und stereotypen Verhaltensweisen.
In den Untersuchungen von Ainsworth et al.(1978) zeigten zwei Drittel der Kinder das sichere Bindungsmuster. Immerhin haben aber ein Drittel der Kinder einer unausgelesenen (amerikanischen) Population schon im Alter zwischen 11 und 20 Monaten ein Beziehungsverhalten, das stark durch Vermeidung und/oder negative Emotionen gekennzeichnet ist. Diese Kinder haben also bereits in diesem jungen Alter rudimentäre Vermeidungsschemata, die auf den weiteren Verlauf ihrer Beziehungserfahrungen ungünstigen Einfluss nehmen. Main, Kaplan und Cassidy (1985) sowie Grossmann und Grossmann (1991) haben Kinder, deren Bindungsmuster zwischen 11 und 20 Monaten untersucht worden waren, etwa fünf Jahre später, im Alter von sechs Jahren, nachuntersucht. Es zeigte sich, dass bei etwa 80% der Kinder das Bindungsmuster über diesen Zeitraum stabil geblieben war.
Zwischen Kindern mit sicherem und unsicherem Bindungsmuster fanden sich in Untersuchungen im Vorschulalter bedeutsame Unterschiede im Spielverhalten, im sozialen Kontaktverhalten, in der Ausgewogenheit und Flüssigkeit der Kommunikation, in Autonomie und Selbstvertrauen (Erickson/Sroufe/Egeland 1985, Grossmann et al.1985, Main/Kaplan/Cassidy 1985, Renken et al. 1989). Die Unterschiede waren immer zugunsten der Kinder mit sicherem Bindungsmuster.
Was führt zu einem unsicheren Bindungsmuster? Nach den Untersuchungen von Ainsworth et ah (1978) und von Grossmann et al.(1985/1989) ist dies mangelnde Verfügbarkeit der primären Bezugspersonen einerseits und geringe „mütterliche Feinfühligkeit“ andererseits. Feinfühligkeit bedeutet dabei, die Reaktionen und Verhaltensweisen des Säuglings überhaupt wahrzunehmen, sie aus Sicht des Säuglings, nicht aus eigener Sicht zu interpretieren, prompt auf das Verhalten des Säuglings zu reagieren, sodass er erfährt, dass sein Verhalten wirksam ist (er macht Kontrollerfahrungen (...) und dem Entwicklungsstand des Säuglings angemessen zu reagieren. Säuglinge mit feinfühligen Müttern zeigen weniger Aergerausdruck, reagieren weniger ängstlich und aggressiv und kommunizieren differenzierter.
Die Beziehungserfahrungen eines Menschen schon in den ersten Lebensmonaten legen also die Grundlage für Beziehungsschemata, die dann ihrerseits schon sehr früh auf das Beziehungsverhalten des Kindes so Einfluss nehmen, das eine diese Schemata bestätigende Rückmeldung wahrscheinlich ist. Einen entscheidenden Einfluss darauf hat die Verfügbarkeit und insbesondere die Feinfühligkeit dei primären Bindungspersonen des Säuglings und Kleinkindes. Deren Feinfühligkeit wiederum ist ein Resultat ihrer eigenen frühkindlichen Beziehungserfahrungen. Benoit und Parker (1994) untersuchten den Bindungsstil von Müttern mit dem 'Adult Attachment Interview', einem inzwischen sehr viel eingesetzten Instrument zur Erfassung von Bindungsmustem bei Erwachsenen. Sie konnten aus der Kenntnis des so festgestellten Bindungsstils der Mutter in 81% der Fälle Voraussagen, was für eine Bindungsqualität diese Mütter mit ihrem Kind hatten. Sogar der Bindungsstil der Grossmutter sagte zu 75% das Bindungsmuster ihrer Enkel voraus! Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Main et al. (1985) sowie Grossmannn et al. (1989). Da fällt einem ein, was Goethe seinem Prometheus in den Mund legte: "Es ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären" (Grawe 2000 S.397-399).
Mentalisierungsbasierte Entwicklungstheorien (Fonagy/Target et al.)






Quelle: Schultz-Venrath, U. (2010). Vortrag übers Mentalisieren an den Lindauer Psychotherapietagen
Quelle: Euler, Sebastian (2016). Vortragsskripte übers Mentalisieren (MBT) am Basler Kantonsspital und an der ETH in Zürich
Entwicklung nach dem "relational turn": wechselseitige Anerkennung statt Oedipus
Jessica Benjamin: Balance von Mütterlichem und Väterlichem
In der Vision einer Balance von »mütterlichen« und »väterlichen« Seiten, einer »Doppelherrschaft« von Ich-Ideal und Ueber-Ich erkennt Jessica Benjamin auch die Möglichkeit einer »Rehabilitierung des Narzissmus«, der in seinen beiden pathologischen Entwicklungsformen, dem Solipsismus auf der einen und der Symbiose (Verschmelzung) auf der anderen Seite nicht dem väterlichen beziehungsweise dem mütterlichen Pol zuzuordnen sei.
Auch der Narzissmus treibe vorwärts und sei nicht nur die Sirene, die in den archaischen Abgrund der Regression lockt. Da er dem Bedürfnis nach Verleugnung der faktischen Abhängigkeit entspreche, sei diese Aufteilung verhängnisvoll und verstelle den Weg zur Konzeptualisierung eines psychischen Gleichgewichts von Ich-Ideal und Ueber-Ich, in dem beide Strukturen jeweils väterliche und mütterliche Anteile haben.
Das ödipale Modell der Entwicklung enthalte eine latente Abwertung der Mutter und ihrer haltenden Funktion und eine Ueberbewertung des Vaters und seiner Autoritätsrolle. Wenn die Auflösung der ödipalen Situation aber eine Differenzierung von Subjekt und Objekt fördern solle, gelinge das nicht ohne die Anerkennung der Mutter. Der Junge müsse nicht nur erkennen, dass die Mutter zum Vater gehört und ihm als Sexualobjekt verwehrt wird, er müsse sie auch anerkennen »als ein Subjekt mit eigenem Begehren [und eigenem 'Recht'], als eine Person mit eigenem Willen« (S.160). Diese Anerkennung setzt aber voraus, dass er in der präödipalen Phase selbst geliebt und anerkannt worden ist und die Erfahrung von Einstimmung und vertrauter Gemeinsamkeit, Sicherheit und Geborgenheit verinnerlicht hat, dass also die Basis eines gesunden Narzissmus gelegt ist.
Die beiden pathologischen Dimensionen des Narzissmus, wie sie in den »narzisstischen Allmachtsphantasien perfekten Einsseins oder absoluter Selbständigkeit« (S.136) in der Ödipalen Phase aufgegeben werden müssen, hatte Benjamin ja - wie beschrieben - als zwei entgegengesetzte Abwehrformen gegen die schmerzhafte Erfahrung der Abhängigkeit aufgefasst, in der das Objekt entweder durch völlige Loslösung durch Symbiose ausgelöscht wird (...).
Solche Abwehrformen beinhalten Phantasien über das Objekt, die um die fehlende (aber existentiell notwendige) Anerkennung kreisen müssen. Ich bin der Auffassung, dass fehlende Anerkennung ersetzt wird durch eine phantasierte Omnipotenz (»Ich bin so gross, ich brauche den anderen nicht mehr und auch nicht seine Anerkennung!«) oder durch eine Verschmelzungsphantasie (»Wenn ich mit dem anderen eins bin, brauche ich als eigenes Wesen nicht anerkannt werden!)" (Benjamin 1993, zit. nach Altmeyer (2004 S.165).
Integratives Entwicklungskonzept der "Relationalen Psychoanalyse" (Martin Altmeyer 2006)
„Der Mensch ist keine Monade - er wird vielmehr in menschliche Beziehungen hineingeboren, gewinnt durch soziale Beziehungen hindurch ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt und bleibt bis ins hohe Alter auf solche Beziehungen angewiesen. Als Menschen werden wir gerade dadurch zu einzigartigen, unverwechselbaren Individuen, dass wir unsere >Beziehungsschicksale< verinnerlichen und zum Aufbau unserer psychischen Struktur verwenden.“ (Altmeyer&Thomä 2006 S.8)
„In meiner Sicht und in der der psychoanalytisch inspirierten zeitgenössischen Säuglings- und Kleinkindforschung sind Mutter und Kind nicht so sehr Triebobjekte für einander als vielmehr Resonanzräume für eine Vielfalt von körperlichen und seelischen Bedürfnissen: physiologische Regulation, sinnliches Vergnügen, Neugier, Bindung, Kommunikation und vielleicht auch Anerkennung. Keines von ihnen sollte in seiner Bedeutung privilegiert werden.“ (Dornes 2008 S.245)
Die Stern - Green - Kontroverse: Triebtheorie vs. Intersubjektivität
Entwicklung und Integration
- Biographisches Arbeiten an sich selbst: Lebenspanorama, Kreatives Schreiben, Facebook Chronik als Persönlichkeitsentwicklungsinstrument etc.
- Erik Erikson bahnbrechendes Werk:
- Alice Millers Entdeckungen und Schriften:
- Pasqualina Perrig-Chiello: Berner Entwicklungspsychologin für das Erwachsenenalter
- Daniel Stern, Peter Fonagy, Jean Piaget: Kognitive Entwicklung aus psychoanalytischer und kognitivpsychologischer Sicht
"Wenn wir den Säuglingsforschern glauben dürfen (Meltzoff et al. 1999, Meltzoff&Prinz 2002, Tomasello 2001), dann können bereits sehr kleine Kinder (zwischen dem 9. und 16. Lebensmonat) die Unterscheidung zwischen sichtbarem Verhalten und unsichtbarer Absicht aufbauen. Das Kind versteht, dass der ausgestreckte Zeigefinger der Mutter auf etwas zeigt, und die Mutter damit seinen mentalen Zustand, nämlich seine Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken versucht. Es beginnt, seinerseits mit Blicken zu kontrollieren, ob es ihm gelingt, die Aufmerksamkeit der Mutter auf die Katze vor dem Fenster zu lenken, auf die sein Finger zeigt, während sein Blick prüft, ob die Mutter tatsächlich dorthin schaut.
Kinder unterscheiden sichtbares Verhalten von unsichtbaren Absichten, die sie eben aus Verhalten erschließen. »Obviously, infants are not behaviorists«, schreiben Meltzoff et al. (1999 S.29) und machen mit diesem kleinen Seitenhieb deutlich, dass eine allein behavioristische Orientierung in der Psychologie genau das Elementare der »symbolischen Spezies« (Deacon 1997, Hauser 1997) verfehlen würde". (aus: Günter Gödde, Michael B. Buchholz (2012 Hrsg.). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt, Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten, Band I, S.12.
Folgender Text beschreibt die für die (kognitive) Entwicklung enorme Wichtigkeit des sog. Mentalisierens (vgl. Kap. XX: Narzissmustherapie mit Mentaliseren):
"In der gelungenen Interaktion mit den primären Objekten entdeckt das Kind, dass ihm seine eigene Befindlichkeit gespiegelt wird. Es entdeckt einen Kontingenzzusammenhang zwischen seinem eigenen unwillkürlichen Emotionsausdruck und der mimischen wie vokalen Antwort der Mutter. Da die Mutter die kindlichen Regungen verstärkt und kommentiert, wird der Säugling nicht nur über das informiert, was er hat, sondern auch angeregt, etwas Neues zu entwickeln (vgl. Dornes 1999b, 53). Gergely nennt dies „markierte Affektspiegelung“ (vgl. Gergely 2002, 820 ff). Diese Markierung des empathischen Affektspiegelns bewirkt, dass ein Unterschied zum realistischen emotionalen Ausdruck der Mutter sichtbar wird, ähnlich wie beim so genannten So-tun-als-ob-Spiel. Das ist vor allem für die Spiegelung negativer Affekte wichtig, denn das Kind merkt, dass die markierte Wut der Mutter nicht echt ist, sie ist nicht wirklich böse (vgl. Gergely 2002, 820).
Auf diese Weise erlebt sich das Kind bei der Regulierung seiner schlimmen Gefühlszustände als aktiver kausaler Akteur und kann lernen, diese Affekte in sein Selbst zu integrieren. Die wiederholte Erfahrung des markierten mütterlichen Affektspiegelns führt zum Aufbau sekundärer Repräsentationen. Emotionale Selbstkontrolle wird nur möglich, wenn sich sekundäre Regulations- oder Kontrollstrukturen über Repräsentationengebildet haben (vgl. Fonagy, Target 2002, 841).
Im Alter von eineinhalb bis vier Jahren treten zwei Modi gleichzeitig auf, die sich eigentlich gegenseitig ausschliessen. Zunächst gewinnt das „playing with reality“ des symbolischen Spiels an Bedeutung (vgl. Dornes 2006, 528 ff). Ein Kind spielt jetzt zum Beispiel, dass die Tiere schlafen gehen, bezieht sich also auf die Realität und entkoppelt sich von ihr. Im Spiel kommt der Teufel aus der Wand, aber weil das Kind weiss, dass es kein realer Teufel ist, kann so etwas gespielt werden. Der Umgang der Eltern mit diesem Als-ob-Modus erfüllt dabei die gleiche Funktion wie zuvor das Affektspiegeln. Daneben erlebt das Kind seine Gedanken, als wären sie Realität: „Der Gedanke an ein Krokodil unter dem Bett hat eine ähnlich ängstigende Wirkung wie ein wirkliches Krokodil (...) Im Spiel werden Gedanken und Gefühle von der Wirklichkeit abgekoppelt und sind dann irreal, im Äquivalenzmodus sind sie überreal“ (vgl. Dornes 2006, 530). Das Kind hat Angst vor dem Krokodil unter dem Bett und weiss im selben Moment, dass es dort nicht vorhanden ist.
Unter geglückten Entwicklungsbedingungen findet mit vier bis fünf Jahren eine Integration von Als-ob- und Äquivalenzmodus statt. Sie ermöglicht eine neue Qualität im Erleben der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt. Ab diesem Zeitpunkt kann man von einer ausgeprägten Fähigkeit zur Mentalisierung sprechen (vgl. Dornes 2006, 532).
Zunächst erwartet das Kind, dass seine eigene innere Welt und die Innenwelt anderer Personen der äusseren Realität entsprechen, es weiss aber auch, dass sein inneres Erleben beim intensiven Spiel die äussere Realität nicht zwangsläufig widerspiegelt. Mit etwa vier Jahren beginnt es dann, diese beiden Modi zu integrieren und gelangt auf die Stufe der Mentalisierung (vgl. Fonagy, Target 2006, 370).
Das Kind kann nun die vermuteten mentalen Zustände selbst wieder zum Gegenstand des (Nach-)Denkens machen (vgl. Dornes 2006, 521) und auch über den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Phantasien und Ängste nachsinnen.
Beim Aufbau der Mentalisierungsfunktion werden unterschiedliche Phasen durchlaufen. Sie reichen vom Affektspiegeln über das Mit-der-Realität-Spielen bis zum Nachdenken als einer intuitiven und habituellen Form des Umgangs mit den eigenen Gedanken und Gefühlen oder denen anderer (vgl. Dornes 2006, 523).
Am Ende fassen Fonagy und Target ihre Mentalisierungsvorstellungen wie folgt zusammen:
„Wir konzeptualisieren die Fähigkeit der Eltern, sich gegenüber dem Kind spielerisch empathisch zu verhalten, als wahrscheinlich unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine Projektionen so erleben kann, dass sie aufgefangen (contained) werden. Wenn Eltern für das Kind affektiv unerreichbar sind, verhindern sie, dass das Kind in den Eltern eine mentale Abbildung seiner eigenen inneren Welt etabliert, die es dann wiederum internalisieren könnte als Kristallisationspunkt eines eigenen Kern-Selbst“ (vgl. Fonagy, Target 2001a, 969).
An anderer Stelle heisst es: „Wenn Mentalisierung und sichere Bindung das Ergebnis erfolgreichen Containments sind, dann könnte man eine unsichere Bindung als Identifizierung des Säuglings mit dem Abwehrverhalten der Mutter betrachten“ (vgl. Fonagy, Target 2006, 374).
Wenn also ein Kind Angst davor hat, dass ein Krokodil unter seinem Bett liegt, es diese Angst der Mutter gegenüber äussert und diese wiederum ebenfalls mit Angst reagiert, weil sie mit heftigen Affekten ihres Kindes nicht umgehen kann, fühlt sich das Kind durch die Ansteckung seiner Mutter mit Angst in seinen Vorstellungen einer Gefahr bestätigt: Jetzt liegt also tatsächlich ein Krokodil unter dem Bett! Seine Gefühle und Gedanken haben demnach die Realität richtig vorausgesagt, und dieses Gefühl scheint offenbar mehr und schneller zu ‚wissen’ als die Mutter. Erhalten bleibt dann im impliziten Wissen bis ins Erwachsenenalter die
Überzeugung, dass die Realität genauso ist, wie die eigenen Vorstellungen sie beschreiben.
Im Falle gelungener Affektspiegelung reagiert die Mutter zwar auch erst, nachdem das Kind seine Angst zum Ausdruck gebracht hat, aber sie reagiert nicht mit eigener Angst, sondern mit Massnahmen, die ihm helfen sollen, seine Angst zu mildern und so die wahrgenommene Gefahr zu relativieren. Die Mutter signalisiert dem Kind, dass sie die Situation anders als es selbst eingeschützt hat und bei ihrer Einschätzung bleibt. So beginnt das Kind zu lernen, dass seine Wahrnehmung der Realität weder mit der Wahrnehmung anderer noch der Realität selbst übereinstimmen muss (vgl. Bielska-Content 2007, 763 f).
"Gefördert wurde er möglicherweise auch durch die Sozialisationsbedingungen der heutigen 25- bis 35-jährigen. Denn wer nach der Entdeckung der Pille in den sechziger Jahren geboren wurde, war häufig ein Wunschkind und wurde nicht nur verwöhnt, sondern sollte auch grossartig sein. Das Kind wurde zum erweiterten Selbst der Eltern - wie die Psychoanalytiker es formulieren - und ist damit natürlich auch anfälliger für die narzisstische Thematik. Einerseits muss es grossartig sein, andererseits übersteigen die Erwartungen häufig seine Fähigkeiten. Weil es aber seine Eltern nicht enttäuschen will, bleibt oftmals nur die Lüge oder der Bluff." (............, S....)
Literatur:
Perrig-Chiello, Pasqualina (2008). In der Lebensmitte - die Entdeckung des mittleren Lebensalters. Verlag Neue Zürcher Zeitung.
Faltermeier, ... Entwicklungspsychologie für das Erwachsenenalter
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Narzissmus und Säuglingsforschung
Unter Bezugnahme auf neuere Ergebnisse der Säuglingsforschung kommt Soref (1995) zu der Annahme, dass Bindung und Kompetenz entscheidende Voraussetzungen für eine gesunde seelische Entwicklung sind. Eine sichere Bindung, d.h. lieben und geliebt werden, ist Vorbedingung erfolgreichen Explorationsverhaltens (Bowlby 1989).
Die Zuwendung eines anderen hervorrufen zu können, führt zur Erfahrung eigener Urheberschaft (Stern 1985). Die frühe Bindungsentwicklung erlaubt dabei Vorhersagen auf bestimmte Bindungstypen bis in die Adoleszenz (Grossmann u. Grossmann 1995) bzw. von der Elterngeneration über Vorhersagen aus der Schwangerschaft bis in die nächste Generation (Fonagy et al. 1991), während in anderen Bereichen der Entwicklung die Stabilität von Mustern geringer ist.
Die klassischen Vorstellungen zum Narzissmus (Freud 1914; Fenichel 1945; Mahler et al. 1975) sind mit den Ergebnissen der modernen Säuglingsforschung (Dornes 1993, 1997) nicht mehr vereinbar. Die Betonung liegt weniger auf dem zu leistenden Verzicht auf primären Narzissmus und infantile Omnipotenz, als auf der Erleichterung der individuellen Entwicklung und Reifung, gestützt auf von Geburt an vorhandene Kompetenzen (z.B. kreuzmodale Wahrnehmung, angeborene Basisaffekte). Die
vom Neugeborenen gemachten Erfahrungen geben dabei keineswegs Grund für die Annahme paradiesischer Zustände oder Omnipotenz.
Wie Tronick und Cohn (1989) herausfanden, erleben Säuglinge in nicht unbedeutendem Ausmass negative Affekte.
Auch treten koordinierte und affektabgestimmte Reaktionen mit primären Bezugspersonen noch nicht einmal halb so häufig auf als unkoordinierte und fehlabgestimmte Reaktionen (Gianino u. Tronick 1988); allerdings kommt es in insgesamt 50–70% der Interaktionen zur Nachregulierung fehlabgestimmter Reaktionen innerhalb von wenigen Sekunden.
Die Bedeutung von Kompetenzerfahrungen ist bereits von Freud (1920) in seinem Konzept des Bemächtigungstriebs erfasst und von Hendrick (1942) und White (1959) ausgearbeitet worden. Weitere Ueberlegungen dazu finden sich bei Basch (1988).
Sterns Konzeptualisierung des Kernselbst-Empfindens trägt frühen Kompetenzerfahrungen mit dem Begriff der Urheberschaft Rechnung, und die psychoanalytische Selbstpsychologie gibt der Wichtigkeit des Bewirkenkönnens durch Annahme des Selbstobjektbedürfnisses nach Effektanz Ausdruck (Wolf 1988).
Auch die Haupt-Vertreter der interpersonalen Psychotherapie, Weiss und Sampson (1986), nehmen zentral auf Kompetenz (bzw. Bemeisterung, engl. mastery) Bezug. In der Säuglingsforschung werden entsprechende Experimente unter dem Begriff Kontingenz subsumiert. DeCasper und Carstens (1981) ermöglichten drei Tage alten Säuglingen, ein Tonband mit weiblichen Gesang durch Verlängerung ihrer Saugpausen an- bzw. auszuschalten.
Während sie dies bei freudiger Erregung schnell erlernten, zeigten sie negative Affekte (Schreien) und grimassierten, wenn das Tonband nicht mehr ihrem Einfluss gehorchte und sich zufällig ein- und ausschaltete. Ähnliche Experimente wurden von Papousek und Papousek (1975) und Watson (1985) durchgeführt (s.a. Dornes 1993 sowie Stern 1985).
Die entscheidende Bedeutung von Kompetenzerfahrung für die Entwicklung eines gesunden Narzissmus liegt in der Angemessenheit der zu bewältigenden Aufgabe, die möglichst in der proximalen Zone der gegenwärtigen Möglichkeiten des Säuglings liegen sollte (Wygotski 1934).
Die wechselseitige Regulation von Säugling und Bezugsperson spielt dabei eine besondere Rolle. Es kommt darauf an, den Säugling nicht zu überfordern [Entwicklungshemmend ist natürlich die (in Wirklichkeit kaum verhinderbare) Vermeidung von Frustration und sofortiger Tröstung. Dies führt auch zur Enteignung des eigenen Affektes durch Verhinderung seiner Wahrnehmung (Lichtenberg 1990)], sondern ihm ggf. behilflich zu sein, damit aus einer affektiv negativ getönten Interaktion ein affektiv positives Erlebnis werden kann. Die Erfahrung der eigenen reparativen Kompetenz unter Zuhilfenahme des anderen stärkt das Selbstgefühl und beugt einer vorzeitigen Selbstregulation und narzisstischem Rückzug aus der Objektwelt vor. Diese Annahme wird auch durch Untersuchungen von Malatesta et al. (1989) sowie Beebe und Lachmann (1994) bestätigt.
Die negativen Auswirkungen infantiler Ohnmachtserfahrungen werden besonders bei Kindern depressiver Mütter deutlich (Tronick et al. 1978). Diese Kinder geben schon im Alter von vier bis sechs Monaten das Bemühen auf, ihre Mütter emotional zu erreichen (im Vergleich zu Kindern nichtdepressiver Mütter). Die Folge ist eine mangelnde Erfahrung, etwas bewirken zu können und das fortbestehende Angewiesensein auf konkrete Regulationshilfen anderer.
Die Bedeutung sicherer Bindungserfahrungen für die Entwicklung eines gesunden Narzissmus ist ebenfalls erheblich. Neugeborene bzw. Säuglinge sind ihrer Umwelt spontan zugeneigt und ihr Verhalten benötigt lediglich angemessene Responsivität, damit Selbstvertrauen über Anerkennung und Akzeptanz entstehen kann.
Zuneigung und Interesse für andere entwickelt sich dann nicht, wenn die Umwelt kein Interesse und keine liebevollen Reaktionen zeigt. Der nachfolgende narzisstische Rückzug ist daher keine Regression auf primäre Zustände!
Wie wir heute wissen, ist selbst der Fetus bereits höchst interessiert an seiner Umwelt und speichert Erinnerungen: z.B. Klang und Wortfolge der mütterlichen Stimme (Fifer und Moon, 1988; DeCasper und Spence, 1986). Auch Erinnerungen von Bewegungsschablonen und bestimmte Lagewahrnehmungen, z.B. bei Interaktion von Zwillingen intrauterin, kommen vor (Piontelli, 1996)]
Das Interesse an der Bezugsperson und der ganzen Umwelt nimmt postpartal weiter zu. Field et al. (1982) haben bei 36 Stunden alten Neugeborenen bereits Imitationen des Gesichtsausdrucks Erwachsener festgestellt und in einer anderen Untersuchung (Field et al. 1984) herausgefunden, dass zwei Tage alte Neugeborene sich bevorzugt dem Gesicht der Mutter zuwenden. Vier Tage alte Neugeborene unterscheiden am Geruch die mütterliche Brust von der Brust anderer stillender Frauen (Mac-Farlane 1975).
Auch können Neugeborene die mütterliche Stimme von anderen Frauenstimmen unterscheiden (DeCasper u. Fifer, 1980). Die Bedeutung der Reziprozität in der Mutter-Kind-Interaktion ist von Sander (1989) schon für die Entwicklung der sog. Grundregulation (Schlaf-Wach-Rhythmus, REM- und Non-REM-Schlafphasen, Distress, ruhige und aufmerksame Wachheit) nachgewiesen worden. Reziprozität spielt allerdings auch in vielen anderen Bereichen eine Rolle (z.B. Vokalisierung, s. Beebe und Stern 1977 und weitere Lit.), womit die Bedeutung der Reaktion des anderen für die Entwicklung unterstrichen wird.
Trevarthen (1979) spricht wegen dieses frühen Interesses des Säuglings am anderen und seiner Neigung, die Interaktion mit ihm zu beeinflussen und abzustimmen von einer primären Intersubjektivität.
Nach Bowlby (1989) ist Bindung biologisch begründet und gehört zur Grundausstattung jedes Menschen. Unter Bezug auf die oben genannten Theorien und empirischen Forschungsergebnisse haben narzisstische Störungen in besonderem Masse mit ungenügender Kompetenzerfahrung und fehlender liebevoller Anerkennung der eigenen Individualität zu tun: Die Bewunderung seines Spiegelbilds ist für Narziss unter diesen Voraussetzungen Folge nichterlebter Responsivität.
Säuglinge reagieren hierauf mit Trauer und Rückzug (Tronick u. Gianino 1986), aktiver Vermeidung oder, im Alter von unter zwei Monaten, mit katatonieähnlichen Zuständen (Papousek u. Papousek 1975). Bekanntlich werden solche unangenehmen Affekte gerne verdrängt. Besonders gut gelingt dies mit einer narzisstischen Abwehr. Soref (1995) bringt zwei Beispiele für narzisstische Abwehrformen, die das oben Gesagte illustrieren.
Zuerst geht sie auf die bekannte Neigung narzisstischer Patienten ein, perfekt und etwas besonderes sein zu wollen. Dies wird als Kompensationsversuch nicht gehabter und ersehnter Bewunderung und Anerkennung der eigenen Individualität gesehen und als Versuch, jene Bewunderung doch noch zu erhalten. Perfektes Verhalten steht im Zusammenhang mit ungenügenden frühen Kompetenzerfahrungen, deren schmerzliche affektive Komponente damit abgewehrt werden soll. Es entsteht zwangsläufig
eine Spirale von Versagen und immer höheren Ansprüchen an die eigene Leistung, eine realistische Zielsetzung ist nicht mehr möglich. Tatsächliche Anerkennung wird nicht wahrgenommen, da die Wertschätzung für die eigene Person fehlt. Auf diese Weise wiederholt sich innerlich die frühe Ablehnung und Entwertung durch die primären Bezugspersonen.
Ein weiteres Kennzeichen narzisstischer Abwehr ist die Selbstbezogenheit. Der Mangel an Interesse am Selbst des Säuglings kann beim narzisstisch gestörten Erwachsenen zum intensiven Bedürfnis nach eigener Wichtigkeit führen. Abwendung kann dann nicht toleriert werden und führt zu heftiger (narzisstischer) Wut. Dadurch bedingt ziehen sich andere zurück und die Selbstbezogenheit wird verstärkt.
Nicht zu vergessen ist die bei fehlender oder ungenügender wechselseitiger Regulation auftretende vorzeitige Selbstregulation des Säuglings.
Das fehlende Vertrauen in andere führt auch bei narzisstisch gestörten Erwachsenen dazu, sich nur auf sich selbst zu verlassen. Das Angewiesensein auf andere wird deshalb verleugnet oder deren Hilfe für die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstgefühls ruft höchstens Neid auf deren Fähigkeiten hervor. Aus bindungstheoretischer Sicht kann argumentiert werden, dass unsichere Bindung, die zu einer Vermeidung von Intimität führt, in besonderem Mass mit narzisstischer Vulnerabilität verknüpft
ist (Pistole 1995). Ein unsicherer Bindungsstil (vermeidend oder ambivalent) kann insofern als Abwehr gesehen werden.
Das Neugeborene begegnet in seiner Mutter einer es organisierenden Lebensgeschichte
Nach Joseph D. Lichtenberg (1991) ist der Säugling ein Wesen, das auf der Basis von angeborenen und gelernten Mustern agiert und reagiert: Diese Muster sind perzeptiv-affektive Antworten auf intersubjektive Erfahrungen. Sie sind die erste Art von Handlungsantworten und Antworthandlungen, deren ein Mensch fähig ist. Sie funktionieren schon, bevor sich Selbst- und Objektrepräsentanzen gebildet haben und sind deren Grundlage. Mittels dieser genetischen Ausstattung kann ein Säugling vom ersten Lebenstag an mit seiner Umwelt in Interaktion treten. Sie sind keine Triebe, sondern kommen erst durch interaktionale Stimuli aus der Aussenwelt (Bezugspersonen) oder aus der Innenwelt (verinnerlichte Figuren aus der Erinnerung und der Fantasie) zustande.
Durch den grossen Einfluss des Säuglingsforschers und Psychoanalytikers Daniel Stern (1992) hat sich das Konzept der Intersubjektivität in der frühen Kindheitsentwicklung weiter etabliert.
Daniel Stern und KollegInnen berufen sich auf Donald Winnicott (1974), seinerseits Kinderarzt, Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker, der mit seiner Konzeption einer intersubjektiven Genese des Selbst den Boden dafür vorbereitet hat. Winnicott (1974) schreibt, dass „[d]ie Einheit nicht das Individuum [ist], die Einheit ist ein Gefüge aus Umwelt und Individuum. Der Schwerpunkt des Seins geht nicht vom Individuum aus, er liegt im Gesamtgefüge“ (S. 127). Damit hat Winnicott die Wichtigkeit einer intersubjektiven Perspektive vorweggenommen und eine vorläufige Hypothese aufgestellt, wie Intersubjektivität entwicklungsgeschichtlich erreicht wird. Dieser Kerngedanke, dass Subjektivität intersubjektiv verfasst ist – ohne sich freilich in Intersubjektivität
aufzulösen – wurde von der Säuglings- und Bindungsforschung weiterentwickelt. Das Selbst ist demnach nicht monadisch konstruiert, sondern von Anfang an auf den Anderen bezogen.
Laut Stern (1992) gibt es in der Entwicklung des Selbst eine Phase der intersubjektiven Bezogenheit, in der das Kind lernt, subjektive (vor allem emotionale) Erfahrungen mit anderen zu teilen. Dieser „Quantensprung in der Entwicklung des Selbstempfindens“ (Stern 1992, S. 179) findet dann statt, wenn der Säugling zwischen dem siebten und neunten Lebensmonat entdeckt, dass er ein Seelenleben besitzt und dies auch auf andere Personen zutrifft. Dieses gemeinsame subjektive Erleben wird durch Intersubjektivität möglich. „Eine – wie auch immer beschaffene – Verbindung subjektiver psychischer Erfahrungen“, so Stern (1992) „ist paradoxerweise vor dem Einsetzen der Intersubjektivität nicht denkbar“ (S. 183).
In dieser entwicklungspsychologischen Konzeption bezeichnet Intersubjektivität das gemeinsame Erleben psychischer Zustände, wie es Dornes (2002) in seiner Definition von Intersubjektivität zusammenfasst:
„Ich verstehe darunter die Beziehung zweier Subjekte, in der die Subjektivität beider, also ihr Denken, Fühlen und/oder ihre nicht-instinkthaften expressiven Aeusserungen Gegenstand wechselseitiger Reaktionen oder Antworten sind.“ (S. 304) - zit. nach: Jens Tiedemann (2007). Die intersubjektive Natur der Scham, S. 107
Daniel Stern: Ergebnisse der modernen Säuglingsforschung
Daniel Stern gehört zu den kreativsten psychoanalytischen und empirischen Entwicklungsforschern.
Sein erstes Buch: „Die Lebenserfahrungen eines Säuglings“ (1985) wurde begeistert aufgenommen, zum Anlass heftigster Kontroversen und in viele Sprachen übersetzt. Er formuliert darin eine neue psychoanalytische Entwicklungstheorie des Selbst, die sich vor allem auf Direktbeobachtungen von Säuglingen und ihren Interaktionen mit ihren ersten Bezugspersonen und in weit weniger ausgeprägtem Masse auf seine klinischen Beobachtungen als Psychoanalytiker von Kindern und Erwachsenen stützt. Sie basiert daher auf empirischen und nicht nur klinisch-psychoanalytischen Daten. Zudem orientiert sie sich nicht an pathologischen, sondern an der normalen Entwicklung gesunder Säuglinge und Kleinkinder.
Im Zentrum seiner Studien steht die Entwicklung des Selbst und die damit verbundene sukzessive Reorganisation subjektiver Sichtweisen des Selbst und des Anderen. Dabei folgt er der alten psychoanalytischen Tradition, dass er immer von biologischen Reifungsprozessen einerseits und der Beziehungserfahrung, also der sozialen Umgebung, andererseits ausgeht. Das Selbst ermöglicht eine Erfahrung der zeitlichen Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Selbst scheint aus inneren Quellen zu strömen, ist aber immer auch abhängig von den Bestätigungen anderer, die das Selbstgefühl unterstützen, aber auch stören können. Stern begreift daher das Selbst nicht als statische Struktur, sondern plädiert für ein prozessuales Verständnis des Selbst:
„Die Struktur, das Immergleiche zeigt sich nur in der Bewegung, der Veränderung, und das prozessuale Selbst ist nur in bezug auf eine Struktur erkennbar“ (Ludwig-Körner, 1992)
Die Entwicklung des Selbst beginnt vom ersten Tag an und ist nie abgeschlossen. Stern definiert vier (später fünf) Stufen des Selbsterlebens, die immer mit einer charakteristischen Form der Bezogenheit zum Objekt verbunden sind.
Dabei ist wichtig, dass diese verschiedenen Stufen des Selbsterlebens zwar in einem bestimmten Alter erworben werden und dann eine gewisse Priorität aufweisen. Sie werden aber nicht in dem Sinne überwunden werden, als sie den späteren Formen des Selbsterlebens weichen: sie bleiben als charakteristische Modalitäten des Selbsterlebens ein Lebenlang nebeneinander bestehen.
Selbst- und Beziehungsentwicklung
Nach D. Stern (1991, 1992) wird die kindliche Entwicklung in den ersten beiden Jahren - also auch schon in der präverbalen Zeit - durch vier aufeinanderfolgende Selbstempfindungen oder -gefühle ("senses of self") als primäre organisierende und strukturierende Prinzipien gesteuert. Unter dieser Perspektive lassen sich mehrere Zeitabschnitte beschreiben, in denen sich auch besondere Formen intersubjektiver Bezogenheit ("domains of relatedness") herausbilden. Die Entwicklung, die also den "anderen" stets einbezieht, verläuft zwar in einer bestimmten reifungsbedingten Abfolge und die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf, aber die Selbst- und Beziehungsaspekte jeder einzelnen Phase bleiben in den weiteren Verwicklungen des gesamten Lebens - als steuernde und erlebbare Prinzipien - erhalten und wirksam (Bohleber 1989; Johnen 1990, 1991a, 1991b; Johnen und Cluss 1991; Köhler 1990; Schüssler und Bertl-Schüssler 1992a). Die im folgenden vor allem nach Stern zusammengefassten Erkenntnisse der Säuglingsforschung, die durch einige Ueberlegungen Sanders (1975) ergänzt werden, haben einen engen Bezug zur Ich-, Selbst- und Objektbeziehungspsychologie der Psychoanalyse.
"Welt der Gefühle"
In der Zeit von der Geburt bis zum dritten Monatkann von einem auftauchenden oder entstehenden Selbst ("sense of an emergent self" mit "domain of emergent relatedness") gesprochen werden. Die Grenzen zur Umwelt, zwischen innen und aussen, sind dabei noch unscharf. Das Leben setzt sich aus einzelnen Augenblicken zusammen, und die Gerichtetheit der Zeit wird noch nicht erfahren. Das Erleben findet in einzehnen Episoden statt und noch nicht vor dem Hintergrund eines zusammenhängenden Zeitflusses. Personen oder Gegenstände werden v.a. über die von ihnen hervorgerufenen unterschiedlichen Gefühle erlebt. Als erfahrbarer Raum gilt dem Säugling der Bereich, den er mit den Armen durchmessen kann. Dieser durch die motorischen Möglichkeiten definerte „Erlebnisraum" ist übrigens ein wesentlicher Aspekt der Konzentrativen Bewegungstherapie (Becker 1981; Müller-Braunschweig 1990a). In diesem Zeitabschnitt stehen folgende angeborene Eigenschaften und Fähigkeiten des Säuglings, die sich zum grossen Teil aus den genannten Motivationssystemen ableiten lassen, bereits zur Verfügung:
1. Es findet sich ein Nebeneinander mehrerer abgestufter Bewusstseinszustände ("states"), die unterschiedlichen physiologischen Aktivitätsabstufungen entsprechen und die Basis der verschiedenen Bedürfnisse bilden (Lichtenberg 1991a; Wolff 1966). So können Schreien, aufmerksame Wachheit, ruhige Wachheit, REM-Schlaf und Nicht-REM-Schlaf unterschieden werden. Beim Neugeborenen stellen zwar Schlafen und Stillen von Durst und Hunger wichtige Bedürfnisbefriedigungen dar, für das Erkunden der Umwelt und die Kontaktaufnahme zu den Pflegepersonen ist aber der Zustand der aufmerksamen Wachheit von entscheidender Bedeutung.
2. Von Geburt an besteht eine Tendenz zur aktiven Erkundung der Umwelt, ein Bedürfnis nach Reizaufnahme im Wachzustand mit bestimmten taktilen, visuellen, akustischen, gustatorischen, olfaktorischen, aber auch geometrischen Präferenzen (Stork 1986). Dies betrifft etwa bestimmte Geschmacksrichtungen oder vertraute Töne, v.a. aber Gesicht, Stimme und Geruch der Pflegeperson. Die Kontingenz von eigener Aktivität und Folgen in der Umwelt, auf deren Bedeutung schon Bettelheim (1983) hingewiesen hat, ist ein wichtiger Motivationsfaktor zur Anregumg sensomotorischer Systeme. Mit Recht wird diese Aktivität des Säuglings als eine "rudimentäre Form von Intentionalität" (Stork 1986, S. 14) bezeichnet. Beim Einstellen auf neue Reize spielen die Uebereinstimmung mit anderen Ereignissen (Bekanntheitsgrad) und der Zusammenhang von Ursache und Wirkung von Abläufen (Kausalität) eine grosse Rolle. Neben der Stimulationssuche besteht ebenfalls schon früh die Möglichkeit zur Regulation der Reizaufnahme und damit des Erregungsniveaus durch Abschirmung (Mikrovermeidungsmöglichkeiten), z.B. durch (Blick-)Abwendung, Wegstossen, Ins-Leere-Schauen oder Schreien (Brazelton und Cramer 1991; Brazelton et al. 1974). Bei der Regulation der Reizaufnahme spielt die Haut auch als Organ der Be- und Abgrenzung wahrscheinlich eine besonders wichtige Rolle. Dies wird nicht nur durch die Bedeutung der mütterlichen taktilen Kontaktaufnahme unmittelbar nach der Geburt nahegelegt, sondern auch durch das Verständnis einiger Hauterkrankungen als "frühe Störungen" und das bereits erwähnte "therapeutische Anfassen".
3. Nach Stern werden die angeborenen kategorialen Affekte von den Vitalitätsaffekten unterschieden. Als kategorial werden die reinen, durch bestimmte quantitative Reizmuster ausgelösten Affekte wie z.B. Ueberraschung, Traurigkeit oder Freude bezeichnet (Eibl-Eibesfeldt 1984; Krause 1983; Tomkins 1981). Bei den Vitalitätsaffekten handelt es sich um dynamisch-kinetische Handlungserfahrungen, die im Alter von 2 1/2 Monaten in den beiden Dimensionen Aktivierungsgrad und hedonische Tönung (d.h. Grad des Lust-Unlust-Charakters) fassbar sind. Als dritte Dimension kommt mit ca 4 1/2 Monaten - also erst im nächsten Abschnitt der Selbstentwicklung - die Möglichkeit zur Differenzierung nach der (internalen oder externalen) Herkunft des Auslösers hinzu. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass körperbezogene Therapieverfahren gewöhnlich zwar am Körpererleben und an Sinneswahrnehmungen ansetzen, dass sie aber durchaus auch mit dem Auftreten und Erleben von Affekten zu tun haben und diese verändern können. So sind bestimmte Körperwahrnehmungen mit den Affekten gekoppelt, die in der frühen Interaktion bedeutsam waren. Auch kann die Entdeckung der eigenen Körperwelt Affekte wie Freude und Ueberraschung, aber auch Trauer und Wut auslösen.
4. Primitive, aber differenzierte Wahrnehmungen in allen Sinnesmodalitäten sind von Geburt an möglich, wobei von allen Wahrnehmungsdimensionen zunächst der Intensität besondere Bedeutung zukommt. Im Alter von etwa 3 Wochen lässt sich eine transmodale Wahrnehmungsweise und -integration, also eine intersensorische Koordination (Schüssler und Bertl-Schüssler 1992a) belegen. Die durch die fünf Sinne wahrgenommenen Qualitäten können - mittels abstrakter Enkodierungen von Intensität, Zeitablauf, Rhythmus und Gestalt - ineinander übersetzt werden. So wird beispielsweise ein im Mund getasteter Schnuller von einem wenige Tage alten Säugling im Vergleich mit anders geformten Schnullern allein beim Anschauen "wiedererkannt". Oder es tritt eine Schreckreaktion auf, wenn das Kleinkind beim Anblick der Mutter eine andere Stimme hört. Durch diese transmodale Wahrnehmung wird die Entwicklung eines Gefühls für Uebereinstimmung (Stimmigkeit) und Zusammengehörigkeit, aber natürlich auch von Unterschiedlichkeit und Abgegrenztheit gefördert. Episoden und Objekte werden global erfasst, was der von Spitz (1989) beschriebenen "koenästhetischen Wahrnehmungsweise" entspricht. Die Wahrnehmungs- und Erfahrungseinheiten werden noch nicht in einzelne Elemente (Selbst, Objekt, Emotion und Kognition) differenziert.
Wie andere körperbezogene Therapieverfahren zielt auch die FE [Funktionelle Entspannung] auf das Erreichen dieser frühen Erfahrungseinheiten (Johnen 1991a). Zusammen mit dem Spuren des eigenen Körpers schaffen diese Erlebenseinheiten eine Verbindung zwischen Körpererleben, Emotion und Beziehung.
5. Auch einfache kognitive Funktionen sind bereits nach der Geburt vorhanden. Als frühe Lernformen können konditioniertes Lernen, Gewöhnung und Nachahmung genannt werden. So kann etwa die Mimik Erwachsener bereits im Alter von 3 bis 10 Tagen imitiert werden. Hierbei wird angenommen, dass der Säugling propriozeptiv das spürt, was er bei der Pflegeperson sieht und nachahmt. In den ersten Lebensmonaten steht handlungsorientiertes Lernen im Vordergrund, im Verlauf des 2. Lebensjahres wird über die innere Abbildungsfähigkeit von Sinneseindrücken schliesslich symbolische Repräsentation möglich. Was nun die auftauchende, die beginnende Beziehungsform angeht, bilden sich in den ersten 3 bis 4 Wochen wesentliche Elemente von Austausch, Abfolge und Ordnung innerhalb der Mutter-Kind-Dyade aus. Es entsteht eine erste Syntax der Konversation im Mutter-Kind-System (Sander 1975, 1983). Dabei handelt es sich um einen Dialog mittels non- und averbaler Kommunikationsweisen. Das Zusammenspiel, das Ineinandergreifen der Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Mutter und Kind wird als „fit" oder "match" bezeichnet.
"Wie von ungefähr will man das gleiche"(Stork 1986). Die Mutter steht dabei v.a. immer wieder vor der Aufgabe, Bedürfnisse und Verhalten des Kindes zu deuten und zu beantworten. Die Mutter erlebt Freude und Erfolgsgefühle beim Deuten und Befriedigen der kindlichen Bedürfnisse, der Säugling erlebt Wohlsein durch mütterliche Hilfe und Pflege. Störungen dieser frühen Interaktionen können zu schweren Beeinträchtigungen führen (Müller-Braunschweig 1990b). Sander (1975) hat die ersten drei Monate der Mutter-Kind-lnteraktion als "initiales Einspielen" bezeichnet. Die in diesem Abschnitt entstehende Basis für Zusammenspiel und zwischenmenschliches Vertrauen wird von der FE in der Weise berührt, als ein Gefühl von Stimmigkeit („fit" bzw. "match“) entstehen kann, wenn Körpererleben und Benennung in der therapeutischen Situation übereinstimmen (Johnen 1991b).
Neben der direkten Kommunikation zwischen Mutter und Kind kommt dem "Spielraum" (Winnicott 1958), dem "privaten Raum in der Zeit" (Sander 1983) eine besondere Bedeutung zu. Das Kind ist in Gegenwart einer anderen Person allein. Es befindet sich in einem Gleichgewichtszustand ohne innere oder äussere Anforderungen und kann seine ersten eigenen Initiativen entwickeln. Hier befinden wir uns bereits im Uebergangsbereich zum Kern-Selbst. Auch in der FE wird der Patient immer wieder ermutigt, in Gegenwart des Therapeuten, aber ohne dessen unmittelbares Eingreifen, das Eigenerleben seines Körpers im spielerischen Tun zu fördern.
Die Aufgabe dieser ersten Phase der Selbstentwicklung ist das Herstellen von Uebereinstimmung und Zusammengehörigkeit bei sich selbst, v.a. was den eigenen Körper angeht, und mit der Umwelt, v.a. im Hinblick auf die Mutter. Damit werden die Grundlagen für Sicherheit und Vertrauen gelegt.
"Welt der Kontakte"
Zwischen dem 3. und 7. Lebensmonat entsteht das Kern-Selbst ("sense of a core self" mit "domain of core relatedness"), das vier Bereiche umfasst, die allmählich eine Struktur bekannter und verlässlicher Erfahrungen bilden: Der "sense of agency" (Selbsttätigkeit) meint die Erfahrung von Urheberschaft und Aktivität, der "sense of affectivity" (Selbstaffektivität) das Erleben eigener Affekte und erwarteter Verhaltensweisen des "Anderen", der "sense of coherence" (Selbstkohärenz) bezeichnet das Erleben von physischer Ganzheit und der "sense of continuity" (oder "self-history", Selbstgeschichte) schliesslich die Erfahrung von Identität über die Zeit mit eigener Geschichte. An diesen Aspekten des Kern-Selbst lässt sich die Vorgehensweise der FE besonders gut veranschaulichen. Den "sense of agency" etwa erfuhr eine Patientin mit psychosomatischen Störungen erstmals in einer Therapiestunde, als sie spürte, dass sie mit ihrem sich beim Einatmen entfaltenden Rücken die Hand der Therapeutin wegdrücken konnte. Dieses Erlebnis löste bei ihr heftige emotionale Erschütterungen aus (Mitteilung von T. Woelk, zit. n. Müller-Braunschweig 1992b). Weiter wird der "sense of coherence " dadurch angesprochen, dass die Arbeit an einem Teil des Körpers Veränderungen in anderen Körperteilen zur Folge hat, und der "sense of continuity" durch wiederholte Erfahrungen, die über die Zeit hinweg - etwa während einer längeren Behandlung mit der FE, aber natürlich auch bei anderen Formen der Psychotherapie - gemacht werden.
Von grosser Bedeutung sind in dieser Zeit erste Gedächtnisinhalte. Wahrnehmung, Speicherung und Erinnerung von Ereignissen erfolgen beim Kleinkind zunächst ganzheitlich. Sein Gedächtnis ist episodisch organisiert und enthält v.a. solche Wahrnehmungen, Stimmungen und Affekte, die in der Interaktion mit der Mutter von Bedeutung sind. Stern spricht von "sensomotorisch-affektiven Erfahrungseinheiten" (1979), Lichtenberg von "affektiven Handlungs-Reaktionsmustern" (1991a). Allmählich entstehen aus den Einzelepisoden ähnlicher Abläufe generalisierte Episoden, die die Struktur des Ablaufes von Ereignissen abbilden und die der im 2. Lebensjahr entstehenden symbolischen Repräsentation vorausgehen.
In dieser Zeit bilden sich verschiedene Rhythmen zwischen Mutter und Kind heraus, die von der Situation des Anblickens und Angeblicktwerdens - vermutlich im Anschluss an das Stillen - ihren Ausgang nehmen. Es kommt zu einem "Spiel", bei dem es darum geht, dass sich die Blicke von Mutter und Kind in einem überwiegend vom Kind bestimmten Rhythmus treffen. Das Verständnis dieser sich in Sekundenbruchteilen abspielenden Interaktionen war überhaupt erst mit den modernen Aufzeichnungs- und Analysemethoden möglich.
Die grosse Bedeutung, die physiologische und interaktionale Rhythmen bereits im Entwicklungsprozess der frühen Säuglingszeit haben, wird von der FE dadurch aufgenommen, dass sie Spüren und Verändern des Körpererlebens an den basalen, unwillkürliches und willkürliches Tun verbindenden Atemrhythmus koppelt (Fuchs 1989).
Folgende Interaktionsformen bzw. -rhythmen können bereits als Aspekte der Kernbezogenheit unterschieden werden:
1. Bei den alternierenden Episoden (Beebe 1985) erfolgt die Interaktion im Wechsel, also diachron. Die Zyklen des Rhythmus sind genau aufeinander abgestimmt, Stern spricht von "dyadischen Reiz-Reaktions-Prozessen" (1979) bzw. von "Reziprozität" (1991). Bei dieser Interaktionsform handelt es sich um einen "Vorläufer des Erwachsenendialoges" (Köhler 1990). Als Beispiel sei der Wechsel von Zu- und Abwenden genannt.
2. Die koaktiven Episoden (Beebe 1985) sind durch synchrone Interaktionen charakterisiert. Dabei handelt es sich nicht nur um zeitliche Simultanität, sondem auch um Uebereinstimmung im Hinblick auf Inhalt und Intensität der beteiligten Affekte. Stern (1979) spricht von einer "programmierten dyadischen Verhaltenssequenz". Dieses Zusammenspiel, das zu stark affektiv besetzten Bindungen führt, ist für die Entwicklung der Intimität von grosser Bedeutung. Gemeinsames Lachen kann hier beispielhaft angeführt werden.
3. Als weitere Form sozialer Handlungen ist der "Spielraum" (nach Winnicott und Sander) bereits genannt worden.
Sander (1975) nennt die Zeit vom 4. bis zum 6. Monat die des affektiven und psychosozialen "reziproken Austausches". Er betont, dass die immer wiederkehrenden Handlungsabläufe von Pflege, Ernährung und Spiel für die ersten motorisch-koordinativen Bewegungsabläufe und die kognitiven Funktionen des Kindes von grosser Bedeutung sind und darüber hinaus zu einer beglückenden Gegenseitigkeit führen. Hier sei auf die Bedeutung von sich regelmässig wiederholenden Handlungsabläufen in der verbalen Psychotherapie (Regelmässigkeit der Stunden, Therapieunterbrechungen als Krisenzeiten), aber auch in körperbezogenen Verfahren hingewiesen. In diesem zweiten Entwicklungsabschnitt sind das Einüben von sozialem Austausch, das Erleben von Bindung und Intimität wesentlich.
"Welt der Gedanken"
Zwischen dem 7. und dem 18. Monat entstehen das subjektive Selbst ("sense of a subjective self") und die subjektive Bezogenheit ("domain of intersubjective relatedness") Etwa ab dem 7. Monat ist das Kind zum Erleben mentaler Zustände (Gefühle, Motive, Intentionen) fähig. Es merkt, dass es hinter dem (äusseren) Verhalten ein (inneres) Erleben, "seine eigene private Gedankenwelt" (Stern 1991) gibt. Dazu trägt die sogenannte Affektabstimmung ("affect attunement") wesentlich bei, bei der die Mutter die beim Kind wahrgenommenen Gefühlszustände in einer anderen Weise, nämlich in einer anderen Sinnesmodalität widerspiegelt und damit sein Erleben bestärkt. Dieser Vorgang setzt bei beiden Interaktionspartnern die bereits erwähnte transmodale Wahrnehmung voraus. An die Stelle der Imitation des Kindes durch die Mutter tritt "ein Eingehen und Sicheinstellen der Mutter auf das, was im Inneren des Kindes vor sich geht" (Köhler 1986, S. 87) oder - präziser formuliert - auf die in seinem Verhalten zum Ausdruck kommenden Vitalitätsaffekte. Dadurch wird auch das Erleben und Wiedergeben der mentalen Zustände des anderen, das Teilen gemeinsamer und das Erleben unterschiedlicher Erfahrungen auf präverbaler Ebene möglich. Mit der affektiven Einstimmung beginnt nicht nur die Bedeutungsvermittlung, die beim späteren Erwerb von Symbolisierungsfähigkeit und Sprache fortgesetzt wird, sondern es werden auch die Kommunikationsfähigkeit und die Intersubjektivität weiterentwickelt. Für die Intersubjektivität sind neben den genannten gemeinsamen Affektzuständen v.a. gemeinsame Intentionen und die gemeinsame Aufmerksamkeit von Bedeutung.
Etwa mit dem 8. Lebensmonat, in der Zeit also, in der das Kleinkind sich durch die beginnenden Fortbewegungsmöglichkeiten auch in Gefahr bringen kann, tritt das Erleben von Furcht erstmals auf. Damit einhergehend erhalten die Affekte, die zuvor ausschliesslich der Aktivierung der Pflegepersonen dienten, auch eine direkte Bedeutung für das Kind selbst. Neben die kommunikativ-soziale Funktion nach aussen tritt die Signalfunktion nach innen (Köhler 1986). Zur "Welt der Gedanken" gehören auch die beginnende kognitive Funktion des Ueberprüfens von Hypothesen und Erwartungen sowie die Vorgänge des Spezifizierens bzw. Generalisierens. Für den Zeitraum der Entwicklung von subjektivem Selbst und intersubjektiver Beziehung stellt Sander (1975) drei Aspekte heraus. Zunächst verweist er für die Zeit des 7. bis 9. Monats auf "erste Initiativen", die der Säugling innerhalb des mütterlichen Sicherheits- und Umsorgungssystems ergreift. Diese Eigeninitiativen begleitet die Mutter mit ermutigender Unterstützung oder Einspruch. Zwischen dem 10. und 13. Monat ist die "Verfügbarkeit der Mutter", deren Manipulierbarkeit und Grenzen das Kleinkind gleichzeitig austestet, von grosser Bedeutung. Erfahrungen und - v.a. soziales - Lernen werden von den mütterlichen Reaktionsweisen geformt. Die anschliessende Zeit bis etwa zum 20. Monat nennt Sander die "Phase der Selbstdurchsetzung". Das Kind entdeckt eigene Handlungsmotivationen, die z.T. in Konflikt mit den mütterlichen Motiven geraten. Ein Ueberwiegen der Eigenmotivation fördert jeweils die Entwicklung der kindlichen Autonomie. In diesem Zeitabschnitt entfalten sich also v.a. Grundlagen der Intersubjektivität und die Fähigkeit zur Empathie.
"Welt der Wörter"
In der Zeit ab dem 15 Monat bildet sich das verbale Selbst ("sense of a verbal self" mit "domain of verbal relatedness"). Im einzelnen entstehen v.a. die Fähigkeiten zu Selbstreflexion und symbolischer Repräsentation sowie - im engen Zusammenhang damit - zum Produzieren und Begreifen von Sprache. Mit dem Spracherwerb entstehen neue Möglichkeiten der Verständigung. Sander (1975) spricht von "shared awareness", Stern (1992) vom "Teilen von Bedeutungen". Mit der Herausbildung von Symbolisierung und Sprache entsteht zunächst zum episodischen das semantische Gedächtnis (Tulving 1983). Dieses ist nach Begriffen und Symbolen, nach Regeln und Klassen geordnet. Es enthält nicht Einzelerlebnisse, sondern Verallgemeinerungen, also Wissen und nicht nur Erinnerungsspuren. Seine Struktur ist verbal und symbolisch und nicht – wie die des episodischen Gedächtnisses – präverbal und sensorisch.
Die Entstehung der Symbolisierungs- und Sprachfähigkeit, die Ausbildung der "semiotischen Funktion" (Piaget und Inhelder 1991), markiert einen durchaus zwiespältigen Entwicklungsschritt, da das frühere ganzheitliche Erleben von dieser Zeit an dual kodiert wird bzw. zwei Bereichen angehört, dem vorsprachlich erfahrbaren und dem symbolisier- und verbalisierbaren (Schmoll und Haltenhoff 1993). Stern spricht von "parallelen Wirklichkeiten". Vermutlich können nicht alle Erfahrungen auch symbolisch repräsentiert werden, was wohl besonders für die Gefühlszustände und die interpersonellen Erfahrungen zutrifft. Nach Lichtenberg (1991a) zerfällt das kindliche Selbst in ein "erlebendes" und ein "begriffliches Selbst", was an die Gegenüberstellung Freuds (1915) von den "Sach-" und "Wort-vorstellungen" erinnert (vgl. Loewald 1986). Kleinkinder bewegen sich über einen längeren Zeitraum zwischen diesen beiden – präverbalen bzw. verbalen – Formen des Selbsterlebens und der Bezogenheit hin und her, Stern (1992) spricht von einer "Krise des Selbstverständnisses". Die ursprünglichen Erfahrungseinheiten werden nicht mehr global, sondern zunehmend distinkt in ihren einzelnen Kategorien Wahrnehmung, Kognition und Handlung erlebt. Insgesamt ergibt sich durch Reflexion und Symbolisierung für das Kleinkind eine neue Struktur der Wirklichkeit, wozu auch das Erleben der Zeit und ihrer Gerichtetheit gehört.
In der Terminologie des Situationskreiskonzeptes beginnt in dieser Zeit die Entstehung einer je "individuellen Wirklichkeit" (v.Uexküll und Wesiack 1988).
An der Reaktion des Kindes auf sein Spiegelbild lässt sich die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit am Beispiel der Selbstrepräsentation gut verfolgen (Lichtenberg 1991a). Gegen Ende des ersten Lebensjahres ruft das Spiegelbild – wie andere neue Erfahrungen auch – zunächst ein durch Freude und Interesse charakterisiertes Verhalten hervor. Eine im Gesicht des Kindes angebrachte Markierung führt ebensowenig zu einer besonderen Reaktion wie ein verzerrtes Spiegelbild. Zu Beginn des zweiten Jahres ist das Verhalten angesichts des eigenen Spiegelbildes durch Ernst und geringere Aktivität gekennzeichnet. Eine verzerrte Wiedergabe wird bemerkt, und ein Farbklecks auf Stirn oder Nase wird auf dem Spiegel, nicht aber im eigenen Gesicht berührt. Im Alter von 15 – 22 Monaten schliesslich berührt das Kleinkind den Farbfleck in seinem Gesicht.
An diesen Verhaltensänderungen lässt sich ablesen, dass das Spiegelbild zunächst als Auslöser einer handlungsbezogenen Reaktion aufgefasst wird. Erst nach einem Uebergangsstadium, in dem das Bild zu einem Anschauungsobjekt "da draussen" geworden ist, an dem nun auch Veränderungen festgestellt werden, kann es als Spiegelung des Selbst wahrgenommen werden. In ähnlicher Weise dürfte auch der Aufbau der anderen Selbstrepräsentanzen sowie der Objektrepräsentanzen ablaufen. Dieser Prozess führt im Verlauf der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres allmählich zu einer Konstituierung des "ganzheitlichen Selbst" (Lichtenberg) und zu einer sicheren Differenzierung zwischen dem Selbst und der "Welt der Objekte" (E. Jacobson 1973).
Zusammengefasst sind die Möglichkeiten zur Symbolisierung und zur sprachlichen Verständigung die Hauptcharakteristika dieses vierten Lebensabschnittes.
(z.T. zitiert aus: Thure von Uexküll et al. 1997, S. 127 – 133.
5. Stadium des selbstreflexiven Selbst (in der Adoleszenz)
Oft wird auch unter Fachleuten zu wenig berücksichtigt, dass sich die Fähigkeit zur abstrakten Selbstreflexion erst dank der kognitiven Entwicklung in der Adoleszenz herausbildet. Erst in diesem Alter wird der Jugendliche fähig, abstrakt über sich selbst nachzudenken und eine Metaperspektive sich selbst und seinen eigenen Werten und Idealen gegenüber zu gewinnen.
Erwähnenswert ist, dass Damasio (1999/2000) – aus neurowissenschaftlicher Sicht – drei Formen des Selbst und zwei Formen des Bewusstseins beschreibt, die grosse Aehnlichkeiten mit Sterns Entwicklungsphasen aufweisen:
(1) Das Proto- Selbst wird in Verbindung mir tieferen Hirnstrukturen in Verbindung gebracht, die fortlaufend den physischen Zustand des Organismus in seinen vielen Dimensionen abbildet. Er spricht auch von den „neuronalen Karten erster Ordnung“.
(2) „Neuronale Karten zweiter Ordnung“ repräsentieren die Geschichte der Veränderungen, die durch die Interaktion des Organismus mit einem Objekt im ursprünglichen Proto-Selbst hervorgebracht haben (Damasio, S. 214 ff.) (entspricht dem Kern-Selbst nach Stern). Diesen Karten zweiter Ordnung liegen andere Hirnschaltkreise zugrunde.
Durch die Interaktion des „Proto-Selbst“ mit einem Objekt entsteht ein Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit, aus dem, so Damasio, schliesslich das Bewusstsein hervorgeht.
(3) „Neuronale Karten dritter Ordnung“ ermöglichen ein erweitertes Bewusstsein im Zusammenhang mit der neuronalen Repräsentation der Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit im „Kern-Selbst“ vollziehen (vgl. subjektives Selbst nach Stern).
Bindungsforschung: von Bowlby/Ainsworth bis zu Fonagy/Target
Als zweites Standbein der relationalen Sichtweise der Entwicklungspsychologie muss nebst der Säuglingsforschung die Bindungsforschung und -theorie angesehen werden. Erst beide zusammen führten in den Nuller Jahren des 21. Jahrhunderts zu den Mentalisierungsbasierten einerseits (Schwerpunkt Bindungstheorie und Theory of Mind) und den Relational/Intersubjektiven (Schwerpunkt Säuglingsforschung) Praxis-Konzepten andererseits:
Das universelle menschliche Bedürfnis nach emotionaler Bindung und Zusammengehörigkeit wird sicher nicht nur von Bowlby (1969, 1973), dem Begründer der Bindungstheorie, sondern auch von anderen Therapeuten berücksichtigt.
Lange Zeit wurde dieses Bedürfnis im Gefolge Freuds als eine gehemmte oder sublimierte sexuelle Triebregung betrachtet. Das Verdienst Bowlbys ist, dass er die schon beim Säugling beobachtbare starke Bedürftigkeit nach einer solchen Bindung als ein primär vorgegebenes Muster, mit der Funktion der Herstellung von Nähe, erkannt hat. Gerade in Gefahrensituationen wird dieses Muster aktiviert oder wenn das Kind spürt, dass die Erreichbarkeit einer Bindungsperson nicht gesichert ist. Unter diesen Umständen werden viele andere Verhaltensmuster zurückgedrängt und es wird alles darauf ausgerichtet, Nähe wiederherzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Dagegen wird dieses Muster deaktiviert, sofern ein Zustand von Sicherheit erreicht worden ist. Das Kind wendet sich anderen Aktivitäten zu.
Die theoretischen Annahmen der Bindungstheorie konnten insbesondere durch die Arbeiten der Schülerin von Bowlby, Mary Ainsworth, empirisch zum Teil bestätigt werden. Mit Hilfe einer experimentell eingesetzten speziellen Situation, der »fremden Situation« (die Mutter ist abwesend und kommt nach einer Zeit zurück in den Raum), konnte sie das Verhalten von 11 bis 20 Monate alten Kindern untersuchen. Aufgrund solcher Beobachtungen unterschieden Ainsworth (Ainsworth u.a., 1978) und andere Autoren drei Klassen von Bindungsqualitäten bei Kleinkindern (Strauss 2000 S.98ff.):
a) Kinder mit sicher gebundenem Verhaltensmuster sind in der fremden Situation beunruhigt, also so lange die Mutter von ihnen getrennt ist; aber nach der Rückkehr der Mutter wenden sie sich ihr unmittelbar zu.
b) Kinder mit unsicher-vermeidend gebundenem Verhaltensmuster bieten zwar keine offenen Zeichen von Beunruhigung w ährend der Trennung von der Mutter, dafür aber eine Vermeidung von Nähe und Kontakt, nachdem die Mutter zurückgekommen ist.
c) Kinder mit unsicher-ambivalent gebundenem Verhaltensmuster sind während der Trennung von der Mutter verängstigt und lassen sich im Gegensatz zu den sicher gebundenen Kindern nur langsam durch die zurückgckehrte Mutter beruhigen. Sie wechseln dabei zwischen Suche nach Nähe und aggressiver Ablehnung des Kontaktes.
Die Mainstream-Psychoanalyse zeigte sich bis zuletzt eher sehr zurückhaltend gegenüber der Bindungstheorie. Köhler (zitiert bei Strauss 2000 S.101) spricht sogar von einer unüberbrückbaren Abgrenzung. Er ist aber selbst der Meinung, dass der längst fällige Erkenntnisfortschritt durch eine wechselseitige Akzeptanz möglich wäre. Die deutlichen Bezüge zu den Objektbeziehungstheorien Winnicotts und Fairbairns, zu Melanie Klein und zur Selbstpsychologie Kohuts, meint Strauss, seien nicht zu verkennen. Es bestünden prinzipiell Aehnlichkeiten zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie beispielsweise bei dem psychoanalytischen Empathie-Konzept und dem Konzept der Feinfühligkeit in der Bindungsforschung.
Es gibt mehrere Untersuchungen zur Bedeutung der Bindungstheorie für das Verständnis von psychischen Störungen bei Erwachsenen (z.B. eine Verbindung zwischen desorganisierten Bindungsmustern in der Kindheit und dem Auftreten / dissoziativer Störungen im Erwachsenenalter (vgl. Strauss 2000 S.102).
"Insgesamt ist es angesichts der offensichtlichen Bedeutung dieses auch bei Tieren nachweislichen Bedürfnisses nach Bindung erstaunlich, dass die Psychoanalyse so lange Zeit diese - übrigens auch von der Säuglingsforschung unterstützten - Einsichten nicht zur Kenntnis genommen hat. Kritisch könnte man andererseits vermerken, dass die Bindungstheorie sehr viele, wenn nicht sogar alle psychischen Störungen in einseitiger Weise auf Defizite und Mangel an Empathie und Befriedigung des Bindungsbedürfnisses zurückführt und dabei die Bedeutung von eben falls primär - wie das Bindungsbedürfnis - , zumindest als Potenzialität installierten intrapsychischen Gegensätzlichkeiten oft unberücksichtigt lässt. Trotzdem könnte die Bindungstheorie, zumal bei einer angemessenen Berücksichtigung des intrapsychischen Konflikts, von grosser Bedeutung und Relevanz sein, weil offensichtlich mangelhafte Bemutterung und fehlende empathische Begleitung die dialektische Ueberwindung solcher vorgegebenen Gegensätzlichkeiten und die Herstellung einer Balance zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen erheblich erschweren.
Im Weiteren wird meine Kritik dadurch relativiert, dass wichtige Annahmen und Postulate der Bindungstheorie dahingehend interpretiert werden können, dass auch bei ihr von gewissen biologisch vorgegebenen - in der Evolution entstandenen — Gegensätzlichkeiten ausgegangen wird: so etwa bei Sicherheit (durch Bindung) versus Explorationsbedürfnis. Dies entspricht in etwa dem Dilemma Bindung versus Autonomie in unserem [gemeint ist: Mentzos'] Konzept.
Ein anderes Dilemma berichtet Hartmann (2007), nämlich von Menschen, die als Kinder ihre Eltern gleichzeitig als Quelle ihrer Angst und als Mittel zur Auflösung der Angst in verunsichernden Situationen erlebten. (Mentzos 2011, S. 58f.)
Vom Bindungsbedürfnis zu Bindungsstilen
Bowlby hat den Kern seiner Bindungstheorie in drei zentralen Postulaten zusammengefasst:
1. „Wenn ein Individuum darauf vertraut, dass eine Bindungsfigur verfügbar ist, wann immer es das wünscht, dann neigt dieses Individuum weniger zu intensiver oder chronischer Furcht als eine andere Person, die dieses Vertrauen aus irgendwelchen Gründen nicht besitzt.
2. Vertrauen in die Verfügbarkeit einer Bindungsperson oder das Fehlen desselben entwickeln sich nach und nach in den Jahren der Unreife- Kleinkindzeit, Kindheit und Jugend-, und was immer sich an Erwartungen in diesen Jahren entwickelt, bleibt für den Rest des Lebens relativ unverändert bestehen.
3. Die mannigfaltigen Erfahrungen in Bezug auf die Zugänglichkeit und Reaktionsbereitschaft von Bindungsfiguren, die unterschiedliche Individuen in den Jahren der Unreife entwickeln, sind ziemlich genaue Reflektionen der Erfahrungen, die diese Individuen tatsächlich bereits gemacht haben." (Bowlby, 1976, S. 246)
Bowlby bezeichnete den Niederschlag dieser Erfahrungen als „inneres Arbeitsmodell".
Innerhalb des konsistenztheoretischen Modells entspricht dieses innere Arbeitsmodell ungefähr den motivationalen Schemata, die um das Bindungsbedürfnis herum entwickelt werden. Das Kind verinnerlicht seine frühen dyadischen Beziehungserfahrungen.
Sie schlagen sich in seinem impliziten Gedächtnis in Form von Wahrnehmungs-, Verhaltens-, emotionalen Reaktionsbereitschaften und motivationalen Bereitschaften nieder.
Auch Youngs (1994) „Early Maladaptive Schemata" kann man großenteils als Niederschlag solcher frühen Beziehungserfahrungen ansehen. Welche motivationalen Schemata sich aus den Beziehungen zu den primären Bezugspersonen in der frühen Kindheit entwickeln, hängt maßgeblich von der Verfügbarkeit und der Einfühlsamkeit dieser ersten Bezugspersonen ab. In einer guten Bindung sind die Bezugspersonen ein immer erreichbarer Zufluchtsort, der physische Nähe, Schutz, Sicherheit und Trost bietet. Ungünstige motivationale Schemata entwickeln sich nach diesen Vorstellungen dann, wenn entweder die Erreichbarkeit der Bezugspersonen nicht gegeben ist oder wenn auf Seiten der Bezugspersonen mangelnde „Feinfühligkeit" besteht, wenn also die Bezugspersonen entweder konsistent oder inkonsistent-unvorhersehbar nicht zugänglich sind.
„Die Abweisung führt zu einer emotionalen Entfremdung des Kindes von der Bindungsperson, die Unvorhersagbarkeit macht es übermäßig abhängig von ihr, d.h. das Bindungssystem ist wegen der Angst vor Verlust der Bindungsperson chronisch aktiviert. In einer ungestörten Bindungsbeziehung erhält das Kind Trost, Fürsorge und Schutz, wenn es danach verlangt, es kann aber auch seiner Neugier und seinen sozialen Wünschen nach neuen Bekanntschaften nachgehen, ohne von der Bindungsperson ungebührlich gehindert oder gar dafür bestraft zu werden." (Grossmann, 1990, S. 232)
Bowlbys Mitarbeiterin Mary Ainsworth (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978) entwickelte ein standardisiertes Beobachtungsverfahren zur Untersuchung, wie Kinder auf Trennung von ihren primären Bezugspersonen reagieren. Dabei werden in der Regel Kinder zwischen 11 und 20 Monaten untersucht. Mit diesem Beobachtungsverfahren wurden später auch von vielen anderen Arbeitsgruppen empirische Untersuchungen zum Bindungsverhalten durchgeführt (s. dazu die Überblicke bei Schmidt & Strauss (1996)
sowie bei Strauss & Schmidt (1997)).
Aus diesen Untersuchungen schälten sich vier immer wieder vorkommende Bindungsmuster heraus, die nach den gerade vorangegangenen Überlegungen gewissermaßen als Momentaufnahme der bis dahin entwickelten Konstellation motivationaler Schemata der untersuchten Kinder angesehen werden können:
1. Kinder mit sicherem Bindungsverhalten. Sie reagieren mit Beunruhigung auf eine Trennung von der Mutter und suchen sofort ihre Nähe, wenn sie wiederkommt. Dieses Bindungsmuster geht mit einem guten Urvertrauen einher und ermöglicht die Entwicklung konfliktfreier Annäherungsschemata zur Befriedigung des Bindungsbedürfnisses.
2. Kinder mit unsicherer Bindung und vermeidendem Beziehungsverhalten. Sie vermeiden nach einer Trennung Nähe und Kontakt zur Mutter und reagieren schon auf die Trennung selbst nicht mit der bei sicher gebundenen Kindern üblichen Beunruhigung.
Bei diesem Bindungsmuster überwiegen die Vermeidungsschemata die Annäherungsschemata. Das Individuum setzt sich keinen Verletzungen mehr aus, indem es sich auf Nähe nicht mehr einlässt. Der Preis dafür ist eine schlechte positive Befriedigung des Bindungsbedürfnisses.
3. Kinder mit unsicherer Bindung und ambivalentem Beziehungsverhalten. Diese Kinder sind während der Trennung sehr verängstigt und wechseln nach Rückkehr der Mutter zwischen einer aggressiven Ablehnung des Kontaktes und der Suche nach Nähe. Diese Kinder sind nach der Trennung ganz mit der Beziehung beschäftigt und unfrei für andere Aktivitäten. Dieses Bindungsmuster ist durch konflikthafte motivationale Schemata gekennzeichnet. Bei Nähe entstehen Befürchtungen, sie zu verlieren, und bei fehlender Nähe entsteht Angst vor dem Alleinsein.
4. Kinder mit unsicherer Bindung und desorganisiert/desorientiertem Beziehungsverhalten. Diese Kinder reagieren auf Trennung von und Rückkehr der Bindungsperson mit bizarren und stereotypen Verhaltensweisen. Dieses Bindungsmuster kommt weniger häufig vor als die anderen. Es beruht auf einer schweren Verletzung des Bindungsbedürfnisses durch eine fehlende oder missbrauchende Beziehung zu einer primären Bezugsperson mit schwerwiegenden Folgen für die intrapsychische Regulation (s. unten).
In den Untersuchungen von Ainsworth et al. (1978) zeigten zwei Drittel der Kinder ein sicheres Bindungsmuster. Immerhin hat aber ein Drittel der Kinder einer unausgelesenen (amerikanischen) Population schon im Alter zwischen 11 und 20 Monaten ein Beziehungsverhalten, das stark durch Vermeidung und/oder negative Emotionen gekennzeichnet ist. Diese Kinder haben also bereits in diesem jungen Alter rudimentäre Vermeidungsschemata, die auf den weiteren Verlauf ihrer Beziehungserfahrungen ungünstigen Einfluss nehmen. Main, Kaplan und Cassidy (1985) haben Kinder, deren Bindungsmuster zwischen 11 und 20 Monaten untersucht worden waren, etwa fünf Jahre später, im Alter von sechs Jahren, nachuntersucht. Es zeigte sich, dass bei etwa 80 % der Kinder das Bindungsmuster über diesen Zeitraum stabil geblieben war. Waters, Merrick, Treboux, Crowell und Albersheim (2000) erhoben den Bindungsstil bei Kindern im Alter von 12 Monaten und dann wieder 20 Jahre später. Die Zuordnung zu einem sicheren versus unsicheren Bindungsstil stimmte in 72 % der Fälle überein. Änderungen im Bindungsstil konnten in den meisten Fällen mit gravierenden negativen Lebensereignisse wie Scheidung oder Depression der Eltern in Verbindung gebracht werden.
Beckwith, Cohen und Hamilton (1999) konnten in den meisten Fällen plausible lebensgeschichtliche Ursachen für Veränderungen des Bindungsstils in negative und positive Richtungen ausmachen.
Zwischen Kindern mit sicherem und unsicherem Bindungsmuster fanden sich in Untersuchungen im Vorschulalter bedeutsame Unterschiede im Spielverhalten, im sozialen Kontaktverhalten, in der Ausgewogenheit und Flüssigkeit der Kommunikation sowie in Autonomie und Selbstvertrauen (Erickson, Sroufe & Egeland, 1985; Grossmann, Grossmann, Sprangler, Suess & Unzne, 1985; Main, Kaplan & Cassidy, 1985; Renken, Egeland, Marvinney, Mangelsdorf & Sroeufe,1989). Die Unterschiede waren immer zu Gunsten der Kinder mit sicherem Bindungsmuster.
Die Beziehungserfahrungen eines Menschen schon in den ersten Lebensmonaten legen also die Grundlage für motivationale Schemata, die dann ihrerseits schon sehr früh auf das Beziehungsverhalten des Kindes so Einfluss nehmen, das eine diese Schemata bestätigende Rückmeldung wahrscheinlich ist. Einen entscheidenden Einfluss darauf hat die Verfügbarkeit und insbesondere die Feinfühligkeit der primären Bindungspersonen des Säuglings und Kleinkindes. Deren Feinfühligkeit wiederum ist wenigstens zum Teil ein Resultat ihrer eigenen frühkindlichen Beziehungserfahrungen. Benoit und Parker (1994) untersuchten den Bindungsstil von Müttern mit dem Adult Attachment Interview, einem inzwischen sehr viel eingesetzten Instrument zur Erfassung von Bindungsmustern bei Erwachsenen. Sie konnten aus der Kenntnis des so festgestellten Bindungsstils der Mutter in 81 % der Fälle voraussagen, was für eine Bindungsqualität diese Mütter mit ihrem Kind hatten. Sogar der Bindungsstil der Grossmutter sagte zu 75 % das Bindungsmuster ihrer Enkel voraus! Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Main et al. (1985) sowie Grossmannn et al. (1989).
Quelle: Grawe, Klaus (2005). Neuropsychotherapie, S. 192-195
Joseph D. Lichtenberg
Bei der Auswertung von Säuglingsbeobachtungen, die sich über ganze Tage (24 Std.) erstreckten, fand Lichtenberg fünf basale Verhaltenskategorien, die sich folgerichtig ebenso vielen Motivationssystemen zuordnen liessen. Diese Neu-Konzeption wurde von ihm in der Absicht geschaffen, das unzureichende, dualistische Triebmodell zu ersetzen:
"Es war mein Ziel, Psychoanalytikern eine Möglichkeit anzubieten, Motivation zu begreifen, die die duale Triebtheorie ersetzen könnte, während sie allen Phänomenen gerecht wird, die die Theorie hatte erklären helfen können (Lichtenberg, 1989, S. 336. Übersetzt: D.K.).
Lichtenberg spricht verkürzt von motivationalen Systemen, obwohl sie seiner Erklärung nach, vollständigerweise, als motivational-funktionale Systeme bezeichnet werden müssten, da es sich um funktionale biologisch-psychologische Einheiten handelt, die wichtige überlebenssichernde, entwicklungsfördernde und bedürnisbefriedigende Aufgaben erfüllen.
Diese fünf Systeme repräsentieren folgende fünf Grundbedürfnisse, bzw. entwickeln sich als Antwort auf diese (Lichtenberg 1989 S.1):
1. Das Bedürfnis (need) nach psychischer Regulation von physiologischen Erfordernissen
2. das Bedürfnis nach Bindung (attachment) und Anschluss an Gruppen (affiliation)
3. das Bedürfnis nach Exploration und Selbstbehauptung (assertion)
4. das Bedürfnis abweisend zu reagieren, durch Widerstand oder Rückzug
5. das Bedürfnis nach sinnlichem Vergnügen und sexueller Erregung.
Nach Lichtenberg besteht jedes motivationale System aus einer Gruppe, untereinander verbundener Bedürfnisse und Wünsche, die bestimmte funktionelle Gemeinsamkeiten
aufweisen. Sie stehen in einer hierarchischen Ordnung zueinander, gemäss der Reihenfolge ihres Auftretens in der psychischen Entwicklung. Zu Beginn des Lebens stehen die eher biologisch geprägten Bedürfnisse im Vordergrund, dann treten Bedürfnisse, die die Bildung komplexerer und eher psychologischer Verhaltens-Schemata zu ihrer Befriedigung voraussetzen, hinzu. Diese Schemata entwickeln sich zu absichtsvollen, komplexer werdenden Planungs-Schemata. Auf noch höherer Stufe werden mit der Entstehung begrifflich-symbolischer Repräsentanzen, ab der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres, auch symbolische Wünsche und entsprechende psychologische Befriedigungs-Strukturen möglich (vgl. Lichtenberg 1989 S.17).
Die unterste biologische Ebene der motivationalen Systeme schliesst sowohl angeborene physiologisch ausgelöste Bedürfnis-Wahrnehmungen - wie z.B. das Durstgefühl bei Flüssigkeitsmangel -, wie auch ererbte Verhaltens-Muster und - Bereitschaften - z.B. auf Bedrohung mit Kampf oder Flucht zu reagieren - ein (vgl. Lichtenberg 1989 S.2). Die höchste Stufe der Wünsche beinhaltet auch symbolische Repräsentanzen von Zielen, Ambitionen und Idealen.
Alle drei Ebenen dieser Systeme, d.h. die der Bedürfnisse (needs) in Form grundlegender biologischer Anforderungen; die der Intentionen und Pläne in Form perzeptiv-affektiver Handlungsmuster und drittens, die der symbolischen Repräsentanzen in Form von Wünschen, bestehen über das ganze Leben fort. Diese drei Ebenen lassen sich am Beispiel des motivationalen Systems der Bindung wie folgt beschreiben: Zu Beginn des Lebens finden sich biologisch vorgeprägte Verhaltensmuster, die, die Bildung und Festigung von Bindung fördern, etwa die visuelle Präferenz des Neugeborenen für das menschliche Gesicht. Später entwickelt sich ein riesiges Repertoire gelernter Schemata, die wir in Form vorbewusster Automatismen ausführen, z.B. Gruss- und Abschieds-Rituale. Darüberhinaus verleihen wir einer scheinbar unendlichen Bandbreite von Wünschen und Phantasien, die mit Bindungen und Beziehungen zusammenhängen, symbolisch repräsentierte Formen, die unser Innenleben bereichern (vgl. Lichtenberg 1989 S.17).
Lichtenberg vertritt aus entwicklungspsychologischer Sicht die These, dass Motivationen sich allein aus erlebten Erfahrungen entwickeln.
Konsequenzen aus der Säuglingsforschung für die Psychotherapie
Dieter Kunzke schreibt in "Die Auswirkungen der modernen Säuglingsforschung auf die Psychoanalyse" bereits 1993 folgendes:
Kurz: Nicht die historische Wahrheit ist massgeblich für die unbewusste Steuerung, sondern die, die sich narrativ präsentiert (Spence 1982). Von anderer Seite wird dem entgegengehalten, dass oft erst das Aufdecken und vorsichtige Rekonstruieren realer Traumatisierungen und Entbehrungen dem Verständnis und den heilenden Verarbeitungen genügend emotionale Tiefe vermittelt. Starke, oft lebenslang unterdrückte Affekte gegenüber teilweise abgewehrten Erlebnissen werden oft erst im Angesicht leidlich genau rekonstruierter Ereignisse als berechtigt empfunden, können dann erst zugelassen und damit nachträglich erlebt werden. Gerade aber befreites Affekterleben kann, wenn es therapeutisch begleitet wird, ein bedeutender kurativer Faktor sein (vgl. Jacobs, 1989 und Haynal, 1989). Oft ist es gerade der beharrliche Versuch, die realen, frühen Lebensumstände so genau als möglich zu rekonstruieren, der stark abgewehrtes Material überhaupt erst auffindbar macht (vgl. Damm 1993).
Auch dem Argument, dass die realen Umstände der frühen Lebensgeschichte generell nicht aufhellbar wären, da sie immer nur über eine erlebnishafte, nachträgliche Interpretation des Patienten zugänglich wären, kann widersprochen werden. Erstens weiss ein Patient oft mehr über die realen Umstände seines frühen Lebens, z.B. aus Erzählungen von anderen Familienmitgliedern mehr, als ein erster Eindruck glauben macht und zweitens lassen sich die tatsächlichen Lebensereignisse in vielen Fällen durch das dargebrachte Material mit relativ grosser Genauigkeit rekonstruieren (z.B. Anthi 1983 und Wallace 1985). Bescheidet man sich von vorneherein mit eher impressionsartigen Einsichten des Patienten, statt zu versuchen, auch die realen Umstände früher Erfahrungen zu eruieren, besteht die Gefahr, dass viele realitätsbedingte Aspekte von Erfahrungen unentdeckt, unverstanden, und damit unverarbeitet bleiben. Ein erfahrener Analytiker mit reichen Kenntnissen aus der experimentellen und beobachtenden Säuglingsforschung kann ein breiteres Spektrum möglicher realer Ereignisse, Abläufe und Traumatisierungen als prägend ins Auge fassen und in die Behandlung einbeziehen. Vage und allgemeine Vorstellungen über diese frühe Zeit und ihre psychischen Zusammenhänge sind für die Gewinnung eines umfassenden und tiefen Verständnisses des Patienten und seiner persönlichen Lebensgeschichte sicherlich ein Hemmnis. Dass letztlich auch der bemühteste Versuch, die frühe Lebensgeschichte zu erhellen, eine intersubjektive Konstruktion sein muss, ist evident, entbindet aber nicht von der Notwendigkeit, zu versuchen, der historischen Wahrheit, soweit als möglich gerecht zu werden. (Ausführlicher ist dieser Diskurs in Dornes 1992 S.29ff. und 231ff. besprochen).
Es ist für die Psychoanalyse geradezu kennzeichnend, dass sie versucht in der Behandlung die unterschiedlichen Modi der Wahrnehmung, der sozialen Beziehungen,
der kognitiven Funktionen und der unterschiedlichen Erlebnisweisen im Laufe der Entwicklung zu berücksichtigen. Aus den Ergebnissen der Säuglingsforschung ergeben
sich neue Hinweise zur Gestaltung heilungsfördernder Interaktionen zwischen Patient und Therapeut und damit bedeutsame Implikationen für die Beantwortung der Fragen:
Wie heilt und korrigiert die Beziehung zum Therapeuten und was muss in einer aussichtsreichen Behandlung gegeben sein, dass neue Erfahrungen in der Therapie stattfinden und verändernd wirksam werden können?
Bei aller Begeisterung für das 'neue` Gebiet der Säuglingsforschung und für die sich erweiternden Möglichkeiten der Behandlung 'früher Störungen' sollten nicht andere, spätere Lebensphasen in ihrer Bedeutung für die gesamte psychische Entwicklung vernachlässigt werden. Es gibt noch andere weisse Flecken auf der psychoanalytischen Landkarte der Entwicklung, man denke etwa an die nachödipale Lebensspanne bis zur Pubertät.
Zentrales Ziel dieser Arbeit war es zu zeigen, welche Teile des theoretischen und behandlungstechnischen Inventars der Psychoanalyse, durch die Erkenntnisse der modernen Säuglingsforschung infrage gestellt, überdacht oder aufgegeben werden sollten und welche Aenderungen und Ergänzungen möglich und nötig sind. Dass diese Arbeit nur Partikel zu dieser grossen und schwierigen Aufgabe beisteuern kann, ist selbstverständlich.
Emotionspsychologie: Affektregulation
Ein weiteres Gebiet, auf dem sich die empirische Säuglingsforschung als ausgesprochen fruchtbar erwies, ist die Affektregulation, eine Thematik, die für alle Ansätze der Frühprävention entscheidend ist. Eine mangelnde Entwicklung einer adäquaten Impuls- und Affektregulation ist bekanntlich aus psychoanalytischer Sicht einer der wesentlichen Faktoren bei der Genese von AD(H)S und anderen Entwicklungspathologien.
So enthalten die unterschiedlichsten psychoanalytischen Entwicklungstheorien ein implizites Emotionsmodell. Nach Spezzano (1993) ist es vor allem das Verdienst von William R.D. Fairbairn, in den 1940iger Jahren die explizite Auseinandersetzung mit Affektregulierungen initiiert zu haben. Er ist vor allem bekannt geworden durch die oben schon zitierte Aussage, die Libido sein primär nicht lustsuchend, sondern objektsuchend. Affekte dienen dabei als Möglichkeit, psychisch zwischen „guten“ und „schlechten“ Objekten bzw. Erfahrungen und damit verbundenen Ichzuständen zu unterscheiden, was eine grosse seelische Bedeutung hat, weil die unerträglichen negativen internalisierten Objekte, Ichanteile und Beziehungserfahrungen ins Unbewusste verdrängt werden. – Doch waren es vor allem die empirischen Befunde der Säuglingsforschung, die auch bei Psychoanalytikern das Interesse an Affektregulierungen weckte. Zahlreiche Untersuchungen konnten belegen, dass das wichtigste Verstärkungssystem der frühen Kindheit die Affektivität des Sozialpartners ist (Krause, 1998, 2005). Dies gilt sowohl für die ersten Lebensmonate als auch später, wenn etwa mit einem Jahr das Kind im Zusammenhang mit der zunehmenden Mobilität und damit verbundenen kognitiven, sprachlichen und emotionalen Veränderungen vermehrt auf ein soziales, sicherheitsspendendes Versichern seiner „Heimatbasis“ durch seine primäre Bezugsperson angewiesen ist. Zu dem sogenannten „Social Referencing“ wurde eine Vielzahl eindrücklicher Studien vorgelegt. Wahrscheinlich das bekannteste Experiment ist eine Modifikation des Kriechens über eine „visuelle Klippe“, womit ursprünglich die Wahrnehmung des Kindes und alteradäquqte Angstreaktionen untersucht wurden. Nun zeigten neue Analysen der Videobänder, dass Krabbelkinder den Blickkontakt zu ihren Müttern suchen, sobald sie die (vermeintliche) Gefahr wahrnehmen. Dabei zeigt sich in eindrücklicher Weise, dass nicht die rein kognitive oder sprachliche Rückmeldungen die Angst der Kinder mildert: es ist vor allem die resonante, emotionale Reaktion der Bezugsperson, die dem Kind Sicherheit spenden kann. – Auch an diesem Beispiel sehen wir die Relevanz einer empathischen Begleitung der frühen Entwicklungsschritte für das Ausbilden emotionaler, kognitiver und sozialer Kompetenzen. Fehlen die Fähigkeiten zum „attunement“, containing und holding, sowie später zum social referencing, kann das Kind nicht durch Identifikation mit dem „genüngend guten“ Objekt sich mit diesen Fähigkeiten identifizieren und sukzessiv eine eigene innere Impuls- und Affektregulierung entwickeln.
Daniel Stern (1985), um nur ein Beispiel herauszugreifen, hat in Mikroanalysen von Video aufgezeichneten Interaktionen eindrucksvoll gezeigt, wie Säuglinge auf ihre depressive Mütter reagieren. Er hat verschiedene Typen solcher Reaktionen unterschieden. Säuglinge eines Typs scheinen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen, ihre “toten Mütter” zum Leben zu erwecken: ein beobachtbares hyperaktives Verhalten ist die Folge. Zudem scheinen diese Babys über zu wenig innere und äussere Spielräume zu verfügen. um ihre eigenen Impulse und Gefühle als Indikatoren eines “auftauchenden Selbst “ erleben zu können. Sie können zu wenig die wiederkehrende Erfahrung einer “Selbst-Wirkung”, “Selbst-Kohärenz” und “Selbst-Affektivität” machen, das ihnen das basale Gefühl einer eigenen Selbst-Geschichte vermittelt, ein Gefühl, das, wie wir inzwischen wissen, eine der Voraussetzungen darstellt, ein stabiles Kernselbstgefühl zu entwickeln. Dies mag einer der Gründe sein, warum in psychoanalytischen Psychotherapien häufig die Entwicklung eine “falschen Selbst” bei ADHS Kindern beobachtet werden kann.
Resonanz- und Synchronisations-Entwicklung
Oft ist es eine Reihe von kleinen Missverständnissen, die ein Zusammenkommen verhindern. Beide, Mutter und Kind, sind in einem Erregungszustand, der sich immer weiter aufschaukelt und aus dem keiner von beiden herausfindet. Manche Mütter beschreiben diese Situation, „wir waren in einem Hamsterrad gefangen und konnten uns nicht helfen“.
Wenn sich diese missglückten Interaktionen häufig wiederholen, können sie fatale Folgen haben, weil die Babys in ihrem Erregungszustand nicht wirklich beruhigt werden können. Der Erregungszustand baut sich mit jeder weiteren missglückten Interaktion weiter auf und wird mehr und mehr zum Muster. Und auch die Mutter gerät immer mehr unter Druck: Wann kommt das nächste Schreien, wie lange wird es dauern, Angst vor dem Versagen... es ist ein Teufelskreis, der das Zusammenleben mit einem Baby so schwer macht und die Freude aneinander erstickt. Beide suchen sich und können nicht zueinander finden. In dieser Situation bleibt als Ausweg für das Baby der Ausstieg aus der Beziehung und der Rückzug auf sich selbst [was den 'Narzissmus-Modus' auslösen kann, s.o.]. Ohne Intervention, ohne Unterstützung mag es Mutter und Kind unmöglich werden, neue Lösungen zu finden, neu zusammenzukommen.
Psychopathie-Entwicklung bei ausbleibender Resonanz und Vernachlässigung
„Kälte“ in menschlichen Alltagsbeziehungen (Götz Eisenberg)
An einem der ersten schönen Tage saß ich auf dem Balkon und genoss die Sonne. Von der Straße drang das Schreien eines Kleinkindes herauf. Eine junge Mutter schob ihr Kind in einem schwarzen Designer-Kinderwagen vor sich her.
Sie trug eine Hiphop-Mütze und eine großflächige Sonnenbrille. Sie telefonierte mit ihrem Handy. Das Schreien des Kindes wurde immer wütender und lauter. Die Mutter hielt an, beugte sich hinab und nestelte aus dem am Wagen hängenden Einkaufsnetz irgendeine Süßigkeit hervor, die sie dem Kind in den Mund stopfte. Gierig lutschte es die Süssigkeit in sich hinein. Die Frau schob den Wagen weiter und setzte ihr Telefonat fort. 150 Meter weiter begann das Schreien von neuem. Seine Dezibelstärke konnte mit einer Kreissäge konkurrieren. Wieder folgte der Griff ins Einkaufsnetz, wieder bekam das Kind „das Maul gestopft“.
Lachend sagte die Mutter etwas in ihr Telefon und ging weiter.
Auf die Idee, dass das Kind weint, weil es sich einsam fühlt und das Telefonieren als Missachtung empfindet, kam diese Mutter offensichtlich nicht. […]. Was sollen diese Kinder machen? Sie schreien sich die Seele aus dem Leib, weil die erfahrene Bindungslosigkeit sie in einen Zustand bodenloser Angst versetzt. Vorbei die Zeiten, da Mütter den Kinderwagen schoben und dabei mit ihrem Kind plapperten und lauthals Kinderlieder sangen, […].
Die Sterne des Kindes sind […] die Augen der Mutter – und der Glanz des Glücks in ihnen, der auf das Kind zurückfällt und von ihm als Glücksversprechen und Gewissheit des eigenen Werts verinnerlicht wird. Die Mutter und die Welt sind anfangs eins, die Mutter gibt dem Kind im Rahmen dessen, was Margaret Mahler als die „psychische Geburt des Kindes“ bezeichnet hat, also in einem Akt fortgesetzter Schöpfung, seine Realität: Das Kind existiert, weil und insofern die Mutter es sieht. […] Mütter und Väter sollten also, wenn sie mit ihrem Kind zusammen sind, mit ihm im Dialog und einem regen emotionalen Austauschprozess und nicht mit anderen Dingen beschäftigt sein.
[…] Wenn Kälte und Indifferenz, die aus der Grundstruktur dieser Gesellschaft stammen, inzwischen bis in die Poren des Alltagslebens und die intimen Binnenwelten der Menschen vorgedrungen sind und sogar das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern prägen, ist es zu spät. Man darf sich nicht wundern, dass unter solchen Bedingungen vermehrt psychisch frigide und moralisch verwilderte Menschen heranwachsen. Der nur an privater Nutzenmaximierung interessierte und zur Einfühlung in andere unfähige „Psychopath“ droht zur sozialpsychologischen Signatur des globalen Zeitalters zu werden. Es mag sein, dass heutige Kinder weniger geschlagen und körperlich gezüchtigt werden, aber dafür haben sie unter neuartigen Entbehrungen zu leiden, die womöglich nicht minder grausam sind.
Quelle: www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Kinder-leiden-unter-neuartigen-Entbehrungen-id15271736.html
Missglückte Mutter-Kind-Begegnungen
"Oft ist es eine Reihe von kleinen Missverständnissen, die ein Zusammenkommen verhindern. Beide, Mutter und Kind, sind in einem Erregungszustand, der sich immer weiter aufschaukelt und aus dem keiner von beiden herausfindet. Manche Mütter beschreiben diese Situation, „wir waren in einem Hamsterrad gefangen und konnten uns nicht helfen“.
Wenn sich diese missglückten Interaktionen häufig wiederholen, können sie fatale Folgen haben, weil die Babys in ihrem Erregungszustand nicht wirklich beruhigt werden können. Der Erregungszustand baut sich mit jeder weiteren missglückten Interaktion weiter auf und wird mehr und mehr zum Muster. Und auch die Mutter gerät immer mehr unter Druck: Wann kommt das nächste Schreien, wie lange wird es dauern, Angst vor dem Versagen... es ist ein Teufelskreis, der das Zusammenleben mit einem Baby so schwer macht und die Freude aneinander erstickt. Beide suchen sich und können nicht zueinander finden. In dieser Situation bleibt als Ausweg für das Baby der Ausstieg aus der Beziehung und der Rückzug auf sich selbst. Ohne Intervention, ohne Unterstützung mag es Mutter und Kind unmöglich werden, neue Lösungen zu finden, neu zusammenzukommen".
Quelle: Gisela M. Lenz & Dorothee von Moreau. Resonanz und Synchronisation als regulative Faktoren von Beziehung.
Die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstregulation
Den Erkenntnissen der Säuglingsforschung folgend kommt der Säugling mit einer Fülle von angeborenen Fähigkeiten und Kompetenzen auf die Welt (siehe Ueberblick bei Dornes, 1993 und 1999).
Trotz seiner motorischen Unbeholfenheit verfügt er über sehr feine Fähigkeiten zur Unterscheidung verschiedener Erlebensqualitäten über die Sinne (vgl. Papousek, 2001). Schon aus seiner vorgeburtlichen Zeit „kennt“ er verschiedene Befindlichkeiten und Erregungszustände, denen er jetzt, nach der Geburt, neu ausgeliefert ist: Körperlich und hormonell von der Mutter getrennt, gilt es diese anders, nämlich selbständiger bewältigen zu lernen.
Der Säugling empfindet „Objekte und Ereignisse vor allem als die Gefühle, die sie in ihm wachrufen.... Alles, was das Kind erlebt, .... hat seinen besonderen Gefühlston“ (Stern, 2000 b, 21), z.B. als ein leuchtender oder klingender Raum, ein Ansturm, eine Welle. Er ist darin selbst verwoben und erlebt sich in einem dynamischen Fluss mit unterschiedlichen Gefühlskonturen.
Diese unterscheiden sich in Zeitkontur, Intensität, Spannungsauf- und abbau. Im Empfinden der Welt entwickelt der Säugling eine differenziertere Palette innerer Zustände. Für Basch (1994) sind diese Zustände (states) Vorläufer der Gefühle. Sie zeigen ähnliche Qualitäten wie die Vitalitätsaffekte (Stern 2000 a) und die background-feelings (= Hintergrundemotionen, Damasio, 2001). Es handelt sich um schnell wechselnde Veränderungen von Spannungszuständen, die als dramatisch erlebt werden können oder als in ihrer Feinheit kaum wahrnehmbar, wie ein
permanentes Schwingen um einen Punkt herum. Entscheidend ist, dass diese Zustände reguliert werden. Dazu stehen dem Säugling angeborene Möglichkeiten wie Blickzu- oder abwendung, Schreien, Saugen, Strampeln zur Verfügung. Durch diese Verhaltensweisen teilt er sich anderen mit, ist aber darauf angewiesen, dass er von diesen darin auch verstanden wird, sonst läuft er mit seinen Botschaften ins Leere. Das angeborene Verhaltensrepertoire verliert dann seinen Sinn, kann nicht zu selbstregulativen Prozessen genutzt werden und verliert sich in einem Teufelskreis
der Selbstbezogenheit.
Dennoch ist der Säugling bei der Regulation seiner Befindlichkeit auf weitere Unterstützung angewiesen. Laut Basch (1994) erwirbt er diese Fähigkeit zur
Regulation seiner Befindlichkeit in seinen ersten sechs Lebensmonaten über die Interaktion mit dem Anderen. Dadurch, so Basch, vollzieht sich für den Säugling eine
erste Anpassung an die Welt: Mit der Erfahrung von Regelmäßigkeit und Wiederholung in seinen Lebensabläufen und in der Interaktion mit anderen erhält
sein Leben Struktur und Überschaubarkeit; im Fluss und Wechsel seiner verschiedenen inneren Zustände wächst ein Gefühl von Beherrschbarkeit und Sicherheit.
Gegenseitige Regulation ist für beide Partner ein angenehmes Erlebnis: jetzt ist die Welt in Ordnung. Für den Säugling bedeutet dieses Empfinden, dass er offen auf das
reagieren kann, was als nächstes kommt. Mit dieser Offenheit für die Welt gewinnt er an Erfahrung des „In-der-Welt-Seins“ und an Flexibilität. Denn je mehr Personen
seines Umfeldes mit ihm in dieser Weise umgehen, desto mehr und umfassender wird er in seinen Fähigkeiten ausgebildet, sich an die Welt anzupassen. Die
Interaktion mit seinen Bezugspersonen und anderen wird den Hintergrund seiner sozialen Empfindungen legen und schafft Flexibilität im psychologischen System des
Kindes.
Was aber passiert, wenn der Säugling nicht reguliert wird, wenn zum wiederholten Mal der Uebergang von einer höchst unangenehmen Erregung hin zum Wohlbefinden nicht gelingt, wenn kleine Irritationen immer wieder in Katastrophen münden, wenn zwischenmenschlichen Begegnungen der Schatten von Angespanntheit innewohnt und eine Kette von Missverständnissen nach sich zieht? Welche Erfahrungen des In-der-Welt-Seins, welches implizite Wissen über die Welt prägt sich, welche Erregungsmuster bilden sich hier und wie groß mag dann die Palette sein, auf die
Erfahrungen von außen und innen flexibel zu reagieren? Um in der Welt der komplexen Emotionen bestehen zu können, ist die grundlegende frühe Qualität der ersten Interaktionen bedeutsam, auf der sich alles aufbaut und die entscheidet, ob das Leben als anstrengend erlebt wird oder mit Leichtigkeit zu bewältigen ist.
Unbestritten spielen bei diesem feinen Anpassungsprozeß Faktoren wie Temperamentseigenschaften oder Irritabilität des Kindes eine Rolle (vgl. Kohnstamm, Bates & Rothbart, 1989; Spangler & Scheubeck 1993), doch wird dieser Prozess auch getragen von der Feinfühligkeit und Flexibilität der Mutter.
Implizites Wissen – Das „Wissen“ von der Welt
Implizites Wissen ist die Summe aller sensorischen und sozialen Erfahrungen. Es ist die Essenz unserer Eindrücke, unseres Empfindens von der Welt und von uns selbst. Dieses „Wissen“ ist nicht sprachlich-symbolisch, sondern rein sensorisch kodiert, es ist „vorbewusst“, prozedural, d.h. wir verfügen darüber nicht bewusst, es ist auch nur schwer in Worte zu fassen, wir können es nicht bei Bedarf abrufen oder einfach über kognitive Strategien verändern. Strukturveränderungen des Impliziten sind ausschließlich über neue multisensorische und/oder soziale Erfahrungen möglich oder, wie Roth (2001) sagt, wenn wir emotional tief erschüttert werden.
Prozedurales Wissen bezieht sich meist auf Lernvorgänge, die sich automatisiert haben. Daher bevorzugen verschiedene Autoren Begriffe wie „erfahrungsabhängiges Wissen“. Im Kontext des sozialen Lernens tauchen auch Begriffe wie „moody memory“ (stimmungsabhängige Erinnerung) oder „state-dependant learning“ (LeDoux, 1999, 2001) auf. Roth (2001) spricht vom „unbewussten emotionalen Erfahrungsgedächtnis“.
Mit der Geburt und der neuen Existenz als getrenntes Wesen beginnt für das Kind der lebenslange Prozess des Hineinwachsens in eine Welt sozialer Beziehungen.
Das implizite Wissen (the implicit knowing), gespeist aus seinen vorgeburtlichen Erfahrungen des In-der-Welt-Seins, wird nun, zu diesem frühen Zeitpunkt seiner postnatalen Entwicklung, zu einem impliziten Beziehungs-Wissen (implicit relational knowing, Stern, 1998). Dieses implizite Beziehungs-Wissen bildet gleichsam die Folie, auf deren Hintergrund das Kind neuen Erfahrungen begegnet, diese wahrnimmt, „bewertet“ und integriert. Je nach Qualität des Hintergrundes wird die neue Erfahrung also offen oder voreingenommen aufgenommen, eine neue Begegnung als potenziell interessant, langweilig, anstrengend oder gar gefährlich erahnt.
Aufgrund der Struktur des Impliziten sind Veränderungen des Beziehungs-Wissens nur über neue, unmittelbare Beziehungserfahrungen möglich. Dies hat wichtige Implikationen für unsere therapeutische Arbeit mit Babys und deren Müttern: Die wichtigste Aufgabe ist demnach, neue Beziehungserfahrungen zu ermöglichen.
Missglückter Beginn
Uns sind viele Bedingungen bekannt, die während und kurz nach der Geburt zu erheblichen Störungen für das Neugeborenen führen können: Frühgeburt, Geburtskomplikationen, prä- und postnatale Schädigungen sind da zu nennen oder auch organische Fehlbildungen oder Erkrankungen des Kindes.
Wir können auf dem Hintergrund des Gesagten nur erahnen, was es für Frühgeborene oder Neugeborene bedeuten mag, wenn deren Entwicklung durch medizinische Probleme und lange Krankenhausaufenthalte in den genannten Bereichen nur bruchstückhaft ist, oder wenn ihnen aus anderen Gründen ein feinfühliges Gegenüber nicht verfügbar ist, das ihm hilft, sich zu regulieren, um von seinen Affekten nicht überschwemmt zu werden. Stress, seelische Belastungen der Mutter durch Rollenkonfusionen, Partnerschaftskonflikte oder mangelnde Unterstützung durch ein hilfreiches Netzwerk mag zusammen mit einem Gefühl von Überforderung oder dem Bemühen, alles richtig zu machen, oft schon ausreichen, die Feinfühligkeit der Mutter und ihre angeborenen elterlichen Fähigkeiten so weit zu blockieren, dass die Beziehung zu ihrem Kind erschwert ist.
Ohne adäquate Regulationshilfen von der Mutter (oder anderen Bezugspersonen), ohne Antwort und Resonanz ist das Kind sich selbst und seinen Affekten ausgeliefert. Es hat keine Hilfe, diese adäquat zu verarbeiten und reagiert im wiederholten Fall irritiert, ängstlich und angespannt auf alle belastenden Eindrücke – seien es Hungergefühle, Reize von außen oder Interaktionsangebote der Mutter. Ein Teufelskreis aus Angespanntheit und Ängstlichkeit, Unverständnis, Resonanz- und Synchronisationsmangel entsteht, der zu dem Bild des „irritablen Babys“ (vgl. dazu Van den Boom & Hoeksma 1994) – und weiter chronifiziert zu Schreistörungen, Fütter- und Schlafstörungen führen mag, wie sie eingangs beispielhaft geschildert wurden.
In der Folge bleibt der Anpassungsprozess des Kindes an die Welt erschwert, seine angeborenen Fähigkeiten mögen sich nur schwierig und ungenügend ausprägen oder verkümmern. Dies hat emotionale Folgen und damit Auswirkung auf die Ausbildung neuronaler Strukturen im Gehirn, die die Startbedingungen des Kindes zusätzlich erschweren (Hüther, 2001).
Quelle: Gisela M. Lenz & Dorothee von Moreau. Resonanz und Synchronisation als regulative Faktoren von Beziehung. In: Monika Nöcker-Ribaupierre (2003, Hrsg.). Hören - Brücke ins Leben, Vandenhoeck&Ruprecht.
Intersubjektivitätsentwicklung nach Martin Dornes
In der Zeit vor dem achten Lebensmonat reagieren Kinder meist nicht darauf, wenn man ihnen einen entfernten Gegenstand zeigt – sie reagieren auf die Hand, und nicht auf das eigentliche Ziel. Erst ab ca. neun Monaten schauen Kinder zu dem gezeigten Objekt und beginnen auch damit, selber etwas zu zeigen „ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus zwischen Mutter und Kind entsteht.“ (Dornes 2004 S.152) „Es geht nicht nur darum, dass beide dasselbe sehen (joint attention), sondern darum, dass sie es gemeinsam sehen (shared attention).“ (Dornes 2004, 153) Das Kind bemerkt nun, dass seine eigenen Erfahrungen mit anderen teilbar sind und es kommunizieren kann, was nun über Affekte geschieht. (S.152)
Mit dem Begriff „social referencing“ beschreibt der Autor die Nachahmung der Reaktion der Mutter eines Kindes, wenn es auf ein ihm unbekanntes, verunsicherndes Objekt, wie zum Beispiel ein ferngesteuertes, Töne erzeugendes Auto trifft. Das Kind sucht den Blickkontakt zur Mutter und reagiert je nach deren Verhalten positiv oder negativ auf das Spielzeug. (vgl. Dornes 2004, 153)
Kinder können nicht von Anfang an Affekte in anderen Gesichtern lesen. Im Alter von ca. zwei Monaten können sie verschiedene Gefühlsausdrücke noch nicht differenzieren, sie beginnen erst mit ca. fünf bis sieben Lebensmonaten auf diese Ausdrücke selbst emotional zu reagieren. Später, mit ca. neun Monaten, besitzen sie wirkliches Affektverständnis. Nun besitzen Kinder die Fähigkeit andere Affekte zu lesen, und diese auf sich selbst zu beziehen (vgl. Dornes 2004 S.153f). „Affektzustände zweier Subjekte werden aufeinander bezogen, und es entsteht Interaffektivität.“ (Dornes 2004 S.154)
Eine Form des social referencing, die die „affektive Kommunikation zweier Personen unter Bezugnahme auf ein äusseres Objekt“ (Dornes 2004, 154) beschreibt, nennt sich „affect attunement“ und wird anhand folgendem Beispiel verdeutlicht:
Ein neuneinhalb Monate altes Mädchen sitzt am Boden und möchte ihre Trinkflasche von einem etwa fünfzig Zentimeter hohen Tisch nehmen. Die Entfernung ist für das Kind zu gross, und trotz bis aufs äusserste gestreckter Hand und Finger erreicht sie es nicht. Der Vater beobachtet seine Tochter und begleitet ihre Bemühungen mit einem gedehnten „uuuhhh“, welches die Anstrengung und die Dehnung des Körpers darstellt.
Affect attunement ist keine Imitation, bezieht sich also nicht auf das äussere Verhalten des Kindes, sondern auf die damit verbundenen Emotionen. Es kommentiert die Charakteristika der kindlichen Ausdrucksweisen. (vgl. Dornes 2004, 154)
Dornes unterscheidet drei Formen des attunements. Die erste Form, „communing attunement“, erlaubt Eltern und ihrem Kind ein Höchstmass an Gemeinsamkeit im Erleben von Gefühlen. Eltern wollen mit ihrem Kind sein und beabsichtigen keine Manipulation der Affektäusserung. (vgl. Dornes 2004, 155-159) Diese Form der Einfühlung wird vom Kind offensichtlich nicht wahrgenommen, denn, „,befriedigende mütterliche Fürsorge wird nicht bemerkt’“. (Winnicott 1960, 67 zit. nach Dornes 2004, 158)
Bei der zweiten Form, dem selektiven attunement, geben Eltern dem Kind nonverbal ihre bewussten und unbewussten Wünsche und Abneigungen zu verstehen.
Positive Rückmeldung auf seine gezeigten Emotionen bekommt das Kind beim tuning, der dritten Variante, allerdings sind die Reaktionen der Mutter entweder stärker oder schwächer als der kindliche Ausdruck. (vgl. Dornes 2004, 156)
Identität und Identitätsdiffusion
zit. aus: Michael Ermann „Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung“ - Vortrag im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010 (www.Lptw.de)
(...) Diese Konzepte gehen auf die frühe amerikanische Sozialpsychologie und den sog. Symbolischen Interaktionismus zurück, die bereits annahmen, dass die Persönlichkeitsentwicklung an zwischenmenschliche Beziehungen geknüpft ist. Erikson hat diesen Ansatz aufgegriffen und als Identität die Fähigkeit beschrieben, zu sich selbst die Sicht anderer einzunehmen. Robert Storolow und George Atwood, die später die Selbstpsychologie von Heinz Kohut weiterentwickelten, haben in letzter Zeit daran wieder angeknüpft. Sie vertreten, dass sich das Selbsterleben in der Beziehung zu anderen konstelliert, und sprechen von einem wechselseitigen Austausch von Subjektivitäten. Das Selbst – und wir können ergänzen: auch die Identität – sind eine Ko-Konstruktion aus der Bezogenheit heraus.
Nehmen wir unsere Primärbeziehung, die zu unserer ersten bedeutsamen Pflegeperson, als Beispiel:
Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen und der gesamte komplexe psychosoziale Kontext bestimmen darüber, mit welcher Gestimmtheit wir empfangen und gesehen und in diese Welt aufgenommen werden. Das vermittelt sich über Mimik, Gestik und andere Äusserungen der nichtsprachlichen Komminikation. Auf diese Weise konstelliert sich unser Befinden, mit dem wir wiederum auf die Anderen einwirken. So entstehen Interaktionsschleifen und Beziehungskonstellationen, an denen jeder der Akteure beteiligt ist – eine Beziehung als Ko-Konstruktion, die zwischen den Beteiligten ausgehandelt wird. So erleben sich Mutter und Kind erst in der Matrix einer versorgenden Bezogenheit in ihrer Identität als Mutter und Pflegling, ebenso wie Analysand und Analytiker, die erst im Kontext der Analyse zu einem Selbstverständnis als Analysand und Analytiker finden. Ähnliches ereignet sich lebenslang in unseren Beziehungen.
Identitätsdiffusion
Wenn das aber so ist, wenn Identität das Ergebnis sozialer Bezogenheit ist, dann wird auch verständlich, dass und wie sehr wir auf unsere Einbettung in beständige soziale Kontexte angewiesen sind, um eine positive Identität aufrecht zu erhalten. Ebenso erscheint es dann plausibel, dass Brüche in der Beziehung zum sozialen Umfeld Labilisierungen unseres Identitätserlebens bewirken.
Wenn unsere Selbstwahrnehmung und das durch das Umfeld gespiegelte Selbst nicht mehr zusammenpassen, dann kippt die Balance, die unser Identitätsgefühl aufrechterhält.
- Dieser Zustand des Verlustes eines tragenden Identitätsgefühls ist das Wesen der Identitätsdiffusion.
Diffusion von diffundere „ausgiessen, verstreuen, ausbreiten“ bedeutet dabei, dass das Identitätsgefühl zerfliesst und ein Zustand der Orientierungslosigkeit entsteht.
Dieser Zustand begleitet bis zu einem gewissen Grade vorübergehend jede Entwicklungsschwelle mit Ratlosigkeit und Unsicherheit im Handeln und in Entscheidungen. Wir
sprechen dann von phasenspezifischer Identitätskrise. Erikson hat insbesondere die Adoleszenz als eine normative Identitätskrise beschrieben. Sie wächst sich gewissermassen aus, wenn die Jugendlichen ihren endgültigen Platz in der Gesellschaft gefunden haben.
Auch die anderen phasenspezifischen Krisen der Identität lösen sich, wenn die Betroffenen sich in ihrer neuen Lebensphase zu Recht gefunden haben.
Die Identitätsdiffusion kann aber auch Folge einer Entwicklungsstörung sein. Dann sprechen wir von entwicklungsbedingter Identitätsstörungen um den Mangel an dauerhafter Identität zu betonen. Sie treten im Allgemeinen im Rahmen von schweren Persönlichkeitsstörungen auf und werden uns abschliessend beschäftigen.
Zwischen phasenspezifischen Krisen der Identität und entwicklungsbedingter Identitätsstörung sind die reaktive Identitätsstörungen anzusiedeln. Es handelt sich dabei um Anpassungsstörungen mit einer Identitätsdiffusion, die durch schicksalhafte Brüche im Lebensverlauf entstehen.
Reaktive Identitätsstörungen
Solche Brüche sind zum Beispiel der Verlust bedeutsamer Menschen, so dass das ganze Leben sich verändert, der Verlust der Arbeit, der Heimat, Migrationserfahrungen mit kultureller und sozialer Entwurzelung, das Coming out einer nicht gesellschaftskonformen Sexualität, schwere Krankheit und Behinderung, die das Leben gleichsam auf den Kopf stellen, und schliesslich die Begegnung mit den Einschränkungen des Alters.
Das Gemeinsame all dieser Situationen, so unterschiedlich und unvergleichlich sie im Einzelnen auch sein mögen, ist der Verlust der Verankerung als Person in einem dauerhaften mitmenschlichen und kulturellen Gefüge, das uns Halt gibt und schützt. Die Kohärenz des Identitätserlebens löst sich auf, indem das Selbst sich nun in einer Umgebung wiederfindet, die nicht mehr zu ihm passt. Damit zerbricht das Gefühl von Kontinuität als Person im Bezug zur Welt. Das Wissen um das eigene Selbst verblasst, Teilidentitäten verschwimmen und die Vorstellung vom Anderen löst sich auf. So können das Innen und das Aussen nicht mehr zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Das Integrationsvermögen versagt, das Identitätsgefühl schwindet und zurück bleibt ein entfremdetes Selbst ohne Hoffnung und Ziele.
Ich kann diese Dynamik an einem Probanden erläutern, den ich vor Jahren zur Begutachtung gesehen habe. Ich nenne ihn Herrn K. Er war damals 52 Jahre alt, ein kräftiger, stabil wirkender Mann mit schwerem Gang. Er kam mit einem aggressiven Gebaren. Als ich ihn später darauf ansprach, erwiderte er: „Ich habe in den letzten Jahren nie von jemandem Gutes erfahren. Ich erwarte auch hier nichts Gutes.“ Seine Art zu Sprechen klang wie Schreien. Ich dachte, ein Schrei der Verzweiflung.
K. strebte eine Berufsunfähigkeitsrente an, nachdem er seit 5 Jahren unter Depressionen, Beklemmungsgefühlen und Schmerzen litt. Er schilderte Verzweiflung und Gedanken sich auf dem Dachboden zu erhängen. Er sagte: „Es ist nichts mehr wie es war. Mein Leben hat keine Zukunft mehr. Ich kenne mich nicht mehr, weiss nicht wer ich bin und wohin es gehen soll.“
Bereitwillig schilderte er seinen Leidensweg. „Bis zur EU“, und damit meint er die Europäische Union, „war alles gut“, sagte er. Er war nie krank gewesen, hatte ein zufriedenes Leben in einem kleinen Häuschen mit seiner Frau und zwei inzwischen erwachsenen Kindern gelebt. Er hatte über 25 Jahren bei einer Importfirma an der Grenze gearbeitet und war zufrieden mit sich und seiner Arbeit gewesen. Er war beliebt gewesen und hatte als zuverlässig und kameradschaftlich gegolten. Das hatte ihm ein gutes Gefühl gegeben.
Dann kam der Einbruch: Mit der Union wurde seine Position überflüssig, und er wurde entlassen.
Er fiel in ein tiefes Loch. „Anfangs war mir“, sagte er, „als würde ich allen Halt verlieren.“ Er dachte an Selbstmord.
Dann fing er sich wieder, als ihm eine Umschulung angeboten wurde. Danach aber kam der Zusammenbruch. Er fand keinen Job. „Sie glauben nicht, wo ich mich überall beworben habe, bis hinauf nach Hamburg. Aber niemand wollte mich nehmen. Jetzt merkte ich erst richtig, was mir geschehen war.“ Er war verzweifelt. „Ein Leben ohne Arbeit kann ich mir nicht vorstellen,“ sagte er. „Man fühlt sich wie weggeworfen.“ Und schliesslich: „Ich habe keinen Boden mehr unter den Füssen. Ich habe keine Zukunft.“
Besonders schlimm war für ihn die Abhängigkeit von seiner Frau. Sonst war er immer der Macher gewesen, jetzt fühlte er sich wie ein Kind. Nach einer langen Pause sah er mich an und sagte mit schamvollem Blick: „Wissen Sie, wie das ist, wenn die Frau einem morgens für die Zigaretten 2,50 Euro hinlegt?“
K. hatte eine unauffällige Entwicklung durchgemacht. Er war gut mit sich und dem Leben zu Recht gekommen. Er stammte aus einer Postbeamtenfamilie. Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Treue waren die prägenden Familienideale. Die Post war allgegenwärtig. In ihr fand die Familie Sinn und Zugehörigkeit. „Ich schäme mich für meine Arbeitslosigkeit“, sagte K. „Das würden meine Eltern nie verstehen.“
Entwicklungsbedingte Identitätsstörungen
Wenden wir uns nun zum Abschluss den entwicklungsbedingten Identitätsstörungen zu, die viele der schweren Persönlichkeitsstörungen begleiten. Sie ist das Ergebnis einer Identitätsdiffusion, die bis in die Kindheit zurückreicht, so dass kein kohärentes Selbstbild und kein tragfähiges Identitätsgefühl entstehen konnten. Die Selbstwahrnehmung bleibt widersprüchlich, die Wahrnehmung anderer Menschen unscharf und oberflächlich.
Meistens besteht das Erleben von Fremdheit gegenüber sich selbst und anderen und ein Gefühl von andauernder Leere. In dieser Form hat Kernberg Identitätsstörungen als ein Kernphänomen der Borderline-Persönlichkeitsorganisation beschrieben.
Bei Identitätsstörungen versagt die Organisation des psychischen Erlebens. Insbesondere widersprüchliche und gegensätzliche Wahrnehmungen über die eigene Person können nicht zu einem Gesamtbild verbunden werden. Das gilt sowohl für das Selbst im eigentlichen Sinne als auch für die nach aussen gerichteten Selbstaspekte, die die Grundlage des Identitätsgefühls bilden. Sie bilden Fragmente, die von Situation zu Situation aktiviert werden und dann das Erleben überfluten.
Sie stiften Chaos im Innern und Orientierungslosigkeit nach aussen. Auf diese Weise wird die Identitätsstörung manifest.
Die Identitätsdiffusion kann bei Identitätsstörungen bis zur völligen Aufgabe der eigenen Identität führen. Ersatzweise entleihen die Betroffenen sich Identitäten durch unkritische Identifizierung mit Leitbildern und Idolen. Auch die Erschaffung gefacter Identitäten, vor allem im Internet, stellt oft einen Ersatz für eine nie erreichte persönliche Identität dar.
Mein Patient, an dem ich Ihnen die entwicklungsbedingte Identitätsstörung illustrieren will, ist Herr Z. Er kam mit 25 Jahren in meine Behandlung. Er war anfangs ein ungepflegter Mann mit schlechter Haut und Körpergeruch und wirkte trotz seiner 25 Jahre wie ein Jugendlicher. Er machte einen verlorenen Eindruck und schaute sich bei mir um wie ein gejagtes Reh.
Er wollte eine Gruppentherapie bei mir machen, weil er unter Leeregefühlen und Lustlosigkeit litt. Er sagte: „Ich habe null Bock“. Er hatte eine Zeitlang Drogen genommen, um sich, wie er sagte, aufzufüllen. Auch mit seinem Beruf als Fotograf war er unzufrieden. Er betrachtete sich als unentdeckten Künstler. Er hatte sich allerdings nie entschliessen können, eine systematische Ausbildung zu machen.
Er lebte in einer Wohngemeinschaft und hatte sich dort mit einer jungen Studentin befreundet. Nun spürte er, dass er sich nicht an sie binden konnte, so sehr er sich nach ihr und nach einer festen Bindung sehnte. Er fühlte sich auf der Flucht vor ihr. Er hatte mit 25 noch nie eine feste Beziehung gehabt.
Später in der Behandlung wurde offenbar, dass er auch unter massiven Entfremdungserlebnissen litt, die er nicht für erwähnenswert gehalten hatte, weil er sie für selbstverständlich und zu sich gehörig empfand. Einmal lächelte er mich in der Gruppe an und sagte verschmitzt: „Mein Kopf ist jetzt da oben unter der Decke.“ Ich war erschrocken und sagte in meinem Schreck: „Ja, dann schauen Sie, dass wir ihn wieder herunter kriegen.“
Z. war das Kind von Spätaussiedlern. Sie kamen nach Deutschland, als er wenige Monate alt war. Er weiss aus Erzählungen, dass er danach acetonämisches Erbrechen entwickelt hatte. Sein Vater verstarb bald an Lungenkrebs, kurz darauf die Grossmutter, und er wuchs als Einzelkind mit seiner Mutter auf. Die Mutter fand sich in Deutschland nicht zurecht.
Sie war enttäuscht, wie sie immer und immer wieder sagte, fand keine Freunde und scheint sich nach den Verwandten in Kasachstan gesehnt zu haben. Sie sprach mit russischem Akzent. Er erinnerte sich, wie sie ihn oft als Kind auf den Knien hielt, Lieder summte und in die Ferne schaute. Später in der Behandlung sagte er: „Sie war mir da so nah und so fremd.“ Er brachte das mit seinen eigenen Fremdheitsgefühlen in Verbindung und beschrieb, wie er die Welt wie aus der Ferne erlebte. Später zogen wir eine Parallele zu seiner Fotografie und seinem Selbstkonzept: „Es ist besser die Welt aus der Ferne des Objektivs zu betrachten, als sie gar nicht zu sehen.“
Z. war ein stilles, einsames Kind gewesen und viel mit seinen Phantasien beschäftigt. Es waren zum grossen Teil Tagträume von einer fremden fernen Welt, in der er erfolgreich Abenteuer bestand. Er las früh und viel. In der Pubertät fühlte er sich sexuell stark zu Jungen hingezogen, suchte aber nie ihre Nähe, sondern die von Mädchen, mit denen er höchst ambivalente platonische Freundschaften einging. Um sich lebendig zu fühlen, befriedigte er sich zwanghaft und exzessiv.
Z. wollte das Abitur machen und Architekt werden. Aber er versagte in der Vorprüfung, brach die Schule ab und blieb ohne Ausbildung. Über Jobs kam er zum Fotografieren und lebte von Gelegenheitsarbeit als Fotograf ohne Ausbildung.
Ich habe Z. über lange Jahre behandelt, erst in der Gruppentherapie, später auch einzeln. Der Behandlungsbeginn liegt Jahre zurück. Z. konnte sich an mich binden und hat noch lange den Kontakt zu mir gehalten. Er kam ein- oder zweimal im Jahr, um zu erzählen, wie es ihm nach der Behandlung ging. Seine Fremdheitsgefühle hatten sich verflüchtigt. Er hatte eine Kunstschule abgeschlossen und schrieb Essays und Gedichte. Zwei Beziehungen zu Frauen, die er inzwischen gehabt hatte, hatten nicht lange gehalten.
Gelegentlich schrieb er mir auch Postkarten mit Fotos von Bildern, die er inzwischen malte: Aus den weiten, menschenleeren Landschaften seiner früheren Fotografien waren jetzt Gestalten geworden: Liebespaare und Madonnenbilder.
Wie können wir uns die Entstehung von Identitätsstörungen wie der von Herrn Z. vorstellen?
- Meistens fehlen den Betroffenen positive Erfahrungen mit sich als sozial bezogener und auch wirkmächtiger Person. Das ist das Ergebnis von misslungenen Spiegelungsprozessen in sicheren Bindungen und Beziehungen. Im Falle von Z. dürfte der Umbruch in der Familie, der zweifache Verlust und die Enttäuschung und Heimatsehnsucht der Mutter wesentlich dazu beigetragen haben, dass er nicht zu einem konsistenten Identitätsgefühl gelangte. Sein Erleben blieb von Identitätsfragmenten beherrscht, die sich gelegentlich auch verselbständigten – der Kopf losgelöst unter der Decke des Behandlungszimmers.
Eine positive Selbst-Erfahrung als Kern einer stabilen Identitätsentwicklung blieb bei ihm aus und musste in einem mühsamen, sicherlich sehr unvollkommenen Prozess in der Behandlung nachgeholt werden.
In solchen Fällen muss der labile Uebergangsbereich zwischen innen und aussen, zwischen Selbst und Wir durch Abschottung gegenüber dem Aussen geschützt werden. So konnte Z. die Welt nur aus der Ferne durch das Medium der Fotografie betrachten. Ist dies aber der Fall, so droht die Bewältigung der natürlichen Herausforderungen des Lebens, der der persönlichen Veränderungen und sozialen Anforderungen zu scheitern. Alte und neue Identitätsfragmente können dann nicht mehr integriert werden. Neues wird abgewehrt und im Aussen bekämpft. So verödet das Leben und erschafft lebendige Tote - wie meinen Patienten Z. am Beginn seiner Behandlung oder wie den Medizinprofessor Isak Borg in Bergmanns „Wilden Erdbeeren“.
Schlussbemerkung
Wir leben in einer Welt des raschen Wandels unserer sozialen Bezüge. Die klassischen Orientierungspunkte, an denen sich Identität entwickelt, Familie und Arbeitswelt, befinden sich im Umbruch.
Strukturen und Grenzen lösen sich auf zu Gunsten einer globaleren Welt mit unermesslichen Möglichkeiten. Eine der Anpassungen an diesen immer hitziger werdenden Gesellschaftsprozess ist die Zunahme der Identitätsdiffusion und der Identitätsstörungen, die wir heute noch als Ausdruck der Psychopathologie betrachten. Aber kündigt sich hier womöglich ein neuer Sozialisationstyp an? Ist ein Leben mit Identitätsfragmenten womöglich die Ankündigung der Normalität der Zukunft?
Noch allerdings gibt es ein Leiden an den Brüchen der Identität. Aus ihr leitet sich eine veränderte Aufgabe für uns Psychotherapeuten ab. War das Ziel unserer Behandlungen früher der Zugewinn an Autonomie, so verschiebt sich der Fokus immer stärker hin zu einer Stärkung der Identitätsarbeit: zu einer Förderung der Fähigkeit, die Balance zwischen Selbst und sozialen Entwürfen zu halten und lebenslang zu einer Neubestimmung der Antworten auf die Fragen zu gelangen:
- Wer bin ich im Kontext meines Umfeldes?
Jessica Benjamin: Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Sozialisation
Jessica Benjamin wird von Martin Altmeyer als eine Autorin gewürdigt, "die den interdisziplinären Versuch unternommen hat, »das Paradoxon des Anerkennungsverhältnisses entwicklungspsychologisch zu fundieren und den Narzissmus als Frage der Verleugnung oder Anerkennung der eigenen Abhängigkeit zu behandeln«" (Benjamin in Altmeyer 2004, S. 157)
Nun zum konkreten Entwicklungskonzept von Jessica Benjamin:
"Benjamin hat Entwicklungsstufen der Fähigkeit zur Anerkennung beschrieben, die es uns ermöglichen, Trennungserfahrungen als lustvolle Möglichkeiten intersubjektiver Bezogenheit zu verstehen. (...) Zwischen der Auslöschung der Differenz, der Aneignung – durch Identifikation oder Objektbesetzung – auf der einen Seite, und der Anerkennung der Trennung, die nicht als tragisches Phänomen, sondern als Lust und als Bereicherung durch die Erfahrung des Fremden erlebt wird, oszillieren die
Beziehungsformen hin und her.
Benjamin greift auf, wie Stern das frühe Wechselspiel zwischen Mutter und Kind, z.B. im dritten Lebensmonat, beschreibt, nämlich als wechselseitige Stimulierung,
als frühe Form der Bezogenheit. Sie geht hier weiter und sieht einen primordialen Modus der Anerkennung am Werk. Die Mutter wird als Mutter durch die Reaktion des Säuglings bestätigt, der Säugling entwickelt ein Kernselbst gerade dadurch, dass die Mutter seine selbständigen Reaktionen beantwortet und bejaht. Die Anerkennung liegt hier ganz im Atmosphärischen oder im Affekt der Freude aneinander. Explizit, d.h. auch bewusst wird diese wechselseitige Anerkennung in der von Stern – m.E. unglücklicherweise sog. – intersubjektiven Phase, etwa im achten Lebensmonat des Säuglings. Der Säugling kann in dieser Zeit wahrnehmen, dass andere Personen ähnliche Empfindungen wie er selbst haben und dass es möglich ist, sich gemeinsam, aber von unterschiedlichen Elebniszentren her, einem Ereignis zu widmen. Stern (1992) definiert Intersubjektivität durch diese geteilte Intentionalität, die geteilten Absichten und Motive, und durch die Abstimmung im affektiven Bereich.3 Nicht nur die Fähigkeit, Perspektiven teilen zu können, ist dabei wichtig, sondern das Empfinden des Säuglings, auf dem Boden dieser Gemeinsamkeit die eigene Perspektive bestätigt zu bekommen.
An dieser Stelle sollen nicht systematisch die weiteren Entwicklungsschritte in der Fähigkeit zur Anerkennung durchgegangen werden. Einige Hinweise mögen
genügen; z.B. beruht die Auflösung des Ödipuskomplexes, wie Freud sie beschreibt, ebenfalls auf Anerkennung; sie hat damit zu tun, dass das Kind, wenn es auf die Rivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil verzichtet, gleichzeitig mindestens zwei Unterschiede anerkennt, den Geschlechtsunterschied und den Generationsunterschied.
Viele andere analytischen Konzepte verweisen auf diese Dimension der Anerkennung, ohne den Begriff zu benutzen, und zeigen weitere Facetten der Anerkennung
auf. Winnicotts (1963/84) Fähigkeit zur Besorgnis, concern, gehört hierher, oder die Wiedergutmachung in der depressiven Position bei Melanie Klein.
Wiedergutmachung ist die Anerkennung der Zerstörung, die dem Objekt angetan worden ist, weil es nicht in seiner Alterität berücksichtigt worden ist. – Die intersubjektive Theorie fragt demnach nicht, auf welche Weise wir genug von den Anderen in uns aufnehmen, um uns von ihnen entfernen zu können, sondern wie der Andere uns von Anfang an ermöglicht, selbständig zu sein.
Einssein und Trennung werden nicht als Zeitpole einer Entwicklung, sondern als paradoxes Gleichgewicht zwischen zwei Polen verstanden, das sich immer neu
ausbildet. (Küchenhoff 1999, S. 198-199
Von der Triade zum triangulären Raum
Triadisch denkend gelang es Freud, das ödipale Dreieck zu erkennen und zu beschreiben, triadisch denkend kreierte Winnicott sein Konzept vom Uebergangsobjekt und triadisch denkend fand Abelin (1971) das Dreieck der sog. "frühen Triangulierung":
Der Begriff „Triangulierung“ wurde von Abelin (1971) in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie eingeführt. Abelin war Mitarbeiter von Margaret Mahler und bezog sich auf deren Modell des Loslösungs- und Individuationsprozesses in den ersten drei Lebensjahren (Mahler et al. 1975). In diesem Individuationsprozess geht es darum, dass das Kind sein eigenes Selbst in Abgrenzung zu dem der Mutter herausbildet und dass es die so entstehenden Grenzen zwischen dem eigenen Selbst und den anderen aufrechterhalten kann. Gelingt dies, so kann es Nähe und Distanz zu den Objekten regulieren und gute und böse Beziehungsanteile integrieren.
In diesem Prozess gerät das Kind in der Mitte des 2. Lebensjahres in das von Mahler als „Wiederannäherungskrise“ beschriebene Dilemma: Das Kind hatte sich unter anderem dank seiner Fähigkeit zur freien Fortbewegung zunehmend als selbstständiger und mehr von der Mutter abgelöst erlebt, muss nun aber realisieren, wie sehr es immer noch auf sie angewiesen ist. Diese realitätsgerechtere Wahrnehmung stellt eine Bedrohung dar, da die bis zu diesem Zeitpunkt noch wenig abgegrenzte Selbst-Struktur des Kindes in der Rckwendung zur Mutter wieder mit dem Selbst der Mutter zu verschmelzen und damit verloren zu gehen droht.
In dieser Situation bekommt nun der Vater eine besondere Bedeutung, weil das Kind mit Hilfe seiner Beziehung zum Vater Nähe und Distanz in der Beziehung zur Mutter regulieren und sich dem regressiven Sog hin zur Mutter entziehen kann. Am Beispiel des Vaters lernt es die Möglichkeit kennen, dass man sich autonom gegenüber der Mutter verhalten und die Beziehung zu ihr mit Hilfe eines Dritten regulieren kann.
Im Konzept der frühen Triangulierung kehrt sich die von Melanie Klein beschriebene Kausalität um: Nun provoziert nicht mehr die Mutter mit dem Abstillen des Kindes dessen Hass und als Folge seine Abwendung von ihr und die Hinwendung zum Vater, sondern das Kind entfernt sich im Zuge des Individuationsprozesses aktiv von der Mutter und verliert von sich aus das Interesse an der Brust, unter der Voraussetzung allerdings, dass die Mutter es ihm erlaubt, sich dem Vater zuzuwenden (vgl. Poluda 1999).
Quelle: Grieser, Jürgen (2003). Von der Triade zum triangulären Raum. In: Forum für Psychoanalyse 19: S.100
Ob sich das Kind nun enttäuscht, wie Melanie Klein meinte, unter dem Druck des Separationsprozesses (Mahler) oder neugierig auf den Dritten (Säuglingsforschung) von der Mutter abwendet, so oder so geht die Erkenntnis des Kindes, dass es nicht immer die absolute Priorität bei der Mutter hat, sondern dass diese sich gelegentlich sogar mit dem Vater zusammen von ihm abwendet, mit vorübergehenden Gefühlen des Ausgeschlossenseins, Verlorenseins und der Getrenntheit von den wichtigen Anderen einher. Diese Konstellation in der inneren Welt des Kindes bezeichnete Klein als die depressive Position; sie markiert einen Fortschritt in der psychosexuellen Entwicklung des Kindes, weil es nun aushalten kann, sich als getrennt und allein zu erleben, während es diesen Zustand zuvor mit paranoid-schizoiden Mechanismen abzuwehren versuchen musste.
Aus dieser Perspektive ist die Anerkennung des väterlichen Dritten ebenso wie die Anerkennung der Symbole eine Errungenschaft der depressiven Position, denn beides setzt voraus, dass dem Wunsch hin zu einer ursprünglichen Vollkommenheit in der Verschmelzung mit dem mütterlichen Selbstobjekt nicht nachgegeben wird. Weil das Symbol nicht das Symbolisierte sein kann, beinhaltet die Anerkennung des Symbols notwendigerweise eine Distanz zum Symbolisierten.
(...)
Im Dreieck herrscht also eine Dialektik von An- und Abwesenheit: Diese Dialektik von An- und Abwesenheit fördert die Entwicklung. Auch die Bindungstheorie zeigt, dass eine sichere Bindung nicht wegen der ständigen Anwesenheit der primären Bezugsperson entsteht, sondern wegen der Gewissheit, dass die Pflegeperson grundsätzlich zur Verfügung steht, auch wenn sie nicht ständig anwesend ist. Dies führt Shulman (1997) zu der überraschenden Vermutung, dass das, „was wie väterliche Gleichgültigkeit oder Abgehobensein wirkt, in Wirklichkeit ein Anreiz für die Loslösung des Jugendlichen sein“ könnte (S. 329), da die Distanz zum Vater Raum für den Jugendlichen schaffe, seine Individualität auszuleben.
Quelle: Grieser, Jürgen (2003). Von der Triade zum triangulären Raum. In: Forum für Psychoanalyse 19: S.105–106
"Heute sehen wir Triangulierung als ein psychisches Grundprinzip, das weit über das reale oder imaginäre Personendreieck der Kleinfamilie hinaus in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichen Lebensphasen in Erscheinung tritt.
Die Grundidee ist, dass die Beziehung zwischen zwei Polen durch einen dritten ermöglicht und reguliert wird, wobei die Triangulierung Öffnung und Entwicklung bedeutet, zugleich aber auch Stabilisierung und Sicherheit. Der oder das triangulierende Dritte reguliert und relativiert die Beziehung zwischen zwei anderen.
Triangulierungsprozesse beginnen vor der Geburt und enden mit dem Tod, was die Bedeutung des Oedipuskomplexes, der Ur-Triade der Psychoanalyse, für den therapeutischen Alltag relativiert.
Hier einige weitere Phänomene, die heute unter den Begriff »Triangulierung« fallen:
- Triangulierung schafft Raum; wo etwas Drittes ist, gibt es Möglichkeiten, sich hin und her zu bewegen, Nähe und Distanz zu regulieren, zu denken und zu reflektieren.
- Bereits vor der frühen Triangulierung findet eine psychosomatische Triangulierung statt. Hier ist der Körper des Kindes das Dritte zwischen Mutter und Kind, und es geht darum, dass die Zuständigkeit für diesen Körper von der Mutter auf das Kind übergeht. Die psychosomatische Triangulierung spielt in der Adoleszenz und im Alter erneut eine wichtige Rolle sowie im Kontext somatischer Symptome und Behandlungen.
- Noch früher, nämlich im Alter von wenigen Wochen, zeigt der Säugling schon erste angeborene triadische Kompetenzen. Er ist nicht nur in der Lage, abwechselnd mit zwei Bezugspersonen zu interagieren, sondern versucht sogar, diese zu einer gemeinsamen Interaktion zu dritt zu animieren.
- Sogar bereits vor der Geburt des Babys ist die Triangulierungsfähigkeit seiner Eltern von Bedeutung; je besser die Eltern in der Lage sind, sich und ihr zukünftiges Baby in Dreiersituationen vorzustellen, desto besser wird sich das Kind entwickeln.
- In einem Drei- oder Mehrpersonensystem bis hin zu großen Gruppen kann jeder oder jede Untergruppe für jeweils die beiden anderen Personen oder Untergruppen die Rolle des Dritten übernehmen. Nicht nur der Vater kann der Dritte für Mutter und Kind sein, sondern auch die Mutter für Vater und Kind und das Kind für die Eltern.
- Nicht nur Personen oder von diesen abgeleitete intrapsychische Repräsentanzen können das Dritte sein, sondern auch Symbolisches, wie die Sprache, die zuerst von den Eltern als etwas Drittes in ihre Beziehung zum Kind eingeführt wird. (Grieser, J. (2015). Triangulierung. Göttingen: Psychosozial, S.10-11
Dialektische und Relationale Narzissmus-Psychotherapie mit Kindern, Paaren und Gruppen
Kinder und Jugendliche: Prävention gegen das Entstehen künftiger Egoisten ohne Empathie und Rücksicht
Erfolgreich, glücklich, fürsorglich - so wünschen Eltern sich ihre Kinder. Doch eine Studie aus den USA zeigt, dass eine Generation leistungshungriger Egoisten heranzuwachsen droht. Psychologen geben Tipps für eine bessere Erziehung.
Mehr als 10.000 Schüler hatten die Wissenschaftler in den USA befragt. Sie wollten wissen, was den 12- bis 18-Jährigen am wichtigsten sei: für andere da zu sein, gute Leistungen zu erbringen oder sich glücklich zu fühlen? Das Ergebnis findet Studienleiter Richard Weissbourd von der Harvard University in Cambridge "ernüchternd": Nur 20 Prozent der Schüler fanden es am wichtigsten, sich um ihre Mitmenschen zu kümmern. Für die Hälfte zählte dagegen vor allem Leistung, für weitere 30 Prozent das eigene Wohlbefinden.
Weissbourd sorgt sich, "dass die Waagschale der Werte unserer Jugendlichen zu stark ins Ungleichgewicht geraten ist". Für eine Ursache hält er keineswegs die Vernachlässigung der Kinder, die oft angeprangert wird, sondern das Gegenteil: sogenannte Helikopter-Eltern, die ihre Kinder überbehüten, alle eigenen Bedürfnisse denen des Nachwuchses unterordnen und dessen Erfolg und persönliches Glück über alles andere stellen.
Dabei ergeben Studien regelmässig, dass Charakterstärke, Ehrlichkeit und Freundlichkeit für Eltern ganz oben auf die Liste der Eigenschaften stehen, die sie ihren Kindern mitgeben wollen. Doch beim Nachwuchs kommt offenbar eine andere Botschaft an. 80 Prozent der in Weissbourds Studie befragten Teenager glauben, dass Leistung und persönliches Glück den Eltern wichtiger sind als freundliches Verhalten gegenüber anderen.
"Wenn Eltern ihren Kindern sagen, dass es nur darauf ankommt, ein guter Mensch zu sein, dann aber während des gesamten Abendessens über das neue Auto der Nachbarn oder die Stipendien der Schulkameraden sprechen, merken Kinder natürlich, welche Botschaft wirklich zählt", sagt die Psychologin Madeline Levine, die nicht an der neuen Untersuchung beteiligt war. "Die meisten Eltern wollen zwar freundliche und verantwortungsbewusste Kinder, haben aber Angst, dass ihrem Nachwuchs Nachteile drohen, wenn Leistungsbereitschaft nicht ständig in den Vordergrund gestellt wird."
Was also tun? Weissbourds Team vom "Making Caring Common"-Projekt der Harvard University gibt Eltern vier Tipps für die Erziehung:
1. Fürsorge praktizieren
"Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit auszudrücken und auf andere Menschen zuzugehen, kann man genauso üben wie Hausaufgaben oder ein Instrument", sagt Weissbourd.
Das können Eltern tun:
Verantwortung übertragen, z.B. für tägliche Hilfe im Haushalt oder Hausaufgabenhilfe für Mitschüler, Engagement fordern und fördern, etwa in gemeinnützigen Projekten,
Raum für Dankbarkeit schaffen, beispielsweise als Ritual beim Tischgespräch oder zu besonderen Anlässen.
Das sagen andere:
"Um jungen Leute zu einfühlsamen und verantwortungsbewussten Bürgern zu erziehen, ist nichts wichtiger, als ihnen regelmässige Gelegenheiten zu geben, Fürsorge und Hilfsbereitschaft selbst zu praktizieren", sagt Roger Weissberg von der University of Chicago.
2. Neue Perspektiven üben
Fürsorglichkeit steht und fällt mit der Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Auch das will geübt werden, erklärt Weissbourd. Sein Team empfiehlt, sowohl das "Heranzoomen" an die Gefühle und Bedürfnisse der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung zu trainieren, als auch das "Herauszoomen", also den Blick auf Menschen, die man im Alltag oft übersieht.
Das können Eltern tun:
- auf Höflichkeit im Umgang mit Fremden bestehen, ihre Kinder dazu ermuntern, neuen Nachbarn oder Klassenkameraden das Einleben zu erleichtern, über die Gefühle und Bedürfnisse Dritter sprechen, etwa anhand von Zeitungsartikeln, Büchern oder Filmen.
Das sagen andere:
"Eltern müssen sehr aufpassen, was sie an ihre Kinder kommunizieren, wenn es um Werte geht", sagt Jean Twenge, Autorin des Buchs "Generation Me". "Wer deutlichmachen will, dass Freundlichkeit und Fürsorge gegenüber anderen wichtig sind, muss den Blick regelmässig vom eigenen Nabel weglenken."
3. Werte konsequent vorleben
"Eltern müssen das, was sie predigen, natürlich auch selbst praktizieren", sagt Weissbourd.
Das können Eltern tun:
- den eigenen Kindern zuhören, fair bleiben, sich für die Kinder nachvollziehbar für Andere engagieren.
Das sagen andere:
"Eltern sollten in der Zeit mit ihren Kindern bewusst Themen und Aktivitäten den Vorzug geben, die Empathie und Fürsorge für andere stärken", sagt Psychologin Levine . "Redet nicht über Noten oder materielle Wünsche; das hören die Kinder sowieso schon den ganzen Tag."
4. Kindern dabei helfen, mit negativen Gefühlen klarzukommen
"Sich schlecht zu fühlen, ist okay, aber Kinder müssen lernen, mit diesen Gefühlen so umzugehen, dass sie dabei andere nicht verletzen", sagt Weissbourd.
Das können Eltern tun:
- mit Kindern Techniken üben, die man in einer emotionalen Krise einsetzen kann - zum Beispiel fünf tiefe Atemzüge, bevor man in einer aufgewühlten Situation antwortet,
ethische Fragen in Familiengesprächen thematisieren.
Das sagen andere:
"Eltern sollten vor allem selbst sensibel mit den Gefühlen ihrer Kinder umgehen", meint Alfie Kohn, Autor des Buchs "Der Mythos des verwöhnten Kindes". "Kindern, die sich darauf verlassen können, dass ihre Gefühle und Bedürfnisse respektiert werden, fällt es leichter, dies auch anderen gegenüber zu tun."
Die Arbeit an der Nettigkeit lohnt sich - davon sind die Experten überzeugt. "Kinder, denen Fürsorge für andere wichtig ist, wachsen zu empathischen Erwachsenen heran", sagt Jean Twenge. Das fördere übrigens auch den von vielen Eltern angestrebten beruflichen Erfolg ihrer Kinder: "Sie sind glücklicher, und ihr Einfühlungsvermögen öffnet ihnen im Beruf viele Türen."
Quelle:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/erziehung-psychologen-sagen-wie-kinder-erfolgreich-und-nett-werden-a-984950.html
Mehr auf SPIEGEL ONLINE:
Psychologie: Helikopter-Eltern sind glücklicher (04.11.2013): http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologie-helikopter-eltern-sind-gluecklich-a-931209.html
Lobgesang einer behüteten Tochter: Danke Mama, danke Papa (12.08.2013): http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/helikopter-kinder-es-geht-uns-wunderbar-a-915552.html
Kinder-Psychologie: Zu viel des Guten (14.08.2013): http://www.spiegel.de/schulspiegel/helikopter-eltern-wie-ueberbehuetung-den-kindern-schaden-kann-a-915507.html
Ueberbehütete Kinder: Ich bin ein Helikopter-Papa (15.08.2013): http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/helikopter-eltern-ja-ich-bin-ein-rettungshubschraubervater-a-916330.html
Mehr im Internet:
Die Studie über glückliche Helikopter-Eltern: http://spp.sagepub.com/content/early/2013/03/13/1948550613479804.full.pdf
Leistungshunger und Egoismus: Umfrage von Weissbourds Team: http://sites.gse.harvard.edu/sites/default/files/making-caring-common/files/mcc_report_7.2.14.pdf
"Making Caring Common"-Projekt: http://makingcaringcommon.org
Literatur zu Entwicklungspsychologie, Identität und Bezogenheit:
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Veränderungsprozesse: Ein integratives Paradigma
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Praxis: Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, eidg. anerkannter Psychotherapeut, Markus Frauchiger, lic.phil., 3012 Bern
Praxis Frauchiger, Psychotherapeut Bern
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