Markus Frauchiger, lic.phil.
Eidg. anerkannter Fachpsychologe für Psychotherapie FSP
Falkenweg 8
3012 Bern
Tel.: 031 302 00 30 oder 079 745 47 39
e-mail: praxis-frauchiger@bluewin.ch
Homepage: http://www.psychotherapeut-bern.ch
Die Anerkennungsfalle - Ueber Machtspiele und Anerkennungskämpfe - Von der Wiederkehr des Imaginären zum narzisstischen Selbstmodell
Digitaler Narzissmus und analoges Selbst - Wirklichkeitskonzepte für Psychotherapie und Gesellschaft
Markus Frauchiger, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP in CH-3012 Bern
Markus Frauchiger: CV, Lebenslauf und Vernetzung des Autors
Veröffentlichung und Reproduktion nur auf Anfrage beim Autor möglich - dies ist ein vorläufiges Arbeitspapier, welches kontinuierlich erweitert wird.
Zusammenfassung - Summary:
Dies ist der Versuch, das Zusammenspiel 'analoger und digitaler Selbstzustände' zu beschreiben und daraus eine postmoderne Narzissmustheorie aus neuro-konstruktivistischer Sicht zu entwickeln, einen tertiären Narzissmus zu postulieren, der m.E. am besten in einer medial überspannten und neoliberal bewirtschafteten und technisch-entfremdeten Gesellschaft sich ausbreiten kann. Der zweite Teil des Titels "Die Wiederkehr des Imaginären" wird verständlicher unter Hinzunahme des vom Psychoanalytiker und Strukturalisten Jacques Lacan so benannten REALEN, einer der drei Dimensionen in der "verknoteten" Trias 'Das Reale - das Imaginäre und das Symbolische' (die wichtigsten Definitionen und Konzepte werden bereits in Kapitel 1 hergeleitet).
Wenn das REALE "R" gleichsam den "Boden der Tatsachen" darstellt, stehen die anderen beiden "Register" oder 'Aggregatszustände' "I" und "S" für die WIRLICHKEIT. Uebersetzt in die Praxis des Lebens sehen wir hier zwei 'Wirklichkeiten' aufeinandertreffen, die sich aus dem Realen in das das Digital-Narzisstische ("I") und das Analog-Resonante ("S") auffächern. In der Sprache der Neurowissenschaften handelt es sich hierbei um EMERGENZ, ein weiteres Grundkonzept meines Narzissmus- und Selbstmodells.
Wir werden zusammen eine längere Lese-Reise unternehmen in die verschiedensten, wie ich finde sehr spannenden, wissenschaftlichen und populären Wissensgebiete; dies immer auf der Suche nach dem Zusammenspiel der drei Grundzustände R-I-S in den verschiedensten Ausprägungen: Natur vs. Kultur, Geist vs. Seele, Analoges vs. Digitales, Struktur vs. Dynamik, innen vs. aussen, Demokratie vs. Diktatur, visuell vs. auditiv, Naturwissenschaft vs. Geisteswissenschaft, Technik vs. Natur, kurz: Reales vs. Imaginäres vs. Symbolisches (R-I-S).
Mithilfe zahlreicher AutorInnen, Theorien, Konzepten und Methoden wie u.v.a. der Lacan'schen, der Baudrillard'schen und der McLuhan'schen Sichtweise wird unser anfänglich noch verschwommenes Narzissmus- und Selbst-Konzept durch die zehn Kapitel hindurch immer konkreter und angewandter werden, sodass es zum Schluss sogar möglich sein wird, Aussagen zur Re-Demokratisierung einer zunehmend autoritärer werdender Welt (Schlagworte: Trump, Putin, Erdogan) im Kollektiven und zu einer 'Dialektischen Psychotherapie' narzisstischer Seinszustände im Individuellen zu machen und konzeptbildend handliche "Werkzeuge" zu deren Integration in ein 'gesundes' Selbstmodell konstruktivistisch zu entwickeln.
Nachdem in einem weiteren Teil (Kap.2-4) v.a. das Narzisstische Prinzip, also die Dimension des Imaginären ("I"), in Gesellschaft und Individuum dargestellt wird, entwickle ich als quasi 'dialektisches Gegenstück' in weiteren Kapiteln (5-10) Konzepte zu einem 'resonanten und relationalen Selbst', den Dimensionen des Symbolischen ("S"). Diese sprachlich und sozial gewonnenen, erkämpften, in wiederkehrenden Aushandlungsprozessen neu zu bestätigenden flexiblen 'Selbstmodelle der symbolischen Dimension' wirken sowohl nach innen und nach aussen. Dergestalt überzeugt dieses das Narzisstische überwindende SELBST der Sphäre 'S' aus sich heraus, ohne manipulativ und überangepasst zu sein, ein selbstbewusstes 'Sein statt Schein' zu leben imstande ist und in Bezogenheit auf seine Umwelt ein 'Gleichgewicht des Selbstwertes' immer wieder von neuem dynamisch sucht und so in Anerkennung des und der Anderen 'relational und regulierend' eine Philosophie von 'Mass und Mitte' lebt und mitmenschlich vorlebt.
Nebst Konzepten aus der psychoanalytischen, systemischen, kognitiv-behavioralen und humanistischen Psychologie und Psychotherapie beziehe ich auch und v.a. Erkenntnisse aus Nachbarwissenschaften wie u.a. der Neurobiologie, der Soziologie, der Pädagogik und der (Sozial-)Philosophie mit ein, aber auch Kunstgeschichte, Medien- und Literaturwissenschaften, aber auch Robotik, Künstliche Intelligenz, Big Data, 'Life Sciences', Astronomie etc. werden herangezogen um dieses Konzept des 'Digital-visuellen Narzissmus' ("I") und seines Pendants, dem symbolisierungsfähigen, mentalisierten SELBST ("S") in der nötigen Tiefe zu begründen und darzustellen.
Ich werde das Rad selbstverständlich nicht neu erfinden, sondern zahlreiche Befunde und Konzepte aus den letzten Jahrhunderten zusammentragen und ordnen, mit eigenen Hypothesen ergänzen, wo nötig "ins 21. Jahrhundert übertragen" und um neuere Phänomene (wie z.B. Digitalisierung, "Filter Bubbles", Framing und den Selfie-Kult) ergänzen und so für ein breiteres (Fach-)Publikum aufbereiten.
Somit werden nebenher zahlreiche (Buch-)Perlen aus verschiedenen Disziplinen bekannter und für einen breiteren Diskurs in Form dieser Veröffentlichung kostengünstig und niederschwellig besser zugänglich werden, insofern verstehe ich meine Aufgabe auch als der eines Moderatoren und Publizisten. Der Nebeneffekt einer durchs Recherchieren entstandenen umfassenden Online-Materialsammlung soll nebst den therapeutisch Tätigen auch für u.a. PolitikerInnen und EntscheidungsträgerInnen aus z.B. der Wirtschaft und der Verwaltung im Blick auf einen verbesserten Zugang zur Psychotherapie für alle Bevölkerungsschichten zur freien Verfügung stehen.
Die Konzeption eines 'tertiären Narzissmus der Postmoderne' erachte ich auch deshalb für dringend notwendig, weil aufgrund zahlreicher Beobachtungen und Befunde aus meiner 20-jährigen Praxistätigkeit, wo zunehmend "narzisstische Tendenzen" festzustellen sind, m.E. Handlungsbedarf besteht in Form revidierter Psychotherapiemethoden wie im zehnten und letzten Kapitel dieser Monographie darzulegen und zu begründen sein wird. Als seit 1994 in verschiedensten Institutionen und seit 2008 in eigener Praxis tätiger Psychotherapeut in Bern stelle ich oft fest, dass Aspekte des Sozialen, des Kontextes, der Technik ("Internet-Surfen", sog. 'Soziale Medien', Smartphone-Gebrauch, Medien-Konsum im Allgemeinen etc.), der fehlenden Anerkennung und anderer Entfremdungsdynamiken in und mit der Um- und Lebenswelt sowie der 'Weltbeziehungen' (Rosa 2012) in der real-existierenden und praktizierten Mainstream-Psychotherapie aber auch in der Theoriebildung m.E. zuwenig berücksichtigt werden.
TEIL I: Paradigmen, Menschenbilder und Wissenschaftstheorie
- Naturwissenschaften vs. Geistes- und Sozialwissenschaften
- 'Siegeszug' des Empirismus und des Positivismus?
- "Richtig vs. falsch" oder "Innen vs. Aussen" oder "Analog vs. Digital"?
- Das Koordinatensystem "Regulation in Relation"
TEIL II: Psychoanalyse und Strukturalismus: Selbst-Modelle und Narzissmus
- Die drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit: Kopernikus, Darwin und Freud
- Psychoanalyse: Topik I und Topik II
- Strukturmodelle der Persönlichkeit in der Zeit nach Freud
- Die Register 'Das Reale - Das Imaginäre - Das Symbolische' im französischen Strukturalismus Jacques Lacans
- Von Freud über Lacan zu McLuhan: vom Prothesengott zu den extendierten Extremitäten
TEIL III: Kulturwissenschaften - Medienwissenschaften - Culture Studies
- Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20. Jahrhundert
- Kultur- und Medienwissenschaften: Marshall McLuhan
- .......................................
TEIL IV: Von der Moderne zur Postmoderne: Systemtheorie, Konstruktivismus und Dekonstruktion
- Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
- Der postmoderne Mensch als Sozialcharakter
TEIL V: Vom radikalen Konstruktivismus zu den Neurowissenschaften
- ...........................
TEIL I: Paradigmen, Menschenbilder und Wissenschaftstheorie
Anknüpfend an eigene Ueberlegungen ("Forschung und Metatheorie - Anmerkungen zu wissenschaftstheoretischen Postionen" 1998) welche ich im Anschluss an meine Lizentiatsarbeit ("Psychotherapeutische Modelle und ihre Wirkfaktoren" 1997) angestellt habe, beginne ich dieses Buch mit der Präsentation wichtiger Strukturmodelle, (Meta-)Theorien und Methoden um das Feld zu bestellen, worauf in den nachfolgenden Kapiteln die Saat einer eigenen Narzissmus- und Psychotherapie-Konzeption, gedeihen und wachsen soll.
Es folgt nun, das Thema von damals weiterführend, ein leicht bearbeiteter Auszug aus Frauchiger 1998:
Ludwig Wittgenstein (1960) diagnostizierte eine „Begriffsverwirrung“ innerhalb der Psychologie. Ein Grund dafür sind die stark differierenden Erkenntnisweisen von Natur- und Geisteswissenschaften.
Wilhelm Dilthey (1894) [ein Deutscher, deshalb "diltei" ausgesprochen] hat die einflussreiche Formel geprägt:
„Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“.
Wilhelm Wundt, der Begründer der modernen Psychologie, ging ebenfalls von einer Zweiteilung unseres Faches aus (bei ihm: die physiologische vs. die sog. Völker-Psychologie). Erst später, durch den Einfluss des amerikanisch-russischen Behaviorismus, wurde die positivistische, naturwissenschaftliche Wissenschaftsauffassung auf die gesamte Psychologie übertragen. Diese „Vereinnahmung“ dauert trotz „Kognitiver [und emotionaler] Wende“ bis heute an.
Das Descart’sche Maschinen- bzw. (post-modern ausgedrückt: Computer-)Modell impliziert eine Zerlegbarkeit des Menschen in messbare Variablen. Diese Sichtweise favorisiert logischerweise ein empirisch-nomothetisches Vorgehen, wie es sich in immer raffinierteren statistischen Methoden heute an den meisten Universitäten als Fach Psychologie scheinbar abschliessend darstellt.
Es gibt ein anderes, dazu komplementäres, dialektisch-systemisches [s.u.] Wissenschaftsverständnis:
Die Hermeneutik basiert auf der viel weiter in die Menschheitsgeschichte zurückreichenden Tradition des Naturverstehens durch „Zeichendeutung“, wie sie z.B. Jäger und Medizinmänner praktiziert haben. Die Natur ist nach dieser Auffassung ein Buch, dessen Wörter und Sätze der Kundige auf der Grundlage seines Erfahrungswissens lesen und auslegen kann. Die Bedeutung eines Zeichens erschliesst sich nicht aufgrund von mathematischen Gesetzen, sondern durch den Zusammenhang, in dem es steht [vgl. hierzu das Synergetik-Kapitel weiter unten].
Es wird eine Zirkularität postuliert: zwischen dem Ganzen und dem Detail, aber auch zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt. Diese Interpretationen sind zudem geschichtlich bedingt, wie Gadamer (1960) lehrt. Wie in einem Zerrspiegel (geschichtlich-sprachliche Deutungsmuster) nehmen wir die Umwelt und uns selbst wahr. Gemäss Gadamer können wir aber durchaus unsere Grenzen des Erkennens im Austausch mit dem Erkenntnisgegenstand schrittweise erweitern - ohne dass aber jemals eine geschichtslose, „objektive“ (wie sie der Positivismus postuliert) Erkenntnis erreichbar wäre (vgl. Legewie/Ehlers 1992 S.16-29).
Die Abbildung rechts (aus Legewie/Ehlers 1992 S.18) stellt die beiden grundsätzlichen Formen von Wissenschaftsauffassung einander gegenüber:
Quellen:
Frauchiger, M. (1998). Wissenschaftstheoretische Ueberlegungen zu Metatheorien in der Psychotherapie. Online: http://www.psychotherapeut-bern.ch/metatheorie.htm
Legewie, Heiner/Ehlers, Wolfram (1992). Knaurs moderne Psychologie. Neu bearb.u.wesentl.überarb.Ausg. München: Droemer Knaur.
Noch kürzer formuliert kann die Gegenüberstellung der beiden Paradigmen so bezeichnet werden:
- Nomothetik als Regulationsdimension (y-Achse): Naturwissenschaften inkl. Medizin und Psychiatrie
Hierher gehören nebst der Quantifizierbarkeit (Popper 1972) auch Begriffe wie u.a. Struktur, Ordnung, Präzision, Messung, Maschinenmodell und Autorität, vgl. Kapitel 2-4 in diesem Buch
- Idiographik als Relationale Dimension (x-Achse): Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften
Hierher gehören nebst dem Qualitativen Paradigma (Thomas Kuhn 1976) auch Prozess, Dynamik, Intuition, Resonanz, Relation, Dialog und Demokratie etc., vgl. Kapitel 5-9.
Obige Ausführungen ergeben in einer Gegenüberstellung der zwei zunächst unversöhnlich erscheinenden Philosophien des Erklärens bzw. des Verstehens (Dilthey u.a.) die Darstellung eines Koordinatensystems, bestehend aus zwei sich kreuzenden Dimensionen bzw. Achsen.
"Richtig vs. falsch" oder "Innen vs. Aussen" oder "Analog vs. Digital"?
Man Ray "Gräfin Casati" 1928 © Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Wenn Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, sich "innen und aussen" als "links und rechts" auf der x-Achse eines Koordinatensystems vorstellen und "analog und digital" als "oben und unten" (y-Achse), haben Sie bereits eine erste "Kürzestformel" dieses Buches grafisch vor Augen.
Falls Ihnen dieses solcherart entstandene "Fadenkreuz" (Grafiken dazu im 1. Kapitel) noch wenig sagt, was ich gut verstünde, werden Sie in diesem Buch Kapitel für Kapitel immer näher an diesen im Kern simplen Grundgedanken einer Narzissmus- und Selbstkonzeption herangeführt.
Die Konzepte und Methoden welche ich Ihnen im folgenden vorstellen und nahelegen möchte, sollen einfach zu handhabende Werkzeuge sein, sowohl für PraktikerInnen wie auch für wissenschaftlich tätige KollegInnen. Falls jemand empirische Untersuchungen dazu vornehmen möchte, würde mich das sehr freuen. Ich selber habe leider die Zeit (übervolle Praxis plus Familie) und das Geld (bin leider kein Königssohn..., habe auch keinen Mäzen oder andere "Drittmittel" im Rücken) dazu nicht, hätte aber Ideen zu Methodik und Durchführung solcher Studien. Kontakt: praxis-frauchiger@bluewin.ch
In neuerer Zeit findet sich dieses "Fadenkreuz" der beiden sich ergänzenden "Welten" u.a. wieder bei Gödde und Buchholz (2012) in ihrem monumentalen Zweibänder "Der Besen mit dem die Hexe fliegt - Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten", auf insgesamt 1354 Seiten...:
Der Besen entpricht im metaphorischen Bild der beiden renommierten Professoren dem oben kurz beschriebenen nomothetischen, quantitativ-messenden Zugang zu den Phänomenen, welche v.a. die universitäre, Steuergeld-alimentierte Forschung untersucht, währenddem die Hexe (an Freuds "Hexe Metapsychologie" erinnernd) als Symbolbild für die idiografischen, qualitativ-hermeneutischen Zugänge steht bzw. fliegt, im Sinne von lebendig-sinnlichem, erspürenden, in Resonanz (Kap. 8) und Relation (Kap. 6) stehenden Forschens und In-der-Welt-Seins.
Eine Synthese dieser beiden, m.E. in einem dialektischem Verhältnis (s.u.) stehenden Zugänge liest sich in der Metaphern-Sprache von Buchholz und Gödde so:
"In der Therapeutik [vgl. Kap. 10] muss ebenso wie in der Wissenschaft gearbeitet werden, damit man manchmal auch fliegen kann. Der ordnende, aufräumende Besen und die fliegende Hexe gehören zusammen, Zauberei allein schafft nur Unordnung und Verführung, ein Besen ist lediglich ein langweiliges Haushaltsinstrument.
Therapeuten brauchen mehr als den Besen der Manuale: Zur Ordnungsleistung der Wissenschaft muss die philosophisch-lebenskundliche Orientierung hinzukommen, damit Wind unter den Flügeln entsteht und die Therapeuten mehr sind als technische Experten" (aus der Verlags-Broschüre, Hervorhebungen M.F.).
Gödde und Buchholz beschreiben die hier auch von mir und bereits im Artikel "Anmerkungen zu den Metatheorien" von 1997 vertretenen Thesen so treffend und sprachlich elegant, dass ich mir erlaube ein paar längere Auszüge (mit eigenen Hervorhebungen und Zwischentiteln) aus diesem m.E. unterschätzten und leider wenig beachteten interdisziplinären Werk wiederzugeben:
'Gestaltsehen' und Paradigmenwechsel
"Ludwik Fleck (1935) ist die Erkenntnis zu verdanken, dass eine »wissenschaftliche Tatsache« nicht auf schlichter Beobachtung, sondern auf der Herausbildung einer Wahrnehmungsgewohnheit beruhe, und diese Art des Gestaltsehens [sic!vgl.Kap.2: Gestaltpsychologie] entwickle sich als gemeinsamer »Denkstil« in der jeweiligen Wissenschaftlergemeinschaft eines bestimmten Fachgebietes. Der einzelne Wissenschaftler richte sich also in seiner Forschungstätigkeit am jeweiligen »Denkkollektiv« [vergleihbar mit Foucaults "Dispositiv"] aus und sei davon in seinem Wahrnehmen und Denken bestimmt. Wissenschaftlicher Fortschritt entwickle sich daher nicht einfach kumulativ und progressiv, sondern relativ zum Denkstil, wobei es periodisch zu einer Verschiebung der selektiven Aufmerksamkeit kommen könne.
Auch Thomas Kuhn (1962) betrachtete den wissenschaftlichen Prozess nicht als friedlich evolutionär und linear voranschreitende Fortschrittsgeschichte, sondern als unumgänglich mit Krisen und Kämpfen verbunden, die von Zeit zu Zeit in einen »revolutionären« Paradigmenwechsel münden" (Goedde/Buchholz 2012 Band I S.19).
"Ian Hacking (1983) sieht das Verdienst von Thomas Kuhn darin, eine Krise im Selbstverständnis der modernen Wissenschaften herbeigeführt zu haben, wobei er dessen Programmatik in folgenden Thesen zusammenfasst:
- Es gibt keine scharfe Unterscheidung zwischen Beobachtung und Theorie.
- Eine lebendige Wissenschaft weist keine eng zusammenhängende deduktive Struktur auf.
- Die Begriffe einer lebendigen Wissenschaft sind nicht sonderlich präzise.
- Die Theorie der methodologischen Einheit der Wissenschaft ist falsch.
- Die Wissenschaften bilden ihrerseits keine Einheit.
- Der Begründungszusammenhang ist nicht vom Entdeckungszusammenhang zu trennen.
- Die Wissenschaft ist etwas Zeitliches, sie ist ihrem Wesen nach etwas Historisches« (Rheinberger 2007 S.120).
Hackings eigenes Anliegen war es, nachzuweisen, dass es nicht in erster Linie die Theorien sind, welche das Geschehen in den Wissenschaften bestimmen, da sie selbst immer schon in die unterschiedlichsten Praxis- und Experimentalzusammenhänge eingebettet seien. Das Experimentieren habe eine Eigendynamik" (Goedde/Buchholz 2012 Band I S.20).
Die wissenschaftliche Psychologie
"Sie bewegte sich einerseits in der Polarität zwischen einer Psychologie des Bewussten und des Unbewussten, andererseits in der Polarität zwischen einer naturwissenschaftlich-nomothetisch-obiektivierend-erklärenden und einer geisteswissenschaftlich-idiographisch-subjektivierend-verstehenden Wissenschaftsauffassung. Auch in der Psychologie kam demnach das viel diskutierte Problem der »Zwei Kulturen« (Snow 1967, Kreuzer 1987, Wuchterl 1997, Kap.4), der naturwissenschaftlich-technischen und der geisteswissenschaftlichhumanistischen Kultur, voll zum Tragen. Erst viel später entdeckte man die Dimension der Sozialität.
Die naturwissenschaftlich-szientifische Forschungsrichtung hat in der Psychologie mit einem Basisproblem zu ringen, das man als Dekontextualisierung ihres Forschungsgegenstandes bezeichnen kann. Für experimentelles Vorgehen ist es notwendig, komplexe Sachverhalte in analytische Einheiten aufzuteilen und zu diesem Zweck weitgehend auf die Berücksichtigung des konkreten Kontextes zu verzichten. Aber nicht nur vom Kontext, sondern auch »in einer überaus einschneidenden Weise vom erlebenden Subjekt« wird abstrahiert (Jüttemann 2010 S.14). Wurde der Forschungsgegenstand - Menschen in ihrer Lebendigkeit, Subjektivität und Sozialität - entsprechend dieser »Abstraktionen« eingeengt, so räumte man nach und nach der Forschungsmethode Priorität ein. Jede Methode schafft einen »unmarked space« dessen, was ihr entgeht. Sie schließt aus, was sie nicht erfasst und missversteht das von ihr Eingeschlossene als das Ganze dessen, was es zu wissen gibt. Der »Wiedereinschluss« des so Ausgeschlossenen kann nur durch andere Methoden komplementiert werden.
Diese Einsicht, analog zum demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung, hat sich in der Psychologie noch keineswegs durchgesetzt" (Goedde/Buchholz 2012 Band I S.21-22).
Der 'Siegeszug' des Empirismus und des Positivismus
»Eine Psychologie, die sich ausschliesslich am scheinbar exakteren Erkenntnismodus der Naturwissenschaften orientieren würde, verschenkte damit Erfahrungs- und Erkenntnischancen, die in phänomenologischen, hermeneutischen, historischen, geistes-, kunst- und kulturgeschichtlichen Zugangsweisen liegen« (Rath 2010 S.114). Soweit eine solche Aus- und Eingrenzung in den letzten Jahren stattgefunden hat und mit einem gewissen publizistischen Nachdruck durchgesetzt wurde, hat dies auch dazu geführt, dass Psychoanalyse und Tiefenpsychologie sowie die psychodynamische Psychotherapie in den psychologischen Fachbereichen der Universitäten kaum noch repräsentiert sind (Fischer&Möller 2006). Sie wurden aktiv durch eine entsprechende Besetzungspolitik von Hochschulstellen ferngehalten.
Die Debatte um die »empirically supported therapies« (zusammenfassend Buchholz 2000) forderte, dass nur noch jene Therapieformen zugelassen werden sollten, die empirisch ihre Wirksamkeit nachgewiesen hätten. Dem hat sich dann in der Wissenschaftspolitik der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung angeschlossen und insbesondere Richtlinien definiert, die sich an der Programmatik des »randomized controlled treatment« (RCT-Studien) verbindlich orientierten. Danach waren sehr hohe Anforderungen an Psychotherapiestudien gestellt, die sich vor allem darauf bezogen, dass Patienten einer genau definierten »Störung« per Zufall einer Therapie/einem Therapeuten zugewiesen würden, dass die Therapeuten manualtreu vorgingen (also auch Therapieformen praktizierten, mit denen sie nicht identifiziert waren), dass andere Patienten einer Warteliste als Kontrollgruppe zugewiesen würden, und dass die in Behandlung befindlichen Patienten und die der Kontrollgruppe parallelisiert seien hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und sozialem Status. Man wollte ein hohes Mass an Vergleichbarkeit gewährleisten und meinte, dass nur so der Nachweis zu führen sei, dass eine eingetretene Besserung tatsächlich auf die angewandte Therapiemethode zurückgeführt werden könne.
Die Durchsetzung dieser harten Programmatik hatte erhebliche Umgestaltungen der therapeutischen Versorgungslandschaft zur Folge, die man durchaus als Verwüstung erprobter Verfahren und Prozeduren (Hein&Henze 2007; Henry 1998) beschreiben kann.
Zunehmende Selbstkritik aus dem Lager des RCT-Paradigmas
"Umso mehr erstaunt es, wenn Prof. Franz Caspar (2011) neuerdings fragt, ob sich der störungsspezifische Ansatz in der Psychotherapie »zu Tode gesiegt« habe. Jede »Störung« nämlich gehe meist mit einer zweiten oder dritten einher, Persönlichkeitsstörungen etwa mit Angst, Depression oder Zwang - und solche Ko-Morbidität macht für die Behandlungsführung erhebliche Unterschiede, wirkt sich also auf die Evaluation einer Methode für eine und nur eine Störung erheblich aus. Wenn man ungefähr 400 in diagnostischen Manualen definierte »Störungen« auf diese Weise miteinander kombinieren müsse, entstehe schnell ein »mehrdimensionales Netz mit Millionen von Zellen«.
Also eine Kombinatorik von menschlichen Problemen, die ungefähr der Anzahl von Patienten in therapeutischen Behandlungen entsprechen dürfte? So möchte man jedenfalls gleich fragen. Und Caspar meint weiter, dass wenigstens den Hauptgruppen eine Behandlungsmethode zugeordnet werden müsse, die durch mindestens eine, besser zwei RCT-Studien ihre Wirksamkeit nachgewiesen hätte. So zu argumentieren erfüllt nur die logischen Bedingungen des gesamten RCT-Ansatzes. Den praxeologischen Einwand dagegen bringt Caspar sogleich selbst: Auch nur für die wichtigsten Störungskombinationen, für alle in der klinischen Wirklichkeit vorkommende Multimorbidität, je eine (besser zwei) RCT-Studien als Wirksamkeitsnachweis zu fordern, sei eine praktische Unmöglichkeit, weil jeder Forscher in seinem Arbeitsleben höchstens vier oder fünf solcher aufwendigen Studien durchführen könne!
Wenn man dann noch daran denke, so Caspar weiter, dass die Definitionsgrenzen der Störungen selbst durch neue, derzeit aktuell ausgehandelte Aenderungen der diagnostischen Manuale (ICD bzw. DSM) verschoben würden, also alle Forschungen wegen der veränderten Kategorien gleichsam neu beginnen müssten, dann könne eine erfolgreiche Psychotherapieforschung praktisch nicht an ihr Ende kommen. »Ein Spiel, das kaum zu gewinnen ist«, schreibt dieser einflussreiche Forscher.
Dem ist kaum etwas hinzuzufügen ausser der verblüfften Beobachtung, dass man das doch auch schon vorher hätte wissen können! 400 »Störungen«, untereinander kombiniert - das ist doch nur eine Frage der Kombinatorik, nicht der Empirie! Nimmt man an, dass sich Störungen mehrfach untereinander kombinieren können, erreicht man schnell eine zweistellige Millionenzahl. Das entspricht der Bevölkerung eines Landes wie der Bundesrepublik. Die frühe Kritik, dass so Sinnzusammenhänge zerrissen würden, bekommt eine späte Bestätigung. Diese Hexen haben ihren Besen zum Kehren, zum Ausputzen und Ausleben ihrer Ordnungswut genutzt. Wenn sie je zu fliegen versucht haben, wird uns hier ihr Absturz gemeldet.
Warum nur hatte das Imperium der frustrierten RCT-Forscher so zuschlagen müssen in der Szene der Psychotherapeutik?
Hier, so muss man schlussfolgern, ist etwas Grundsätzliches mit dem störungsspezifischen Ansatz nicht im Lot. Denn auch aus anderen Feldern - etwa Kriminologie, Sozialwissenschaften oder Pädagogik - und aus der Erfahrung des »golden age« der Evaluation in den USA während der 1960er und 1970er Jahre [vgl. Uebersicht dazu in Kap.3] hätte man über die frustrierenden Erfahrungen mit dem RCT-Paradigma Bescheid wissen können (Robson 2002 S.117). »The picture is depressing«, schreibt Robson, emeritierter Professor der Statistik und damals Berater der OECD in Paris. Aber er ist darüber nicht enttäuscht, sondern wundert sich über den Eifer, mit dem ansonsten vernünftige Leute aus anderen Bereichen auf dieses Paradigma als allein seligmachend gesetzt haben. Insofern bestätigt sich der Befund von Stephan Wolff (1994), der vor beinahe 20 Jahren formulierte, dass die empirische Psychotherapieforschung, soweit ausschließlich dem RCT-Ansatz verpflichtet, in einem Zustand sei, den andere schon lange als Irrweg aufgegeben haben. Grund ist der imperiale methodische Monopolanspruch. Wer fliegen will, braucht mindestens zwei Flügel (Goedde/Buchholz 2012 Band I S.22-24).
...............................
Epistemologie - Erkenntnistheorie
............... Kants 'Konstitutionstheorie' (die er als kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie bezeichnet hat), wurde von den Vertretern des deutschen Idealismus, wie z.B. Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) übernommen und ausdifferenziert.............
Auf die Erweiterung des Buchholz/Gödde'schen "Fadenkreuzes" auf die zwei Dimensionen des Unbewussten komme ich in Kapitel 6 (Relation) noch ausführlicher zu sprechen.
Quellen:
Buchholz, Michael B. (2000). Effizienz oder Qualität? Was in Zukunft gesichert werden soll. In: Forum der Psychoanalyse 16, S. 59-80.
Buchholz, MB, Gödde, Günter (2006 Hrsg). Das Unbewusste - Band III: Das Unbewusste in der Praxis. Giessen: Psychosozial.
Caspar, Franz (2011). Editorial: Hat sich der störungsspezifische Ansatz in der Psychotherapie »zu Tode gesiegt«? In: Psychother.Psychosom.med.Psychol.61 S.199.
Fischer, G./Möller, H. (2006). Psychodynamische Psychologie und Psychotherapie im Studiengang Psychologie. Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft. Kröning: Asanger.
Fleck, Ludwig (1935). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache - Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980.
Gödde, Günter/Buchholz, Michael B. (2012 Hrsg). Der Besen, mit dem die Hexe fliegt - Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Band I: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. Giessen: Psychosozial.
Hacking, Ian (1983). Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. Stuttgart: Reclam 1996.
Jüttemann, G./Mack, W. (2010 Hrsg). Konkrete Psychologie - Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt. Lengerich: Pabst.
Kuhn, Thomas (1962). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976
Rath, N. (2010). Vom Wandern in Seelenlandschaften. In: Jüttemann&Mack (2010) S.109-123.
Rheinberger, HJ (2007). Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg: Junius.
Walach, H. (2009). Psychologie - Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 2.aktual.Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.
Wampold, B. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods and Findings. Mahwah, NJ/London: Lawrence Erlbaum Asssociates.
Die narzisstischen Kränkungen der Menschheit: Kopernikus, Darwin, Freud, ...
Eine kollektive Kränkungsgeschichte
Den historischen Ausgangspunkt für dieses Unterkapitel, wo es nun erstmals um den Narzissmus im engeren Sinne [vertieft in Kap.2] gehen soll, bilden drei aufeinander aufbauende, bahnbrechende Entdeckungen, welche gesamtgesellschaftliche, kollektive, kränkende Wirkungen zur Folge hatten (vgl. u.a. Freud 1917, Laplanche 1996, Haller 2015 u.v.m., s.u.):
- I. Das heliozentrische Weltbild (Kopernikus u.a., 16. Jahrhundert)
- II. Die Evolutionstheorie (Charles Darwin, 19. Jahrhundert)
- III. Die Psychoanalyse (Sigmund Freud, 20. Jahrhundert)
Sigmund Freud schrieb in »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« (1917) über die drei genannten Kränkungen
"...dass die Philosophie, die Geisteswissenschaften, die Religionen, die politischen Systeme, die Gesellschaft, ja die ganze Menschheit durch neue Erkenntnisse in ihren bisherigen Vorstellungen und in ihrem Glauben zutiefst erschüttert würden. Auf die Notwendigkeit, sich von den alten Werten verabschieden und auf ganz neue Denkweisen einlassen zu müssen, reagiere die Menschheit gekränkt.
I. Die erste elementare Kränkung dieser Art habe Nikolaus Kopernikus verursacht. In einem mehrbändigen Werk war dieser wahrscheinlich 1509 zu seiner berühmten Erkenntnis gekommen, dass sich nicht die Sonne um die Erde bewege, sondern umgekehrt, die Erde um die Sonne kreise. Mit dieser als »Kopernikanische Wende« bezeichneten revolutionären Idee wurde das auf den griechischen Mathematiker, Geografen und Philosophen Ptolemäus zurückgehende geozentrische Weltbild, nach welchem die Erde der Mittelpunkt des Universums sei, durch das heliozentrische – die Sonne als Mittelpunkt – abgelöst. Kopernikus wurde wegen dieser »kosmologischen Kränkung« verlacht, angefeindet und ausgegrenzt. Selbst Martin Luther beschimpfte ihn als »Esel«.
II. Die zweite Kränkung der Menschheit erfolgte durch die Lehre von Charles Darwin, den englischen Biologen und Geologen, welcher in seinem Buch »Ueber die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion« die Theorie vertrat, dass der Mensch mit den Tieren verwandt sei.
Seine zur »biologischen Kränkung der Menschheit« erklärte These vertrat er in dem 1859 erstmals publizierten Werk »On the Origin of Species«, mit dem er die Grundlagen der modernen Evolutionsbiologie schuf.
III. Die dritte große Kränkung der Menschheit, die psychologische, sieht Freud gar nicht bescheiden in seinen eigenen Entdeckungen über die Macht des Unbewussten. Ein wesentlicher Teil unseres Seelenlebens entziehe sich dem bewussten Willen, sodass verdrängte Gedächtnisinhalte, unbewusste Triebe und Impulse der eigentliche Herr in unserem Hause seien [s.u.].
In der Folge wurden von kulturphilosophischer und anthropologischer Seite zahlreiche weitere Erkenntnisse und Fortschritte als Kränkungen der Menschheit tituliert [vgl.Tab.unten], so die Entschlüsselung des genetischen Codes, die Erkenntnisse über die Grenzen des Wachstums sowie die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen. Die geologische Erkenntnis, wonach die Erde wesentlich älter ist, als in den Schöpfungsberichten überliefert, sei ebenso kränkend wie die ökologische Erkenntnis über die Begrenztheit der Rohstoffressourcen und die Belastbarkeit unserer Umwelt. In der Physik gilt die durch die Kernspaltung induzierte Horrorvorstellung von der Möglichkeit, die Menschheit durch Waffen zu zerstören, ebenso als universell kränkend wie die Quantenmechanik, durch welche sich die Realität dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzogen habe.
In jüngerer Zeit sieht man die Menschheit durch Ergebnisse der Genetik und der Hirnforschung gekränkt: Wenn die Menschen durch die biologische Vererbung ungleich sind, relativieren sich die Möglichkeiten der Erziehung und des sozialen Handelns. Wenn Maschinen denken und in ferner Zukunft vielleicht auch Gefühle entwickeln können, ist der Mensch kein »Homo sapiens«.
Als »digitale Kränkung« bezeichnet man die durch die NSA-Spionagen bewusst gewordene Erkenntnis, dass das uns Freiheit und Macht verheißende Internet letztlich zur Ueberwachung, zum Bild des »gläsernen Menschen« geführt habe und wir in Wirklichkeit nicht Beherrscher, sondern Gefangene des großen Netzes seien.
Als wahrscheinlich größte Kränkung der Menschheit werde sich, so die Wissenschaft, die Aufklärung des Gehirns erweisen. Sollte das menschliche Gehirn tatsächlich in der Lage sein, sich selbst zu begreifen und den Geist zu entschlüsseln, werde auch das Leib-Seele-Problem auf nicht göttliche Weise gelöst" (Haller 2015 S.48-49).
Quelle: Haller, Reinhard (2015). Die Macht der Kränkung. Salzburg: Ecowin.
An dieser Stelle möchte ich auf den nomothetischen bzw. 'RCT'-Pol (s.o.) der wissenschaftstheoretischen Dichotomie (s.o.) zu sprechen kommen: den Naturalismus bzw. Realismus bzw. Humanismus wie er aktuell im sog. "Manifest des evolutionären Humanismus" von Schmidt-Salomon als Vertreter der Skeptiker und streng naturwissenschaftlich sich verortenden Autoren, aufscheint. Auch er spricht von "fundamentalen Kränkungen" (Schmidt-Salomon 2006 S.9). Das klingt dann so: "Auf der Hitliste der Kränkungen finden sich heute:
- die ethologische Kränkung: die Menschheit ist nicht nur stammesgeschichtlich mit dem Tierreich verbunden, sondern demonstriert diese Verbundenheit auch tagtäglich in ihrem Verhalten (Lorenz/Leyhausen 1968, Sommer 2000, Wuketits 2001, Bischof 19xy).
- die epistemologische Kränkung: wir müssen anerkennen, dass wir - wie alle anderen Tiere - mit einem bloss
relativen, beschränkten Erkenntnisvermögen ausgestattet sind, das nicht auf die „Wirklichkeit an sich" ausgerichtet ist, sondern das sich bloss innerhalb unserer eigenen ökologischen Nische als überlebensfähig bewährt hat (Vollmer 1975, Lorenz 1977).
- die soziobiologische Kränkung: alles Leben beruht auf Eigennutz, selbst die höchsten altruistischen Tugenden
können auf „genetisch-memetischen Egoismus" zurückgeführt werden [vgl. Peter Singers Konzept "Effektiver Altruismus" vgl.Kap.7] (Voland 2000, Dawkins 1998, Singer 2015).
- die ökologische Kränkung: wir sind abhängig von einer Biosphäre, die so komplex strukturiert ist, dass wir sie -
wie uns in der jüngsten Flutkatastrophe in Südostasien wieder einmal schmerzlich bewusst wurde - weder durchschauen noch kontrollieren können (Dörner 1993).
- die kulturrelativistische oder politisch-ökonomische Kränkung: unsere Ideen, Ideale, Religionen und Künste
sind keineswegs „zeitlos" oder „überhistorisch" gültig, sondern im höchsten Maße abhängig vom historischen
Entwicklungsstand der Produktionstechnologie sowie den Besitz- und Herrschafts Verhältnissen der Gesellschaft, in der wir leben (Fromm 1989).
- die kosmologisch-eschatologische Kränkung: Leben ist ein zeitlich begrenztes Phänomen in einem Universum,
das auf den „Kältetod" oder vergleichbare Endzeitszenarien zusteuert (Kanitscheider 1995).
- die paläontologische Kränkung: die Menschheit trat nur im letzten winzigen Moment der planetaren Zeit auf und
wird irgendwann ebenso untergehen wie alle anderen Spezies vor ihr (Gould 1990).
- die evolutionäre Kränkung der Fortschrittserwartung: die Evolution - biologisch wie kulturell - unterliegt
keinem linearen Trend hin zum Besseren/Komplexen/Höherentwickelten, vielmehr handelt es sich um einen
fortschrittsblinden "Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens" (Wuketits 1998).
- die neurobiologische Kränkung: das so genannte autonome "Ich" ist ein Produkt unbewusster, neuronaler Prozesse, "Geistiges" beruht auf "Körperlichem", "Willensfreiheit" - im strengen Sinne! - ist eine Illusion, religiöse "Visionen" sind auf Ueberaktivitäten im Schläfenlappen zurückzuführen usw. (Damasio 2003, Roth 2003, W.Singer 2002) [vgl. weiter unten Kap. 1.x: Das Selbstmodell bei Metzinger]
Im Zuge der wissenschaftlichen Fortschritte insbesondere der letzten Jahrzehnte hat sich 'Homo sapiens', die vermeintliche "Krone der Schöpfung", selbst entzaubert. Das Wissen um die hierdurch notwendige, grundlegende Revision unserer Menschen- und Weltbilder ist bislang allerdings nur in mehr oder weniger exklusive Kreise vorgedrungen. Die meisten Menschen hängen noch immer Vorstellungen nach, die in Anbetracht des aktuellen Forschungsstands ähnlich obskur wirken wie die einst so populäre Idee, die Erde sei eine Scheibe (Schmidt-Salomon 2006 S.11-12)".
Weiterführendes:
Bischof, Norbert (19xy). Rätsel Oedipus. PIPER.
Carnap, Rudolf (1932). Psychologie in physikalischer Sprache. In: Erkenntnis 3 S.107-142 (dort S.109f).
Damasio, Antonio (2003). Der Spinoza-Effekt - Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München.
Dawkins, Richard (1998). Und es entsprang ein Fluss in Eden. Das Uhrwerk der Evolution. München
Dörner, Dietrich (1993). Die Logik des Misslingens. Reinbek.
Freud, Sigmund (1917). Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Bd.V S.1–7.
Freud, Sigmund (1917). 18.Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewusste. In: Ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und ders.: Studienausgabe. Frankfurt/M. 1969, Bd.1,S.283f.
Fromm, Erich (1989). Die Furcht vor der Freiheit. In: Fromm, Erich: Gesamtausgabe. München, Bd.I.
Gould, Stephen J. (1990). Die Entdeckung der Tiefenzeit. München.
Guwak, Barbara, Strolz, Matthias (2012). Die vierte Kränkung: Wie wir uns in einer chaotischen Welt zurechtfinden. Wien: Goldegg.
Haller, Reinhard (2015). Die Macht der Kränkung. Salzburg: Ecowin.
Kanitscheider, Bernulf (1995). Auf der Suche nach dem Sinn. Frankfurt/M..
Klingholz, Reiner (201x). Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung. Campus.
Klingholz, Reiner (2014). Das Ende des Wachstums ist näher, als wir denken. Lernt das Schrumpfen zu lieben! The Huffington Post 29.März.
Kösch, Sascha (2014). Die vierte Kränkung der Menschheit. In: http://www.de-bug.de.
Kraiker, Christoph (1994). The story of the three blows. In: Hypnos. XXI, Nr.3 S.176–180 (deutsche Version: Die Geschichte von den drei Kränkungen).
Laplanche, Jean (1996). Die unvollendete kopernikanische Revolution. Frankfurt: Suhrkamp.
Lobo, Sascha (2014). Abschied von der Utopie: Die digitale Kränkung des Menschen. Frankfurt: FAZ-Online.
Lorenz, Konrad/Leyhausen, Paul (1968). Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. München
Lorenz, Konrad (1977). Die Rückseite des Spiegels - Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München.
Lüttke, Mirko (2012). Die Kränkung des Menschen - Die Naturwissenschaften und das Ende des antik-mittelalterlichen Weltbildes. Würzburg: Königshausen und Neumann.
Pauen, Michael (2007). Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Roth, Gerhard (2003). Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt/M.
Schmidt-Salomon, Michael (2006). Manifest des evolutionären Humanismus. Aschaffenburg: Alibri.
Schrader, Christopher (2006). Die Kränkungen der Menschheit. In: Süddeutsche Zeitung. 6./7. Mai S.22
Singer, Peter (2015). Effektiver Altruismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Singer, Wolf (2002). Der Beobachter im Gehirn - Essays zur Hirnforschung. Frankfurt/M.
Sommer, Volker (2000). Von Menschen und anderen Tieren. Stuttgart
Voland, Eckart (2000). Grundriss der Soziobiologie. Berlin.
Vollmer, Gerhard (1975). Evolutionäre Erkenntnistheorie. Stuttgart
Vollmer, Gerhard (1994). Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen. Gehirn, Evolution und Menschenbild. In: Aufklärung und Kritik 1 S.81ff
Vollmer, Gerhard (1995). Auf der Suche nach Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild. Stuttgart S.43ff.
Wuketits, Franz M. (1998). Naturkatastrophe Mensch - Evolution ohne Fortschritt. Düsseldorf.
Wuketits, Franz M. (2001). Der Affe in uns. Warum die Kultur an unserer Natur zu scheitern droht. Stuttgart.
TEIL II: Psychoanalyse und Strukturalismus: Selbst-Modelle und Narzissmus
Sigmund Freud hat die Psychoanalyse also als die dritte grosse Zumutung für das menschliche Selbstbewusstsein angesehen: durch Darwin in der Frage der Abstammung, durch Kopernikus in der Frage nach der Stellung im All desillusioniert, wurden durch die Entdeckung des Unbewussten (Freud) das menschliche Bewusstsein und die Souveränität des Ichs entthront.
Die Psychoanalyse reiht sich ein in die grossen Denkansätze des 20. Jahrhunderts, welche die jenseits der eigenen menschlichen Intention liegenden Bedingungen und Ordnungen des menschlichen Lebens herausarbeiten: seien es nun die vorsubjektiven Strukturen im Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan, Roland Barthes, Paul Ricoeur, Anthony Giddens), die vor aller Reflexion liegenden Weisen des In-der-Welt-seins in der Existenzialphilosophie (v.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus), die gesellschaftlichen Diskurse, die sich in das Denken des Individuums einschreiben, in der Diskursanalyse (v.a. Foucault und Habermas), oder den Vorrang des Gesprächs vor dem individuellen Denken in der Hermeneutik (Dilthey, Heidegger, Gadamer u.a.).
Die Psychoanalyse untersucht unbewusste Motivationen, wie sie sich je eigenwillig zusammensetzen aus den natürlichen, d.h. biologischen, Anlagen, insbesondere der Triebnatur, den (Un-)Verfügbarkeiten frühester Lebenserfahrungen und den auf beide antwortenden Phantasiebildungen (Neurosen, aber auch Träume).
"Die Psychoanalyse ist weder eine Weltanschauung
noch eine Philosophie, die vorgibt, den Schlüssel zum
Universum zu liefern. Sie wird regiert von einer
besonderen Absicht, die historisch durch die Heraus-
arbeitung des Subjektbegriffs definiert ist. Sie setzt
diesen Begriff neu, indem sie das Subjekt auf seine
signifikante Abhängigkeit zurückführt" (Jacques Lacan)
Weil für meine eigene tägliche Arbeit als Psychotherapeut in freier Praxis in Bern die klassische Psychoanalyse nach Freud sowie die strukturale Psychoanalyse nach Lacan wichtige Grundlagen auch für meine Praxis sind, möchte ich im folgenden die Konzepte und Methoden des "Entdeckers" der Psychoanalyse, Sigmund Freud (es gab "Vorgänger im Geiste", wie Nietzsche, Schopenhauer, Breuer, Charcot, Janet u.a.) beschreiben, bevor wir dann in Kapitel 2 zur Beschreibung diverser und auch meines eigenen Narzissmus-Konzepts kommen:
Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud (1856-1939) begründet. Freud, in armen Verhältnissen in der böhmischen Provinz aufgewachsen, hat sich im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einem erfolgreichen Psychiater und Psychotherapeuten hochgearbeitet; dies, nachdem er eine universitäre Karriere aufgrund seiner jüdischen Herkunft (!) hatte aufgeben müssen. Diese "Degradierung" (aus Sicht der oberen Gesellschaftsschicht) vom Forscher zum Praktiker hat sich in der Folge aber als fruchtbar erwiesen. Die Psychoanalyse wäre im Elfenbeinturm der Universität kaum entdeckt und kreativ weiterentwickelt worden. Hier zeigt sich ein erstes Mal die Notwendigkeit einer Verschränkung von Theorie und Praxis.
Nachdem Freud in den 1890er Jahren in Ermangelung etwas Besseren, zusammen mit seinem väterlichen Freund Josef Breuer, v.a. mit Hypnose gearbeitet hatte (sehr spannend: 'Studien über Hysterie 1895'), kam er zum bahnbrechenden Schluss, dass dieselben Gedächtnis-Inhalte (sog. "Material") auch bei vollem Bewusstsein hervorzuholen sein müssten und er erfand die Methode der "Freien Assoziation". Erst dadurch konnte das in der Therapiesitzung Erkannte (damals noch oft durch relativ autoritäre Deutungen des Analytikers, heute meist gemeinsam und partnerschaftlich, sog. "relational" [Kap.6] mit dem Klienten zusammen), auch in den Alltag der PatientInnen transferiert werden.
Von 1895-1905 arbeitete Freud die Psychoanalyse zu einer geschlossenen Theorie aus. 1897: Oedipus-Komplex, 1900: Traumdeutung, 1901: Fehlleistungen, 1905: Sexualtheorie.
Da ich an dieser Stelle nur auf ausgewählte Themen näher eingehen kann, sei auf ein ausführliches Literaturverzeichnis mit Buchtitel-Abbildungen etc. verwiesen: www.psychotherapeut-bern.ch/literatur.htm.
(..........)
Freud gliedert das psychische Erleben in die Bereiche Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstsein. Grosse Bedeutung kommt auch den Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Verleugnung, Projektion etc. zu, die in der frühen Kindheit gegen bedrohliche Erlebnisinhalte aufgebaut werden.
Ziel der Psychoanalytischen Behandlung ist es, Einschränkungen im Erleben der/s PatientIn dadurch zu beheben, dass Unbewusstes bewusst gemacht wird. Dies geschieht vor allem durch die "freie Assoziation" (alles, was der/m KlientIn in den Sinn kommt, soll geäussert werden) und durch die Analyse der auftauchenden Uebertragungsphänomene.
Die/der AnalytikerIn bewahrt eine "gleich schwebende Aufmerksamkeit", d.h., er nimmt alle vorgebrachten Aeusserungen möglichst selektionsfrei, unvoreingenommen und nicht wertend wahr und hilft, diese durch Deutung ihres verborgenen Sinnes zu entschlüsseln. Zudem hält sich die/der AnalytikerIn hinsichtlich persönlicher Aeusserungen weitgehend zurück ("Abstinenz"), um die Uebertragung, d.h. die Verschiebung von Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen der/des AnalysandIn gegenüber früheren Bezugspersonen auf die/den TherapeutIn zu fördern.
Setting: 3 bis 5 mal wöchentlich, oft über mehrere Jahre. Um das freie Assoziieren zu erleichtern, liegt die/der KlientIn auf der Couch, die/der AnalytikerIn sitzt für ihn nicht sichtbar am Kopfende (zitiert nach: Paul Gumhalter, Beatrix Teichmann-Wirth, Martin Voracek und Gerhard Stumm).
Lebenslang steht diesem freudschen Modell zufolge der Homo sapiens im Konflikt zwischen seinen naturwüchsigen Triebwünschen und gesellschaftlichen Zwängen, die ihn nötigen, sich zu mässigen oder Verzicht zu üben. Wo das misslingt, beginnt die seelische Krankheit.
Im 7. Kapitel, Abschnitt F seines Hauptwerkes (provozierend, weil irreführend, "Die Traumdeutung" (1899) genannt), beschreibt Freud ein erstes Mal drei wichtige Bewusstseinszustände des Menschen, als sog. "erste Topik" bekannt geworden:
- Bewusst = wach, klar, sofort und jederzeit beschreibbar
- Vorbewusst = bewusstseinsfähig, nur mittels tiefenpsychologischer Methoden zu erkennen
- Unbewusst, inkl. verdrängt, nur mittels psychoanalytischer Methoden zu erkennen
Der aus dieser Dreigliederung abgeleitete wichtigste Abwehrmechanismus (s.u.) ist die Verdrängung (von ehemals Bewusstem ins Unbewusste "hinunter").
Die zweite Topik: Das Strukturmodell oder "Wo Es war, soll Ich werden"
Da Sigmund Freud, wie erwähnt, seine Konzepte einerseits aus der praktischen Arbeit gewann, andererseits diese auch wieder anhand konkreter Begebenheiten immer wieder überprüfte (vgl. auch Prof. Klaus Grawes (!) Forschungszyklus, beschrieben in Frauchiger, 1997, Wirkfaktoren der Psychotherapie), modifizerte er seine Theorie des Unbewussten allmählich und es entstand folgendes, zweites Schichtenmodell (sog. zweite Topik (1923) oder Instanzenlehre):
- ICH: bewusstseinsfähige Werkzeuge wie Sprache, Rechnen, Feinmotorik
- ES: unbewusste, lebenswichtige Antriebe des Menschen (v.a. Sexualität, Aggression, später: Todestrieb)
- Ueber-ICH (Ich-Ideal): von den Eltern bzw. Gesellschaft unbewusst übernommene Normen
Beide Modelle kombiniert (er hat die erste Topik nie aufgegeben!), ergeben folgendes Bild:
(...............)
Das ICH-IDEAL bei Freud
[englisch: ego ideal, französisch: ideal du moi.]
Freud benuzte den Ausdruck 'Ich-Ideal', um den Bezugsrahmen des Ich [s.o.] näher zu bezeichnen. Das Ich-Ideal ist dabei gleichzeitig als Ersatz für den aufgegebenen kindlichen Narzissmus (Idealisierung des Ich) zu verstehen und als Identifikation mit den Eltern sowie deren sozialem Bezugssystem.
Der Begriff Ich-Ideal ist ein wesentlicher Bezugspunkt in der Entwicklung des Freud'schen Denkens vom Beginn der Ueberarbeitungen des ersten topischen Modells [s.o.] an bis zur Einführung des Ueber-Ich (ebenda) im zweiten topischen Modell (Strukturtheorie, s.Ausführungen zu Topik I und II in Kap. 1).
Die Dimension eines Ideals als Bezugspunkt des Ich taucht bei Freud 1914 in "Zur Einführung des Narzissmus" auf (vgl.Kap.2).
2.2. Strukturmodelle des Subjektes und des Selbst in der Zeit vor und nach Freud
Freud selber hat noch nicht sehr klar differenziert zwischen Ich und Selbst (s.o.) und nur wenig zwischen Ueber-Ich und dem "Duo" Ich-Ideal und Ideal-Ich.
Die sog. Selbstkonzepte, deren "modernere" Varianten wir im 6. und 8. Kapitel besprechen werden, kamen erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts richtig auf (für unser Thema wichtig u.a. Karen Horney und Donald Winnicott) und gipfelten vorläufig in der 'Selbstpsychologie' Kohuts der 1970er Jahre.
2.2.1. Subjektkonstitution vs. Auflösung des Selbst - Agonie des Realen?
"Bereits bei Pythagoras findet eine Trennung des Sinnlichen vom Gedanklichen statt. Die natürliche Sicht
wird vom Intellekt unterschieden. In der attischen Philosophie wird das Subjekt als „tuendes, handelndes“ gesehen. Das Subjekt ist ein Akteur, der etwas verursacht" (Tabari 2000).
Dieser aktive Subjektbegriff ist durchaus "modern" und taucht wieder auf u.a. bei Bourdieu (Soziologie als Handlungs- und Praxistheorie) und Latour: Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), beide Ansätze werden in Kap.3 vorgestellt. Doch zuerst zurück zur Antike:
Bei Platon wird der Innenraum des Menschen zu einer Einheit, die mit "menschlicher Geist" oder "Vernunft"
benannt ist. Damit entsteht die Idee. Auch die Außenwelt hat eine Ordnung. So spaltet sich das Subjekt
(Innenwelt) vom Objekt (Aussenwelt). Die Begriffe 'innen versus aussen' verwendet allerdings erst Augustinus (354 – 430) explizit. Das Mittelalter hatte im Gegensatz zur Neuzeit einen viel geringeren Abstand zwischen Objekt und Subjekt (Tabari 2000).
Descartes (1596-1650) verabsolutierte mit seinem „Cogito ergo sum“ die menschliche Rationalität. In der
humanistischen Tradition wurde das Subjekt in Begriffen des Bewusstseins definiert. Das „Ich“ nimmt wahr, denkt und fühlt (Krempl 1995 S.3).
Das rationale, erkennende Subjekt der Neuzeit wurde als Subjekt VOR dem Objekt gedacht. Einerseits bedeutet dies eine Höherstellung des Subjekts gegenüber dem Objekt und andererseits, dass der Mensch den Gottesstandpunkt eingenommen hat [vgl.'Homo Deus'in Kap.7]: Das Subjekt ist das weltschaffende Zentrum seiner Erfahrungen und bindet die Objekte stark an es zurück. Da bei Descartes auch die Sinne täuschen können, blieb dem Subjekt nur die rationale, denkende Vergewisserung der Welt (Dörfler 2001 S.26).
Kant (1724-1804) postuliert, dass ohne Verstand und seiner Kategorien keine Vorstellung möglich sei. Bei ihm richten sich die Dinge nach unseren Begriffen. Alles Wissen geht vom erkennenden Subjekt aus. Dieses konstituiert und bringt Wissen hervor. "Der Verstand", so sagt Kant buchstäblich, "schreibt der Natur ihre Grundgesetze vor" (Steenblock 2002 S.203). Kants Vernunftlehre und Moral gehen vom Vernunftsubjekt aus (ebd.).
„Seit Kant wird das transzendental aufgewertete 'Ich' zugleich als welterzeugendes und als autonom handelndes Subjekt begriffen“ (Habermas 1992, zit.n.Dörfler 2001 S.28). Die Erkenntnis geht noch immer vom Subjekt aus. Das Subjekt schafft seine Welt und gruppiert die Phänomene um sich. Dadurch wird es zum erkennenden Zentrum und zu einem unverrückbaren Punkt. Mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ erhält das erkennende Subjekt allerdings eine Einschränkung. Die Dinge an sich, das Wesen der Dinge, kann es nicht (mehr) erkennen. (ebd.)
Mit Kant wurde die 'Moderne' geboren, das Zeitalter der 'Aufklärung' welches bis heute als "Mainstream der Rationalität" anhält. Durch die oben beschriebenen kollektiven "Kränkungserlebnisse" (Kopernikus, Darwin, Freud etc.) und barbarischen Rückfälle u.a. während den beiden Weltkriegen, sowie dem medialen und technologischen Wandel (aktuell ist es die 'Digitalisierung', vgl. Teil IV in diesem Kapitel), wurden Stimmen laut, welches eine "Agonie des Realen" (Baudrillard), ein "Wir sind nie modern gewesen" (Latour) postulieren und damit das vermeintlich rationale Subjekt in eine Sinn- oder gar Existenzkrise stürzten. Diesen 'Postmodernen' [vgl.auch Teil III] unter den Philosophen gehört der folgende Abschnitt:
"Die Philosophen der neuen Technologien versuchen die Auflösung des Subjekts in Bezug zur Lebenspraxis
zu schildern. Vilém Flusser zeigt den Einbau des Menschen in das kybernetische (technisch gesteuerte) Netz auf. Die Stellung des Subjekts leitet sich bei ihm also aus der Netzfunktion ab (Krempl 1995 4ff) [hierzu auch Seemann in Kap.7: Netzwerkgesellschaft].
Jean Baudrillard postuliert, dass das „fraktale Subjekt“ nur noch im Videostadium, welches Lacans Spiegelstadium (s.u.) ablöst, zu sich findet. Er beschreibt die Position des Subjekts heute als schlechtweg unhaltbar" (Krempl 1995 S.7f).
Reaktionen bzw. Gegenpositionen auf den „Tod des Subjekts“ bzw. die Auflösung des Selbst kommen vor allem von deutschen Intellektuellen, die sich für die Rekonstruktion des Subjekts einsetzen. Jürgen Habermas z.B. hält am Kantschen 'Projekt der Moderne' fest und macht das Subjekt in der sprachlich erzeugten Intersubjektivität des Diskurses und der kommunikativen Rationalität fest (modifiziert nach Böck 2011 S.2-3).
2.2.2. Der Selbst- bzw. Subjektbegriff bei Jacques Lacan
Lacan verzichtet auf die Dialektik der Entfremdung und Wiederfindung des Subjekts und auf einen Identitätsbegriff von Subjektivität zugunsten einer andauernden Verschiebung [Metonymie, s.u.]. Das permanente Verfehlen des Ich und die damit verbundene unendliche Differenz setzt Lacan anstelle der möglichen Identität des Subjekts mit sich selbst (Dörfler 2001 29ff).
Lacan verzichtet in seiner Theorie jedoch nicht vollständig auf den Subjektbegriff, das Subjekt ist aber bei ihm ein „sujet décentré“ (Lacan 1966 zit.n. Zima 2000 S.255), ein Zerfallenes und Unterworfenes. Er fasst das Subjekt als dynamisches, ständig in oder durch Begehren seiendes Ich, dessen Mitte nicht kernhaft im Sinne einer Substanz gedacht wird, sondern als Differenz (von 'je' und 'moi') [d.h.zw.'I'und'S']. Nicht das schaffende, tätige Wesen sei der Mensch, sondern das sprachlich sozialisierte Wesen. Erst durch die Sprache wird bei Lacan der Mensch zum Mensch, verfehlt sich aber dadurch zugleich. Sprache ist für Lacan in strukturalistischer Tradition allgegenwärtig, total und systematisch organisiert und dem Menschen vorgängig (Dörfler 2001 S.120ff).
Lacan weist der Symbolisierung des Subjekts (dem Sprachlich-werden des Subjekts) grössere Bedeutung zu als dem reellen Objekt, d.h. er postuliert den Vorrang des Signifikanten vor dem Signifikat und das heißt zugleich, dass das Subjekt eine Wirkung der Signifikanten ist. Dadurch eröffnet sich für das Subjekt Räumlichkeit und Zeitlichkeit; allerdings erfährt es auch eine Entfremdung, die durch die Kluft zwischen Wort und Sache bedingt ist, oder anders ausgedrückt: "die Unmittelbarkeit geht verloren" (Widmer 1997 S.54ff).
Die sprachlich-symbolische Identität ist immer mit einem Verlust verbunden, gleichzeitig bietet sie aber eine wichtige identitätsstiftende Funktion, da die Signifikanten vorübergehend als Punkte fixiert werden, mit denen Bedeutung fixiert wird (Hipfl 2009 S.86).
"In der Tradition Freuds weist Lacan die in der westlichen Kultur dominante Vorstellung des autonomen, rationalen und sich selbst bewussten Individuums zurück, die nicht nur in den Alltagsdiskursen, sondern auch in vielen wissenschaftlichten Ansätzen gang und gäbe ist. Für ihn sind dies Idealisierungen, wie sie für eine der drei von ihm entwickelten Ebenen des Subjekts – für das Imaginäre [s.o.] – charakteristisch sind. Die ausschließliche Beschäftigung der Wissenschaft mit den Produkten und Prozessen dieser einen Dimension des Subjekts bezeichnet er (abwertend) als „Psychologisieren“ und argumentiert, dass es sich dabei um einen Zirkelschluss handelt. Demgegenüber zeigt er in seinen Arbeiten, wie erst gemeinsam mit den beiden anderen psychischen Registern – dem Realen und der Symbolischen Ordnung – und vor allem durch die Untersuchung der Prozesse, die deren Beziehungen untereinander ausmachen, ein komplexes und umfassendes Verständnis von Subjektivität, die immer gesellschaftlich verankert/bestimmt ist, gewonnen werden kann (Ror Malone/Friedlander 2000 S.4).
Lacan stellt uns eine differenzierte Erklärung der wohlbekannten Tatsache bereit, dass Menschsein gerade durch Sprache und Sprechen charakterisiert ist. Indem er betont, dass menschliche Erfahrung mehr ist als Sprache und die Herausforderung gerade im Begreifen des 'Interface' von Erfahrung und Struktur liegt (Sarup 1992 S.13), geht er über Ansätze hinaus, die ebenfalls der Sprache eine zentrale Rolle in der Subjektformation zuweisen, wie etwa Konstruktivismus, sozialer Konstruktionismus, Diskurs- und Narrationstheorien.
Lacan führt uns vor, dass nicht nur die Sprache von Bedeutung ist, sondern auch Begehren und Unbewusstes, die von Lacan als Effekte der Sprache verstanden werden. „Wir können in der Sprache nie vollständig das, was wir wollen, ausdrücken. Es gibt immer eine Kluft zwischen dem, was wir sagen und was wir wollen“ (Sarup 1992 S.13,Uebers.B.H.). Was wir sagen, kann nicht vollständig von uns kontrolliert werden, es machen sich immer Elemente des Unbewussten bemerkbar.
Das Modell Lacans zur Subjektivität liefert eine Erklärung, wie es möglich ist, dass das Ich gleichzeitig als etwas über die Zeit hinweg Kohärentes, aber auch als fragmentiert und durch eine Vielzahl an Motiven und Identitäten Bestimmtes erlebt wird.
Im Unterschied zu poststrukturalistischen und postmodernen Konzeptionen, bei denen die in kontingenten Diskursen zur Verfügung gestellten Identitätspositionen die Basis von Subjektivität bilden, und damit jegliche Vorstellung eines außerhalb der Diskurse bestehenden Subjekts aufgegeben wird, rettet Lacan gewissermaßen das Subjekt (Bracher 2000). Er beschreibt, wie das Gefühl eines einheitlichen Subjekts vor allem durch das Zusammenwirken der Prozesse im Register des Imaginären und unbewusster Elemente hergestellt wird. Damit kann auch die in poststrukturalistischen Ansätzen offene Frage beantwortet werden, warum sich Individuen bestimmten Diskursen unterwerfen [vgl.hierzu Finkelde in Kap.7/10:'Subjekt ideologischer Anrufung'].
Lacans Konzept, das die Momente beschreibt, in denen Körper, Begehren und das Andere in der Sprache konstituiert werden (Ror Malone/Friedlander 2000 S.10), wird sowohl den strukturierenden Kräften, wie sie von der Sprache repräsentiert werden, gerecht, als auch den individuellen Besonderheiten. Es illustriert, dass beim Sprechen immer mehr gesagt wird als von den Sprechenden intendiert ist. Die freudschen Versprecher, die Wortspiele in der Alltagskommunikation, die Körpersprache von Symptomen, unsere Fantasien und Träume geben davon Zeugnis (vgl. Muller 2000 S.42). Da sich Lacan neben der Sprachwissenschaft auch stark an Philosophie und Anthropologie orientiert, kann seine Theorie des Subjekts auch als eine Beschreibung des Uebergangs von Natur zu Kultur gelesen werden" (Hipfl 2009 S.85-86).
Quellen:
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Bracher, Mark (2000). Lacanian Psychoanalysis and Postmodernism. In: Elliott, A/Spazzano, C (Hrsg.). Psychoanalysis at its Limits - Navigating the Postmodern Turn. London/New York: Free Association Books, S.145–172.
de Saussure, Ferdinand (1967): Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg.v.C.Bally/A.Sechehaye. 2.Aufl. Berlin: de Gruyter.
Evans, Dylan (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Aus dem Englischen von Gabriella Burkhart.
Wien: Turia+Kant.
Dörfler, Thomas (2001). Das Subjekt zwischen Identität und Differenz - Zur Begründungslogik bei Habermas, Lacan, Foucault. Neuried: ars una.
Hipfl, Brigitte (2009). Jacques Lacan - Subjekt, Sprache, Bilder, Begehren und Fantasien. In: Hepp/Krotz/Thomas (Hrsg.). Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, S.83-93.
Krempl, S. (1995). Ich – wer ist das heute? Das Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstinszenierung.
URL: http://www.nexttext.de/Pub/Subjekt.html (7.8.2018)
Kunzmann, P/Burkard, R/Wiedmann, F (2009). dtv-Atlas Philosophie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag dtv.
Pagel, Gerda (1989): Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
Ror Malone, Kareen/Friedlander, Stephen R. (2000). Introduction. In: dies. (Hrsg.). The Subject of Lacan - A Lacanian Reader for Psychologists. New York: State University of New York Press, S.1–18.
Roudinesco, Elisabeth (1996): Jacques Lacan - Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Aus dem
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Samuels, Robert (1993): Between Philosophy & Psychoanalysis. Lacan’s Reconstruction of Freud. New York/Lon-
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Sarup, Madan (1992): Jacques Lacan. New York u.a.: Harvester Wheatsheaf.
Steenblock, V. (2002): Kleine Philosophiegeschichte. Reclam: Stuttgart
Tabari, E.(2000). Subjekt-Objekt-Entwicklungslinie. Tübingen.
Widmer, Peter (1997). Subversion des Begehrens - Eine Einführung in Jacques Lacans Werk. Wien: Turia+Kant.
Zima, P. (2000). Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen/Basel: A.Francke.
Zizek, Slavoj (1991): Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Ber-
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Zizek, Slavoj (1992): Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur. Wien: Turia+Kant.
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Zizek, Slavoj (2008): Lacan. Eine Einführung. Aus dem Englischen von Karen Genschow und Alexander Roesler. Frankfurt a.M.: Fischer.
Das Ich-Ideal und das Ideal-Ich bei Lacan
Foucault und Lacan: für beide kein Subjekt außerhalb der Macht bzw. des Gesetzes gibt (Sarasin 2005 S.156f).
[Während Lacan sich für das Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit interessiert, fragt Foucault, wie Diskurse über Subjekte gehalten werden. Erst in der „Hermeneutik des Subjekts“ (1982) fragt auch er nach dem Verhältnis von Subjekt und Wahrheit. (ebd., 23)]
Als nächstes möchte ich kurz einführen in die Ueber-Ich-Differenzierung in Ich-Ideal bzw. Ideal-Ich einerseits und in die Erweiterung Freuds erster Topik in die drei Register Imaginäres, Symbolisches und Reales im französischen Strukturalismus Lacans anderseits:
Es ist mir ein grosses Anliegen, fächerübergreifend zu argumentieren und so aufzuzeigen, dass das schillernde Phänomen des Narzissmus in fast allen Wissenschaftsgebieten vorkommt und in Kombination derselben zu spannenden und aktuellen Konzeptionen führt.
Im Gegensatz zum 'Ichideal' ist das 'Idealich' kein gesellschaftliches, kein kollektives Ideal, das aus dem sozialen Wertsystem hervorgeht. Laplanche und Pontalis definieren es wie folgt:
Def. Idealich: "Eine intrapsychische Bildung, die manche Autoren, sie vom Ichideal unterscheidend, als ein Ideal narzisstischer Allmacht definieren, das nach dem Vorbild des infantilen Narzissmus geprägt ist" (Laplanche/Pontalis 1986 S.217).
Peter V. Zima verknüpft diese allgemein anerkannten Definitionen aus dem 'Vokabular der Psychoanalyse' (gewissermassen das 'Grundgesetz' bzw. die 'Verfassung' der Psychoanalyse) mit ausserhalb des psychoanalytischen Mainstreams liegenden Konzepten des Selbstpsychologen Heinz Kohut:
"In mancher Hinsicht ist das Idealich im Sinne von Lacan mit Heinz Kohuts „infantilem Grössenselbst“ zu vergleichen. Kohuts „Größenselbst“ geht – ähnlich wie Lacans Ideal-Ich – aus der narzisstischen Besetzung der eigenen Person im Kindesalter hervor. Den Narzißmus der frühen Kindheit, erklärt Kohut, versucht das Kind dadurch zu erhalten, „daß es Vollkommenheit und Macht in das Selbst verlegt – hier das Größen-Selbst genannt – und sich verächtlich von einer Außenwelt abwendet, der alle Unvollkommenheiten zugeschrieben werden“.
Im Gegensatz zum Ichideal sind Idealich und „Grössenselbst“ vorwiegend individuelle Schöpfungen, die mit gesellschaftliche Werten und kollektiven Idealen wenig zu tun haben. Nicht zufällig liegt der Akzent beim Idealich auf dem Ich, während er beim Ichideal auf dem Ideal liegt. (Freud verwendet beide Begriffe, unterscheidet sie aber nicht. Eine Analyse seiner Texte, vor allem der „Einführung des Narzissmus“ (1914) zeigt allerdings, dass er sich der Akzentverschiebung durchaus bewusst ist.)
Wir haben es also mit zwei Varianten des Narzissmus zu tun: einer gesellschaftlich produktiven [kritisch dazu Kap.2], die sich an bestimmten (beruflichen, politischen, ethischen) Wertsetzungen orientiert, und einer „intrapsychischen“, potentiell destruktiven, die ausschließlich oder vorwiegend auf den Erfolg und die Grösse der eigenen Person ausgerichtet ist. Während sich der Narzissmus der Ichideale im Dialog mit den anderen verwirklicht, ist der Narzissmus des Idealichs (des „infantilen Grössenselbst“) monologisch und obsessiv.
Ich will nun zeigen, wie es aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen zu einer Schwächung des Ichideals und einer Stärkung oder Aufwertung des Idealichs kommt." (Zima 2013 S.6-8)
Perner beschreibt m.E. am besten die beiden Ueber-Ich-Instanzen sowie deren Unterscheidung. Weil diese "Différance" (Derrida) bzw. "Distinktion" (Bourdieu) mit der weiter unten zu definierenden Auffächerung der aus dem REALEN sich entwickelnden 'Emergenz' (im Sinne von Gerhard Roth und Josef Egger, s.u.) Lacan'schen Register IMAGINäRES und SYMBOLISCHES einhergehen insistiere ich an dieser Stelle bereits auf einem differenzierenden Verständnis dieser beiden Selbst-Modelle:
"[Das 'Je' bei Lacan] ist nicht das freudsche 'Ich', das als 'moi' ins französische übersetzt und auch von Lacan so gebraucht worden ist. So heißt sein Seminar II 'Le moi dans la théorie de Freud', was im Deutschen mit 'Das Ich in der Theorie Freuds' wiedergegeben worden ist. Man kann in der deutschen Uebersetzung nicht hören, worum es Lacan in diesem Text geht: ein 'Je', das nicht das 'Ich' der freudschen Theorie ist, sondern etwas anderes. Die Schwierigkeit rührt daher, daß das Freudsche Ich besser mit Je ins Französische übersetzt worden wäre also mit dem grammatischen Ich der Aussage, um moi für etwas zu bezeichnen, das etwas anderes ist als das Ich der Theorie Freuds. Ein ähnliches Problem gibt es im Englischen, in das Freuds Ich als ego und Lacans Je mit I übersetzt worden ist. Weil Freud ins Englische auf eine ähnliche Weise falsch übersetzt worden ist wie ins Französische, kann Lacans Unterscheidung von 'Je und moi' ins Englische, aber nicht ohne weiteres ins Deutsche übersetzt werden. Was hat Lacan dann aber mit dem Je gemeint, wenn es nicht das Ich der Theorie Freuds ist? Es muß sich doch auf ein Phänomen der analytischen Erfahrung beziehen.
Ein anderer Psychoanalytiker, Heinz Hartmann, hat 1950 den Begriff des Selbst in die Psychoanalyse eingeführt, um etwas zu fassen, das Freud mit dem Wort Ich irgendwie eingeschlossen, aber nicht präzise gefaßt hat. Tatsächlich hat Freud dieses Wort einerseits in einer definierten Weise benutzt, um damit eine psychische Funktion bzw. eine Instanz zu bezeichnen, und anderseits er hat in einer unbestimmten Weise vom Ich gesprochen, um damit im alltäglichen Sinn die Person, die Persönlichkeit, das Individuum, das Subjekt zu bezeichnen.
Der Begriff des 'Selbst' soll wie das 'Je' von Lacan etwas von dem theoretisch fassen, was bei Freud unbestimmt geblieben ist. Dieser Begriff ist dann von vielen Psychoanalytikern aufgegriffen worden, am prominentesten von Heinz Kohut und Donald Winnicott. Winnicott hat Lacans Abhandlung über das Spiegelstadium ausdrücklich aufgegriffen, um sie weiterzuführen [siehe Kap.2+4] und Kohut hat sie zu den Arbeiten gezählt, deren Forschungsbereich sich mit seinen überschneidet. Tatsächlich zielen Lacan, Hartmann, Winnicott und Kohut auf dasselbe Phänomen, ich habe mich darum entschlossen, das 'Je' in Lacans Theorie des Spiegelstadiums als 'Selbst' zu übersetzen, um deutlich zu machen, dass es sich dabei um etwas anderes handelt als das 'Ich' in der Theorie von Freud."
Quellen:
- Perner, Achim (....). Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (Schriften I S.61-70) im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman.
- Zima, Peter V. (2013). Subjektivität und Identität in der Postmoderne: Narzissmus zwischen Ichideal und Idealich. In: European Society and Culture, Vol.1 No.10 [2013].
Das Ichideal
In dieser Arbeit verwende ich (M.F., wo nicht anders angegeben) den Begriff des Selbst in derselben Weise wie Kollege Perner: als Uebersetzung des 'JE' bei Lacan und somit als das sog. 'echte', das 'wahre Selbst' bei Winnicott und Horney - vgl. kritisch hierzu die Selbstkonzepte von u.a. Gergen und Tschacher in Kap.6, 8/10 sowie meine eigene Konzeption.
Der Literaturwissenschaftler Peter V. Zima (s.o.) von der Universität Klagenfurt hat eine m.E. sehr wichtige und leider wenig beachtete Unterscheidungen der beiden hier zur Diskussion stehenden Aspekte des Freudschen Ueber-Ichs, also des 'Ich-Ideals' einerseits und des 'Ideal-Ichs' andererseits vorgelegt bzw. an die 'Postmoderne' (s.u.) angepasst:
Zimas These lautet, "dass der Niedergang des individuellen Subjekts, von dem bei so verschiedenen Autoren wie Theodor W. Adorno, Christopher Lasch und neuerdings auch Hartmut Rosa [vgl.Kap.3/8] die Rede ist, als ein Erstarken des narzisstischen Idealichs auf Kosten des narzisstischen Ichideals aufgefasst werden kann.
Zum Unterschied von Ichideal und Idealich ist Folgendes zu sagen. Von Laplanche und Pontalis [im 'Vokabular der Psychoanalyse'] wird das Ichideal in Anschluss an Freud und Lacan im Zusammenhang mit kollektiven Werten oder "Idealen" definiert (Zima 2013 S.6):
Def. Ichideal: "Eine Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzissmus (Idealisierung des Ichs) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das da Subjekt sich anzugleichen sucht." (Laplanche/Pontalis 1986 S.202f)
Die vier Grundannahmen der Lacanschen Theorie
Weil Jacques Lacan's Neuinterpretation der Freudschen Psychoanalyse durch das ganze Buch hindurch als Leittheorie dient, hier eine kurze Zusammenschau der wesentlichen Positionen (aus dem Online-Lexikon 'Wikipedia') mit den Verweisen auf die entsprechenden Kapitel wo diese Konzepte vertieft dargestellt werden:
Lacans Theorie lässt sich vereinfacht in vier Grundannahmen zusammenfassen:
I. Das Ich entwickelt sich im Spiegelstadium, welches die grundlegende Matrix der Subjektivität bildet, vgl.Kap.2/3.
II. Das Subjekt ist ein Sprachwesen, das heisst durch die symbolische Ordnung der Sprache geprägt: „Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert.“, vgl.Kap.2/6:Relation und 8:Resonanz
III. Das Subjekt ist ein begehrendes Subjekt. Da das Objekt des Begehrens (Objekt klein a) immer schon verloren ist, ist es ein grundsätzlicher Mangel, der das Begehren des Menschen aufrechterhält, s.o.: Freud.
IV. Die menschliche Psyche konstituiert sich in der unauflösbaren Trias 'Imaginäres – Symbolisches – Reales' (RSI), s.u.: Die drei Register.
Jacques Lacan kritisierte die Ich-Psychologie, als er das zweite Freud'sche topische Modell (s.o.) neu interpretierte. Er führte unter anderem in die Freudsche Theorie ein nicht-phänomenologisch definiertes Subjekt ein, das es ihm erlaubte, anstatt ein "ego" vom "self" ein "je" von einem "moi" [i.e. die beiden verschiedenen Ich-Formen des Französischen] zu unterscheiden und auf diese Weise ein "sujet representé" zu definieren, das durch einen Signifikanten dargestellt wird: a [klein a]. Diese strukturalistische Sichtweise Lacans wird im Kapitel 2 zum Narzissmus vertieft und zu einer tragenden Säule meines eigenen Konzeptes ausgebaut.
Quellen:
Kohut, Heinz (1973). Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, hier: S. 130.
LACAN grafisch - https://narzissmus.wordpress.com/2009/05/13/spiegelungen-lacan-stern/
Laplanche, J/Pontalis, JB (1986 7.Aufl.). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp, hier: S.202-203/S.217
Zima, Peter V. (20xy). Subjektivität und Identität in der Postmoderne - Narzissmus zwischen Ichideal und Idealich
2.3. Die "Strukturen des Strukturalismus"
"Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Weg frei für einen neuen Diskurs.
Das Wort wurde zur willkürlichen Abfolge von Zeichen, es gibt keine feste (wesentliche) Beziehung mehr zwischen den Sprachlauten und den Begriffen/wirklichen Dingen.
Für Ferdinand de Saussure ergibt sich die Bedeutung von Worten erst aus dem Kontext und aus der Differenz zu anderen Zeichen. Sprache wird zu einem System der Differenzen" (Krempl 1995 S.4).
"Der Strukturalismus ist keine Methode,
er ist das erwachte und unruhige Bewusstsein
des modernen Wissens"
Michel FOUCAULT in 'Die Ordnung der Dinge' S.260
„In Wirklichkeit gibt es keine Struktur
ausserhalb dessen, was Sprache ist“
Gilles DELEUZE 1992 in 'Woran erkennt man den Strukturalismus?'
Zunächst definiert Ferdinand de Saussure (1857-1913) in seiner wegweisenden 'strukturalen Linguistik' bzw. 'strukturellen Sprachwissenschaft' (Brügger/Vigso 2008 S.27ff) eine damals revolutionäre Differenz zwischen 'langue', dem Sprachsystem (bestehend aus Signifikat und Signifikant) und 'parole', dem Sprachgebrauch (vgl.Kunzmann/Burkard 2009 S.239):
"Er entwickelt die Vorstellung, daß es keine feste (wesentliche) Beziehung gibt zwischen den Sprachlauten einerseits und den Begriffen/wirklichen Dingen andererseits. Zeichen sind für ihn keine positive Wesenheiten, sondern vielmehr arbiträr und konventionell. Ihre Bedeutung ergibt sich erst aus dem Kontext mit und aus der Differenz zu anderen Zeichen. Der "Sinn" schlüpft sozusagen in den leeren Zwischenraum der Sprachlaute und -zeichen. Sprache wird so insgesamt zu einem System der Differenzen, was zur Entwicklung von Unterscheidungen führt, auf die der Strukturalismus und die Semiotik [man unterscheide Peirce 'Semiotik' von Saussure 'Semiologie'] aufbauen, etwa zwischen Sprache als System von Differenzen (langue) und den dadurch ermöglichten Redeereignissen (parole) oder zwischen den beiden Konstituenten des Zeichens, dem Signifikanten und dem Signifikat.
Alle weiteren Strukturalisten berufen sich in Folge immer wieder auf dieses linguistische Modell. Dabei wird die Abwesenheit des Selbst bereits mehr oder weniger akzeptiert: Eine strukturale Erklärung beruft sich nämlich nicht auf das Bewußtsein von Subjekten, sondern auf Strukturen und Konventionssysteme. Der Fokus des kritischen Denkens verlagert sich dabei vom Subjekt auf den Diskurs (Culler 1988 S.247). Michel Foucault sieht deswegen im Strukturalismus den "Gedanken des Verschwindens des Subjekts" (Foucault 1974 S.24), weil dessen Erlebniswirklichkeit ganz den unbewußt determinierenden Strukuren von Codes und
Konventionen unterworfen sei" (Krempl 1995 S.4).
Kritisch zum Strukturalismus:
"Der Strukturalismus dient manchen Wissenschaften wie der Linguistik, der Soziologie, der Anthropologie oder
der Psychologie als Mittel sich mit einem wissenschaftlichen Modell auszustatten. Der Strukturalismus dient
gleichermassen als 'Koine' („Standard“) für den Austausch unterschiedlicher Fachbereiche, als Initiator für Dialog
und Forschung, als auch um Nachbardisziplinen Aufmerksamkeit zu schenken (Hinterberger 2009 S.3).
Quellen zum Strukturalismus:
Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Barthes, Roland (1976): Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Barthes, Roland (1981): Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Barthes, Roland (1983): Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Baudrillard, Jean (1991a): Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/Main; New York: Campus. [1968]
Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [1980]
Bourdieu, Pierre (1988): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [1979]
Brügger, Niels/Vigso, Orla (2008). Strukturalismus. Paderborn: Wilhelm Fink.
Culler, Jonathan (1988). Dekonstruktion - Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek: Rowohlt.
Dosse, Francois (1999): Geschichte des Strukturalismus. 2 Bde. Frankfurt am Main: Fischer.
Foucault, Michel (1974). Von der Subversion des Wissens. München.
Foucault, Michel (1978). Dispositive der Macht. Berlin: Merve.
Hinterberger, Johannes (2009). ......................
Keller, Reiner (2008): Michel Foucault. Konstanz: UVK.
Krempl, S. (1995). Ich – wer ist das heute? Das Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstinszenierung.
URL: http://www.nexttext.de/Pub/Subjekt.html (7.8.2018)
Kunzmann, P/Burkard, R/Wiedmann, F (2009). dtv-Atlas Philosophie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag dtv.
Lacan, Jacques (1975): Schriften II. Olten und Freiburg: Walter.
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen-Verlag. [1985]
Lévi-Strauss, Claude (1981): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lyotard, Jean-Francois (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. (Hrsg.v.Peter Engelmann) Graz/Wien: Edition Passagen. [1979]
Peirce, Charles Sanders (1983): Phänomen und Logik des Zeichens. (Hg. Helmuth Pape) Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Saussure, Ferdinand de (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin/New York: de Gruyter. [1916]
Schiwy, Günther (1984): Der französische Srukturalismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Simmel, Georg (1992): Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie, in: Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Gesamtausgabe Band 5. (Hrsg.v. HJ Dahme/D Frisby). Frankfurt am Main: Suhrkamp. [1895]
Weber, Max (1985): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr [1922]
Welsch, Wolfgang (1996): Vernunft. Zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
2.4. Die drei Register 'Das Reale - Das Imaginäre - Das Symbolische' im französischen Strukturalismus Jacques Lacans
Der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) gilt als bedeutendster Vertreter der Psychoanalyse im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Die von ihm gegründete École Freudienne de Paris war zeitweise die einflussreichste und mitgliederstärkste psychoanalytische Organisation Frankreichs, und seine Seminare bildeten in den 50er und 60er Jahren einen bedeutenden Anziehungspunkt der Pariser Intelligenz. Lacans wichtigste theoretische Leistung ist die Neuinterpretation des Freud’schen Werkes im Licht der strukturalistischen Linguistik, was ihn zugleich zu einem wichtigen Ideengeber des Poststrukturalismus macht. Ausserhalb der psychoanalytischen Praxis wird er vor allem in den Kulturwissenschaften rezipiert, wo zentrale Elemente seines Denkens die Funktion eines konzeptionellen Rahmens für Medien-, Literatur- und Kulturtheorien einnehmen, am prominentesten bei dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, von dem auch noch die Rede sein wird.
Eines der wichtigsten Konzepte Lacans ist seine Theorie der drei ›Register‹ des Psychischen – des Realen, des Imaginären und des Symbolischen. Lacan denkt diese drei Bereiche als triadische Struktur, wechselseitig aufeinander bezogen und unauflöslich miteinander verwoben wie in einem Borromäischen Knoten, vgl. Abbildung rechts.
Der Begriff des Symbolischen verweist auf die makrosoziale Ordnung der Sprache und der sozialen Codes, des Diskurses, die Institutionen des Gesetzes und der Autorität. Als System von Signifikanten stiftet die ›symbolische Ordnung‹ sinnhafte Bedeutungen und bildet damit die Grundlage der intersubjektiven Wirklichkeit: Erst das Symbolische macht die Welt lesbar und sagbar. So ist das Symbolische einerseits einschränkend und reglementierend (Lacan spricht sogar von einer ›symbolischen Kastration‹ des Subjekts), andererseits aber auch befreiend, sofern es dem Subjekt überhaupt erst ermöglicht, sich zu artikulieren und eine Sprechposition zu beziehen. Der Geltungsbereich dieser symbolischen Ordnung erstreckt sich bis in den Bereich des Unbewussten: »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache« (Lacan 1964 S.26).
Im Gegensatz zur sprachlich strukturierten Ordnung des Symbolischen ist das Imaginäre ein eher mikrosozial konnotierter Begriff, der auf die Interaktion des Subjekts mit seinen inneren Bildern verweist. Das Imaginäre ist der Ort, an dem zwei Menschen sich begegnen, sich sehen, sich ein Bild voneinander machen und einander begehren; es ist aber auch jener Ort, an dem ein einzelner Mensch sich selbst begegnet und seine ›Ich-Funktion‹ wahrnimmt, die in der Entwicklungsphase des ›Spiegelstadiums‹ (6. bis 18. Lebensmonat, vgl. Kap. 4) ausgebildet wird. Zum Imaginären gehört dabei immer auch eine Dimension der Täuschung und der Verkennung.
Während die alltägliche Lebenswelt vor allem durch das Symbolische und das Imaginäre strukturiert wird, verweist der Begriff des Realen auf »das, was weder symbolisch noch imaginär ist« (Widmer 1990/1997: 58), also dasjenige, was sich der Symbolisierung ebenso entzieht wie der Imagination. Oftmals verknüpft mit den ›absurden‹ Dimensionen von Grenzsituationen wie Sexualität, Tod und Gewalt, trägt es traumatische Züge, indem es auf die Abwesenheit und den Zusammenbruch von Sinn verweist. Die Instanz des Realen erscheint vor allem negativ im Aufklaffen des Risses zwischen Zeichen und Bezeichnetem, im »Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten« (Lacan 1957: 36); eben darum ist es begrifflich nur schwer zu greifen. Es bildet den wesenhaft entzogenen Ort einer stummen Präsenz des Traumatischen, die beständig unter der Oberfläche der Diskurse und der Bilder lauert und einzubrechen droht.
Quelle: Strehle, S. (2012). Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.89-90
Weiterführende Literatur: Weber 1978, Widmer 1990/1997, Zizek 1991.
'R - I - S' als Entwicklungs- und Sozialisierungsprozess
"Jacques Lacan entwickelte einen Zugang zu Phänomenen des Unbewussten und zum psychischen Funktionieren der Menschen, der weniger empirisch-klinisch als vielmehr von verschiedenen philosophischen Theorien bestimmt war. Unter anderem versuchte er Freuds Wissenschaft vom Unbewussten strukturalistisch-sprachtheoretisch zu fassen, was etliche Veränderungen mit sich brachte. Das Menschenkind, so Lacan, stehe zunächst ganz unter dem Einfluss des Gesichtssinns [vgl.Kap.2:Narzissmus], mit dessen Hilfe sich schon früh - als Wirkung des sogenannten Spiegelstadiums [Kap.4:Entwicklung] - ein Bild des begrenzten Körpers formiere. Ueber die Wahrnehmung dieses Bildes vom Körper entwickle sich ein prekäres sinnlich-imaginäres und narzisstisch (d.h.als Spiegelbild und Doppelgänger) funktionierendes Ich. Das Unbewusste betrachtet Lacan als Wirkung der Sprache in dem Sinn, wie für ihn die Sprache den Menschen - eben als kulturelles Wesen - erst erschafft.
In der Subjektgenese ist dafür die Figur des (symbolischen) Vaters unerlässlich, der aus der sinnlich-imaginären Vergangenheit löst, indem er als Dritter die Mutter-Kind-Union aufbricht, wie auch die Sprache Distanz zu den Dingen schafft.
Das Soziale ist somit in der Sprache fundiert, die eben nur als System von Signifikanten Bedeutung konstituiert. Beziehungen werden demnach als Diskurse gefasst, eben als sprachlich gefasste Verbindungen.
Während also das Imaginäre und das Symbolische zwei dem Menschen geläufige Funktionsweisen (Lacan sagt:"Register") sind, ist ihm das Reale als nicht symbolisiertes und nicht symbolisierbares "Register" immer fremd. Dieses nicht kulturell Geformte, jenseits der Sprache, das sich nicht denken lässt und monströs überwältigt, zeigt sich im Wahn, aber auch am Höhepunkt sexueller Lustentbindung, ist Gegenstand des Grauens und der panischen Angst" (List 2013 S.53).
"Jacques Lacan ordnet den Narzissmus seinem Spiegelstadium (Lacan 1946) zu [Kap.4], wo die Verliebtheit in ein (idealisiertes) Spiegelbild im Widerspruch steht zur konfusen Unvollkommenheit des eigenen Körpers [sog. "corps morcelée"]. Diese imaginäre Konstellation entzieht sich tendenziell der symbolischen Ordnung. In allmächtiger Täuschung über sich selbst und in Selbstbespiegelung verharrend, ist der Betreffende unfähig, Beziehungen zu anderen, von ihm verschiedenen Menschen einzugehen und zu schätzen" (List 2013 S.50).
Quelle: List, Eveline (2013). Psychoanalytische Kulturwissenschaften. Wien: facultas.
Es lassen sich also folgende drei Ebenen von Wirklichkeit (vgl.Kap.2) differenzieren:
1. die Ebene des Realen: faktisch beobachtbarer, „greifbarer“ Wirklichkeit, die natürlich in den Dingen der Welt gegeben ist (Wallner 1990) bzw. vom Menschen hergestellter Realität
2. die Ebene des Imaginären: gedankliche bzw. vorstellungsmäßige, oft visuelle Repräsentation abwesender – in Vergangenheit, Zukunft oder an anderem Ort liegender, also imaginierter – Realität bzw. Wirklichkeit
3. die Ebene des Symbolischen: symbolisch verdichtete und übergreifend kontextualisierte. meist sprachliche, d.h. mit Bedeutungen versehene Realität bzw. Wirklichkeit.
Zur weiteren Unterscheidung und Definition von Wirklichkeit bzw. Realität vgl. den Abschnitt zu Gernot Böhme ('Was ist ein Bild') in Kapitel 2 sowie die Abschnitte zu Baudrillard und Blumenberg in Kapitel 7.
'Worte waren ursprünglich Zauber' und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweilung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. "Worte rufen Afekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinlussung der Menschen untereinander" (Freud 1916/1817 S.9f).
Eine solche Feststellung spitzt sich bei Lacan noch zu, weil er die Sprache und das Sprechen nicht bloß als Vehikel anders gearteter psychischer Inhalte betrachtet, sondern ihnen strukturierende Funktion für alle menschlichen Erlebnis- und Erfahrungsbereiche zuschreibt. In diesem Sinne ist der Mensch seinem Wesen nach ein Sprechwesen (parlêtre), und sein Unbewusstes als seine wesentliche Motivations- und Steuerungsinstanz ist wie eine Sprache gebaut (»im Unbewussten, da spricht es«). Denn wäre das Unbewusste nicht ein System von Bedeutungen, wäre es auch nicht interpretierbar.
Diesbezüglich verweist Lacan vor allem auf die sogenannten kanonischen Werke Freuds: auf »Die Traumdeutung«, auf die »Psychopathologie des Alltagslebens« und auf »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten«. In diesen Abhandlungen stellt Freud weit über bloße Ansätze hinausgehend eine Ästhetik des Unbewussten dar und weist damit auf dessen logische Struktur hin, welche im Gegensatz zum erst später konzipierten ES als dem hauptsächlich biologisch determinierten Triebpol des Menschen alles andere ist als ein Chaos und ein Kessel voll brodelnder Leidenschaften.
Aufgrund der Sprachstruktur des Unbewussten weist Lacan der Psychoanalyse eine Basiswissenschaft zu, an welche Freud weniger gedacht hat: Damit die Psychoanalyse zu einer Wissenschaft wird, muss sie sich an die Linguistik anhängen, lautet sein Vorschlag. Dabei sieht Lacan Freud als einen Vorläufer der modernen Sprachwissenschaft, indem dieser schon in der »Traumdeutung« jene sprachlichen Bedeutungsgesetze herausgearbeitet habe, welche später von Sprachwissenschaftern übernommen und mit anderen Begrifflichkeiten versehen wurden. So wurden etwa die von Freud beschriebenen Mechanismen von Verdichtung und Verschiebung zu den von der Linguistischen Theorie in den Vordergrund gestellten Begriffen von Metapher und Metonymie.
Lacans Lehre erschöpft sich aber nicht in der Radikalisierung des Freudschen Ansatzes eines sprachlich strukturierten Unbewussten. Denn sie hebt nicht nur die Rolle der Sprache sondern auch die Bedeutung des Bildes im weitesten Sinne des Wortes für die Genese des menschlichen Subjekts und für die Konstituierung seines Innenlebens und seiner Umwelt, seines Universums also hervor. Bild und Sprache bewirken, dass der Mensch aus einer ursprünglich unvermittelten Natur in einen vermittelten Zustand sowohl zu sich selbst als auch zur Welt tritt:
Durch die beiden Medien des Imaginären und des Symbolischen wird das Subjekt zu einem doppelt repräsentierten Subjekt und seine Umwelt zu einer doppelt repräsentierten Umwelt.
Das unvermittelte Reale tritt somit in den Hintergrund und zeigt sich nur noch als Rest und unter bestimmten Zuständen: insbesondere in Grenzzuständen wie Gewalt, Wahnsinn, Rausch, Ekstase und Orgasmus. Sowohl die Identität des Subjekts als auch die Identität seiner ihn umgebenden Gegenstände ist immer an die drei Kategorien von real, imaginär und symbolisch gebunden. So verfügt ein Identitätsausweis nicht nur über ein Bild seines Besitzers, sondern auch über sprachlich verfasste Kennzeichen und Angaben, wobei der Besitzer selbst als realer Körper in dieser Trinität vorhanden sein muss, um seine Daseinsberechtigung zu beweisen. Andererseits zeigt uns ein Bild von Magritte (siehe Abbildung rechts: Ceci n'est pas une Pomme), dass auch ein Gegenstand nicht allein aus einer Kategorie besteht, sondern dass auch hier Bild, Bezeichnung und Realgegenstand in einer Einheit verbunden sind, um zu existieren.
Der unvermittelte Bereich des Realen ist aber keine dem Erleben vorgängige Erfahrung, sondern ein Produkt der Nachträglichkeit und der Differenz, ganz gemäß dem Sprichwort, wonach der Fisch erst am Ufer weiß, dass er im Wasser war. Dieses Reale ist in der Lehre Lacans aber kein unbehandelter Rest geblieben. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Schrecken des Nationalsozialismus hat ihn zu einer weitreichenden Auseinandersetzung mit dieser Kategorie geführt, wobei er das Konzept des Dings, das dem Medium des Realen korreliert ist, ausgearbeitet hat. Dieses Ding, das wir auch bei Freud an mehreren Stellen seiner Theoriebildung vorfinden, hat insbesondere im Seminar über die Ethik der Psychoanalyse eine bedeutsame Stellung inne.
Aus dem Lacanschen Kategoriensystem R-I-S, das sich an die zwei Freudschen topologischen Modelle des psychischen Apparats anschließt, ergibt sich auch die Grundlage für eine psychoanalytische Medientheorie (siehe v.a. Kap. 7), welche Neues und Wesentliches zum Gegenstandsbereich der sogenannten angewandten Psychoanalyse, insbesondere für kultur- und kunsttheoretische Fragen beigetragen hat. Allerdings bilden auch die drei Register Real-Symbolisch-Imaginär ein topologisches Modell, das als Versuch einer Topologie des psychischen Seins von Lacan als sogenannter Borromäischer Knoten dargestellt wird. Dabei handelt es sich um drei Ringe, die in einem Knoten so miteinander verbunden sind, daß die Herauslösung eines Ringes die ganze Verbindung auflöst (vgl. Abbildung oben rechts).
Diese gerade skizzierte Trias von Realem, Imaginärem und Symbolischem strukturiert u.a. auch Friedrich Kittlers für die Medientheorien wegweisendes Buch "Grammophon - Film - Typewriter". Die Thematik des Visuellen, des Bildes und der Medien wird im Narzissmuskapitel (das Imaginäre! Kap.2) von zentraler Bedeutung sein.
Quellen:
Kittler, Friedrich (1986). Grammophon - Film - Typewriter. Berlin.
Ruhs, August (2010). Lacan - Eine Einführung in die strukturale Psychoanalyse. Wien: Löcker, S.10-14
2.5. Gesellschaftskritik, Kultur- und Metapsychologie
Es gibt noch einen "zweiten Freud". Während bisher v.a. von individuellen und innerfamiliären Vorgängen die Rede war, geht es im folgenden noch mehr um die "dunkle Seite" des Menschen, so wie sie sich offenbaren kann im Zusammenleben grösserer Gruppen, z.B. in Staaten.
Dieses viel gescholtene Spätwerk Freuds, ist für meine psychotherapeutische Arbeit ebenso wichtig wie seine individualpsychologischen Erkenntnisse. Ziel jeder Psychotherapie sollte sein, nebst einer Verringerung der Symptome, auch eine dem Klienten angemessenere, ev. sogar verbesserte, Position in der Gesellschaft und in der Kultur zu finden:
- Evolution und Kultur: gemäss Freud (und vor ihm auch schon Darwin) ist der Mensch, biologisch gesehen, nichts mehr als ein Säugetier "mit kulturellem Mäntelchen".
In "Das Unbehagen in der Kultur" (1930) stellt Freud die Sublimierung als einzige Lösung dar, Sexualität (s.o.) und Aggression sozialverträglich auszuleben = Kreativität = Kultur !
Anders ausgedrückt: Kultur ist ohne Triebverzicht nicht zu haben.
Schon viel früher schrieb er: "Unsere Kultur ist auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Somit bezahlt die Gesellschaft die Unterordnung ihrer Mitglieder unter ihre Sexualmoral mit einer Zunahme von psychischen Störungen" ! (1908).
Auf die Frage nach der Zukunft der Religion hat Freud zwei Antworten parat: eine ideale, die sich auf Rationalität, Wissenschaft und Religionsentzug gründet, doch für ihn ist die Zeit für den "Primat des Intellekts" noch nicht gekommen.
Eine zweite, realistischere Perspektive hingegen sieht er in der "Beibehaltung des religiösen Lehrsystems":
"Es ist ein praktisches Problem, nicht eine Frage des Realitätswerts. Da wir im Interesse der Erhaltung unserer Kultur mit der Beeinflussung des Einzelnen nicht warten können, bis er kulturreif geworden ist, — viele würden es überhaupt niemals werden, — da wir genötigt sind, dem Heranwachsenden irgendein System von Lehren aufzudrängen, das bei ihm als der Kritik entzogene Voraussetzung wirken soll, erscheint mir das religiöse System dazu als das weitaus geeignetste.
Natürlich gerade wegen seiner wunscherfüllenden und tröstenden Kraft, an der Sie die 'Illusion' erkannt haben wollen.
Angesichts der Schwierigkeiten etwas von der Realität zu erkennen, ja der Zweifel, ob dies uns überhaupt möglich ist, wollen wir doch nicht übersehen, dass auch die menschlichen Bedürfnisse ein Stück der Realität sind, und zwar ein wichtiges, eines, das uns besonders nahe angeht." (Freud 1927 S.375-376).
Formal interessant ist hier m.E. zu bemerken, dass für Freud offenbar das Ziel ('Erhaltung unserer Kultur') die Mittel legitimiert: ein autoritär auftretender Autor mit einer "hidden agenda" sieht sich legitimert im Dienst einer guten Sache auch zu Beeinflussung und Manipulation zu greifen. Kritisch hierzu die Kap.5 (Esoterik und Populismus) und 9 (Demokratie vs. Totalitarismus).
Seine Hoffnung aber gibt Freud nicht auf. Langfristig glaubt er, dass die vernunft sich gegen die Religion wird durchsetzen können. Dies formuliert er ebenfalls 1927 im folgenden inzwischen berühmt gewordenen Satz:
"die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat". (ebenda S.377)
Quelle: Freud, Sigmund (1927). Die Zukunft einer Illusion. In: Gesamtwerk GW Band XIV: Werke aus den Jahren 1925-1931
Von Freud zu McLuhan: vom Prothesengott zu den extendierten Extremitäten
Da ich in dieser Arbeit besonderes Augenmerk (!) auf menschliche Kulturleistungen und insbesondere auf mediengestützte, visuelle Bildgebungen legen werde, möchte ich noch aus einem weiteren sehr faszinierenden und bis heute validen Buch aus Freuds Gesamtwerk zitieren. Wir finden hier eine griffige Definition von Kultur einerseits und von Medialität (im Sinne von: "medial über sich hinauswachsend") andererseits.
Freud, so gesehen als früher Medientheoretiker (vgl. Kap. 2), schrieb 1930 in 'Das Unbehagen in der Kultur':
"Als kulturell anerkennen wir alle Tätigkeiten und Werte, die dem Menschen nützen, indem sie ihm die Erde dienstbar machen, ihn gegen die Gewalt der Naturkräfte schützen u.dgl. Über diese Seite des Kulturellen besteht ja am wenigsten Zweifel. Um weit genug zurückzugehen, die ersten kulturellen Taten waren der Gebrauch von Werkzeugen, die Zähmung des Feuers, der Bau von Wohnstätten. Unter ihnen ragt die Zähmung des Feuers als eine ganz außerordentliche, vorbildlose Leistung hervor, mit den anderen schlug der Mensch Wege ein, die er seither immer weiter verfolgt hat, zu denen die Anregung leicht zu erraten ist.
Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe — die motorischen wie die sensorischen — oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann, das Schiff und das Flugzeug machen, dass weder Wasser noch Luft seine Fortbewegung hindern können. Mit der Brille korrigiert er die Mängel der Linse in seinem Auge, mit dem Fernrohr schaut er in entfernte Weiten, mit dem Mikroskop überwindet er die Grenzen der Sichtbarkeit, die durch den Bau seiner Netzhaut abgesteckt werden. In der photographischen Kamera hat er ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muß, beides im Grunde Materialisationen des ihm gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses. Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde; die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden, das Wohnhaus ein Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte." (Freud 1930 S.449-450)
"All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien, — oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs".
"Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht grossartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen"(ebenda S.450-451)
"Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar grosse Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt." (ebenda S.451)
(...)
TEIL III: Kulturwissenschaften - Medientheorien - Culture Studies
3.1. [Kulturwissenschaften - Medientheorien - Culture Studies]
--> Stuart Hall: Encoding/Decoding und Identität - Friedrich Krotz. In: Culture-Studies-Kap-In-Hepp-Krotz-Thomas-Culture-Studies-2009-S207-220
...........................
3.2. Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20. Jahrhundert
Hier sei nur eine kleine Auswahl aufgezählt:
- Adorno/Horkheimer: Der autoritäre Charakter der 30er bis 60er Jahre
- Soziale Wende der 70er und 80er Jahre: Lasch, Sennett u.a.
- Linguistic Turn der 90er Jahre: Rorty, Habermas, Chomsky, Lacan u.a.
- Relational Turn der Nuller-Jahre: Mitchell, Benjamin, Honneth, Altmeyer
- Embodiment Turn der 2010er-Jahre: Buchholz, Tschacher, Leuzinger-Bohleber, Storch, Cantieni, Staemmler, Bocian, ...
- Visual Turn bzw. Iconic Turn der 2015er Jahre als Comeback der 60er: "Visual Cultural Studies" - in Rekurs auf Lacan, Baudrillard und McLuhan
Von all diesen "Wenden" und Schwerpunktsetzungen ist nebst dem "Linguistic Turn" v.a. der "Cultural Turn" besonders hervorzuheben, weil nur diese beiden 'Wenden' m.E. wirklich nachhaltig und für unsere postmoderne Zeit prägend ist wie keine andere Bewegung oder Fachgebiet:
"Seit Mitte der 1990er-Jahre des vorigen Jahrhunderts ist die Visuelle Kultur zu einem wichtigen und sich in verschiedene Richtungen entwickelnden interdisziplinären Forschungsfeld geworden. Die Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus und den Cultural Studies, die die wachsende Bedeutung von Kultur in allen Bereichen des sozialen Lebens herausgestellt haben, haben in verschiedenen Disziplinen der Geisteswissenschaften und später auch in den Sozialwissenschaften zu einem 'cultural turn' geführt.
Kultur wird nun nicht mehr als ein >Ueberbau< oder als eine von der Sozialstruktur abhängige Variable, sondern als ein zentraler Faktor in sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen betrachtet. Vor allem die weltweite Produktion, Zirkulation, Rezeption und der Austausch von Zeichen, Texten und Bildern hat zu einer kulturellen Revolution (Stuart Hall) geführt, die alle Lebensbereiche und Regionen weltweit erfasst hat.
Hierbei spielen die Möglichkeiten der digitalen Bildherstellung und ihrer Verbreitung, die auf bestehende Bilderwelten zurückgreift, eine wichtige Rolle. Hybride, heterogene und plurale kulturelle Formationen sind die Folge, in deren Konstitution und Repräsentation visuelle Bilder eine bedeutende Rolle einnehmen" (Helbig et al.2014 S.9).
Die kulturelle »Kränkung«
Die kulturelle »Kränkung« (Reich 1998) ontologischer Weltbilder ist also bei weitem nicht, womit sie sich häufig in einer zu engen Perspektive identifiziert findet, eine Spezialität etwa des Dekonstruktivismus oder des Radikalen Konstruktivismus. Das im Zuge des 'linguistic turns' manifest in die »Krise« geratene Paradigma der Repräsentation (Rorty 1987, vgl. Wimmer/Schäfer 1999) – und mit ihm ein Wahrheitsbegriff als 'adaequatio rerum et intellectus', der von der Antike ausgehend über die Scholastik und Descartes die neuzeitlich-moderne Wissenschaft bestimmt hat – hat sich seither kaum erholt. Im Gegenteil legen auch die neuesten Tendenzen – die Hinwendung zur 'visual culture' (Sturken/Cartwright 2001) und der 'performative turn' in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Fischer-Lichte 1998) andererseits nahe, dass der Patient wohl nicht mehr zu retten ist.
--> LINGUISTIC TURN - Pragmatismus (Richard RORTY)
Die sprachkritische Wende - Die linguistische Wende
"Etwa Anfang des 20. Jahrhunderts erlitt die Welt der Wissenschaften eine erkenntnistheoretische Erschütterung, wie sie zuvor nur durch Immanuel Kants rigide Kritik der reinen Vernunft ausgelöst worden war. Plötzlich war ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass man, wenn man mit Hilfe der Sprache und innerhalb des Systems der Sprache Phänomene untersucht, niemals Gewissheit darüber haben kann, ob die beobachteten Eigenschaften nun dem beobachteten Gegenstand zukommen, oder aber Effekte dieser Sprache selbst sind.
(…) Es lassen sich drei verschiedene Ursachentypen für diese Mutter aller "Wenden" ausmachen:
1.) Immanuel Kant und seine Lehre von den Aprioris, welche unser Wahrnehmen und Denken prägen. Wer eine grüne Brille trägt, glaubt, dass die Welt grün ist, fasste Heinrich von Kleist die Lehren zusammen, die er für sich aus Kants Kritik der reinen Vernunft gezogen hatte, und die ihrerseits auf Platons Höhlengleichnis [vgl.Kap.2] zurückgehen.
2.) Naturwissenschaftlich-philosophische Erkenntnisse, die das lineare Newtonsche Weltbild erschütterten. 1905 veröffentlichte Albert Einstein seine Relativitätstheorie; 1927 formulierte Werner Heisenberg seine Erkenntnis, dass ein Beobachter immer die beobachtete Situation beeinflusst. Begleitet wurde dies vom Aufkommen der Phänomenologie und ihrer relationalen Betrachtungsweise. Nicht nur Edmund Husserl ist hier zu nennen; auch in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus wird die Relation in einem ontischen Sinne über die Objekte gestellt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist. [...] Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. [...] die Tatsache [...] ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen).« (Wittgenstein 1984 1.1-2.01 S.11)
Die Welt besteht also aus Sachverhalten, aus Relationen unter Objekten oder Subjekten. Nicht die Gegenstände sind gegeben;
wirklich sind vielmehr die Beziehungen, aus denen unser Bewusstsein sie abstrahiert [vgl.Kap.2:Wirklichkeiten].
3.) Das Aufkommen technischer, non-verbaler Massenmedien wie Fotografie, Grammophon und Film im 19. Jahrhundert: Plötzlich war der Schrift eine Konkurrenz erwachsen. Es gab nun andere als nur sprachliche Wege, einen Gedanken zu formulieren und ihn einem grossen Publikum zu vermitteln. Damit war erstmals unübersehbar klar geworden, dass Sprache keine Selbstverständlichkeit ist und schon gar nicht neutral, dass sie sich, wie alle anderen Ausdrucksformen und Medien, auf den Inhalt des in ihr Gesagten auswirkt. Unsere Logik ist nicht anders als sprachlich vorstellbar; unser Denken kann nicht anders, als der Struktur der Sprache zu folgen, in der es stattfindet. Das heisst auch, dass, wie Wittgenstein sagte, die »Grenzen meiner Sprache [...] die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein 1984 S.67[5.6]) bedeuten" (Ströhl 2014 S.172-173).
Def. Medien: "Medien transportieren Unterschiede" (Ströhl 2014 S.230)
Eigenschaften der Medien:
Medien sind situativ: Die Situation entscheidet, was als Medium benutzt wird. Ein Knoten im Taschentuch macht das Taschentuch zum Speichermedium.
Medien sind relational: Ein Medium wird dadurch Medium, dass es mindestens zwei Instanzen (z.B. einen Sender und einen Empfänger) miteinander verbindet.
Medien sind konsensuell: Nur, wenn sich Sender und Empfänger einig sind, etwas als Medium zu nutzen (und über den gleichen Code verfügen), kann Kommunikation erfolgen.
Medien sind prozessual: Nahezu alles kann als Medium dienen. Aber nur während des Kommunikationsakts ist es Medium. Was jetzt als Medium dient, kann im nächsten Moment tote Materie oder eine tote Institution sein.
Medien bieten eine Auswahl von Elementen aus einem Repertoire potenzieller Formen: Das Medium Schrift bietet Kombinationsmöglichkeiten aus 26 Buchstaben. Das Fernsehen verfügt über eine definierte Zahl von Bildpunkten bei 25 Bildern pro Sekunde. Zwölftonmusik besitzt zwölf Töne. Computercodes sind binär.
Medien sind hierarchisch verschachtelt: Das Medium »Schriftkultur« enthält Archive. Das Medium »Archiv« enthält hand
schriftliche Dokumente. Briefe als Medien enthalten Schrift. Das Medium »Schrift« enthält Sprache.
Quelle: Ströhl, Andreas 2014 S.229, Abb.19:Eigenschaften der Medien
Quellen:
Freud, Sigmund (1930). Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesamtwerk GW Band XIV: Werke aus den Jahren 1925-1931, S.419-505
Helbig, J., Russegger, A., Winter, R. (2014 Hrsg). Visuelle Medien - Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur. Köln: Halem
Paradigmen der Feldtheorie - Online: Das Paradigma der Struktur- und Feldtheorien
3.3. Marshall McLUHAN: Kultur- und Medienwissenschaften
Tetrade und Chiasmus
In den 1970er Jahren will McLuhan eine Grundstruktur ausgemacht haben, die alle Medien und ihre Effekte betreffen. Im posthum veröffentlichten Buch 'Laws of Media' werden diese Strukturen in Form von Gesetzen ausformuliert. Die zentrale These dieser sogenannten Tetrade lautet: Jedes Medium ist durch eine viergliedrige Struktur gekennzeichnet, die folgende tetradische Form aufweist (vgl. Abb. rechts) - an jedes Medium lassen sich somit folgende Fragen stellen:
(1) Was hat es erweitert bzw. verstärkt?
(2) Welche Prozesse hat es erneuert bzw. wiedererlangt?
(3) In was hat es sich im Laufe der Entwicklung umgekehrt bzw. ist es umgekippt? [Chiasmus]
(4) Was ließ es veralten?
McLuhan selbst gibt zahllose Beispiele, v.a. im leider vergriffenen Buch "Global Village" (Junfermann-Verlag Paderborn). Hier seien diese 'Gesetze' nur an einem neueren und sehr einfachen Beispiel vorgestellt, von dem McLuhan noch nichts wissen konnte, dem Handy:
(1) Verstärkt wurde durch das mobile Telefon die kommunikative Vernetzung der Menschen, die sich räumlich an unterschiedlichen Orten befinden.
(2) Einen Aufschwung erlebte dadurch erneut die orale Kommunikation.
(3) Die Kommunikation per Handy ist aber schnell in etwas umgekippt, das kaum zu erwarten war: Es ist inzwischen sehr viel weniger mehr ein auditives Medium, denn ein Schreibmedium. Vor allem werden damit inzwischen Kurznachrichten verschickt, kurz: SMS.
(4) Veraltet wurde der Festnetzanschluss. Tatsächlich haben inzwischen viele Personen überhaupt keinen Festnetzanschluss mehr.
Beim Durchspielen dieser Gesetze zeigt sich sehr konkret, was es nach McLuhan bedeutet, ein Medium als ein formgebendes Milieu zu verstehen, das vielerlei Effekte hat, die — und das zeigen die vier Gesetze — gleichzeitig in sehr unterschiedliche, ja widerstreitende Richtungen weisen.
Züge eines Neo-Primitivismus
Der Mensch ist ein Herdentier. Zusammenleben, Empathie, gutes und schlechtes Handeln lernt er zuerst im Kreis seiner Familie, seiner Angehörigen, seiner Bekannten. Selbst wenn er im Laufe seines Lebens zur «erwachseneren» Sicht heranreifen mag, dass friedliches ziviles Zusammenleben eines umfassenderen «Wir» bedürfte, bleibt immer ein Rest an Stammesmentalität an ihm haften.
Wir leben mit Menschen des gleichen Stamms auf Smartphone-verbundenen Inseln im Internet.
Wenn man also von «Eingeborenen des Netzes» spricht, muss man dem ethnologischen Einschlag im Ausdruck Rechnung tragen: Es handelt sich buchstäblich um eine Sozialstruktur, wie sie die klassische Ethnografie unter «Primitiven» studiert hat: eine Struktur, die der Stammesordnung stets Vorrang gegenüber einer umfassenderen Gesellschaftsordnung gibt. Und man kann im Verhalten der digitalen Stämme durchaus Züge eines Neo-Primitivismus ausmachen, in Gestalt von Mobbing, Shitstorm und dem rüden Ton in gewissen Blogs und Websites. Wobei nicht das Internet die Ursache dieser Phänomene ist; es verstärkt nur vorhandene tribale Tendenzen im Menschen.
Von Marshal McLuhan stammt der Begriff des globalen Dorfs. Was er damit meinte, brachte er in einem seiner letzten Interviews unverblümt zum Ausdruck: «Eine der Hauptsportarten der Stammesmenschen ist das gegenseitige Abschlachten [...] Wenn die Menschen dichter zusammenrücken, werden sie barbarischer, gegenseitig ungeduldiger. [...] Das globale Dorf ist ein Ort mit sehr harten Schnittstellen und sehr ruppigen Situationen.»
McLuhan - Retribalisierung
--> viel mehr dazu in Kap.7 !!!
Genau wie das Tattoo und das Piercing, wie Kleidung, Frisuren und Schminkstile, ist auch der Shitstorm Ausdruck der Re-Tribalisierung der sich abzeichnenden, nächsten Gesellschaft. Jemand beginnt die Buschtrommel zu schlagen und schon strömen die Stammesmitglieder zum Lagerfeuer — eine Rolle, die heutzutage bspw. von Facebook eingenommen wird — und tanzen sich in Trance.
https://netzoekonomiecampus.com/2015/06/21/marshall-mcluhan-metallica-und-die-wiedergeburt-alter-fahigkeiten-in-neuer-qualitat/
https://billionbooksbaby.org/pdf-jacques-lacan-wege-zu-seinem-werk.html
McLuhan - Global Village:
I. FORSCHUNGEN IM SEHRAUM UND IM HÖRRAUM 23
1. Das resonierende Intervall 25
2. Das Rad und die Achse 37
3. Visueller und akustischer Raum 63
4. Ost trifft West in den Hemisphären 77
5. Plato und der Angelismus 87
6. Verborgene Wirkungen 103
II. DIE GLOBALEN WIRKUNGEN VIDEO VERWANDTER TECHNOLOGIEN 115
7. Globaler Robotismus: Die Erfüllung — Satisfaction 117
8. Globaler Robotismus: Welten der Unerfülltheit — Dissatisfaction 127
9. Von Engeln zu Robotern: Vom euklidischen Raum zum einsteinschen Raum 169
Internet als Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinstrübung - Eine Ausdehnung des Nervensystems
- von Uwe Justus Wenzel - 23.10.2010
Auch das Internet. Der Stamm war früher geografisch gebunden. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ein Klick genügt, und ich bin in Kontakt mit meinesgleichen. Wenn ich einziger Verehrer des Fliegenden Spaghettimonsters an meinem Wohnort bin, dann hindert mich das nicht daran, Stammesangehöriger der globalen Fliegenden-Spaghettimonster-Diaspora zu werden. Was ich brauche, ist ein Relais im Netz, um Informationen und Nachrichten auszutauschen.
Stämme sind familiär, ethnisch, sprachlich, religiös oder kulturell homogenisierte Gemeinschaften. Die sozialen Bindungskräfte – Vertrauen, Verpflichtung, Verantwortung – sind stark nach innen zentriert. Sitte und Brauch bestimmen Verhalten und Loyalität. Das ist auch im Netz so. Nur wird die Homogenität anders erzeugt. Man teilt ein Hobby, ist Fan von Lady Gaga oder Arsenal, verdammt Putin oder Beppe Grillo, will das Abendland retten oder einfach gute Pasta kochen.
Die gleichen Hashtags, der gleiche Slang
Bereits 2011 war im «Guardian» von «Twitter-Stämmen» die Rede. Angehörige digitaler Stämme identifizieren sich meist nicht als solche. Aber sie sind Follower der gleichen Leute auf Twitter oder Tumblr; lesen die gleichen Blogs; schauen die gleichen Videos auf Youtube; benutzen die gleichen Hashtags; reden den gleichen Slang; «liken» und «sharen» die gleichen Facebook-Links; verachten die gleichen Feinde. Und all dies, obwohl sie einander gar nicht als physische Personen kennen. Sie formieren als elektronische Monaden genau jene Phantom-Gemeinschaft, die Karl Popper vorausgeahnt hatte.
Moderne Gesellschaften, so haben wir es von den Aufklärern gelernt, funktionieren auf der ideellen Basis universeller, und das heisst: antitribalistischer Leitlinien und Normen. Tribalisierung bedeutet also «Entgesellschaftung» der Gesellschaft; ein Prozess, in dessen Verlauf gemeinsames universelles Ideengut schleichend unterhöhlt wird durch partikulare Stammesansprüche. Einst galt die Stammesmentalität als Ausdruck eines beschränkten Horizonts. Der digitale Tribalismus ist eine gewollte Rückkehr zu solchen Zuständen auf technisch avanciertem Niveau. Macht das Netz neue Troglodyten aus uns?
Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. Zuletzt erschien der Band «Trost der Langeweile. Die Entdeckung menschlicher Lebensformen in digitalen Welten» (2014).
Stammeskultur im Netz
"Ich finde den Gastkommentar von Eduard Kaeser (NZZ 11. 10. 16) über den Netz-Tribalismus sehr wohltuend im gegenwärtigen Hype um die weltweite Digitalisierung. Wenn wir schon von einem globalen Dorf sprechen, ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass jetzt und wohl auch in Zukunft mit «gütiger» Hilfe der sozialen Medien eine «Stammtischisierung» des gesamten Weltgeschehens, insbesondere der Politik, stattfindet. Es würde mich nicht verwundern, wenn unsere von derart primitiven Kräften beherrschte Zivilisation trotz stetigen, vermeintlich sinnvollen technologischen Fortschritten wie schon frühere Kulturen dereinst an solcherart Tribalismus zerbräche. Die Voraussetzungen dazu sind heute schon gegeben. Nicht die Algorithmen und die digitale Revolution, sondern die Banalitäten der menschlichen Psyche werden dafür den Ausschlag geben" (Leserbrief von Franz Boesch, Menziken in der NZZ vom 24.Okt.2016 S.9).
"Unter die Gürtellinie gehen hebt die Aufmerksamkeitsquote. Grob kann man vier Gravitationszentren des Obszönen unterscheiden:
- das Heilige "HOLY"
- den Körper "FUCK"
- die Reinheit "SHIT" und
- den Stamm "NIGGER".
Daraus leiten sich die Beschimpfungsvarianten ab: Entheiligen, Sexualisieren, Beschmutzen und Verunglimpfen.
Der amerikanische Kognitionswissenschafter Benjamin K. Bergen, der gerade ein Buch mit dem aparten Titel «What the F» veröffentlicht hat, nennt dieses Kategorisierungsschema unzimperlich das «Holy-Fuck-Shit-Nigger-Principle».
Quellen: Das Schimpftier - von der «Vershittung» und «Verfuckung» der Sprache. Gastkommentar von EDUARD KAESER in der NZZ vom Donnerstag 13.April 2017 S.10
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0010-3497-2017-1-50.pdf
3.4. Renaissance von Schrift und Mündlichkeit
"Je höher die Innovationsgeschwindigkeit ist, desto weniger altersanfällig sind frühere Lebensformen, so die überraschende Feststellung des inzwischen verstorbenen Philosophen Odo Marquard. Die moderne Wandlungsbeschleunigung würde selber in den Dienst der Langsamkeit treten. So sollte man sich beim modernen Dauerlauf Geschichte – je schneller sein Tempo wird – unaufgeregt überholen lassen und warten, bis der Weltlauf – von hinten überrundend – wieder bei einem vorbeikommt.
Gerade die neuesten Technologien benötigen die alten Fertigkeiten und Gewohnheiten. Unsere Arche Noah im Umgang mit der Ueberinformation sei eine alte Kunst: der Rückgriff aufs Mündliche. Das war schon zur Zeit des Buchdrucks so.
„Wir werden künftig mitnichten dauernd vorm Bildschirm sitzen, sondern – je mehr datenspendende Schirme flimmern – wir werden fern vom Bildschirm im kleinen oder großen Gesprächskreise mündlich jenes Wenige besprechend ermitteln, was von dieser flimmernden Datenflut wichtig und richtig ist“, schreibt Marquard in seinem überaus klugen Essay „Zukunft braucht Herkunft“.
So bleiben die schnellen Informationsmedien zähmbar und in der Reichweite der langsamen Menschen. Auch die neue Welt kommt ohne die alten Fähigkeiten nicht aus. Wie sich das bei der Mediennutzung auswirkt, hat Marshall McLuhan in seinem Modell der Tetrade skizziert:
„Es gibt vier Entwicklungsstufen. Jedes Medium löst irgendein anderes Medium ab. Das Auto löst die Kutsche als Transportmittel ab. Digitale Medien treten an die Stelle von gedruckten Medien. Beim Auto ist es aber gar keine Substitution der alten Fortbewegungsmittel, sondern man kann mit dem motorisierten Gefährt lauter Sachen machen, die mit dem Pferd nie möglich waren. Es entstehen neue Funktionen, die es vorher nicht gab“, so Jörg Blumtritt vom Slow Media-Institut.
Jedes neue Medium bringe neue Qualitäten hervor. In Blogs sei es zum Beispiel der persönliche und manchmal sehr langlebige Kontakt und Austausch zwischen Autor und Leser. Aber gleichzeitig werden bestimmte Dinge in den Hintergrund gedrängt. Im Falle von Twitter werde zum Beispiel die zeitliche Dimension der Nachrichtenproduktion und Nachrichtendistribution obsolet.
Im dritten Entwicklungsschritt passiere mit einem Medium irgendetwas, wenn man es auf die Spitze treibt. Bildschirmmedien würden beispielsweise der mündlichen Kommunikationskultur wieder Auftrieb verschaffen. Dann passiere ein Rückschlag und es folge der vierte und spannendste Entwicklungsschritt. Jedes Medium rücke verdrängte Effekte oder Eigenschaften wieder in den Vordergrund [sog. Chiasmus, vgl. Kap.1].
„Bei Twitter ist man gezwungen, sich kurz zu fassen. Das verlangt extrem viel Sprachfähigkeit. Damit die Tweets mit nur 140 Zeichen wahrgenommen werden, muss man einen aphoristischen Stil entwickeln. Das ist eine hohe Kunst“, stellt Blumtritt fest".
Quelle: https://netzoekonomiecampus.com/2015/06/21/marshall-mcluhan-metallica-und-die-wiedergeburt-alter-fahigkeiten-in-neuer-qualitat/
Genealogie der Medien
"Spätestens seit dem 1962 erschienenen Buch 'Die Gutenberg-Galaxis' unterteilt Marshall McLuhan die Geschichte des Menschen in vier Phasen: Nach einer langen Vorherrschaft der oralen Kultur „folgt nach Einführung des phonetischen Alphabets (8.-5.Jh.v.Chr.) eine von der Schrift geprägte Manuskriptkultur. Die schließlich um 1450 nach Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg von der Gutenberg-Galaxis abgelöst wird.“
Ab dem 19. Jahrhundert, genauer seit dem Aufkommen der Telegrafie, sind wir dann, wie es im Untertitel der ,Gutenberg-Galaxis“ heisst, am „Ende des Buchdruckzeitalters“ angelangt. Seither findet ein allmählicher Uebergang zum elektrischen Zeitalter statt, das bis in unsere Gegenwart hineinreicht und Mitte des 20. Jahrhunderts im Fernsehen seinen idealen Agenten globaler Vernetzung gefunden haben soll.
Für die jeweilige Phase der Kulturgeschichte benennt McLuhan immer genau ein Medium, das als Leitmedien für die Phase fungiert. Dieses Medium soll für diese Phase die entscheidende Prägekraft auf Kommunikation, Wahrnehmung und Denken haben; diese also 'anleiten'. Zudem dominiert folgerichtig seine Funktionsweise alle anderen Medien und 'leitet' auch diese an. Mit dem Konzept der Leitmedien nimmt McLuhan eine strikte Selektion vor. Obwohl mit seiner weiten Definition alles mögliche Medium sein kann, nämlich alles, was als Ausweitung des menschlichen Körpers beschreibbar ist, wird mit dem Konzept der Leitmedien die Medien- und Kulturgeschichte klar und übersichtlich strukturiert. McLuhan wählt dafür Leitmedien, die direkt mit Kommunikations- und Wahmehmungsprozessen zu tun haben: Im ersten Fall ist es die gesprochene Sprache, im zweiten die Schrift, im dritten der Buchdruck und im vierten das elektrifizierte Fernsehen [siehe Abb. unten rechts].
Diesen Medienphasen ordnet McLuhan Sinneswahrnehmungen [vgl. Kap.2] zu, die durch die jeweiligen Medien vor allem angesprochen werden. Im ersten Fall ist es die auditive Wahrnehmung, im zweiten ebenfalls die auditive, aber auch die visuelle, im dritten nur die visuelle und im vierten und letzten Stadium soll vorrangig die taktile Wahrnehmung angesprochen werden. Die Bezeichnung 'taktile Wahrnehmung' hat zu einiger Verwunderung und Verwirrung geführt.
Gemeint ist damit nicht, dass die elektrischen Medien den Rezipienten direkt berühren. 'Taktilität' bezeichnet bei McLuhan vielmehr einen integrativen Wahrnehmungsmodus, der unterschiedliche Sinneseindrücke unterschiedlicher Medien verbindet und in Wechselwirkung bringt. Genau solche Verbindungen und Wechselwirkungen sind, laut McLuhan, im Zeitalter der Elektrizität an der Tagesordnung. So ist es nicht nur mit dem Fernsehen möglich, visuelle und auditive Informationen gleichzeitig zu empfangen. In einer vernetzten Welt wird es einem zudem nahegelegt, eine Vielzahl an unterschiedlichen Medien gleichzeitig zu rezipieren. Folglich findet eine noch nie dagewesene Vermischung medialer Sinneseindrücke statt. Für solch eine Welt lässt sich denn auch ein computergesteuertes Kontrollsystem imaginieren, das unterschiedliche Medien zur Herstellung eines sinnlichen (und emotionalen) Gleichgewichts steuert" (Grampp 2011 S.103-104).
1. Orale Stammeskultur: Wissensüberlieferung und Kommunikation erfolgen mündlich - Herrschaft des Ohres.
2. Literale Manuskript-Kultur: durch Einführung der phonetischen Schrift, Lesen erfolgt laut, alle Sinne werden mit einbezogen.
3. Gutenberg-Zeitalter: durch Erfindung des Buchdrucks - Herrschaft des Auges und des linearen Denkens.
4. Zeitalter der Elektrizität un des Computers: durch Erfindung des drahtlosen Telegraphen - harmonische Einbeziehung aller Sinne: Taktilität.
TEIL IV: Von der Moderne zur Postmoderne: Systemtheorie, Konstruktivismus und Dekonstruktion
Auf der Zeitachse voranschreitend sollen folgende Texte, Auszüge und Zitate weitere Orientierungspunkte beschreiben im Dschungel (post-)moderner philosophischer Strömungen der letzten etwa 70 Jahre. In den weiteren Kapiteln dieses Buches werden die einzelnen Ansätze vertieft und mit Narzissmus- bzw. Selbstkonzepten verknüpft. Nun also rasch zu einem weiteren 'Schnelldurchlauf', methodisch bereits in sich ein postmodernes Vorgehen mit keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrheit oder Exaktheit oder ... dialektisch eben...:
4.1. »Moderne«, »Postmoderne« und »Posthistoire«
Die aus der französischen Philosophie kommende Debatte der »Postmoderne« bzw. »Posthistoire« und damit verwandte sprachphilosophische Ueberlegungen beeinflussen seit Ende der achtziger Jahre alle Wissenschaftsbereiche. Als einen Startpunkt (starting point) kann man eine Schrift von Jean François Lyotard ansehen, die 1979 erschien: »Das postmoderne Wissen«.
Darin diagnostiziert Lyotard für das postindustrielle Zeitalter das »Ende der grossen Meta-Erzählungen«, denen heute kein Glaube mehr geschenkt werde. Zu diesen Meta-Erzählungen gehören die großen Schöpfungsmythen und die großen heilsversprechenden Zukunftsentwürfe. Lyotard sieht diese mit Wittgenstein übereinstimmend als »Sprachspiele«, wirft ihnen Anfälligkeit für Totalitarismus vor und diagnostiziert eine Zerstreuung, Heterogenisierung, Pluralisierung dieser Sprachspiele: Viele heterogene Theorien und Entwürfe existieren gleichberechtigt nebeneinander; sie lassen sich nicht mehr auf eine große, integrierende, »bessere und wahrere« Meta-Theorie zurückführen.
Vor allem zwei Denker des französischen Poststrukturalismus haben der Postmoderne-Diskussion besondere Anstösse gegeben: Foucault und Derrida. Die Hoffnung ihrer geistigen Vorgänger, der Strukturalisten (z.B. Levi-Strauss und Jacques Lacan, s.o.) war, über das Studium unbewußter kollektiver Strukturen letztlich auf die Struktur des menschlichen Geistes zu stoßen (also noch die 'moderne' Hoffnung auf einen »großen Entwurf«!). Die Philosophie des 'Strukturalismus' (hierzu sehr zu empfehlen die beiden Bände von Dosse) beeinflußte Mitte des 20. Jahrhunderts das Denken in grossen Bereichen der Psychoanalyse, vor allem der französischen (insbesondere Jacques Lacan, s.o.: Strukturale Psychoanalyse).
Foucault und Derrida beschäftigten sich vor allem mit der Sprache. Es interessierte sie, welche Strukturen, vor allem welche gesellschaftlichen Machtstrukturen sich hinter der Sprache und unserer Sprachverwendung verbergen und sich in der Sprache reproduzieren.
Jacques Derrida, ein Schüler Foucaults, Philosoph und Literaturtheoretiker, setzt die Suche nach den Hintergründen dessen fort, was unsere Sicht von Wirklichkeit vorgibt und prägt. Aehnlich wie Foucault geht es ihm weniger darum, ein neues System des Wissens zu entwerfen, als vielmehr Zweifel an den herrschenden Diskursen zu wecken. Für ihn ist Verstehen mit einem Bruch des gewohnten Bezuges (z.B. mit der Vernunft) verbunden. Er vertritt eine »Strategie einschneidender Pluralisierung«. Dazu braucht es »ein neues Schreiben – eines, das mehrere Sprachen zugleich spricht und mehrere Texte zugleich hervorbringt« (zit. nach Welsch 1991 S.143). Entscheidend ist für ihn, dass der Sinn nie präsent ist, sondern immer auf verschiedene Bahnen verstreut, verschoben. Aus diesem Grund schreibt Derrida oft in einer schwer verstehbaren dichterischen, fast surrealistischen Sprache.
Dekonstruktion als zentrale Praxis Derridas lässt sich am ehesten als eine bestimmte kritische »Haltung« gegenüber jeglichen bestehenden Beschreibungen verstehen: "bei einem klassischen philosophischen Gegensatz hat man es nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-Vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun. Einer der beiden Ausdrücke beherrscht den anderen, steht über ihm. Eine Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen" (Derrida zit. nach Culler 1988 S.95). Der Praktiker der Dekonstruktion arbeitet zwar innerhalb eines Begriffssystems, aber mit der Absicht, es aufzubrechen, mit dem Sinn zu spielen, indem immer wieder neue Verbindungen, Korrelationen und Kontexte bereitgestellt werden. Kenneth Gergen hat einen ähnlichen Ansatz in den 90er Jahren in die Sozialpsychologie eingebracht und im Artikel "Die Konstruktion des Selbst im Zeitalter der Postmoderne" (Gergen 1990) ausgeführt. Dieser 'Soziale Konstruktionismus' Gergens wird in Kapitel 8 weiter ausgeführt.
Der herrschende Diskurs soll durch Dekonstruktion aufgebrochen werden. In dieser Haltung steckt eine tiefe Skepsis gegenüber der dargestellten Wirklichkeit und eine ständige Bereitschaft, die vorgegebenen Konstruktionen wieder aufzulösen, eine »Politisierung dessen, was sonst als neutraler Rahmen gilt« (Culler 1988 S.174).
Bereits die Beschreibung eines Gegenstandes aus mehreren Perspektiven ist Dekonstruktion, aber auch die Suche nach den scheinbar nebensächlichen Details, die einer Geschichte, wenn sie aufgegriffen werden, eine andere Wendung geben können: »Etwas Geschriebenes zu ›dekonstruieren‹, bedeutet daher, eine Art strategische Umkehrung einzusetzen, indem man besonders jene nicht beachteten Details aufgreift (wie z.B. beiläufige Metaphern, Fußnoten, zufällige Richtungsänderungen der Argumente), die immer und notwendigerweise von den Interpreten der orthodoxeren Meinungen übergangen werden« (Derrida zit. nach Jones 1993 S.139). Dekonstruktion erlaubt, darüber nachzudenken, welche Geschichte sich hinter einer dominierenden Erzählung verbirgt: wo liegt alternatives Wissen, welche Gesichtspunkte wurden ausgelassen, unterdrückt?
4.2. Wolfgang Welsch: Was ist die Postmoderne?
Definitionen für die sog. „Postmoderne“:
Den Begriff gibt es seit ca. 1870, als verschiedene Autoren über die heterogenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen jener Zeit berichteten. Heute wird die Postmoderne folgendermaßen charakterisiert:
• Verlust traditioneller Bindungen
• Segmentierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppierungen mit unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Denk und Verhaltensweisen
• Radikale Pluralität der Gesellschaft mit Toleranz und persönlicher Freiheit
• Individuelle Entgrenzung, Unabhängigkeit, Selbstinszenierung
• Hinwendung zur Emotionalität
Die heutigen postmodernen Verhältnisse wurden bereits vor 20 Jahren beschrieben (Gerken 1991, Schulze 1992).
Quelle: G. Gutjahr (2015 3teAufl.). Markenpsychologie. Wiesbaden: Springer VS
Die postmoderne Philosophie sei nun nichts anderes, so Welsch (1987 S.6u.77-85), als die ernsthafte Anerkennung des Pluralismus und der Auseinandersetzung mit ihm, das heißt, mit der Idee, dass die eine Wahrheit nicht gefunden werden könne und damit sei die postmoderne Philosophie nichts anderes als die radikale Vollendung der im 20. Jahrhundert begonnenen Kritik an dem Universalitäts- und Totalitätsdenken der Moderne (als Beispiele nennt er Veränderungen in der Naturwissenschafu: Einstein, Heisenberg, Gödel, die Chaostheorie sowie die Phänomenologie Husserls und andere Namen wie Ludwig Wittgenstein, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend). Deswegen sei die Postmoderne eigentlich auch nicht mehr als eine radikale Moderne. Sie sei nur die Einlösung, der für die Moderne des 20. Jahrhunderts charakteristischen Sinnstruktur der Pluralität. Die Postmoderne sei die breitenwirksame Verwirklichung des zu Anfang des 20. Jahrhunderts nur in elitären Wissenschaftszirkeln bewussten Eingeständnisses der Heterogenität, der Pluralität. Als nach-modern könne man die Postmoderne nicht beschreiben, sie radikalisierte nur, was in der Moderne Stück für Stück herausgekommen sei, nämlich, dass ein Universalitätsdenken – wie das der 'Mathesis universalis' oder der Metaerzählung des absoluten Geistes oder der Metaerzählung des historischen Materialismus – nicht haltbar ist. (Heisterhagen 2018 S.149)
Zentrale Aspekte der postmodernen Philosophie
- Das zentrale Merkmal der postmodernen Philosophie ist ihr Eintreten für einen radikalen Pluralismus, das heißt, für eine Anerkennung von Diversität und für ein Aushalten des Unbestimmbaren. 'Diversity' ist hier der Kampfbegriff. Die postmoderne Philosophie ist gegen Totalitätsdenken. Postmoderner Pluralismus heißt: Es besteht ein Nebeneinander von unterschiedlichen Haltungen, Weisen des Denkens und das ist auch gut so. Agonistik ist das Prinzip der Begegnungsweise durch Sprechen. Sprechen ist Kämpfen im Sinne des Spielens nach Lyotard, das heißt, neben dem prinzipiell gleichzeitig legitimen – und weil strukturell gegeben, prinzipiell untilgbaren – Nebeneinander von verschiedenen Positionen, gibt es auch ein prinzipiell strukturell gegebenes Gegeneinander:
„‚Post-modernes‘ Wissen zielt nicht auf Konsens, sondern auf Dissens ab. Das, worüber im post-modernen Denken allein Konsens besteht, das ist der Dissens“ (Mader 2005 S.556).
Prinzipiell ist man sich also darüber einig, dass man sich weder einig werden kann noch muss, sondern, dass im Sprechen der Dissens strukturell verankert ist. Das heißt, erstens ist der Dissens als prinzipiell legitimes Nebeneinander, also als Pluralismus als solcher, strukturell gegeben, und zweitens ist der Dissens als Gegeneinander, also als Agonistik, strukturell gegeben. Postmoderner Pluralismus ist weitgehend gleichzusetzen mit postmodernem Relativismus. Pluralismus und Relativismus sind zwar nicht das Gleiche, in der Postmoderne aber sind sie verschmolzen, das heißt, sie ergänzen sich und bezeichnen das Gleiche. Relativismus heißt, dass es keine Meinung gibt, die behaupten kann, gerechtfertigter zu sein als eine andere. Keine Position könne „die Wahrheit“ für sich behaupten beziehungsweise keine Position könne eine höhere Legitimität oder Richtigkeit beanspruchen als eine andere Position. Relativismus heißt schlicht, keine Position ist besser oder richtiger als eine andere Position. Niemand könne behaupten, er hätte mehr Recht als ein Anderer. Pluralismus ist hingegen kein epistemologischer Standpunkt, so wie der Relativismus, sondern ist sein gesellschaftstheoretischer Ansatz, folglich, ist er die sozial reale Manifestation des Relativismus – zumindest in seiner radikalen Form. In seiner gesellschaftstheoretischen Perspektive ist er also einerseits die Realisierung beziehungsweise Verbreiterung des Relativismus, andererseits nicht der Relativismus selbst, sondern nur das Bekenntnis zum Relativismus. Daher ist er oberflächlich weitestgehend mit dem Relativismus gleichzusetzen.
- Die Vergangenheit ist in der Postmoderne gewesen, das bedeutet, die Postmoderne ist nicht direkt mit einem posthistorischen Denken verbunden, aber das Gewordene und das Zu-Werdende, das Historische, spielt nicht mehr so eine starke Rolle. Die postmoderne Philosophie ist eher eine Philosophie des Hier und Jetzt. Generell gilt auch eine „No-future-Lebenshaltung“ (Barck 1991 S.166). Posthistorisch meint im postmodernen Sinne so etwas wie Absage an die Verzeitigung von Wahrheit, das bedeutet, Geschichtsphilosophien, wie die von Hegel oder Marx, sind deswegen auch falsch, weil sie ihre Bewahrheitung in die Zukunft verlegen, sich also durch ein Zeitargument gegen jede Hier-und-Jetzt-Kritik immunisieren. Die Eschatologie der Neuzeit ist durch die Postmoderne daher auch in Frage gestellt worden (Heisterhagen 2016).
- Die postmoderne Philosophie hat einen emotionalen Subjektbegriff: „Viele Prinzipien der Postmoderne-Philosophie, die vom Aesthetischen weit entfernt erscheinen, entspringen aus dem Primat des gefühlshaften Aufnehmens und Gestaltens“ (Irrlitz 1991 S.149). Es ist das schöpferische Fühlen, die aus ästhetischer Innerlichkeit kommende Gewissheit, das ästhetische Produktive, das Eigengestalterische, was die postmodernen Philosophen herausstellen. Es geht in den postmodernen Theorien „um die Bewahrung schöpferischer Individualität in der zu den unendlichen neuen Möglichkeiten der elektronischen Beobachtung und Steuerung des Menschen erwachten Industriegesellschaft“ (Heisterhagen 2016 S.152).
- Ein vernünftiges Argument könne einem anderen vernünftigen Argument entgegen stehen, das heißt, die Vernunft ist nicht mit Einheitlichkeit verbunden, sondern verschiedene Perspektiven auf den gleichen Sachverhalt müssen sich nicht ausschließen und sich auch nicht widersprechen, das meint, dass diese Perspektiven jede für sich eine Vernünftigkeit in Anspruch nehmen kann. Gerechtigkeit könne so beispielsweise nicht in einer einheitlichen vernünftigen Konzeption wiedergegeben werden, sondern es gibt immer mehrere Sichtweisen darauf. Es gibt mit anderen Worten nicht den erleuchteten Blick des Philosophen, der aus der Höhle kam, die Idee des Guten (der Gerechtigkeit) sah und nun zurückkehrt in die Höhle, um die einzig richtige vernünftige Wahrheit allen beizubringen. Der Singular der neuzeitlichen Moderne wird in der Postmoderne zum Plural:
„Der Sinn postmoderner Rekonstruktion der irreduziblen und herrschaftslosen Vielfalt der Objektivierungsformen besteht in der Frage nach der Möglichkeit, die sich unvermeidlich auflösende Ganzheit des Menschen unter den ausdifferenzierten Systemen der Moderne durch Relativierung aller Objektivierungen (aller Diskurse) zurückzugewinnen“ (Heisterhagen 2016 S.154).
Philosophen können dem Rest der Bevölkerung nichts mehr vorschreiben. Sie können nicht mehr den Finger erheben und sagen: „So und so, meine Schüler“. Postmoderne heißt: Die Zeit der Belehrung ist vorbei. Philosophen – insbesondere Moralphilosophen – sind nun Verwalter der Toleranz, Hüter der Pluralität, Hüter einer angemessen (gewaltfreien) Streitweise. Sie sind zu Tugendwächtern und Anstandslehrern geworden – reduziert worden. Sie sind zu einer Art Moralaposteln verkommen, weil ihnen nicht mehr zugebilligt wird, eine für die Gesellschaft zentrale Leitungsfunktion einzunehmen.
- Mit der Gegenwendung gegen die Universalisierung ist auch ein Antiwestialismus verbunden, das bedeutet eine Absage an eurozentristische Positionen. Kulturen werden als inkommensurabel verstanden. Andere Länder, andere Sitten. Jedes Volk hat so seine eigene Kultur, die man respektieren müsse. Der Westen dürfe dem Rest der Welt seine Sichtweise nicht einfach aufdrücken. Damit ist meist auch eine starke Kapitalismuskritik und Globalisierungskritik verbunden. Der Westen habe kein Recht die Welt zu marktförmisieren und alles dem ökonomischen Diktat auszuliefern.
- Antiandrozentrismus: Im Zuge des Aufkommens der postmodernen Philosophie hat sich ein postmoderner Feminismus gebildet, der vor allem den Differenzgedanken beziehungsweise den Diversitygedanken stark macht.
- Die Postmodernisten plädieren für eine radikale Individualisierung. Sie schreiben und streiten für eine Entlassung der Personen aus traditionellen Bindungen. Sie kündigen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Solidarität auf und plädieren für einen radikalen Perspektivismus, dementsprechend für einen radikalen Subjektivismus.
- Die postmoderne Philosophie diagnostiziert und plädiert für ein Nebeneinander von verschiedenen Formen des Wissens, des Handelns, des Lebens, weil es keine Wahrheit gibt, die mittels der Vernunft vereinheitlicht werden könne. Man müsse praktisch für das Nebeneinander – für die Vielheit der heterogenen Sichtweisen – eintreten. Die postmodernen Philosophen treten den Metaerzählern der Neuzeit entgegen und wenden sich gegen ihre Totalitätskonzeptionen. Sie versuchen jede Hegemonisierung einer bestimmten Sichtweise zu verhindern und kritisieren jeden, der sich anmaßt, die Einheit zu denken. Vor allem richten sie sich deshalb auch gegen jede Art von Geschichtsphilosophie. Sie setzen sich für die Anerkennung von verschiedenen Lebensstilen und politisch auch für Minderheiten ein. Sie sagen: Es gibt keinen einheitlichen Denktyp, so wie man denken muss, sondern jeder hat das Recht so zu denken, wie er will, sofern das nicht intolerant ist. 'Diversity' ist ihre Kampfformel und Diversitykompetenz eine Tugend, die man besitzen müsse, um mit dem postmodernen Regime der Vielheit und Vielfalt umgehen zu können.
- Die postmoderne Philosophie versucht nun daher eine Ethik zu entwickeln, die den Verlust des Allgemeinen aushaltbar macht. Die Art und Weise des Umgangs mit dem Heterogenen, mit dem Pluralen, wird entworfen, sodass man mit der neuen gesellschaftlich real gewordenen radikalen Pluralität auch umgehen könne. Die neue Ethik soll das Zurechtkommen mit der Pluralität ermöglichen. Diversityanerkennung ist ihr Inhalt. Das heißt auch, dass Minderheitsmeinungen anerkannt und gesichert werden müssen. Die Rechte der unterlegenden Minderheiten müssen eingehalten werden. Die Mehrheit dürfe den Minderheiten nicht ihren Kurs aufzwingen, da niemand mehr Recht habe als ein Anderer.
- Weiterhin versuchen sie ein Vernunftkonzept zu entwickeln, in dem die alte neuzeitlich-moderne Idee der einheitlichen Vernunft verabschiedet wird und die Pluralität in die Vernunft eingelassen wird. Man kommt zu einer Vernunftkonzeption, mit der eine Vielheitsvernunft entwickelt wird – was eigentlich schon der Liberalismus in Ansätzen in seiner Gegenwendung gegen den Paternalismus der Vernunftkonzeption des deutschen Idealismus getan hatte. Nach den Postmodernen gibt es keine Ueberrationalität, keine Metarationalität. Dennoch sei zu der neuen pluralen Situation ein neuer Rationalitätstyp notwendig, weil man Rationalität nicht in die Heterogenität entlassen könne. Die Vernunft müsse Ordnungsinstanz bleiben, aber in neuer Form. Die Rationalität wird pluralisiert, aber die Pluralität der Rationalität wird zu dem neuen „einen“ Rationalitätsverständnis erklärt und somit wird die Heterogenität der Rationalität in einem neuen Rationalitätsverständnis versinnbildlicht und in eine einheitliche Form gebracht (Heisterhagen 2018 S.153-156).
Peter Mattes: Postmoderne Psychologie
http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/links/mattes_postmoderne_psychologie.htm
Als philosophischer Diskurs, als Thematisierung aktueller Lebenswelten sowie als Aesthetisierung stellt Postmodernes Denken Grundannahmen der Psychologie in Frage. Eben damit eröffnet es jedoch auch neue Möglichkeiten für psychologisches Wissen und Handeln.
Der Term 'Postmoderne' steht für eine Reihe von auch anders lautenden Kennzeichnungen der in der abendländischen Kultur gegenwärtigen 'Moderne' (u.a.: 'reflexive Moderne', 'unerkannte Moderne', 'andere Moderne' - aber nicht: Post-histoire!), wobei eine Radikalisierung ebenso wie ein Aufbrechen des szientistischen Programms dieses Zeitalters gemeint ist. Gemeinsam ist ihnen der Verweis auf die weder eingelösten noch einlösbaren Totalentwürfe von rationaler Ordnung und Beherrschung einer Welt, als deren Zentrum das denkende und schaffende Subjekt angenommen wird. Postmodernes Denken, als Skepsis gegenüber jenen Großentwürfen schon früh aufgetaucht (u.v.a.: Montaigne, die Romantiker, Nietzsche, die Literatur und Kunst des fin-de-siècle), verbreitete sich seit den siebziger Jahren, vor dem Hintergrund des drastischen Scheiterns von Totalitarismen in Weltanschauung und Politik, von wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Großentwürfen. Es wird mit ihm das Besondere, Lokale, Zeitgebundene gegenüber dem Allgemeinen, Orts- und Zeitlosen thematisiert (Toulmin), die Vielfalt in gegenwärtigen Rationalitätskonzepten, Lebensformen und Gestaltungsmöglichkeiten ins Gespräch gebracht. In Übereinstimmung mit physikalisch-mathematischen Theoremen aus diesem Jahrhundert (Relativitätstheorie, Unschärferelation, Theorie der Fraktale, Konnektionistisches Paradigma der Informatik) werden Bezugssysteme eines präsumptiv geordneten Ganzen verabschiedet, wird diskreten Strukturen in mannigfachen Relationen Beachtung geschenkt. Es enden - wie Lyotard es für die Möglichkeiten zeitgenössischen Wissens benennt - die 'großen Erzählungen' zugunsten von 'Paralogien' und des 'Widerstreits der Diskursarten' (Lyotard 1993, frz. 1979).
Die Wissenschaft Psychologie ist ein vergleichsweise spätes Produkt der Moderne. Koch (1959) kritisiert ihr erstes Jahrhundert als eine Phase abgehobenen, inhaltsleeren und selbstreferentiellen Bemühens um eine einheitliche theoretische Fassung. Die meisten ihrer Paradigmenstifter lehnten sich an die klassischen Naturwissenschaften an, die jedoch häufig in schon überholter Form rezipiert wurden. In der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie entwickelten sich demonstrative Methodenzentriertheit, Streben nach Universalität, formale Rationalität (u.a. des hypothetico-deduktiven Verfahrens und der Variablenkonstruktion).
Trotz der in ihrer Geschichte immer präsenten gegenläufigen Intentionen (schon zu Beginn: W.James, partiell Wundt, Freud) hält sich die 'moderne' Option bis in die Gegenwart (vgl. Westmeyer: 'Experimentelle Psychologen sind Seefahrer auf der Suche nach Inseln der Ordnung. ... Daß es solche Inseln der Ordnung gibt, davon sind sie überzeugt. (1994, 50)). Der postmoderne Einwand wäre schon mit Wittgenstein zu formulieren. Er kritisiert das 'Streben nach Allgemeinheit', 'unsere Voreingenommenheit für die naturwissenschaftliche Methode', die versucht, 'die Erklärung von Naturerscheinungen auf die kleinstmögliche Anzahl primitiver Naturgesetze zurückzuführen. ... . Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik.' (Wittgenstein 1984, 5:38, 5:39)
Postmoderne Psychologiekritik greift weiters auch die Universalentwürfe humanistischer, hermeneutisch arbeitender und Kritischer Psychologen an (vgl. Kvale 1992, Sichler 1994, Mattes 1994). Hier wird die Unhaltbarkeit der den 'großen Erzählungen' entstammenden Konzepte des sich entfaltenden Subjekts, des sich entbergenden Sinns und der dialektisch sich entwickelnden Gesellschaft in Frage gestellt. Solche Gesamtzusammenhänge sind nicht (mehr) einholbar. Kognitiv und sozial verhandelbar dagegen ist Disparates, Kontingentes und Fraktioniertes.
Schließlich will postmoderne Kritik weg vom paradigmatischen, wissenschaftlich verpflichtenden Denken, hin zur 'ent-unterwerfenden' Bewegung in Diskursen. In Anschluß an Foucaults philosophisch-historische Analysen werden Unterwerfungs- und Ausschlußdispositive untersucht, die nicht nur in den Konzeptem der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie zu finden sondern auch in die Grundannahmen der qualitativ arbeitenden Psychologie (Individualität, Persönlichkeit, Subjektivität) sowie deren Methoden (Gesprächsführung, Interpretation, Psychoanalyse) eingeschrieben sind. Statt dessen werden vielstimmige, anarchische Diskursformen favorisiert, die Konzept- und Methodenbildung pluralisieren und dezentrieren (Feyerabend 1980). 'Die Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt' (Deleuze & Guattari 1977, 13), was den generalisierten Beobachter ebenso wie einen generalisierten Untersuchungsgegenstand zugunsten rhizomartig sich bildender Konstellationen auflöst.
Postmodern orientierte Persönlichkeits- und Sozialpsychologen verweisen auf die alltäglich gewordenen Lebensformen des 'proteischen' (Keupp 1996) oder des in der Vielfalt der sozialen Beziehungen konstruierten 'sozial gesättigten' (Gergen 1994) Selbst. In diesen Szenarien erscheint die Suche nach und das Denken eines Selbst als Identität als - allerdings verbreitete - reaktive Abwehr. Die dort tendenziell noch beibehaltenen Substanzannahmen vom gesellschaftlichen Subjekt werden von Narrativen (auch: Diskursiven) Psychologen (u.a. Shotter & Gergen 1989, Edwards & Potter 1992, Vaassen 1996) aufgelöst. Sie analysieren, 'dekonstruieren' Texte, in denen Verweisungen, Brüche, Ungleichzeitigkeiten aufgespürt, Differentes und Nicht-Präsentes zur Sprache gebracht werden können. Subjektivität wird als narrativ konstruiert, als rhetorisch performativ und als intertextuell relationiert angesehen. Hier trifft sich postmoderne Psychologie mit dem 'linguistic turn' in den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie in der Kognitiven Psychologie (Harré & Gillett 1994). Einen Mittelweg zwischen Lebenswelt- und Textanalyse sucht dagegen die Reflexive Sozialpsychologie. In der Untersuchung lebensweltlicher Zusammenhänge stellt sie die Frage: 'Wer erzählt mir wer ich bin?' (Keupp 1996).
Literatur:
Deleuze, G. & Guattari, F. (1977). Rhizom. Berlin
Edwards, D. & Potter, J. (1992). Discursive Psychology. London
Feyerabend, P. (1980). Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/M
Gergen, K.J. (1991). The saturated self. Dilemmas of identity in contemporary life. New York
Harré, R. & Gillett, G. (1994). The discursive mind. Thousand Oaks.
Kvale, S. (1992). Postmodern psychology: a contradiction in terms? In: Kvale, S. (Hg.). Psychology and postmodernism. London
Keupp, H. (1996), Wer erzählt mir wer ich bin? Identitätsofferten auf dem Markt der Narrationen. Psychologie & Gesellschaftskritik 20, H.4, 39-64
Koch, S. (1959). Epilogue. In: Koch, S. (Hg.). Psychology: a study of a science. New York. 729-788
Lyotard, J.-F. (1993). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien
Mattes, P. (1994). Kritische Psychologie am Grabmal des Intellektuellen - 'Handlungsfähigkeit' in postmoderner Sicht. Journal für Psychologie 2,H.2,29-36
Shotter, J. & Gergen, K.J. (Hg.). Texts of identity. London
Sichler, R. (1994). Pluralisierung und Perspektivität. Ueberlegungen zu einer postmodernen Version interpretativer Forschung. Journal für Psychologie 2, H.4, 5-15
Toulmin, S. (1991). Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt/M
Vaassen, B. (1996). Die narrative Gestalt(ung) der Wirklichkeit. Grundlinien einer postmodern orientierten Epistemologie der Sozialwissenschaften. Braunschweig
Westmeyer, H. (1994). Psychologie - eine Wissenschaft in der Krise? In: Schorr, A. (Hg.). Die Psychologie und die Methodenfrage. Reflexionen zu einem zeitlosen Thema. Göttingen. S.37-53
Wittgenstein, L. (1984). Das Blaue Buch. Frankfurt/M. Werkausgabe Band 5
4.3. Radikaler Konstruktivismus und Systemtheorie - Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
"Objektivität ist die Wahnvorstellung,
Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden"
von Foerster zit.nach von Glasersfeld 1997 S.16
"Die erste konstruktivistische Theorie, die sich mit Fragen der individuellen Sinnes wahrnehmung und deren Verarbeitung durch das Gehirn beschäftigt hat, ist der radikale Konstruktivismus. Er will durch naturwissenschaftliche Methoden Einblick in die subjektive Sichtweise des Individuums und sein Wissen erlangen. Er übernimmt verschiedene Prämissen (s.u.) des Konstruktivismus und versucht diese anhand von Erfahrungen aus der Wahrnehmungsverarbeitung zu belegen. Der Begriff radikaler Konstruktivismus ist dadurch entstanden, dass sich sein Inhalt und seine Begriffe „radikal“ von anderen erkenntnistheoretischen Ansätzen unterscheiden" (Stachura 2010 S.12).
Spielarten des Konstruktivismus:
Gehirn - Neurobiologischer Konstruktivismus - Vertreter: Gerhard Roth (s.u.)
‚Kognitives System‘, ‚Beobachter‘ - Konstruktivistische Bio-Epistemologie - Vertreter: Humberto R. Maturana (nchster Abschnitt)
‚Soziales System‘, Kommunikation Autopoietische Systemtheorie - Vertreter: Niklas Luhmann, Peter Fuchs u.a.
Kultur (Konstruktivistischer) Kulturalismus - Vertreter: Peter Janich
Medien Medienkultureller Konstruktivismus - Einzelmedien und Massenmedien-System - Vertreter: Gebhard Rusch, Klaus Merten u.a. (v.a.Kap.7)
Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur Soziokultureller Konstruktivismus - Vertreter: Siegfried J. Schmidt (Kap.8)
Die Geburt der Systemtheorie aus der Biologie
»Ein System ist nicht ein Etwas, das dem Beobachter präsentiert wird, es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird« (Maturana 1982 S.175). In diesem Satz steckt die Essenz systemischer Erkenntnistheorie: Ein System wird nicht als etwas angesehen, das es »gibt«, sondern als etwas, von dem nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn man es in Beziehung zu demjenigen sieht, der es erkennt. Der Beobachter fällt die Entscheidung darüber, wie er oder sie die hochkomplexe Ganzheit eines Oekosystems aufteilt in Subganzheiten, zum Beispiel »Mensch«, »Familie«, »Verhalten« etc. etc.
Damit stellt sich die Frage nach einem systemischen Verständnis von Wirklichkeit. Wirklichkeit kann nie losgelöst gesehen werden von ihrem Betrachter. Das heißt nicht, daß es keine Realität »an sich« gäbe, daß es aber sinnlos ist, von ihr zu sprechen, ohne den konstitutiven Prozeß zu berücksichtigen, der in der Wechselwirkung zwischen einem erfahrenden System und einem zu erfahrenden System liegt: »Systeme erkennen Systeme« (Schiepek 1987). Die Frage, ob »Wirklichkeit« unabhängig vom erkennenden System existiert, ist müßig (Kriz 1981).
Kernfrage des soeben skizzierten Konstruktivismus ist, auf welche Weise wir aktiv an der Konstruktion unserer eigenen Erfahrungswelt Anteil haben. Erkennen ist das Vornehmen von Unterscheidungen durch das erkennende Subjekt. Ohne diese Fähigkeit wäre keinerlei Orientierung möglich und damit kein Ueberleben. Wir sind darauf angewiesen, Konzepte, »Landkarten« über die Welt zu entwickeln, die uns das Zurechtfinden erleichtern. Auch bei scheinbar selbstverständlichen Begriffen wie z.B. »Seele«, »Körper«, »Krankheit«, »Familie« handelt es sich um solche Konzepte. Es ist ein folgenschwerer Schritt, wenn man die Konzepte, die man sich konstruierte, um in der Welt Orientierung zu finden, mit der Wirklichkeit verwechselt (ein Kategorialfehler). Die Kernfrage ist: »Wo befindet sich das, wovon ich spreche: ›da draußen‹ oder in meinem Kopf?« oder noch genauer: »Wo ›ist‹ eigentlich der ›Kopf‹, von dem ich spreche?« Wir neigen dazu, zu vergessen, daß es sich bei unseren Begriffen um Möglichkeiten des Begreifens handelt und nicht um die Dinge selbst: »Bei unserer Wahrnehmung der Welt vergessen wir alles, was wir dazu getan haben, sie in dieser Weise wahrzunehmen« (Varela 1981).
Der Konstruktivismus steht in der Tradition der These Kants, daß der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie ihr vorschreibt, daß also jede Theorie immer auch eine Theorie des Beobachters, des Forschers sein muß. Auch scheinbar feststehende Säulen der Erkenntnis, wie Raum und Zeit, müssen statt als Gegebenheit der objektiven Welt als unvermeidliches Begriffsgerüst unserer Vernunft betrachtet werden. Dies bringt eine radikale Verschiebung des Wissensbegriffs mit sich:
"Wenn Zeit und Raum Koordinaten oder Ordnungsprinzipien unseres Erlebens sind, dann könnten wir uns Dinge jenseits der Erlebenswelt überhaupt nicht vorstellen, denn Form, Struktur, Ablauf von Vorgängen und Anordnung irgendwelcher Art sind ohne dieses Koordinatensystem im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar. Was wir Wissen nennen, kann demnach unmöglich Abbild oder Repräsentation einer vom Erleben unberührten ›Realität‹ sein« (von Glasersfeld 1991 S.23).
Wirklichkeit ist das Produkt wirksamer Unterscheidungen. Das bedeutet, daß es prinzipiell möglich ist, Weltkomplexität auf verschiedene Weise zu reduzieren. Gleichzeitig sind wir in einem hohen Ausmaß persönlich verantwortlich für das, was wir als »wirklich« oder »wahr« ansehen. Die Entscheidung für ein Modell kann nämlich nicht aufgrund von »richtig« und »falsch« fallen, höchstens aufgrund einer bestimmten Vorstellung von richtig und falsch. Passender ist es daher, sich aufgrund von Kriterien der Angemessenheit und ethischen Vertretbarkeit für eine Sicht von Wirklichkeit zu entscheiden. Aus einer systemischen Weltsicht folgt daher die Achtung vor allen Versuchen, die Komplexität der Welt zu reduzieren und auf immer neue Weise in Konzepte zu bringen, die als Landkarten Handlungsleitlinien bieten.
Menschen leben nicht allein, sondern immer in sozialen Zusammenhängen. Was wir als »Wirklichkeit« bezeichnen, entsteht im Dialog, im Gespräch. Das, was wir für wirklich halten, haben wir in einem langen Prozeß von Sozialisation und Versprachlichung als wirklich anzusehen gelernt. Systeme konstruieren gemeinsame Wirklichkeiten als Konsens darüber, wie die Dinge zu sehen sind. Die gemeinsame Sichtweise davon, was als »Wirklichkeiten« in einem System erlebt wird, ist sehr weitgehend bestimmend für Glück oder Unglück, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit (................).
KONSTRUKTIVISMUS als Paradigma für Selbst-Modelle
Historisch-philosophische Herleitung des Konstruktivismus-Konzeptes als Rahmenmodell
"Ein Grundgedanke des Konstruktivismus ist, dass es keine vom Menschen unabhängige Wahrheit gibt, die entdeckt oder gefunden werden kann. Vielmehr ist jede Sichtweise der Welt als individuell und subjektiv konstruiert einzuschätzen.
Aufgrund dieser Prämisse muss die Frage nach der Anschlussfähigkeit konstruktivistischen Gedankenguts an bestehende erkenntnistheoretische Ansätze gestellt werden. Die beiden Hauptrichtungen der Erkenntnistheorie (diese ist als zentrale Disziplin der Philosophie anzusehen: Grundfragen sind, ob Erkenntnis überhaupt möglich ist (a), wie es zu Erkenntnis kommt (b), worauf sich Erkenntnis bezieht (c), und was ihren Gehalt ausmacht (d)) bestehen aus Realismus ['R'] und Idealismus ['I']"
.
Erkenntnistheoretischer Konstruktivismus
Eine grobe Einordnung des konstruktivistischen Gedankenguts innerhalb der Erkenntnistheorie (Epistemologie) verdeutlicht seine Stellung zwischen Realismus und Idealismus.
"Der Realismus postuliert, dass der Mensch in der Lage ist, die Welt zu erkennen wie sie ist – die objektive Wirklichkeit ist demnach erkennbar. Auf der anderen Seite steht der Idealismus, der annimmt, dass uns die Welt an sich nur durch unsere Erkenntnistätigkeit zugänglich ist – also durch unsere subjektive Wahrnehmung der Welt. Das Erkennen der objektiven Welt – so wie sie wirklich ist – ist in diesem Ansatz nicht möglich. Alles Materielle ist im Idealismus als etwas zu betrachten, was der Geist hervorbringt, aber keine von diesem unabhängige Existenz hat. Der Konstruktivismus ist demnach eher der idealistischen Perspektive zuzurechnen (von Ameln 2004 S.9f).
Beide Ansätze beinhalten Probleme: Der Idealismus kann schwer erklären, warum der Mensch trotz der Unmöglichkeit die Welt objektiv wahrzunehmen, sich trotzdem in ihr zurechtfindet und darüber hinaus Einfluss auf sie ausüben kann. Der Realismus scheitert daran, dass die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit leicht zu täuschen und sehr fehleranfällig ist. So müssen z.B. selbst naturwissenschaftlich fundierte Erkenntnisse oftmals irgendwann aufgrund von neuen Ergebnissen revidiert werden.
Inzwischen hat der Konstruktivismus Einzug in die allgemeine Wissenschaftstheorie gehalten, wo er sich zum Beispiel in Form von Erlanger und Konstanzer Konstruktivismus der Rekonstruktion der menschlichen Lebens- und Sinnwelt verschrieben hat.
Lange vor diesen Spielarten des Konstruktivismus hat schon Immanuel Kant (1724-1804) mit seiner 'kopernikanischen Wende' [s.o.] postuliert, dass es uns nicht möglich sei, die objektive Natur der Gegenstände zu erkennen, da wir sie erst durch unsere Betrachtung konstituieren. Erkennen wird also schon bei Kant durch den Akt des Wahrnehmens zu einem Erzeugen. Aus diesem Grund kann Kant als einer der Begründer konstruktivistischen Gedankengutes eingeordnet werden (Wasser 2007 S.11).
Ein zweiter Aspekt, der aus dieser Herangehensweise hervorgeht und auch heute noch essentieller Bestandteil des Konstruktivismus ist, dass Wahrnehmung und Erkenntnis nur durch Beobachtung zustande kommen (Diese von Kant eingeführten Prinzipien haben z.B. Ernst von Glasersfeld oder Jean Piaget in ihren Arbeiten aufgenommen und ausgearbeitet). Realität offenbart sich nur durch Beobachtung und ist nicht einfach da. Jede Sichtweise ist somit zugleich subjektive Sichtweise also verbunden mit der Person, die sie hat. Es gibt im Konstruktivismus keine unabhängige Wahrheit, die sich entdecken ließe, sondern jede Sichtweise ist subjektiv konstruiert oder übernommen. Letzteres wird auch als aktive Handlung angesehen.
Ein weiterer erwähnenswerter Autor, der zu den Vordenkern konstruktivistischer Perspektiven gezählt werden kann, ist Giambattista Vico (1668-1744). Ernst von Glasersfeld (Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, er kann als einer der Begründer des radikalen Konstruktivismus angesehen werden) bezeichnet Vico als den ersten Konstruktivisten.
Der italienische Geschichts- und Rechtsphilosoph Vico hat sich in seinen Werken vor allem mit soziologischen Fragen auseinandergesetzt. Er ist der erste, der ein „konstruktivistisches Manifest“ verfasst hat (1710):
In seiner konstruktivistischen Wissenstheorie ist der Mensch nur fähig, das zu wissen, was er selber als solches konstruiert. Dementsprechend kann Wissen auch nicht als Repräsentation der ontischen Welt gedeutet werden, sondern als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, der dazu dient, sich dieser anzunähern (ohne sie jedoch zu kennen). Erkennen wird also in der Ideengeschichte des Konstruktivismus von Beginn an als konstruktiver Akt eingestuft" (Stachura 2010 S.4-6).
Der soziale Konstruktivismus
Peter Berger und Thomas Luckmanns wissenssoziologische Theorie erklärt, wie Wissen und Wahrheit im konstruktivistischen Diskurs sozial produziert werden:
"Sie vertreten die Ansicht, dass die Untersuchung menschlicher Phänomene zwangsläufig die Analyse des gesellschaftlichen Zusammenlebens beinhalten muss, da die „Untersuchungsgegenstände“ Mensch und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind und wechselseitiger Beeinflussung unterliegen (Berger/Luckmann 1977 S.54/65). Auch der neurobiologische Konstruktivismus [s.u.] und weite Teile der neurobiologischen Forschungsgemeinschaft gehen von dieser Prämisse aus.
Der radikale Konstruktivismus hingegen gründet seine Ideen auf der Beobachtung der Wahrnehmungsverarbeitung im menschlichen Gehirn. Er kann als biologisch fundierte Theorie des Wissens eingestuft werden. Ideengeschichtlich markiert er damit den Uebergang von konstruktivistischen Grundgedanken zum neurobiologischen Konstruktivismus.
(…) Bevor die Ergebnisse des radikalen Konstruktivismus in die Gesellschaftstheorie Einzug gehalten haben, entwickelten Berger und Luckmann ihren Ansatz der Wissenssoziologie [vgl.unten: Peter Lampe]. Hier wird theoretisch der Frage nachgegangen, wie sich uns die Welt abbildet und welche Mechanismen dieser Betrachtung zu Grunde liegen" (Stachura 2010 S.6-7).
Seit Ende der 60er Jahre der Bestseller „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Berger/Luckmann veröffentlicht wurde, hat der konstruktivistische Diskurs Einfluss auf die soziologische Theorienbildung genommen.
"Die zentrale Frage lautet: Wie entstehen im Rahmen unserer Gedankenwelt Wahrheit und Objektivität? Die Individuen konstruieren, laut Berger und Luckmann, ein System der Alltagswirklichkeit, welches sie als objektiv gegeben ansehen. Dieses beinhaltet nicht nur gewisse Teilbereiche, sondern die gesamte gesellschaftliche Ordnung stellt sich als objektive Wirklichkeit dar. (…) Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird von den in ihr lebenden Individuen kollektiv produziert. Gleichzeitig wirkt die gesellschaftliche Wirklichkeit zurück auf die Individuen, die sie konstruieren, da sie "real" als ihr Lebensraum existiert:
"Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt" (Berger/Luckmann 1977 S.65)
Dieses reziproke Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird durch das Erkenntlichmachen der Konstruktionen, die in diesem wirken, verdeutlicht. Der konstruktive Akt der Wissensproduktion werde nicht erkannt, solange sich die Gesellschaft als objektive Wirklichkeit erweist. Aus diesem Grund schließt sich folgende Frage an: Wie wird „Wissen“ zu Wirklichkeit, die gemeinschaftlich als solche anerkannt wird?
Berger und Luckmann beantworten sie folgendermaßen: Dadurch, dass jedes Individuum in eine gewisse Sinnwelt hineingeboren und in ihr sozialisiert wird, werden die Strukturen als objektiv eingeschätzt und zumeist aufrechterhalten. Der soziale Konstruktivismus versucht die Objektivationen und Mechanismen, die diese aufrechterhalten, zu analysieren. Mithilfe dieser Theorie lassen sich ebenso Rückschlüsse auf die individuelle Produktion von Wissen ziehen. Sie überbrückt die Differenz zwischen Mikro- und Makrotheorie, da sie auf der einen Seite nach den Gedankenstrukturen der Individuen fragt, auf der anderen aber auch die institutionellen Strukturen aufdeckt, in denen sich die Individuen bewegen.
Alltagswirklichkeit - Lebenswelt - Objektivationen
Berger und Luckmann veranschaulichen die Unvollständigkeit der Alltagswirklichkeit (bei ihrem Lehrer Alfred Schütz hiess es noch 'Lebenswelt') folgendermassen:
"Mein Alltagswissen ist wie ein Instrument, mit dem ich mir einen Pfad durch den Urwald schneide. Er wirft einen schmalen Lichtkegel auf das, was gerade vor mir liegt und mich unmittelbar umgibt. Ueberall sonst herrscht Dunkelheit" (Berger/Luckmann 1977 S.46).
"Sie dient also der Orientierung in der Welt und nicht ihrem vollständigen Erkennen. Letztlich ist das, was wir für Wirklichkeit halten, immer nur ein Ausschnitt eines großen Ganzen, dessen lückenlose Kenntnis unmöglich ist. Der Mechanismus,
der dieses lückenhafte Wissen über die Welt zur Wirklichkeit werden lässt, ist das Objektivieren" (Stachura 2010 S.9).
"Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch die Anordnung der Objekte, die schon zum Objekt deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien" (Berger/Luckmann 1969 S.24).
Die These veranschaulicht, dass jeder Mensch in ein schon bestehendes Wissenssystem hineingeboren wird, das heißt, es besteht schon ein System von Objektivationen, die man während der Sozialisation als Wirklichkeit anzunehmen lernt, da man nur so problemlos in diesem System überleben kann. Dieser Akt des Lernens wird als Internalisierung bezeichnet. Das bestehende System wird in diesem Prozess verinnerlicht. Während der Sozialisation lernt ein Mensch, wie er sich zu verhalten hat, was man in bestimmten Situationen sagt oder tut. Nur wenn sich eine Sozialisation dieser Art vollzieht, wird er Teil dieser Sinnwelt und erlangt die Voraussetzung, sich in ihr problemlos zu bewegen (vgl. Berger/Luckmann, 1977 S.24ff).
"Das Objektivieren manifestiert sich für die Individuen zumeist nicht als aktive Tat, gleichwohl wird die Wirklichkeit allein dadurch reproduziert, dass sie als objektiv angenommen wird und als solche über Generationen weitergegeben wird.
Die Konsequenz daraus ist, dass auch ein Anerkennen oder Uebernehmen der Realität eine aktive Handlung der Reproduktion der bestehenden Wirklichkeit darstellt - und nicht ein passives Uebernehmen.
Objektivationen bestehen praktisch aus habitualisiertem (verinnerlichtem [vgl. Bourdieu unten]) Wissen, welches durch Sprache oder durch seinen Gebrauch die Objektivität verfestigt. So werden zwar auch immer wieder neue Dinge objektiviert, doch die aktive Tätigkeit besteht daraus, die Objektivationen zu habitualisieren, sie somit zu bestätigen und weiter zu tragen. Die Objektivationen leben von ihrer puren Präsenz, dadurch, dass sie da sind, werden sie als wahr und allgemeingültig genommen und somit auch immer weiter reproduziert. Die Alltagsrealität wird demzufolge als ein Konstrukt aus Objektivationen skizziert.
"Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich" (Berger/Luckmann 1969 S.37).
Das System der Alltagswirklichkeit setzt sich konsequentermaßen aus den verschiedenartigsten Objektivationen zusammen. Diese Objektivationen wirken auf das Individuum subjektiv sinnentsprechend; als ein in sich schlüssiges System in Form einer symbolischen Sinnwelt. Diese wird in weiten Bereichen von anderen geteilt und kann somit als intersubjektiv angesehen werden. Im Begriffssystem des Konstruktivismus entsprechen sie aber deswegen nicht der Wirklichkeit, sondern durch sie entsteht eine Intersubjektivität, was den hohen Grad der Objektivation zeigt. Da viele Individuen die gleiche oder eine ähnliche
Sichtweise auf bestimmte Phänomene zu Eigen ist, entsteht Intersubjektivität – ein Konsens der Sichtweisen von verschiedenen Individuen. Durch den Konsens werden diese Sichtweisen legitimiert, sind also als Produkt der Menschen zu betrachten (vgl. Berger/Luckmann, 1977: 138). Jedes Individuum hat also Teil an der Objektivation und damit an der Schaffung der symbolischen Sinnwelt. Die Theorie von Berger und Luckmann umfasst infolgedessen die Möglichkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit als eine Konstruktion interpretieren und aufzuschlüsseln, ferner die Alltagswirklichkeit zu dekonstruieren, indem die ihr zu
Grunde liegenden gesellschaftlichen Mechanismen aufgedeckt werden" (Stachura 2010 S.10-11).
Glossar Konstruktivismus (Siebert 2005 S.139-143)
Affektlogik: Luc Ciompi betont den Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Emotion und Kognition. Emotionen haben ihre eigene »Logik« und Kognitionen sind affektiv verankert. Affekte steuern Kognitionen, Kognitionen können jedoch nur bedingt Affekte regulieren. Konstrukte lassen sich als ganzheitliche »Denk-/Fühl-/Verhaltensprogramme« beschreiben (z.B. das Konstrukt Psychotherapie). Nach Ciompi werden alle kognitiv-sensorischen Informationen durch das Gehirn affektiv gefärbt.
Autopoiesis [griech.:autos+poiein=Selbsterhaltung]: »Als strukturdeterminierte Systeme sind wir von außen prinzipiell nicht gezielt beeinflussbar, sondern reagieren immer im Sinne der eigenen Struktur« (Maturana 1996 S.36). Die Selbstorganisation lebender Systeme dient dem Ueberleben und der Fortpflanzung. Ein Beispiel für Autopoiese ist die Zellteilung. Lebewesen als »autopoietische Organisationen« »erzeugen sich dauernd selbst« (Maturana/Varela 1987 S.50). Auch das Gehirn operiert autopoietisch, selbsttätig.
Beobachtung II.Ordnung: Unsere Wirklichkeit ist das Ergebnis unserer Beobachtungen. Eine Beobachtung I.Ordnung registriert, was Beobachter (z.B. KlientInnen) beobachten. Eine Beobachtung II.Ordnung nimmt wahr, wie Wirklichkeiten konstruiert werden (z.B.dualisierend, technologisch, ökonomisch, normativ etc.). Zur Beobachtung II. Ordnung gehört auch die reflexive Selbstbeobachtung. »Das Erkennen hat es mit einer unbekannt bleibenden Aussenwelt zu tun und es muss folglich lernen zu sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann« (Luhmann 1990 S.33). Durch Selbstbeobachtung und Metakognition werden wir uns (bedingt) unserer »blinden Flecken« bewusst.
Biografische Synthetisierung: Neues Wissen sollte an den vorhandenen Kenntnissen und Deutungsmustern »verankert« werden können, um »nachhaltig« zu wirken. So werden Lerninhalte für das Selbstkonzept und die Wirklichkeitskonstruktion produktiv. Eine Realitätsdeutung ist zugleich ein »Identitätsangebot«. »Jeder Mensch braucht ein gewisses Mass an solcher Synthesis. Die Synthetisierungsleistung bringt praktische Stimmigkeit und Plausibilität in die Zerrissenheit des realen Lebenszusammenhanges« (Ziehe 1982 S.171). Biografisches Lernen stiftet so Ordnung, Sinn und Kontinuität.
Differenzerfahrung: Der Konstruktivismus betont Differenzen, Heterogenität, Unterschiede, Vielfalt und weniger Konsens, Homogenität, Identität. Lernen setzt die Wahrnehmung von Differenzen, Fremdheit, anderen Perspektiven voraus. Daraus lässt sich folgern, »dass Lehren seinen Ausgang nicht in der Suche nach Konsens, sondern in der Aufklärung von relevanter Differenz zu nehmen hat. Lehren/Therapieren/Coachen etc. kann in diesem Verständnis als ›Entdeckung von Fremdheit‹ bezeichnet werden« (Schäffter 1985 S.48). Gelernt wird durch Vergleiche des Bekannten mit Neuem, mit Erfahrungen und Beobachtungen anderer, aber auch durch Vergleiche mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Driftzone: Der Begriff »Driften« stammt aus der biologischen Evolutionstheorie. Lebewesen driften, indem sie sich an veränderte Umweltbedingungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten anpassen. Im pädagogischen Sinn markiert die Driftzone den Rahmen, in dem Menschen lernen und verstehen, in dem Neues »anschlussfähig« und in kognitive Systeme integrierbar ist. »Wenn Lernprozesse initiiert werden, so sehen wir, dass sowohl der Lehrende als auch die Lernenden in einem Interaktions-Feld innerhalb der Driftzone operieren« (Kösel 1993 S.238).
Emergenz: Verständnis, Sinn, Bedeutung können nicht von außen vermittelt werden, sondern entstehen emergent innerhalb kognitiver Netzwerke. Durch neue Verknüpfungen, aber auch durch Handlungen und Impulse kommt es zu »Aha-Erlebnissen«, zu plötzlichen Einsichten. Ein Text, der bisher inhaltsleer erschien, wird durch eine veränderte Perspektive interessant, bedeutungsvoll. Umgangssprachlich formuliert: »Uns geht ein Licht auf«, es fällt uns »wie Schuppen von den Augen«. »Folgt man der neueren Kognitionstheorie, so erfolgt die ›Entstehung der Bedeutung im Gehirn emergent‹« (Arnold 1996 S.33).
Intentionalität: Menschen handeln intentional, d.h. auf Ziele gerichtet, »absichtsvoll«. Diese Erkenntnis wurde von der Kognitionswissenschaft lange ignoriert, sodass Varela von der »Wiederentdeckung der Intentionalität durch die kognitionswissenschaftliche Forschung« spricht. Intentionalität ist ein Schlüsselbegriff für eine »handlungsbezogene Kognitionstheorie«: Unsere Wahrnehmung und Kognition ist auf »erfolgreiche Handlungen« (Varela 1990 S.110) und auf »Viabilität« ausgerichtet. Wir handeln nicht nur intentional, wir erkennen auch intentional, auch Erinnerungen sind intentional ausgerichtet.
Interimswissen: Interimswissen ist vorläufig, noch ungenau, beinhaltet Zwischenlösungen und Begriffe, die noch differenziert werden können. Prinzipiell ist jedes Wissen »unabgeschlossen«. »Das Leitmotiv einer konstruktivistischen Didaktik muss die Frage sein, wie sich Lernumgebungen [bzw. Therapiekontexte] so inszenieren lassen, dass sie der Um- und Selbstorganisation des Interimswissens von Lernen jeder Art dienlich sind« (Müller 1996 S.62).
Koevolution: Ein Begriff aus der biologischen Evolutionstheorie: Lebewesen werden nicht durch die Umwelt determiniert, sie passen sich nicht lediglich an diese an, sondern sie entwickeln sich mit der Umwelt und schaffen sich neue Umwelten (vgl.Varela/Thompson 1992 S.275). Koevolution ist also eine Variante der »strukturellen Koppelung«. Pädagogisch: Mehrere Menschen »koevolvieren«, d.h.,sie entwickeln sich gemeinsam und miteinander, z.B. durch gegenseitige Anregungen und Perturbationen. Koevolution erfordert eine produktive Lernatmosphäre in einer Seminargruppe.
Kognitives Rauschen: Unsere Aufmerksamkeit ist selektiv. In einer Menschenmenge entdecken wir einen Freund, alle übrigen Personen sind lediglich Hintergrund. Wenn wir auf einer Party eine bekannte Stimme hören, werden alle anderen Stimmen bloßes »Rauschen«. In Bildungsveranstaltungen sind die meisten Aeusserungen kognitives Rauschen, aus dem sich gelegentlich ein Beitrag abhebt, der als relevant erscheint und aufmerksam zur Kenntnis genommen wird. [vgl. das Figur/Grund-Prinzip in der Gestalttherapie]
Lern-Chreoden: Lern-Chreoden sind biografisch geprägte Lernzugänge, auch »Annäherungs-« und »Vermeidungsreaktionen«, erfahrungsbedingte Annahmen über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, Interessen und Desinteressen. Die »Lern-Chreode« besteht aus motivationalen, emotionalen und kognitiven Faktoren des Lernens. »Neben den allgemeinen Verfahrensplänen, Aktionsplänen, Konzepten und Programmen von Ich- und Wir-Chreoden ist es für eine didaktische Betrachtung wichtig, welche spezifischen Chreoden bei einzelnen Lernenden in Bezug auf bestimmte Stoffe,Fächer und Problemfelder entworfen werden.« (Kösel 1993 S.248)
Metakognition: Metakognitionen sind Erkenntnisse über das Erkennen, über kognitive Stärken und Schwächen, über Stile und Strategien menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Lernens. Zur Metakognition gehören Methoden der Selbstevaluation und Lerntechniken, aber auch ein Bewusstsein der »Beobachtungsabhängigkeit« menschlichen Erkennens (vgl.Beobachtung II.Ordnung). Nach Maturana/Varela (1987 S.31) kann »man das Phänomen des Erkennens nicht so auffassen, als gäbe es ›Tatsachen‹ und Objekte da draußen, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe«.
Neuronale Netzwerke: »Das Nervensystem lässt sich auffassen als ein ›neuronales Netzwerk‹« (Maturana 1996 S.98). Diese Netzwerke »repräsentieren« nicht die Aussenwelt,sondern sie agieren autopoietisch, operational geschlossen. »In diesem parallel vernetzten System erfolgt die Verarbeitung von Daten assoziativ und ermöglicht damit die Fähigkeit der Mustererkennung, z.B. das Wiedererkennen von Personen.« (Hartkemeyer 1998 S.58)
Perturbation: Neue Situationen und Umgebungen können zu Perturbationen, d.h. zu Störungen, führen. Dabei determiniert oder instruiert die Umwelt nicht das autopoietische System, sondern löst Veränderungen aus. Ein Wandel wird »zwar von dem perturbierenden Agens hervorgerufen, aber von der Struktur des perturbierten Systems determiniert« (Maturana/Varela 1987 S.106). Auch Lehren und neues Wissen können als Perturbationen und Irritationen verstanden werden.
Reframing: Wörtlich: Um-Rahmung, Um-Deutung. Beobachtungen werden neu bewertet (ähnlich wie bei Kipp-Bildern), in einen neuen Bezugsrahmen eingeordnet. Z.B. wird Fremdes nicht mehr als bedrohlich, sondern als interessant, anregend wahrgenommen. Bei einer solchen Veränderung der Bedeutungsperspektive spricht Mezirow (1997) von »transformativem« Lernen. Reframing ist eine Re-Konstruktion, wenn die bisherigen Konstrukte sich als nicht mehr viabel erweisen. Reframing ist ein in der Familientherapie übliches Konzept.
Rekursivität: Rekursiv heißt rückbezüglich, sich auf die eigene Erfahrung beziehend. Lernen erfolgt rekursiv, wenn es auf Gelerntem aufbaut.Was wir sehen, hängt davon ab, was wir bereits kennen. Dieses Lernen ist quasi »strukturkonservativ« und »strukturdeterminiert«. »Als rekursiv bezeichnet man einen Prozess, der seine eigenen Ergebnisse als Grundlage weiterer Operationen verwendet, also das, was weiterhin unternommen wird, mitbestimmt durch das, was bei vorherigen Operationen herausgekommen ist« (Luhmann 1990 S.44).
Selbstorganisation: Die Systemtheorie verwendet diesen Begriff vor allem für die Selbststeuerung sozialer Systeme, z.B. von Arbeitsgruppen. Die neuere Kognitionswissenschaft wendet diesen Begriff auch auf unser Gehirn, auf die neuronalen Netzwerke an. Gehirne arbeiten »auf der Grundlage zahlloser weit verzweigter Verknüpfungen, sodass die tatsächlichen Beziehungen zwischen Neuronengruppen sich auf Grund von Erfahrungen verändern. Kurz, Neuronengruppen zeigen eine Fähigkeit der Selbstorganisation« (Varela 1990 S.54). Damit wird auch das Zusammenwirken von materiellen (z.B. biochemischen) und mentalen (z.B. kognitiven) Prozessen erklärbar.
Selbstreferenz: »Das gesamte Nervensystem beobachtet ja nur die wechselnden Zustände des eigenen Organismus und nichts, was außerhalb stattfindet« (Luhmann 1990 S.36). Beobachten, Erkennen und Lernen sind selbst referenzielle, rekursive Prozesse. Was neu oder interessant ist, gilt immer nur für uns und in Relation zu unserem Wissen. In kritischer Absicht kann man Institutionen dann als selbstreferenziell bezeichnen, wenn sie nur noch am Erhalt der eigenen Macht und Struktur interessiert sind.
Solipsismus: Der Solipsismus behauptet, dass nur das Selbst existiert (solus ipse). Diese egozentrische Position vertritt die Auffassung, der Mensch »sei die einzige Realität, alles Übrige existiere nur in seiner Vorstellung« (von Foerster in: Gumin/Mohler 1985 S.64). Der radikale Konstruktivismus dagegen bestreitet nicht das »Sein« außersubjektiver Realität, er bestreitet, dass wir diese Realität so erkennen, wie sie »wirklich« ist. Der Solipsismus argumentiert ontologisch, der Konstruktivismus epistemologisch.
Strukturdeterminiertheit: Denken und Lernen werden nicht von außen determiniert, sondern durch die vorhandenen (kognitiven und emotionalen) Strukturen bestimmt. Wir lernen das, was in diesen Rahmen passt, was uns zugänglich ist. Menschen »interagieren mit ihren eigenen Zuständen«, d.h.: Menschen vergleichen neues Wissen mit vorhandenem Wissen, beziehen neue Erfahrungen auf frühere Erfahrungen. Das Nervensystem wird von außen allenfalls »perturbiert«. »Als strukturdeterminierte Wesen hören wir, was wir hören – nicht, was andere sagen« (Maturana 1996 S.236).
Strukturelle Koppelung: Eine »Einheit« (z.B. ein Lebewesen) und das »Milieu« sind aufeinander angewiesen und »bilden füreinander reziproke Perturbationen. (…) Das Ergebnis wird (…) eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen sein, also das, was wir strukturelle Koppelung nennen« (Maturana/Varela 1987 S.85). Diese Koppelung veranschaulichtVarela an der Interaktion von Honigbiene und Blume. Auch das Verhältnis von Lehrenden und Teilnehmern kann als strukturelle Koppelung beschrieben werden; trotz der Autopoiese ist also Interaktion zwischen mehreren Menschen möglich.
Viabilität: Wahrnehmen, Denken, Lernen sind »lebensdienlich«; sie ermöglichen es, sich in der Welt zu orientieren und »erfolgreich« zu handeln. »Viabel« heißt gangbar, passend, brauchbar, funktional. »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ›korrekte‹ Abbildung der Realität bestimmt.« (v.Glasersfeld 1997 S.43) Der Begriff Viabilität erinnert an den amerikanischen Pragmatismus.
Zirkularität: Wir sind es gewohnt, in linearen, monokausalen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen zu denken. In ökologischen Systemen, in sozialen Beziehungen, auch in unseren mentalen »Netzwerken« sind jedoch zirkuläre Wechselwirkungen die Regel. Dabei beeinflusst nicht nur die Gegenwart die Zukunft, sondern unsere Antizipationen der Zukunft schaffen Realitäten in der Gegenwart (z.B. bewirkt ein Gerücht über eine künftige Benzinknappheit Hamsterkäufe, sodass das Benzin tatsächlich knapp wird). Auf solche »selbst erfüllenden Prophezeiungen« hat vor allem Paul Watzlawick aufmerksam gemacht. Zirkularität ist charakteristisch für selbstreferenzielle, rekursive Systeme, auch für die Wechselwirkungen von Erkennen, Fühlen, Handeln.
Selbstorganisationstheorien - SYNERGETIK
Ricarda Schallnus (2005) fasst treffend zusammen:
"Die Theorie der Selbstorganisation steht in der Tradition der allgemeinsten bisher bekannten Theorie der Physik über Objekte in der Zeit - der Quantentheorie.
Auch das menschliche Wissen kann Objekt sein.
So beschreibt Carl Friedrich von Weizsäcker die Quantentheorie als „eine Theorie über mögliches menschliches Wissen in der Zeit“ (1992b S.981).
Die Debatte um die Konsequenzen der Quantentheorie für die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Wirklichkeit, Wissen und Bewusstsein sind noch lange nicht beendet (Weizsäcker 1996 S.198). Einige Erkenntnisse hat man aber schon heute aus der sogenannten Kopenhagener Deutung [->1] des Dualismusproblems [->2] der Quantenmechanik gewonnen. So ist die sinnliche Erfahrung zwar objektivierbar, sie gibt jedoch nie ein vollständiges anschauliches Bild der Realität, da die Erfahrung abhängig ist von der Situation des Beobachters (Weizsäcker 1974 S.228). Diese sinnliche Erfahrung ist an sich jedoch kein hinreichendes Fundament für Erkenntnis. Erst was „prinzipiell“ [->3] beobachtbar ist kann zu Erkenntnis führen. „Prinzipiell Unbeobachtbares sollte ausgeschlossen bleiben, aber erst die Theorie entscheidet, was prinzipiell beobachtbar ist“ (ders.1985 S.501). Deshalb gibt es keine Strukturen, die objektive zeitunabhängige Gegebenheiten sind und unabhängig vom Vorwissen beschreibbar wären. Damit tritt an die Spitze der Bedingungen für Erkenntnis die Zeit selbst, als Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft (a.a.O.S.727).
1: Ihr Kern lautet: „Materie und Licht sind „an sich“ weder Teilchen noch Welle. Die Gültigkeit des einen Bildes erzwingt gleichzeitig die Gültigkeitsgrenzen des anderen“ (Weizsäcker 1985 S.503).
2: Inhaltlich ging es um die Frage, ob das Elektron - das als Teilchen oder als Welle zur Erscheinung gebracht werden kann - oder das Atom objektiv als Ding, Teilchen oder Welle existieren oder nicht.
3: Die „prinzipielle“ Beobachtung muss grundsätzlich möglich sein, wenn auch nicht notwendig gleichzeitig. Bspw. sind Ort und Impuls eines Teilchens nicht zugleich beobachtbar (Weizsäcker 1985 S.501f).
Def. Selbstorganisation: „Selbstorganisation im Sinne der Synergetik meint die Fähigkeit eines Systems, bei Veränderungen der Umweltparameter Übergänge zwischen verschiedenen Strukturen vollziehen zu können, wobei für die Struktur(neu)bildung keine äußere Instanz bemüht werden muss. Sie wird durch die innere Dynamik des Systems vermittelt“ (Beisel 1996 S.61).
Durch diese Betrachtung nimmt die Synergetik die ganze Wirklichkeit, die wir kennen, als ein Gefüge sich selbst stabilisierender Gestalten wahr, und fragt nach den Bedingungen für deren Möglichkeit (Dürr/Lumpe 1996 S.80).
Es entwickelten sich in unterschiedlichen Disziplinen verschiedene Selbstorganisationstheorien, deren Entwicklungsstränge sich folgendermaßen unterscheiden lassen (vgl. Krohn/Küppers/Paslack 1994 S.447ff, Paslack 1991 S.7ff):
- die biologische und kybernetische Systemtheorie (von Hv Förster)
- die Ungleichgewichtsthermodynamik (I Prigogine)
- die molekulare Selbstorganisation und Evolutionstheorie (M Eigen)
- die Synergetik bzw. die Lasertheorie (H Haken)
- Oekologie (PR Ehrlich; CS Holling; Lv Bertalanffy; A Lotka; V Voltera; RM May)
- Chaostheorie (E Lorenz; BB Mandelbrot)
- Autopoiese und Selbstreferentialität (HR Maturana, F Varela)
Quelle: Schallnus, Ricarda (2005). Mitarbeiterqualifizierung und Wissensnutzung in Konzernen und Unternehmungsnetzwerken - Inaugural-Dissertation an der Freien Universität Berlin.
SYNERGETIK - HAKEN/Schiepek: Synergetik - Kap. 4.11 Konstruktivismus
"Die Existenz der Realität ist unentscheidbar. Dies bedeutet, dass es keinen archimedischen Punkt ausserhalb unserer Erfahrungswelt gibt, von dem aus zu entscheiden wäre, ob es eine von unserer Erfahrung unabhängige reale Realität gibt oder nicht. Insofern ist diese Frage relativ müssig und wirklichkeitsfern. In der Wirklichkeit, d.h. in der phänomenalen Welt unserer Erfahrung, gehen wir von der Existenz einer objektiven, d.h. subjektunabhängigen Realität aus.
(…) Wir sind alle naive Realisten, und das hat sich evolutionär und lebenspraktisch, phylogenetisch wie ontogenetisch bewährt. Und wenn die phänomenale Welt unserer Erfahrung eine Produktionsleistung - oder: mit anderen Worten, eine Konstruktion - unseres Gehirn ist, wo anders als in einem realen Gehirn soll diese Konstruktion denn stattgefunden haben?
"Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht". Und zugleich gilt umgekehrt, dass dies nichts anderes ist als "eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Realität missverstanden werden darf“ (Roth 1996 S.325 in Haken/Schiepek 2010 S.318-319).
In dieser zirkulären Situation scheint es keinen anderen Anker zu geben als den, den wir selbst werfen, indem wir uns zwischen einem radikalen (im Sinne von fundamentalen) Realismus oder Konstruktivismus entscheiden. (In einem solchen ontologischen Sinne radikaler Realist zu sein, bedeutet übrigens nicht, in einem methodologischen Sinne naiver Realist oder Empirist zu sein.) So ist diese Entscheidung für oder gegen eine konstruktivistische Position im Grunde eine A-priori-Entscheidung und lässt sich durch empirische Argumente weder bestätigen noch widerlegen. Konsequenterweise verhalten sich die Systemtheorien, wozu auch die Synergetik gehört, in dieser Hinsicht epistemologisch und ontologisch neutral. Insofern man die mathematischen Systemtheorien, insbesondere die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme und die Synergetik, als Formalwissenschaften oder als Methodologien interpretiert, ist eine Entscheidung auch gar nicht notwendig.
4.11.1 Realitätsbasierter Konstruktivismus
Interpretiert man die Systemtheorien dagegen (auch) als Realwissenschaften, dann ist die Unterstellung einer subjektunabhängigen Realität zweifellos naheliegend. Man kann dann z.B. empirisch untersuchen, wie das reale Gehirn seine phänomenalen Repräsentationen erzeugt. Diese Repräsentationen müssen dabei keineswegs als Abbildungen der Realität verstanden werden, sondern können autonome, multifunktionale Konstruktionsleistungen darstellen, die etwa dem Ueberleben, der Herstellung von Selbstkongruenz, der Selbstwertregulation oder dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit dienlich sein mögen. Die Frage, wie (auf welchen Wegen), warum (mit welcher evolutionsbiologischen und psychologischen Funktionalität) welche Konstruktionen entstehen, lässt sich auf der Grundlage der Selbstorganisationsprozesse unseres Gehirns, oder - so es sich um soziale Konstruktionen, z.B. kollektiv geteilte Ueberzeugungen oder Selbstwahrnehmungen handelt - der Selbstorganisationsprozesse sozialer Systeme bearbeiten. Konstruktionen sind in diesem Sinne Ordner neuronaler, kognitiv-emotionaler und/oder sozialer Prozesse. Insofern die Funktionsweise komplexer Systeme und mithin ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation die Grundlage für Konstruktionsleistungen aller Art darstellen, ist die Wissenschaft der Selbstorganisation auch die Grundlage eines wissenschaftlichen (theoretischen wie empirischen) Konstruktivismus. Die Entstehung von Konstruktionen im Sinne kollektiver Muster im Bereich der Kognition und des Verhaltens lebender Systeme ist durch die Synergetik analysierbar und potentiell erklärbar" (Haken/Schiepek S.318-319).
"Wie wir in Kapitel 3.1 gesehen haben, präsentiert sich das Gehirn als ein geradezu idealtypisches Beispiel für ein selbstorganisierendes System, das auf die Erzeugung von Konstruktionen spezialisiert ist. Es sind weder die Inputsignale aus den Rezeptorzellen, noch die Aktivität der einzelnen Neurone im Gehirn, die eine Wahrnehmung oder eine Kognition ausmachen, sondern es ist die Verknüpfung und Einbindung der Neurone in die gehirnimmanente Anordnung von Nervenzellverbänden, die über die Funktion und Bedeutung der Signale bestimmt. „Weil aber im Gehirn der signalverarbeitende und der bedeutungserzeugende Teil eins sind, können die Signale nur das bedeuten, was entsprechende Gehirnteile ihnen an Bedeutung zuweisen“ (Schmidt 1987 S.15). Das Gehirn hat keine direkten sensorischen Informationen aus der Umgebung zur Verfügung, sondern muss diese in einem selbstreferentiellen Prozess aus der „neuronalen Einheitssprache“ (0/1 Aktivität der Aktionspotentiale) erst generieren. Es ist durch seine Reizunspezifität zu einer internen Zuweisung, zur Generierung von Bedeutung und auf höheren Integrationsstufen zum Abgleich zwischen der Repräsentation des Körpers sowie des eigenen Selbst und der „Welt da draußen“ geradezu gezwungen (Damasio 2001). Dies ist der Prozess der Selbstexplikation des Gehirns (Schmidt 1987; Vogeley 1995 S.191).
Neurophysiologisch können wir resümieren (vgl. Roth 1986 S.16; Schmidt 1987 S.17):
1. Die Reizunspezifität des Gehirns nötigt ihm die Selbstexplikativität auf.
2. Komplexe Wahrnehmung für komplexe Verhaltenssteuerung setzt ein zirkulär organisiertes, selbst-evaluierendes neuronales System voraus.
3. Das Gehirn leistet Komplexitätsreduktion (d.h. überlebensnotwendige Selektion) und NICHT Reproduktion der Umwelt.
4. Das Gehirn als neuronales Netzwerk kann Zustände rekursiv abbilden und schafft damit die Grundlagen für die Konstruktion kognitiver Welten.
5. Erfolgreiche Umweltorientierung setzt keine 1:1-Abbildung bzw.-Repräsentation der Welt im Organismus voraus.
All dies leistet das reale Gehirn. So gesehen ist die Welt für die Synergetik als empirischer Konstruktionswissenschaft epistemologisch in Ordnung, wenn sie von der Realität der Realität ansgeht" (Haken/Schiepek 2010 S.320).
4.11.2 Konstruktivistischer Realismus
"... Auch für die Unterscheidung zwischen Sein und Schein, zwischen realen und fiktiven Objekten hat das Gehirn und seine Evolution eine Reihe von Anhaltspunkten entwickelt (sog. 'Wirklichkeitskriterien' Roth 1996 S.321ff, Stadler&Kruse 1990b):
1. Syntaktische Kriterien wie die relative Helligkeit eines Objekts zur Umgebung, Figur-Hintergrund-Kontraste, Schärfe der Konturen, Reichhaltigkeit der Struktur (Farbe, Oberfläche), Dreidimensionalität oder (nur) Flächigkeit und intermodale Uebereinstimmung, d.h. die Kongruenz der Wahrnehmung eines Objektes durch verschiedene Sinneskanäle. Je lebhafter die Wahrnehmung, um so realistischer erscheint uns der Wahrnehmungsgegenstand.
2. Zu den semantischen Kriterien zählen die Bedeutungshaltigkeit, die Kontextstimmigkeit (passt der Gegenstand in einen sensorischen oder sinnbezogenen Kontext), die Attraktivität (positive Valenz) und die lebenspraktische Relevanz (wichtig oder unwichtig) eines Gegenstandes.
3. Unter pragmatischen Gesichtspunkten wirken Objekte dann besonders real, wenn man sie, anfassen und auf sie einwirken kann, aber auch wenn man sie erwartet (vgl. das Merkmal der Kontextstimmigkeit). Letzteres machen sich Illusionisten häufig zunutze, indem sie beim Zuschauer bestimmte Erwartungshaltungen und Aufmerksamkeitsfoki erzeugen. „Wir sehen im allgemeinen die Welt so, wie wir gelernt haben, wie sie sein soll“ (Roth 1996 S.324).
4. Schliesslich kommt ein sehr wesentliches soziales Kriterium hinzu, nämlich das der intersubjektiven Bestätigung. Je mehr oder je bedeutender und relevanter die Referenzpersonen, mit denen man hinsichtlich einer Wahrnehmung oder einer Ueberzeugung übereinstimmt, um so realer wird diese Wahrnehmung oder Ueberzeugung.
Die Erfahrung von „Realität“ [hier 'Wirklichkeit' genannt] ist also eine Konstruktion unseres Gehirns. Und so wie diese Unterscheidung zwischen real und fiktiv, sind auch sämtliche anderen Qualitäten und Objekte Produkte unseres Gehirns und darüber hinaus der Kommunikation zwischen Gehirnen (soziale Interaktion): Sinneseindrücke, Daten, wissenschaftliche Ergebnisse, Theorien und theoretische Konstrukte. Im Prozess der Wissenschaft werden dabei Konstruktionen (z.B. Sinneseindrücke, Daten, Ergebnisse) zu anderen Konstruktionen (z.B. Annahmen, Hypothesen, Gesetzen) mittels Konstruktionen (z.B. Erklärungs- und Ableitungsregeln) in Relation gesetzt (z.B. erklärt). Wissenschaft zu betreiben heisst, solche Zusammenhänge nach bestimmten Regeln herzustellen, mit anderen Worten:
Wirklichkeit nach bestimmten Regeln zu konstruieren. Entscheidend ist dabei das Kriterium der Konsistenz, das weitgehend dem Wirklichkeitskriterium der intermodalen Uebereinstimmung entspricht: je stimmiger eine möglichst große und verschiedenartige Menge an Daten und Beobachtungen zu möglichst wenigen Hypothesen und theoretischen Annahmen passt, um so glaubwürdiger, valider und „realer“ erscheint die ganze Konstruktion (Roth 1996 S.351, Schmidt 1996). Die Erzeugung von Konsistenz stellt gleichzeitig eine optimale Form der Komplexitätsreduktion dar und ermöglicht die 'algorithmische Kompressibilität' der Welt" (Haken/Schiepek S.321).
Obwohl in Teil V dieses Kapitels für unsere Themen relevante Aspekte der neueren Neurowissenschaft referiert werden, erfolgt bereits hier ein für das Verständnis von Systemtheorie und Konstruktivismus relevanter Ueberblick über die ältere damals noch so benannte 'Hirnfoschung'. Diesen Abschnitt mit den konkreten Bezügen zur Neurobiologie verdanke ich der ausgezeichneten Dissertation von Elisabeth Stachura (2010) zum 'Neurobiologischen Konstruktivismus':
Das Prinzip der undifferenzierten Codierung
"Eines der Fundamente des radikalen Konstruktivismus ist das Prinzip der undifferenzierten Codierung, welches für das Verständnis der menschlichen Wahrnehmungsverarbeitung grundlegend ist [vgl.Kap.2: Narzissmus - Heinz von Foerster hat dieses Prinzip für den radikalen Konstruktivismus aufgegriffen und ausformuliert. Entwickelt wurde es schon Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Neurophysiologen Johannes Müller (Foerster 1987 S.138)].
Bei dem Prinzip der undifferenzierten Codierung steht die Nervenzelle als kleinste Funktionseinheit im Gehirn im Zentrum der Aufmerksamkeit [Ein Ueberblick über die Kooperation der Nervenzellen, ihrer Organisation in Zellverbänden und ihrem Zusammenwirken folgt unten in Teil V dieses Kapitels.]. Im menschlichen Gehirn kommunizieren etwa hundert Milliarden Nervenzellen direkt oder indirekt miteinander. Das Neuron ist die Grundeinheit des Nervensystems. Es nimmt Erregung auf, verarbeitet sie und gibt sie wieder ab, indem es sie weiterleitet (vgl. Benesch 1980 S.47f). Jedes Neuron befindet sich in einem bestimmten elektrischen Spannungszustand. Nervenzellen sind durch den synaptischen Spalt mit anderen verbunden, sowie zugleich voneinander getrennt: Sie besitzen zwar ein eigenständiges Energiesystem (sind also als eigenständiges System aufzufassen), jedoch werden durch den Spalt Botenstoffe übertragen, die zu Zustandsveränderungen führen (Benesch 1980 S.82f.). Diese Botenstoffe werden als Transmitter bezeichnet. Es gibt schnell wirkende Transmitter, wie Glutamat; Glycerin und Gamma-Amino-Buttersäure, sowie langsamer wirkende Transmitter, zu denen die sogenannten Neuromodulatoren Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin zählen (Roth 2003a S.ff).
Das Prinzip der undifferenzierten Codierung bezieht sich auf die Einheitssprache der neuronalen Erregung durch die Sinneswahrnehmung. Jegliche Wahrnehmung und jeglicher Reiz verändert die neuronale Aktivität dahingehend, dass der Spannungszustand der betreffenden Neuronen variiert. Die Veränderung besteht in der Entladung der betreffenden Zelle.
Die Grundlage des Prinzips der undifferenzierten Codierung liegt in der Veränderung der neuronalen Aktivität, die ausschließlich quantitativer Art ist. Jede Wahrnehmung verursacht eine Entladung der Nervenzellen, die verschieden stark ausfällt, je nach Intensität des Reizes. Demzufolge empfängt das Gehirn keine qualitative Information über die Art oder Ursache der nervlichen Erregung - die Sinnesorgane übermitteln eine quantitative Veränderung unterschiedlicher Intensität: Das Gehirn empfängt ausschließlich, wie viel Erregung an einer bestimmten Stelle des Körpers stattfindet, aber nicht in welcher Form, beziehungsweise, was sie hervorruft oder verursacht (von Foerster 1985 S.56ff).
Das heisst, unsere Sinnesorgane "melden" uns stets nur mehr oder weniger hartes Anstoßen an ein Hindernis, vermitteln uns aber niemals Merkmale oder Eigenschaften dessen, woran sie stoßen. Diese Eigenschaften stammen ganz und gar aus der Art und Weise, wie wir die Sinnessignale interpretieren (von Glasersfeld 2000 S.21).
Also besteht über die Ursache der Erregung keine Kenntnis – deren Information wird also nicht übermittelt. Dies lässt die Radikalen Konstruktivisten darauf schließen, dass:
1. Die direkte Abbildung der Welt aufgrund der Funktionsweise des Wahrnehmungsapparates nicht möglich ist und
2. das Gehirn folglich darauf angewiesen ist, sich aus den Rohdaten der Nervenimpulse eine Bedeutung qualitativer Art zu konstruieren, da sie sich nicht aus der neuronalen Erregung erschliesst.
Diese selbstexplikative Arbeit leistet das Gehirn innerhalb seines Systems ohne Einfluss von aussen und wird deshalb als auch funktional bzw. operational geschlossen beurteilt. Die einzige, die Sinneswahrnehmung betreffende Information, erlangt das Gehirn nur durch eine „Ortsangabe“, wo die Erregung stattgefunden hat (Ortscode). Die Sinnesorgane sind seinen spezifischen Arealen des Gehirns angeschlossen. Eine Erregung der Sinnesorgane schlägt sich also an einer bestimmten Stelle des Gehirns nieder. Dieser Mechanismus kann durch Versuche mit Patienten mit geöffneter Schädeldecke veranschaulicht werden: Wurden bestimmte Areale des Gehirns durch einen kleinen elektrischen Impuls stimuliert, führte dies zu den entsprechenden Wahrnehmungen. Zum Beispiel erzeugte eine Stimulation im Sehzentrum eine optische Halluzination.
Die radikalkonstruktivistische Sichtweise des Wahrnehmungsapparates lässt eine Annäherung an die Wahrheit, oder sogar deren Erkenntnis, problematisch anmuten, weil der Prozess des Wahrnehmens als konstruktiver und nicht als abbildender Akt herausgestellt wird. Aus diesem Grund bietet der radikale Konstruktivismus ein anderes Konzept an, um die Wahrnehmung der Welt begreiflich zu machen: Die Viabilität.
Das Viabilitätskonzept
"Da die Sinnesorgane des Menschen, wie oben gezeigt, nicht in der Lage sind, die Realität so zu erfassen, wie sie wirklich ist, sondern nur auf ihre eigene, durch ihre Funktionsweise festgelegte Art, müssen sie trotzdem ein Kriterium erfüllen: Sie müssen für den Wahrnehmenden brauchbar, sprich passend sein. Von Glasersfeld ersetzt in seinem Gedankengebilde ontische Wahrheit durch Viabilität: Es geht bei der Wahrnehmung nicht darum, die objektive Realität zu erkennen, sondern darum, sich problemlos in ihr zu bewegen. Wahrnehmung dient somit nicht dem Erkennen der Welt, wie sie wirklich ist, sondern sie ist für die Orientierung in ihr von existenziellem Belang. Viabel kann mit „angepasst, angemessen oder adäquat“ definiert werden.
Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Sichtweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine “korrekte” Abbildung der Realität bestimmt (von Glasersfeld 1997 S. 43). Bei einem Verhalten, welches viabel ist, geht es darum, innerhalb der Bedingungen und trotz der Hindernisse, die die Erlebniswelt bereithält, zu überleben (von Glasersfeld 2000 S.25). Viabilität ermöglicht, sich in seiner biologischen wie sozialen Welt zurechtzufinden, sowie handlungsfähig zu sein. Die Anpassung an die Lebenswelt, die sich aus biologischen und sozialen Aspekten gestaltet, spielt sich durch Lernen und Erfahrung ab. Von Glasersfeld verdeutlicht mit folgendem Zitat, wie ein Individuum zwar nur innerhalb seiner Systemgrenzen agieren kann, aber trotzdem auf den Einfluss des sozialen Umfeldes angewiesen ist:
Aus konstruktivistischer Sicht kann kein Subjekt die Grenzen seiner individuellen Erfahrung überschreiten. Diese Beschränkung schließt jedoch keineswegs den Einfluß des sozialen Umfeldes aus (von Glasersfeld 1997 S.23). Wie sich der Bezug zum sozialen Umfeld genau erschließt, wenn von der Geschlossenheit des Nervensystems ausgegangen wird, erklärt die Theorie der Autopoiese: Aussenreize übertragen zwar nicht die originären Informationen in das Gehirn, sie verursachen aber sogenannte Perturbationen (Störungen, Verwirrungen).
Die Theorie der Autopoiese
"Als das einschlägigste Modell des radikalen Konstruktivismus wird häufig das Autopoiesekonzept Humberto R. Maturanas erwähnt. Obgleich Maturana sich in einem Interview (2002) davon abgrenzt, als Konstruktivist verstanden zu werden, sollen einige Aspekte seiner Arbeit einen Bezug zu dem im Weiteren untersuchten neurobiologischen Konstruktivismus herstellen. Maturanas Arbeiten werden als biologische Erkenntnistheorie eingeordnet und weiterhin von den meisten Radikalen Konstruktivisten als grundlegend eingestuft (Fröhlich 2000 S.90).
Der Begriff Autopoiese bezeichnet die Fähigkeit der Selbsterhaltung beziehungsweise Selbsterschaffung eines lebenden Systems oder eines Lebewesens. Diese Fähigkeit ist ein Grundcharakteristikum eines lebenden Systems: Es erzeugt sich andauernd aus sich selbst heraus neu und organisiert sich dabei selbst. Ein autopoietisches System ist nach dieser Theorie ein System, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es selbst besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält. (…) die einzelnen Komponenten eines autopoietischen Systems erhalten sich dadurch selbst, dass sie an der Erhaltung all der anderen Komponenten beteiligt sind, die zu ihrer eigenen Erhaltung notwendig sind (Roth 1987 S.258).
Autopoiese beschreibt somit auch Leben als einen Prozess der stetigen Reproduktion. Ein lebendes Wesen existiert nicht einfach, sondern es entwickelt sich andauernd aus sich selbst heraus weiter. Kerngedanke des Autopoiesekonzeptes von Maturana ist die Betrachtungsweise des Nervensystems: Dieses wird als funktional geschlossenes Netzwerk aus interagierenden Neuronen definiert (Maturana 1987 S.98). Reize aus der Umwelt des Individuums können, wie schon oben erklärt wurde (…), das Nervensystem nicht direkt beeinflussen, sondern nur indirekt, indem es auf Zustandsveränderungen der Umwelt reagiert. Eine direkte Veränderung des Systems durch äussere Faktoren ist demnach nicht möglich. Diese kann nur dadurch entstehen, indem sich eine Veränderung in den vom System festgelegten Strukturen ereignet.
Maturana sieht das menschliche Gehirn zwar als genetisch determiniert an, in seiner Genese ist es allerdings veränderbar. Aufgrund dessen sieht er den Menschen als soziales Wesen an, welches sich nur in menschlicher Gemeinschaft zu einem solchen entwickeln kann (Maturana 1987 S.299). Die Voraussetzung gewährleistet die gleiche Organisation des Nervensystems bei allen Menschen. Diese garantiert, dass Perturbationen bei verschiedenen Menschen zu ähnlichen Zustandsveränderungen des Nervensystems führen. Entsprechend sei das Gehirn nicht als autopoietisch, sondern als operational geschlossen zu betrachten. Es verarbeitet ausschließlich seine eigenen Zustände. Durch die Gleichförmigkeit in der Organisation ist trotz der Geschlossenheit des Nervensystems Interaktion mit der biologischen, sowie sozialen Umwelt möglich. Sie wird durch strukturelle Kopplung bewirkt: Strukturelle Kopplung lässt zu, dass zwei (oder mehr) autopoietische Systeme scheinbar aufeinander abgestimmte Bewegungen verrichten und so einen konsensuellen Bereich erzeugen, dabei bleibt ihre Autonomie erhalten. Der konsensuelle Bereich entsteht dadurch, dass die Kommunikation Zustandsveränderungen beim anderen (in dem anderen System) erzeugt, die zu einer Synchronisation führen (die Strukturen sind folglich veränderbar, während die autopoietische Organisation, wie oben erklärt, bestehen bleibt). Diese Zustandsveränderungen resultieren aus der strukturellen Determination und wirken nur aus der Beobachterperspektive als intelligent oder geplant. Aus biologischer Sicht müssen die Zustandsveränderungen als strukturell determiniert gelten. Sie sind laut Maturana als eine Anpassung des
Organismus an die durch Perturbationen ausgelöste Struktur veränderungen zu verstehen (Maturana 1985 S.154). Demzufolge sieht Maturana die Unterscheidung zwischen Sozialem und Individuellem als kulturell konstruiert an. Sie manifestiere sich in der Beobachterperspektive und durch Zuschreibungen (Maturana 1987 S.301).
Maturanas Ansatz bedient sich hauptsächlich biologischen Vokabulars und untersucht die wechselseitigen Beeinflussungen des gesellschaftlichen Lebens nur am Rand. Er selbst bietet das Autopoiesekonzept an, um das Schlüsselmerkmal eines lebendigen Wesens zu beschreiben. Ob dieser Begriff nützlich ist, um ihn in andere Forschungsbereiche zu übertragen, wagt er jedoch zu bezweifeln (Maturana 2002 S.103).
Problematisch gebärdet sich dieser Begriff vor allem in Bezug auf die durch Perturbationen ausgelöste Zustandsveränderungen des Organismus, die aufgrund der autopoietischen Organisation biologisch determiniert sind. Wird dies angenommen, dann entsteht eine Ursache-Wirkung-Kette, die nicht zu durchbrechen ist: Das menschliche Verhalten tritt als biologisch determiniert auf, und die Möglichkeit Fehlverhalten zu reflektieren und zu verbessern, scheidet aus. Der Versuch die biologischen Konzepte Maturanas auf die Sozialität der Menschen zu übertragen, ist also nur bedingt möglich und führt zu einigen Unstimmigkeiten, obgleich Maturana die Absicht hat, Respekt und Liebe als grundlegende Werte des gesellschaftlichen Lebens zu definieren (Maturana 1987 S.300ff). Inwiefern Gerhard Roth das Autopoiesekonzept sowie andere Ansätze des radikalen Konstruktivismus verwendet und welche Probleme aus diesem biologischen Erklärungsversuch entstehen, wird [im Teil V dieses Kapitels] aufgegriffen und abgehandelt" (Stachura 2010 S.14-20).
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4.4. Der postmoderne Mensch als Sozialcharakter
Meine in Kapitel 2 noch genauer auszuformulierende These vom "neuen Narzissmus in der digitalen Postmoderne", der sich grundsätzlich vom 'alten' Narzissmus wie er von Kernberg und Kohut und vielen anderen beschrieben wurde (ausführlich in Kap.2), unterscheidet, hat mein Kollege Hans Swildens m.E. sehr treffend bereits 2005 in der Fachzeitschrift "Der Psychotherapeut" in anderer Form beschrieben - leider blieb sein Beitrag damals ohne grosses Echo (?), ein Grund mehr, gute zehn Jahre später einen erneuten Anlauf zur Beschreibung des "Sozialcharakters zu Beginn des 21. Jahrhunderts" (Swildens 2005) zu unternehmen. Es folgt deshalb thesenartig ein längerer Auszug aus Swildens sehr lesenswertem Artikel zur "neuen, nämlich postmodernen, Art der narzisstischen Abwehr":
"Der gehemmte neurotische Klient des zwanzigsten Jahrhunderts war auf seine Vergangenheit fixiert und sich selbst gegenüber gespalten. Er war beherrscht von Schuldgefühlen, verstand sich nicht und war mit Symptomen konfrontiert, die er auch nicht verstand. Er erwartete Hilfe sich selbst zu erkennen und zu verstehen, um mit seinen inneren Problemen und den Symptomen, in denen sie zum Ausdruck kamen, besser umgehen zu können. Er machte sich klar, dass das Zeit in Anspruch nehmen würde, und begab sich mit dem Ziel der Lösung dieser Aufgabe unter die Obhut des Psychotherapeuten. Sein Verlangen nach Hilfe zeigte sich in der Form des dringenden Wunsches nach der Art von Hilfe, die sein Helfer anzubieten hatte, und er stellte kaum weitere Bedingungen" (Swildens 2005 S. 117).
"(…) Das sind die, die sich als fähig erwiesen haben, ihre Grössenphantasien ganz oder z.T. in Realität umzusetzen. Diese 'gesunden' Narzissten beherrschen das Bild unserer Zeit vielleicht mehr als die, die in Schwierigkeiten geraten sind [vgl.auch den Abschnitt zu Cremerius: 'Reiche und Mächtige' in Kap.2/10].
Wie es Lasch (1978) formuliert hat, müssen wir hier an führende Persönlichkeiten in der Politik, der Wirtschaft, in der akademischen und kirchlichen Welt denken. Ich denke aber auch an Gesundheitsfanatiker (Diät und Fitness-Freaks, Bodybuilder, Sonnenanbeter, Jogger und Marathonläufer), in denen man oft narzisstische Züge findet. Diesen Leuten, die sehr in der Gegenwart leben, ist vor allem ihr Körper das Feld, auf dem sie direkt ihre narzisstische Befangenheit erleben. Ich denke auch an Computer- und Fernsehsüchtige, die versuchen, ihre Langeweile und Unzufriedenheit, Leere und Depression zu bekämpfen und ihre Identität dadurch aufzurüsten, dass sie neugierig Wissen sammeln und Fakten über dies und das und diesen und jenen horten und journalistisches Fast-Food konsumieren.
Sie stellen so etwas wie einen [neuen] Typ Mensch dar, der sich in den zuvor erwähnten Syndromen und in anderen Ausdrucksformen artikuliert und den wir postmodern nennen wollen. Wir können ihn nur verstehen, wenn wir uns ihn vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Art und Weise, den Menschen zu sehen, anschauen. Carl Rogers [der Begründer der Gesprächspsychotherapie] ging von einem neo-humanistischen Menschenbild aus. Die klassische humanistische Vorstellung, dass die jugendliche Elite so gebildet werden sollte, dass sie in der Lage ist, die menschlichen Werte zu erkennen, war in den Vereinigten Staaten von Amerika weniger verbreitet als in den Nationalstaaten Europas. Der amerikanische Humanismus war stark vom Pragmatismus (z.B. Deweys Humanismus) durchsetzt. Er war auch in hohem Masse durch Anthropozentrizität charakterisiert: der Mensch galt als das Mass aller Dinge und man glaubte an die Möglichkeiten des Menschen, die Wahrheit zu finden und sich selbst in der Verbindung mit und im Respekt vor seinen Mitmenschen zu verwirklichen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion galt als zentral, und bei der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nahm das offene Gespräch einen bedeutenden Platz ein.
Im Gegensatz dazu wird der postmoderne Mensch als völlig individualistisch und egozentrisch angesehen. Er gilt als skeptisch und misstrauisch gegenüber anderen und gegenüber Idealvorstellungen von Gemeinsamkeit. Er tendiere zum Relativismus, glaube nicht mehr an Wertesysteme, sei unverbindlich, fast indifferent und manchmal respektlos. Heute gilt nicht mehr der Mensch, sondern das Individuum als Mass aller Dinge. Das Gespräch und der Dialog gelten wenig, und das Bemühen um Konsens gilt als ein sich zu unakzeptablen Konzessionen zwingen Lassen. „Die Person von morgen“ scheint weniger offen und empfänglich, weniger liebevoll und auf der Suche nach neuen Formen von Nähe und Intimität zu sein, als es Rogers (1980 S.350f.) damals erwartet hat.
Der postmoderne Mensch hat ganz andere Tugenden. Für den Existenzphilosophen und Pädagogen Otto Friedrich Bollnow (1958) stellte der Uebergang vom „Pathos der Weltkriegstugenden“ zu den bescheidenen und „stillen“ Tugenden der Nachkriegsbourgeoisie, wie Fairness, Anständigkeit und Kameradschaftlichkeit, den Kern des Wandels in der Ethik dar.
Wir erleben nun, dass diese stillen Nachkriegstugenden fast zu Sünden geworden sind: zu Ausdruck von Schwäche und Selbstbetrug. Die neuen Tugenden sind:
Durchsetzungsfähigkeit, Härte, Selbstvertrauen, Autarkie und die Betonung von Privatheit, während Kameradschaftlichkeit höchstens noch bei gelegentlicher Loyalität im Dienste des sakrosankten Individuums eine Rolle spielt.
Immerhin scheint der postmoderne Mensch erstaunlich wenig rationalistisch zu sein und viel Raum für Mystisches und Spirituelles zu lassen: Denken wir nur an die New-Age-Entwicklung, eine sehr private und individualistische Form postmoderner Religiosität.
Das Bild vom postmodernen Menschen hat viel gemeinsam mit dem, was wir die narzisstische Persönlichkeit genannt haben. Individualismus und Egozentrizität, der respektlose und manipulierende Umgang mit dem anderen, die egozentrischen Phantasien und die Vorstellungen von der eigenen Grösse – und unter diesem Gesichtspunkt betrachtet auch die Neigung zum Mystizismus – findet man in der postmodernen Normalität genauso wie in der Psychopathologie.
Wie kann diese Beziehung zwischen der Selbstpathologie und dem postmodernen Menschen verstanden werden? Alle Faktoren, die als mögliche Verursacher von Selbstpathologie oder als diese aufrecht erhaltend genannt worden sind, scheinen Faktoren der sozialen Effizienz zu sein. Wir müssen annehmen, dass sich sowohl die Art und Weise, in der Menschen ihre Bedürfnisse und Kümmernisse zum Ausdruck bringen, als auch die Psychopathologie und die Art und Weise, in der sich Normalität darstellt, im Laufe der Zeit verändert haben. Im Fall der Selbstpathologie haben wir frühe negative Entwicklungen gesehen [vgl. Kap. 4], in denen die Entstehung eines robusten, kohäsiven und stabilen Selbst – als Produkt menschlicher Selbstreflexion – behindert oder verhindert worden ist.
Wie sehen die Entwicklungsbedingungen für den postmodernen Menschen aus? Er lebt in der Kleinfamilie mit Eltern, die nicht da und so gefangen von ihren eigenen Ambitionen sind, dass sie keine wirkliche Aufmerksamkeit für ihre Kinder aufbringen können und diese statt dessen mit ihren eigenen Sehnsüchten befrachten (Lasch 1978); er lebt unter dem überwältigenden Einfluss der Medien; der Schule, in der der Computer schon wartet, aber der Geschichtsunterricht auf gestern reduziert wird und die religiöse Erziehung auf Schlagwörter, die globale Verantwortung und die Menschenrechte betreffend. Globalisierung, Marktwirtschaft und Migration in immer größeren Dimensionen werden dafür sorgen, dass die letzten Erinnerungen an die Loyalität der Gruppe verschwinden, und werden es der Jugend von heute in keiner Weise leichter machen, in Erfahrung zu bringen, wer sie sind und zu wem sie gehören. Weltbürger zu sein bedeutet Nicht-Identität, mehr noch ein falsches Selbst, das uns von einer neuen öffentlichen Moral aufgezwungen wird: der Political Correctness, dem ethischen Arrangement der Mächtigen.
Wir sollten trotzdem nicht allzu niedergedrückt sein. Das postmoderne narzisstische Muster ist schnell zu einer Modeerscheinung geworden. Viele der pseudo-narzisstischen Abwehrbildungen gehen – speziell bei den Jugendlichen – nicht tief unter die Haut. Sie haben es sich in der Schule abgeguckt oder in der „peer-group“ oder im Fernsehen und werden es möglicherweise bald wieder verlernt haben.
Wenn wir das, was wir herausgearbeitet haben – die Selbstpathologie, die neuen Krankheiten, die veränderte Normalität, das Gewicht der Mächte, die die Standards definieren – ernst nehmen, dann stellt sich die postmoderne Abwehr als die grosse Herausforderung dieser Zeit für den Psychotherapeuten heraus."
Quelle: Swildens, Hans (2005). Selbstpathologie und der postmoderne Mensch. In: Psychotherapeut 50:115–121
TEIL V: Neurowissenschaften - Die 'Epistemologie der Wirklichkeit' und der Konstruktivismus
"Gerhard Roth, einer der ersten Neurobiologen, die sich schon seit Beginn am Diskurs des 'radikalen Konstruktivismus' [s.o.] beteiligt haben, obgleich er sich von dessen Hauptthesen abgrenzt [s.u.], hat sich explizit mit den erkenntnistheoretischen Konsequenzen seiner Forschung auseinandergesetzt. Erfahrungen der Neurobiologie sollen dazu beitragen, Motivationen und Anlässe menschlichen Handels zu erklären oder Gedankenkonstrukte - wie Einstellungen, oder auch Emotionen aufzuschlüsseln. Dabei versucht Roth das Individuum nicht auf ein rein biologisches Konstrukt zu reduzieren, in dem chemisch- physikalische Prozesse das Verhalten determinieren, sondern er steckt einen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Konstruktionen manifestieren können. Die spezifischen Ausprägungen, die diese durch Faktoren wie Gesellschaft, Erziehung, oder Sozialisation haben können, sind bis zu einem gewissen Grad integrierbar. Folglich erhebt sich das Postulat: Wahrnehmung dient nicht der Abbildung der Umwelt oder ihrer Erkenntnis, sondern der Orientierung in dieser" (Stachura 2010 S.27).
„Fühlen, Denken, Handeln - Wie das Gehirn unser Verhalten steuert“ - „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“
"In dem von Gerhard Roth entwickelten neurobiologischen Konstruktivismus wird das Gehirn und nicht das bewusste Ich, wie es subjektiv wahrgenommen wird, als Konstrukteur unserer Realität dargestellt [konstruktivistisch, aber nicht radikalkonstruktivistisch!]. Die meisten internen Verarbeitungsprozesse bleiben demnach unserem Bewusstsein verborgen. Vor- und Unbewusstes stellen die Grundlage von Denken und Handeln dar.
Die Idee, dass unsere Weltsicht nicht eine Abbildung der Realität, sondern explizit eine Konstruktion ist, zieht sich schon lange durch den Theoriestrang des Konstruktivismus. Im Konstruktivismus wird die Möglichkeit einer objektiven Wirklichkeit ausgeschlossen. Jede Sichtweise kann nur in Verbindung mit ihrem Beobachter entstehen und ist insofern subjektiv. Wahrheiten können in diesem Rahmen nur Korrelate von Intersubjektivität oder Objektivierung sein [vgl.hierzu die spannenden Experimente der sog. 'Story Dealer' in Kap.7].
Der Beginn der Ideengeschichte des Konstruktivismus wird unterschiedlich benannt, während einige ihn schon in Platons Höhlengleichnis 2 sehen [vgl.Kap.2], benennen andere Immanuel Kant als ersten Konstruktivisten.
Anhand der Grundideen des Konstruktivismus sowie der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit nach Berger und Luckmann [hierzu mehr im Soziologie-Kap.3], soll ein Zugang zum konstruktivistischen Gedankengut geschaffen werden, von dem aus die neurobiologischen Ergebnisse betrachtet werden können" (Stachura 2010 S.1-2).
5.2. Vom Radikalen Konstruktivismus zum Neurobiologischen Konstruktivismus
"Der Weg in Richtung neurobiologische Forschung führt über den radikalen Konstruktivismus, der die individuelle Wahrnehmungsverarbeitung, aus der die subjektive Weltsicht entsteht, in den Fokus der Forschung rückt.
(…) Während im sozialen Konstruktivismus die gesellschaftliche Konstruktion der Realität im Vordergrund steht, wird im neurobiologischen Konstruktivismus das Augenmerk auf die gehirnphysiologischen Vorgänge gerichtet, die auf individueller Ebene an dieser Realitätskonstruktion beteiligt sind.
Unser bewusstes Ich, auf welches sich unser Selbstverständnis gründet, stellt sich als eine Konstruktion des Gehirns heraus [kontrovers dazu Fuchs, Hasler, Petzold u.a.]. Das Gehirn besteht aus bewusstseinsfähigen und nicht bewusstseinsfähigen Arealen. Aufgrund neurobiologischer Forschungsergebnisse hält es der neurobiologische Konstruktivismus für evident, dass die unbewusste Sphäre einen viel größeren und wichtigeren Teil ausformt als das Bewusstsein. Das Gehirn konstruiert ein bewusstes Ich, um in der Komplexität eines sozialen Umfeldes handlungsfähig zu sein. So scheint es für das Individuum sinnvoller (sinnerkennender) zu sein, einen Sachverhalt in Bezug auf die eigenen Dispositionen zu konstruieren als ihn fotografisch genau abzubilden.
Grundlage der gesamten Theoriegeschichte des Konstruktivismus ist die Betrachtung von Wissensproduktion als einen konstruktiven Akt. Wissen wird nicht aufgenommen, sondern individuell durch die subjektive Wahrnehmung und deren Verarbeitung produziert. Aufgrund der von HirnforscherInnen zugrunde gelegten biologischen Dispositionen des Individuums werden die Konstruktionsleistungen des Gehirns wissenschaftlich belegt" (Stachura 2010 S.2-3).
Das Gehirn als Konstrukteur unserer Wirklichkeit - der Mensch als virtueller Akteur in seinem Lebensraum:
"Einige Annahmen des radikalen Konstruktivismus werden vom 'Neurobiologischen Konstruktivismus' übernommen und weiterentwickelt, wie das Prinzip der undifferenzierten Codierung von Reizen und dessen Konsequenz, der Erzeugung von Bedeutung im Gehirn, oder das Viabilitätsparadigma.
Obgleich Gerhard Roth zu Beginn des Diskurses des radikalen Konstruktivismus von verschiedenen Autoren aufgrund seiner neurobiologischen Ansätze als Radikaler Konstruktivist eingestuft wird, des weiteren Beiträge für radikalkonstruktivistische Werke (z.B. Schmidt (1987 Hrsg) verfasst hat, setzt er sich von dessen Hauptthesen ab, versteht sich aber nichtsdestoweniger als Konstruktivist (u.a. Roth 2003a 15ff).
In der neuen neurowissenschaftlichen Literatur ist die Konstruktivität des Gehirns fester Bestandteil.
Die Hauptthesen des neurobiologischen Konstruktivismus lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Das Gehirn und nicht unser bewusstes Ich ist Konstrukteur unserer Wirklichkeit.
2. Das Gehirn erschafft einen virtuellen Akteur, nämlich das Ich, um die Komplexität der Erlebniswelt zu erzeugen.
3. Der Mensch ist ein soziales Wesen aufgrund seiner biologischen Dispositionen, die Gesellschaft sein natürlicher Lebensraum" (Stachura 2010 S.32-33).
"Die Oberfläche ist alles: Nick Chater zufolge
besitzen wir Menschen weder innere Tiefe,
noch ein stabiles Selbst.
Sondern einen überaus erfindungsreichen Geist,
der spontan fortwährend neue Erklärungen imaginiert für das,
was in uns vorgeht"
5.3. Der Neurobiologische Konstruktivismus
Versuchen wir nun, das Gesagt noch etwas konkreter mit empirischen Befunden aus den Neurowissenschaften darzustellen. In einem Interview mit dem deutschen GEO-Magazin nimmt der Neurowissenschaftler Nick Chater (er ist Professor an der britischen Warwick Business School) folgendermassen zu zentralen Themen, v.a. der "Philosophie des Geistes" (s.u.) Stellung:
- Wahrnehmung:
"... dass das innere Bild, das wir uns von der Welt machen, lückenhaft und inkohärent ist. Wir können aus den Unmöglichen Figuren [s.Abb.rechts] drei Lehren ziehen:
I.) Erstens, dass unsere Intuitionen darüber, wie unser Geist funktioniert, grundlegend falsch sind. Wir haben den Eindruck, dass wir die äußere Welt im Inneren halbwegs korrekt
widerspiegeln; aber das ist offensichtlich nicht der Fall - sonst würden wir eine Unmögliche Figur sofort als unmöglich zurückweisen.
II.) Die zweite Lektion lautet: Wir nehmen alles nur punktuell wahr. Punktuell ist das Objekt "sinnvoll", aber eben nicht als Ganzes.
III.) Drittens belegen die Zeichnungen, wie unangebracht das Vertrauen in unsere eigene Wahrnehmung ist: Das Gehirn kann nicht anders, als immer wieder so zu tun, als sei
das Objekt stimmig, sogar noch, wenn es längst weiß, dass dieser Eindruck falsch ist" (Chater 2019 S.52-53).
- Die »grosse Innenwelt-Illusion«:
"Wir leben auch in einer Illusion über unser Selbst. Genauso wie wir in jedem Moment die äußere Welt aus wenigen Eindrücken höchst unzuverlässig zusammen basteln, so machen wir es auch mit unserem Innenleben. Auch unsere innere, mentale Welt, samt den Motiven, Glaubenssätzen und Werten, auf die wir so stolz sind, ist eine Erfindung" (Chater 2019 S.54).
- Post-hoc-Erklärungen:
"... wir haben ebenso wenig einen Zugang zu unseren mentalen Prozessen, wie die linke Hälfte in einem getrennten Gehirn Zugang hat zur rechten Hälfte. Die Funktionsweise unseres Hirns ist uns völlig verschlossen. Wir können nur beobachten, was wir tun, aber nicht, warum wir es tun. Wir betrachten uns selbst im Grunde so, wie wir andere Menschen betrachten. Wir machen etwas und fabulieren dann Erklärungen, warum wir es getan haben. Und wir wissen niemals, ob unsere Erklärungen etwas mit den tatsächlichen Prozessen in unserem Geist zu tun haben" (Chater 2019 S.55).
- das »interpretierende Selbst« als »Chaos-Pilot«:
" ... das Es, das Ich, das Ueber-Ich: Sie kämpfen um die Kontrolle und versuchen den Menschen zu steuern. Ich glaube, das ist ein unnötig kompliziertes Bild für das, was tatsächlich
in unserem Kopf passiert. Wir versuchen einfach nur halbwegs stimmig zu interpretieren, was vor unserer Nase passiert. Das ist alles. Unser Inneres liegt nicht in Form einer Geschichte vor, die immer wieder bestimmt, was wir tun, sondern wir erfinden unterschiedliche Geschichten, wann immer wir sie brauchen" (Chater 2019 S.58).
- Wir sind Produkte unserer Vergangenheit:
"Ich sage ja, dass wir Produkte unserer Vergangenheit sind. Alle spontanen Deutungen nehmen wir aus dem Fundus des in uns Gespeicherten, aus unserem Gedächtnis. Woher auch sonst? Aber wir fügen sie stets spontan zu erklärenden, oft widersprüchlichen Geschichten zusammen" (Chater 2019 S.58).
- QUALIA oder die »Faktizität der Gefühle«:
"Gefühle sind nicht einfach da. Wir müssen die unterschiedlichsten Signale erst zu einem plausiblen Ganzen zusammenfügen. Und dabei können wir uns auch vertun. (...) Aber wir sind so verdammt schnell im Deuten von Situationen, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, dass wir Erfinder sind. Emotionen fühlen sich an wie unumstößliche Fakten" (Chater 2019 S.60).
- Das traditionale "SELBST" aus dem Gedächtnis:
"Weil wir hauptsächlich Produkte unserer Vergangenheit sind, sollten wir uns vielleicht nicht als feste Selbste auffassen, sondern eher wie Traditionen. Diese sind halbwegs stabil, so wie kulinarische Traditionen, die chinesische oder die indische Küche beispielsweise. Sie sind nicht beliebig, sondern klar erkennbar und voneinander unterscheidbar.
Aber Traditionen sind vor allem konservativ, sonst hätten sie keine Dauer. Sind wir ebenfalls konservativ, damit wir gleichsam nicht auseinanderfallen?
(...) Es ist sehr schwierig, Traditionen radikal und von jetzt auf gleich zu verändern. Aber als langsamer und allmählicher Prozess ist es möglich. Genauso ist es uns auch möglich, uns
graduell zu verändern und neue Deutungen unseres Selbst auszuprobieren" (Chater 2019 S.60).
- Gesellschaftliche Implikationen - das inkonsistente, aber relationale Selbstkonzept:
"Wir können uns nicht finden, weil dort kein Selbst ist, das wir finden könnten:
Wenn es keine verborgene Essenz von mir gibt, die ich finden muss, um endlich ganz ich selbst zu sein, dann muss ich nicht erst einen harten Kampf führen, um mich kennenzulernen. Ich kann viel freundlicher mit mir sein. Ja, ich bin widersprüchlich, inkohärent und oft ein bisschen verpeilt. Na und? Es geht gar nicht anders. Und wir haben stets die Möglichkeit, Schritt für Schritt zu lernen, ein bisschen anders zu sein, ein bisschen mehr, wie wir sein wollen.
(...) Wir sollten toleranter sein für die eigenen Inkonsistenzen -und auch für die der anderen. Und verstehen, dass wir die anderen notwendig brauchen, um unsere eigenen Widersprüche aufzudecken. Die einzige Korrekturmöglichkeit, die uns zur Verfügung steht für unsere eigenen Verwirrtheiten, sind die verwirrten Gedanken der anderen. Wir sollten sie nicht geisseln, sondern ihnen dankbar sein" (Chater 2019 S.60).
Quellen:
- Chater, Nick (2019). "Wir können uns nicht finden. Weil in uns kein Selbst ist, das wir finden könnten". Interview: Christoph Kucklick. In: GEO 11/19
- Chater, Nick (2020). "The Mind is Flat". ..............
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»Unsere innere Welt, unsere Werte und Glaubenssätze sind Erfindungen« (Chater 2019)
"Gerhard Roth reiht sich in vielen Punkten in den Gedankenstrang des radikalen Konstruktivismus ein (s.o.): Er arbeitet mit dem Prinzip der undifferenzierten Codierung [Kap.1, Teil IV, 4.3.1.] und erachtet dieses als Grundlage der Leistung von Nervensystem und Gehirn (Roth 1997 S.232f). Darüber hinaus liefert er auch in seiner Beschreibung von individueller Wahrnehmung alle Aspekte von Viabilität (4.3.2.), obgleich er den Begriff nicht verwendet (Roth 1997 S.79f/85).
Auch der Terminus der Autopoiese (4.3.3.) taucht bei Roth auf: Er untersucht das Individuum als selbstherstellendes und selbsterhaltendes System (Roth 1997: 80). Jedoch sieht er Maturanas Definition von Autopoiese problematisch, denn das Attribut „selbsterhaltend“ treffe auch auf nichtlebende Systeme zu.
Roth und Maturana schließen im Konsens: Der Begriff der Autopoiese solle für biologische Systeme benutzt werden, während eine globale Beschreibung des Menschen auch seine Wahrnehmungen und Gedanken (das kognitive System) mit einbeziehen müsse. Diese unterliegen nicht den chemisch-physikalischen Massgaben des menschlichen Organismus, sondern folgen anderen Regeln: Sie müssen inhaltlich konsistent und kohärent sein, darum einen Sinn und eine Bedeutung haben. Wenn diese Aspekte berücksichtigt werden, kann der Mensch nicht als autopoietisch beschrieben werden, sondern als selbstreferentiell (Roth 1997: 282f.), (Maturana 2001: 103). Er nimmt, ob bewusst oder unbewusst, in allem Denken und Handeln Bezug auf sich selbst; auf seine Erfahrungen sowie zwangs läufig als lebender Organismus auf seine biologischen Dispositionen.
Nach genauer Analyse des neurobiologischen Konstruktivismus und der Veranschaulichung der grundsätzlichen Ueberlegungen, welche die gehirninternen Prozesse berücksichtigen, lässt sich folgendes zusammenfassen:
Das Gehirn konstruiert unsere Erlebniswelt aus für uns subjektiv/bewusst unzugänglichen Daten. Eine Theorie, die Aussagen über die menschliche Wahrnehmung und zugleich über deren Verarbeitung und des daraus resultierenden Selbstverständnisses macht, sollte aufgrund der Funktionsweise des Gehirns konstruktiv gefasst werden. Erfahrung und unbewusste Gedächtnisinhalte beeinflussen das menschliche Selbstverständnis mehr als es das Bewusstsein vermag. Dass Erfahrung und Erinnerung uns so maßgeblich prägen, zeigt den Menschen als soziales Wesen, welches sich nur in sozialer Interaktion zu einem eigenständigen Wesen mit einem individuellen Ich entwickeln kann. Unser subjektiv wahrgenommenes Ich erweist sich in dem von Roth entwickelten neurokonstruktivistischen Ansatz nur als kleiner Ausschnitt der gehirninternen Prozesse, es ist aber gleichzeitig das einzige, zu dem wir bewusst und phänomenal Zugang haben – das Zentrum der Wahrnehmung. Die unbewussten Prozesse schlagen sich in der Erfahrung nieder und bilden damit die soziale Seite des Individuums aus.
Prozesse des Denkens und Handelns lassen sich zwar in neurobiologischen Mechanismen beobachten, ihre Bedeutung bekommen sie aber nur in einem sozialen Kontext. Auch der Grund des Denkens und Handelns ist dort zu finden. Die von der Neurobiologie aufgezeigten Mechanismen können zu einem differenzierterem Verständnis des menschlichen Denkens und Handelns führen. Da der Mensch aber in seinem Denken und Handeln als Entität agiert, kann das Gehirn als Ursache nicht als abgespalten erachtet werden. Deshalb sollten die Ergebnisse in einen bio-psycho-sozialen Ansatz, (wie es Welzer, Markowitsch, Egger u.a., s.u., vorschlagen), integriert werden. Inwiefern die Neurobiologie in der Lage ist, das Selbstverständnis zu verändern, wird nachfolgend zusätzlich geklärt.
Am Ende dieses Kapitels, in dem ich so viel über die Mechanismen des menschlichen Denkens und Handelns eingebracht habe, fühle ich mich gleichwohl verpflichtet, folgendes festzuhalten: Soviel, wie uns die Neurobiologie zu diesen Phänomenen sagen kann: Die Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins sind nach wie vor begrenzt. Jegliche bisher angebotenen Erklärungsversuche sind nur als provisorisch zu betrachten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, mit unseren geistigen Fähigkeiten eine umfassende Erklärung des Phänomens Bewusstsein zu finden. Wir stehen vor dem Problem, dass sich Erklärung und zu Erklärendes aus der gleichen Quelle speisen. Die Ergebnisse der Neurobiologie führen zu mehr Fragen, als dass sie in der Lage ist, Antworten zu geben. Vermutlich liegt in diesem Aspekt die Brisanz der Forschungsergebnisse begründet" (Stachura 2010 S.115-117).
Neurokonstruktivismus
"Es scheint, als setze die Hirnforschung zu einem Großangriff auf die Seele und den Geist an. Diesen Eindruck muß man haben, wenn man Bücher von führenden Naturwissenschaftlern und Neurobiologen wie P. Changeux („Der neuronale Mensch“) oder F. Crick („Was die Seele wirklich ist“) zur Hand nimmt. Dies fügt sich ein in einen inzwischen auswuchernden neurobiologischen Reduktionismus, für den Begriffe wie Geist, Seele und Bewusstsein nur schlechte alltagssprachliche Umschreibungen für Phänomene sind, die man in neurobiologischen Termini exakt fassen und erklären kann. Freilich wenden diese Versprechen nicht eingelöst, und die Autoren bemühen sich meist gar nicht erst um eine befriedigende philosophisch-psychologische Definition der Begriffe „Seele“, „Geist“ und „Bewußtsein“. Ist damit der Angriff der Hirnforschung abgewehrt?
Sicher nicht. Mithilfe neuartiger Methoden, z.B. der sog. bildgebenden Verfahren, kann die moderne Hirnforschung Aussagen über die neuronalen Grundlagen mentaler und psychischer Prozesse machen, die vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten wurden. Hirnphysiologische Begleitzustände von Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Erwartung lassen sich identifizieren und innerhalb bestimmter Nachweisgrenzen im Gehirn lokalisieren. Auch bei psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, bei denen eine hirnorganische Ursache jahrzehntelang heftig bestritten wurde, lassen sich inzwischen bestimmte neuroanatomische und neurophysiologische Veränderungen im Gehirn der Patienten nachweisen. Vor diesen Erkenntnissen können Psychologie und Philosophie nicht mehr die Augen verschließen; die Vorstellung, man könne Psychisches und Geistiges unabhängig von Hirnprozessen abhandeln, gehört endgültig der Vergangenheit an. Auch die Erkenntnistheorie, das Heiligtum der Philosophie, ist zutiefst von den Einsichten, wie das Hirn seine Wahrnehmungswelt konstruiert, betroffen. Entsprechend wächst der Ruf und zuweilen auch die Bereitschaft zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen kognitiver Neurobiologie, Kognitionspsychologie und philosophischer Erkenntnistheorie" (Roth 1995 S.XI).
Quelle: Söling, Caspar (1995). Das Gehirn-Seele-Problem - Neurobiologie und theologische Anthropologie. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
"In dieser Welt, die ich in einem Aufsatz von 1985 »Wirklichkeit« genannt habe (Roth 1985), gibt es die drei genannten Bereiche:
die Welt der mentalen Zustände und des Ich, die Welt des Körpers und die Aussenwelt. Diese drei Bereiche sind Aufgliederungen der phänomenalen Welt, der Wirklichkeit. Dieser Wirklichkeit wird gedanklich eine transphänomenale Welt gegenübergestellt, die unerfahrbar ist und dementsprechend in der phänomenalen Welt nicht vorkommt.
Dies bedeutet, daß alle erlebten Vorgänge zwischen mir und meinem Körper, zwischen mir und der Aussenwelt, zwischen meinem Körper und der Außenwelt innerhalb der Wirklichkeit ablaufen. Wenn ich einen Gegenstand anfasse oder mit einer Personspreche, so fasse ich einen wirklichen Gegenstand an und spreche mit einer wirklichen Person. Die drei Wirklichkeitsbereiche stoßen direkt aneinander oder gehen direkt ineinander über. Deshalb sind mir meine Wahrnehmungen unmittelbar gegeben, mein Körper hat unmittelbaren Kontakt mit den Gegenständen der Welt. In dieser Erlebniswelt bewirkt auch mein Willensentschluß direkt meine Handlungen. Es gibt dabei keine vermittelnde Instanz in Form von Sinnesorganen oder eines Gehirns" (Roth 1996 S.316).
Wirklichkeitskriterien
"Wahrnehmungen von »tatsächlich Vorhandenem« sind wie wir alle aus Erfahrung wissen nicht immer verlässlich von Sinnestäuschungen, Halluzinationen, Tagträumen oder blossen Vorstellungen zu unterscheiden. William James hat sich in den »Principles of Psychology« diese Frage in der Form gestellt: »Unter welchen Bedingungen halten wir Dinge für wirklich?«
Inzwischen liegen viele psychologische Untersuchungen zu Wirklichkeitskriterien vor, die zeigen, dass wir bei der Frage nach Wirklichkeit oder Schein bzw. Wirklichkeit oder Täuschung eine Vielzahl von Kriterien meist unbewusst anwenden. Stadler&Kruse haben in einem Aufsatz von 1990 derartige Wirklichkeitskriterien zusammengetragen. Sie unterscheiden syntaktische, semantische und pragmatische Wirklichkeitskriterien [s.o.]. Den grundlegenden Eindruck von Wirklichkeit vermitteln die syntaktischen Kriterien, die mit den Sinnesempfindungen selbst zu tun haben. Danach werden Objekte um so eher als tatsächlich vorhanden angenommen, je heller sie gegenüber ihrer Umgebung sind, je kontrastreicher sie sich abheben, je schärfere Konturen sie aufweisen und je strukturell reichhaltiger sie sind (z.B. hinsichtlich der Oberfläche, der Farbe, der Gestalt).
Weiterhin werden dreidimensionale Objekte für wirklicher gehalten als flächige. Es fällt den meisten von uns ausserordentlich schwer, sich Dinge realistisch dreidimensional vorzustellen.
Ebenso gilt: Ein Objekt wird um so eher als real angesehen, wenn es durch mehr als nur ein Sinnessystem wahrgenommen wird (ich sehe gerade ein Auto und ich höre es), wenn es gegenüber einem Perspektivwechsel form und grössenkonstant bleibt, wenn es sich selbst bewegt und wenn es eindeutig im Raum lokalisierbar ist.
Das bedeutet: Je lebhafter eine Wahrnehmung ist, desto eher bin ich geneigt, das Wahrgenommene für real zu halten. Dies trifft für Träume ebenso zu wie für drogeninduzierte Halluzinationen. Umgekehrt gilt: Je blasser und undeutlicher eine Wahrnehmung, desto unwirklicher erscheint sie. Dies ist insbesondere für Geschehnisse an den Wahrnehmungsschwellen unserer Sinne der Fall: War da ein Schrei in der Ferne, oder habe ich mir das nur eingebildet? Hat sich im Dunkeln gerade etwas bewegt, oder unterliege ich einer Sinnestäuschung? Riecht es nicht irgendwie nach Brennendem, oder täusche ich mich? Dies sind Fragen, die wir uns im täglichen Leben häufig stellen müssen. »Reale« Wahrnehmung unterscheidet sich nicht in jedem Fall klar von Sinnestäuschung oder blosser Vorstellung" (Roth 1996 S.321-322).
"Ein besonders starkes pragmatisches Wirklichkeitskriterium ist die intersubjektive Bestätigung [Kriterium IV oben, Bsp.dazu in Kap.6]. Dinge und Geschehnisse, die von mehreren Personen berichtet oder bestätigt werden, gelten als realer als solche, die nur von einer Person berichtet werden.
Hierauf baut das Prinzip der Zeugenaussagen vor Gericht ebenso auf wie das Prinzip der intersubjektiven Ueberprüfbarkeit in der Wissenschaft. Aus gruppenpsychologischen Untersuchungen ist bekannt, daß eine Person, die normalerweise ihren Sinnen traut, unter starkem Druck der Gruppe (deren Mitglieder sich zum Beispiel »gegen« ein weiteres Mitglied verabredet haben) bereit ist, widersinnige Deutungen von Wahrnehmungserlebnissen zu akzeptieren (Asch 1955, Watzlawick 1976). Gruppen tendieren dazu, nicht nur einheitliche Ideologien zu entwickeln, sondern auch einheitliche Wahrnehmungen. Wir sehen im allgemeinen die Welt so, wie wir gelernt haben, wie sie sein soll.
Insgesamt können wir feststellen: Das Gehirn trifft die Unterscheidungen über den Wirklichkeitscharakter erlebter Zustände aufgrund bestimmter Kriterien, von denen keines völlig verlässlich arbeitet. Es tut dies in selbstreferentieller Weise; es hat nur seine eigenen Informationen einschließlich seines Vorwissens zur Verfügung und muß hieraus schließen, womit die Aktivitäten, die in ihm vorgehen, zu tun haben, was sie bedeuten und welche Handlungen es daraufhin in Gang setzen muß" (Roth 1996 S.323-324).
Die Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit - nach Gerhard Roth 1996 S.324ff
"Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale Welt, Bewußtseinswelt und bewußtseinsjenseitige Welt gelangt:
Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.
Sie ist damit Teil der Realität, und zwar derjenige Teil, in dem wir vorkommen. Dies ist eine höchst plausible Annahme, die wir allerdings innerhalb der Wirklichkeit treffen und die nicht als eine Aussage über die tatsächliche Beschaffenheit der Realität mißverstanden werden darf. Machen wir aber keine solche Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit, dann müssen wir entweder annehmen, daß es gar keine phänomenale Welt gibt, sondern nur Realität. Damit gibt es aber auch gar keine Wahrnehmung und kein wahrnehmendes Ich. Umgekehrt müßten wir die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Welt, der Realität, leugnen; dann aber wären wiederum alle Befunde über das Zustandekommen der »Welt im Kopf« völlig rätselhaft. Wenn ich als Hirnforscher den Zusammenhang zwischen Sinnesreizen, Hirnprozessen und bewußtem Erleben bzw. Handeln aufzeige, so müßte ich in diesem Fall einer außerordentlich merkwürdigen Täuschung unterliegen und mir überdies einbilden, es gäbe Kollegen, denen dies genauso ginge.
Mit der Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit lassen sich innerhalb der Wirklichkeit hingegen viele Dinge befriedigend erklären. Dann verschwindet das eingangs gestellte Problem, wie die wahrgenommenen Dinge »nach draußen« kommen. Sie werden vom Gehirn aufgrund interner Kriterien dem Bereich »Außenwelt« zugeordnet. Das Ich als anderer Teil der Wirklichkeit empfindet dann diese Dinge als außerhalb, aber dieses »außerhalb« existiert nur innerhalb der Wirklichkeit: Ich sehe wirkliche, nicht reale Gegenstände. Dies gilt auch für mein Handeln. Wenn ich nach etwas greife, so bewege ich meine wirkliche, nicht meine reale Hand, die nach einem wirklichen, nicht nach einem realen Gegenstand greift.
Die Wirklichkeit ist der Ort, in dem mein Willensakt etwas veranlaßt.
Dieser Willensakt verkörpert sich empfindungsgemäß darin, daß ich absichtsvoll etwas tue, zum Beispiel mit meiner Hand nach der Tasse greife. Meine Bewegung wird empfindungsmäßig direkt von dieser Absicht getrieben, es gibt kein Gehirn und kein Motorsystem dazwischen" (Roth 1996 S.325).
Wer bin ich (und wenn ja, wieviele)?
"(…) müssen wir zwischen einem realen Gehirn, welches die Wirklichkeit hervorbringt, und dem wirklichen Gehirn, unterscheiden. Daraus folgt: Dasjenige Gehirn, das mich hervorbringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. Daraus folgt zugleich: Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Konstrukte in der Wirklichkeit, ich selbst bin ein Konstrukt. Ich komme unabweisbar in dieser Wirklichkeit vor. Dies bedeutet, daß das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahrnehmungen und Handlungen erlebt, einen Körper besitzt und einer Aussenwelt gegenübersteht" (Roth 1996 S.329).
"Zwei Auffassungen stehen sich dabei gegenüber: Entweder ist wie bei Leibniz, Locke und Berkeley das Ich eine eigene Instanz, ein Wesen, das entweder mit Seele, Geist, Bewußtsem, Denken identisch gesetzt oder als Träger dieser Zustände angesehen wird. Für andere, wie Kant und insbesondere Hume, gibt es kein solches IchWesen. Für Hume ist in scharfer Ablehnung der Ideen von Descartes und Locke das Ich ein Bündel von Wahrnehmungen, Vorstellungen und Empfindungen, ein »Theater«, auf dem derartige geistige Phänomene kommen und gehen (eine Vorstellung, die der von mir oben präsentierten sehr nahekommt). Dabei ist auch das Ich nur eine Vorstellung (»idea«).
Dass das Ich in der Tat nicht ein einheitliches Wesen, sondern ein komplex zusammengesetztes Phänomen ist, welches die unterschiedlichsten »Dissoziationen« aufweisen kann, ist aus der Psychiatrie und Neuropsychologie seit langem bekannt (Kolb/Wishaw 1993)" (Roth 1996 S.329).
"Der Abschied vom Ich als Autor meiner Handlungen und die Feststellung »Ich bin ein Konstrukt« bzw. »das Ich ist ein Konstrukt« mögen sehr befremdlich klingen. Diese Feststellung mag uns »den Boden unter unseren Füßen wegziehen«, aber sie ist genauso zwingend wie alle anderen Feststellungen über die Konstruktivität der Wirklichkeit. Tröstlich ist, daß die Stabilität meiner Wirklichkeit durch derartige Einsichten nicht bedroht wird: Ich falle nicht wirklich ins Bodenlose, wenn ich erkenne, daß ich das Konstrukt eines mir unzugänglichen realen Gehirns bin" (Roth 1996 S.331).
"Hirnforschung vollzieht sich innerhalb der Wirklichkeit und kann nur wirkliche Gehirne untersuchen, niemals reale. Ist dann nicht alle Hirnforschung zwecklos? Haben wir es nicht dann wie Platon in seinem Höhlengleichnis meinte grundsätzlich mit den Schatten der Dinge zu tun, anstatt mit den Dingen selbst, und wäre dann nicht Wissenschaft nur Erkenntnis über die Schatten?
Nach Platon können wir die Welt der Schatten in der Höhle verlassen und unter Anleitung der Philosophie die Wesensschau betreiben und die Dinge begreifen, wie sie wahrhaft sind. Dies aber ist unmöglich. Die Wirklichkeit ist die einzige Welt, die uns zur Verfügung steht. Wir können bewußtseinsmäßig nicht aus ihr heraustreten. Was die Hirnforschung tut, ist das, was Wissenschaft als Teil der Wirklichkeit überhaupt tun kann, nämlich die Phänomene der Wirklichkeit untersuchen und sie so deuten, daß sie in der Wirklichkeit Sinn machen" (Roth 1996 S.333).
Kommunikation und Strukturalismus bzw. "Das Symbolische" aus neurobiologischer Sicht
"Diese Sprache enthält keine primären Bedeutungen, sondern jedes individuelle Gehirn muß sich selber Bedeutungen konstruieren. Die Konsequenzen dieses Umstandes erleben wir in jedem Augenblick, wenn wir mit anderen Menschen kommunizieren. Wir stellen fest, daß viele Worte und Sätze nicht selbstverständlich für jeden Menschen dieselbe Bedeutung haben. Wenn ich jemandem sage »Ich gehe jetzt zu meiner Bank«, so wird einiges an diesem Satz in seiner Bedeutung unproblematisch sein. Die Wörter »ich«, »gehe«, »zu« und »meiner« und ihre Bedeutungen sind durch jahrzehntelange Kommunikation jedem von uns geläufig; was ich aber mit »Bank« meine, muß sich aus dem Kontext ergeben sowie aus dem Vorwissen. Mein Kommunikationspartner muß dieses Vorwissen ebenfalls besitzen, um meinen Satz verstehen zu können.
Verstehen ist also möglich, wenn für einen bestimmten kommunikativen Kontext ein spezifischer konsensueller Bereich im Sinne von Maturana (1982) existiert, also ein Bereich, in dem Signalen durch individuelle Gehirne dieselbe Bedeutung zugeordnet wird. Verschiedene konsensuelle Bereiche können nebeneinander existieren, sie können jedoch auch eine geschachtelte Hierarchie bilden in dem Sinne, daß ein konsensueller Bereich den allgemeinen semantischen Kontext für speziellere konsensuelle Bereiche bildet. Wir könnten auch sagen, daß unterschiedliche konsensuelle Bereiche aufeinander aufbauen" (Roth 1996 S.334-335).
"Mit unserem Menschsein ist uns die wichtigste Basis für Kommunikation gegeben, nämlich die Sprachfähigkeit. Diese Sprachfähigkeit ist angeboren, ebenso das Lautrepertoire und die »sensible Phase«, in der je nach Sprachangebot eine Muttersprache erlernt wird. Verstehen im engeren Sinne hängt von spezifischeren konsensuellen Bereichen ab, nämlich von der Erziehung, die ich genossen und mit der ich mir Stücke von Weltbildern angeeignet habe, und schließlich von den individuellen Erfahrungen, die ich gemacht habe. In dem Maße, in dem ich diese immer spezifischer werdenden konsensuellen Bereiche mit anderen Menschen teile, verstehe ich mich mit ihnen, d.h. ich ordne bestimmten Signalen (meist Worte, aber auch Mimik und Gesten sowie Gebräuche) dieselben Bedeutungen zu.
Mißverstehen ist das Fehlen solcher gemeinsamer Bedeutungszuordnungen. Verstehen und Mißverstehen hängen also nur wenig von unserem guten Willen ab, sondern vor allem davon, wie viel oder wie wenig wir an gemeinsamem Vorwissen und gemeinsamer Vorerfahrung mitbringen. Verstehen stellt besondere Anforderungen, Mißverstehen nicht. Mißverstehen ist daher der Normalfall, Verstehen hingegen der Sonderfall" (Roth 1996 S.336) [vgl. hierzu auch Lacans 'Notwendigkeit des Verkennens' in Althans 2010].
"Nichtverstehen muß der Anlaß sein, um herauszufinden: Welche Vorerfahrung fehlt bei mir oder beim anderen? Welche für das Verstehen notwendige Bedeutungszuweisung ist falsch gelaufen? Wo ist etwas in einen falschen Kontext hineingeraten (»falsch« natürlich immer nur für mich). Der Prozeß, der nötig ist, um dies zu ergründen, ist wie bereits oben erwähnt selbstreferentiell, er ist derjenige des Testens und Erprobens, in dem ich Testsubjekt, Testobjekt und Schiedsrichter zugleich bin" (Roth 1996 S.338).
Erkenntnistheorie - Epistemologie aus neurobiologischer Sicht
Naiver Realismus:
"Der sogenannte 'naive Realist' (von dem immer behauptet wird, daß es ihn »eigentlich« nicht gibt) glaubt, daß die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen; unser »Wahrnehmungsapparat« bildet einfach ab und tut nichts hinzu. Hingegen stimmen alle kritischen Realisten darin überein, dass einiges in unserer Wahrnehmung objektiv gegeben ist, während anderes subjektive Beigabe ist. Ueber das Mischungsverhältnis ist man aber sehr unterschiedlicher Meinung. Der französische Philosoph Descartes glaubte ebenso wie sein englischer Kollege Locke, man könne zwischen primären und sekundären Qualitäten der wahrgenommenen Dinge unterscheiden; erstere seien objektiv gegeben, letztere hingegen subjektives Beiwerk. Für Descartes sind es zum Beispiel die geometrischen Eigenschaften der Dinge, die objektiv gegeben sind, denn sie sind »klar und deutlich« erkennbar. Bei Locke ist hingegen unklar, was er mit dieser Unterscheidung inhaltlich meint (von Kutschera 1982). Nach allem, was ich in diesem Buch an sinnes und neurophysiologischen Daten vorgelegt habe, ist eine Unterscheidung in »primäre« und »sekundäre« Qualitäten fragwürdig. Alles, was wir überhaupt bewußt wahrnehmen können, ist ein Konstrukt unseres Gehirns und keine unmittelbare Widerspiegelung der Realität, und dies gilt auch für scheinbar einfache Gegebenheiten wie den Ort, die Form, die Bewegung und die Farbe eines [visuellen] Objekts" (Roth 1996 S.342).
"Erkenntnisse und Sätze der Naturwissenschaften unterliegen als Teile der Wirklichkeit deren Erkenntnisbedingungen. Wie sicher und fest Aussagen der Naturwissenschaft auch erscheinen mögen, objektive Wahrheiten zu sein, können sie nicht beanspruchen, und die meisten erkenntniskritisch geschulten Naturwissenschaftler vertreten diese Meinung auch nicht. Was Naturwissenschaftler bestenfalls tun können, ist ein Gebäude von Aussagen zu errichten, das hinsichtlich der empirischen Daten und seiner logischen Struktur für eine bestimmte Zeitspanne ein Maximum an Konsistenz aufweist. Wenn ich mich als Konstruktivist innerhalb dieser Auffassung bewege, so verwickle ich mich bei der Anwendung empirischer naturwissenschaftlicher Forschungsresultate in keinerlei Selbstwiderspruch" (Roth 1996 S.350-351).
"Alle Messinstrumente setzen Theorien voraus, die sich bewährt haben müssen. Auch Beobachtungen setzen Vorerfahrung voraus, wie wir gesehen haben (zum Beispiel in Hinblick auf Gestaltwahrnehmung). Alles Wissen gründet sich, wie Wittgenstein sagt, letztlich auf Anerkennung von etwas Vorgegebenem.
Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften hat nicht nur gezeigt, daß objektive Erkenntnis unmöglich ist, sondern auch, daß sie nicht notwendig ist. Wenn es zwar keine allgemeinen Kriterien für objektives Wissen gibt, so können wir doch, wie von Kutschera (1982) sagt, eine immanente Erkenntniskritik betreiben (vgl.auch Schlosser 1993). Wir können zum Beispiel ohne Rückgriff auf »absolute« Wahrheiten prüfen, ob eine Theorie konsistenter ist als eine andere, und zwar sowohl in Hinblick auf Messungen und Beobachtungen, als auch in Hinblick auf interne Stimmigkeit (ob nicht in einem Satz das Gegenteil von dem behauptet wird, was ein anderer Satz sagt; ob die Schlußfolgerungen aus den Prämissen logisch korrekt sind). Dabei ist klar, daß auch ein Höchstmaß an interner Konsistenz und Kohärenz nichts über die objektiven Gegebenheiten aussagt" (Roth 1996 S.353).
"Naturgesetze werden mithilfe von Experimenten nachgewiesen, in denen zum Teil komplizierte Meßapparaturen zum Einsatz kommen, die jede für sich nur unter sehr begrenzten Bedingungen arbeiten und spezielle Theorien voraussetzen. Außerhalb dieser Voraussetzungen gibt es keine Naturgesetze. Physik ist wie jede Naturwissenschaft eine Beschreibung von Phänomenen der Wirklichkeit, die an die Bedingungen dieser Wirklichkeit gebunden ist und daher einen Teil von ihr bildet. Die Physik mag die beste, kritischste oder allgemeinste Beschreibung der Phänomene der Wirklichkeit sein, aber sie übersteigt die Wirklichkeit nicht.
Letztlich ist jedes Nachdenken über die objektive Realität, sei es wissenschaftlich oder nicht, an die Bedingungen menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns gebunden und muß sich darin bewähren. Deshalb sind die Konstrukte unseres Gehirns nicht willkürlich" (Roth 1996 S.362).
5.4. Neuro-Psychoanalyse:
Es ist klar, dass ein mehr als hundert Jahre altes Behandlungsverfahren der heutigen Zeit angepasst werden muss. Insbesondere die Nachweise der Wirksamkeit sind heute viel besser möglich als noch vor zehn Jahren und erst recht als zu Freuds Zeiten wo v.a. wegen mangelnder technischen Möglichkeiten noch keine (natur-)wissenschaftliche Ueberprüfung seiner genialen Konzepte möglich war - man beachte die Tatsache, dass Freud bereits im Jahre 1895 es aufgab, seine Befunde neurowissenschaftlich zu begründen weshalb sein Frühwerk .......... Stückwerk blieb.
Heute sind mit den bildgebenden Verfahren MRI, PET etc. moderne Möglichkeiten vorhanden, der Psychoanalyse ein (neuro-)biologisches Fundament zu verleihen. Dieses Fundament muss heutzutage biologisch sein, weil die Leitwissenschaft nicht mehr nur die Philosophie ist wie zu Freuds Zeiten, sondern die sog. 'Hirnforschung' bzw. korrekter die Neurowissenschaften und damit die Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften aufgeholt haben und sich spätestens seit den 1990er Jahrten gegenseitig befruchten, wie ich unten darlegen werde.
Mir persönlich und auch den meisten meiner tefenpsychologisch fundiert arbeitenden KollegInnen ist eine Integration beider Herangehensweisen wichtig, weil es nach wie vor Bereiche gibt, die sich m.E. einer objektivierbaren Naturwissenschaft entziehen (Stichwort: Qualia), vgl. auch meinen eigenen Aufsatz zur Metatheorie Frauchiger 1998.
Ein Zitat eines führenden Forschers dazu: "Hilfreich und überzeugend kommt immer mehr hinzu, dass Freuds Konzepte z.B. des Unbewussten, der Verdrängung, der Übertragung, des Widerstandes etc., neuerdings von unvermuteter Seite bestätigt werden: von der Neurologie und Neuropsychologie!" (...........).
Lange Zeit ließ sich das Theoriegebäude von Freud experimentell nicht stützen. Nun aber bestätigen neue Untersuchungen der 'Hirnforschung' viele seiner umstrittenen Thesen über das Unbewusste. Deshalb wollen in Zukunft Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker die letzten Rätsel der Psyche gemeinsam entschlüsseln.
Mark SOLMS: Neuropsychoanalyse
"Nachts offenbart sich unsere biologische, tierische Seite, die der kulturellen, sozialen unseres Geisteslebens gegenübersteht" (zitiert aus einem Spiegel-Interview mit Mark Solms)
Führender Kopf hinter diesen Integrationsbemühungen ist Prof. Mark Solms.
Seine Bewunderung für Freud geht über die der meisten anderen Psychoanalytiker hinaus, wie er selbst meint. Zwar stimme er keineswegs in allen Punkten mit dem Altmeister überein, betont er: "Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, Freuds großes Ziel weiterzuführen, nämlich das Seelenleben in die Naturwissenschaften zu integrieren".
Auch geht es ihm und seinen Kollegen keineswegs darum, zu beweisen, dass Freud Recht hatte. Vielmehr: "Freud hat versucht, eine Sprache und eine Methode für die Wissenschaft vom Innenleben zu finden. Er hat eine Art Basis-Topografie der Seele und ihrer grundlegenden Bestandteile geschaffen. Und wir bringen nun diese Arbeit zu Ende".
Auch Kritik an der Psychoanalyse, d.h. an den Fehlentwicklungen nach Freuds Tod 1939: Leider ist vieles vom aufrührerischen Geist, der Kulturtheorie, der Religionstheorie und vielen anderen unkonventionellen und mutigen Anätzen Freuds verloren gegangen im Versuch, die Psychoanalyse in den Mainstream des vom Behaviorismus und den Kognitionswissenschaften beherrschten "offiziellen" Kanons der von Kassen bezahlten Behandlungsmethoden zur¨ckzukehren. Diesen verlorengegangenen kritischen und nie mehrheitsfähigen Geist versuche ich (mit vielen anderen zusammen) wiederaufleben zu lassen in meiner täglichen psychotherapeutischen Praxis und auch mit Texten wie diesem.
5.6. Thomas METZINGER: "Ich bin der Inhalt eines transparenten Selbstmodells"
Philosophie des Geistes
"In der Philosophie des Geistes lassen sich vier Positionen über das Verhältnis von Bewusstsein und der physikalischen Basis finden:
- erstens eine dualistische Auffassung, die davon ausgeht, dass Bewusstsein und die physikalische Wirklichkeit zwei unterschiedliche Substanzen bezeichnen (ontologischer Dualismus)
- zweitens die Identitätstheorie, die behauptet, dass sich zwischen beiden keine Differenz ausmachen lasse (ontologischer Monismus).
- Drittens finden sich emergenztheoretische Auffassungen [übrigens auch unsere Position!], die davon ausgehen, dass zwar ein ontologischer Monismus vorliegt (Bewusstsein und physikalische Basis sind substantiell identisch), zugleich aber auch eine nichtreduzierbare Differenz zwischen den Eigenschaften, die sich am Bewusstsein beobachten lassen und solchen, die sich an der physikalischen Basis finden lassen (Eigenschaftsdualismus).
- Die vierte Position – die reduktionistische – geht wie die emergenztheoretische Position zwar davon aus, dass diese Eigenschaften sich unterscheiden lassen, zugleich aber davon, dass es möglich ist, die Eigenschaften des Bewusstseins explanativ oder theoretisch auf physikalische Eigenschaften zu reduzieren (Heintz 2004 S.4).
Quellen:
Greve, Jens (2015). Reduktiver Individualismus - Studien zum Weber-Paradigma. Wiesbaden: Springer.
Heintz, Bettina (2004). Emergenz und Reduktion - Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56 S.1-31.
Thomas METZINGER - Vom Ego-Tunnel zu den Selbstmodellen
„Eine der Kernaussagen (der Selbstmodell-Theorie) ist, dass es so etwas wie Selbste in der Welt nicht gibt: Selbste und Subjekte gehören nicht zu den irreduziblen Grundbestandteilen der Wirklichkeit. Was es gibt, ist das erlebte Ich-Gefühl und die verschiedenen, ständig wechselnden Inhalte unseres Selbstbewusstseins – das, was Philosophen das ‚phänomenale Selbst’ nennen. Dieses bewusste Erleben eines Selbst wird als Resultat von Informationsverarbeitungs- und Darstellungsvorgängen im zentralen Nervensystem analysiert.“ (Metzinger .........).
Ego-Tunnel: „Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat, eine innere Form des Gegebenseins, eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego. In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie ‚das’ Selbst nicht. Ein biologischer Organismus als solcher ist kein Selbst.“ (Metzinger 2014 S.25)
»Ich betrachte das menschliche Selbstmodell als eine bestimmte Datenstruktur, die das Gehirn von Zeit zu Zeit aktivieren kann, etwa wenn man morgens beim Aufwachen eine sensorische Wahrnehmung und sein motorisches Verhalten aufeinander abstimmen muß. Die Ego-Maschine schaltet einfach ihr phänomenales Selbst ein, und das ist der Moment, in dem man zu sich kommt.« (Metzinger in Blackmore 2007 S.215)
Metzinger-Transkript-Zitate aus der Deutschlandfunk-Sendereihe (Wildermuth 2014):
"Ich denke, dass es gerade im Moment eine sehr aufregende Phase ist, in der viele der ursprünglichen Einsichten, gerade von Kant, genauer und auf eine präzisere und auch empirisch fundierte Weise reformuliert werden."
"Philosophie und Hirnforschung sind sich einig: Die Wahrnehmung zeigt nicht die Welt, sondern ein Modell der Welt. Einen winzigen Ausschnitt, hochverarbeitet, zugerichtet nach den Bedürfnissen des Organismus. Selbst Raum und Zeit und auch Ursache und Wirkung werden aus dem Gehirn heraus erzeugt. Trotzdem gibt es natürlich eine Realität. Sie lässt sich nicht direkt erfahren, aber sie lässt sich einkreisen."
"Weil wir aber solche Wesen, sind, die dieses Modell nicht als ein Modell erleben können, haben wir dieses ganz robuste Empfinden, direkt mit der Wirklichkeit in Kontakt zu sein."
"In der Welt gibt es keine Farben. Es gibt nur verschiedene Wellenlängen-Mischungen vor unseren Augen. Farbig sind die Modelle von Gegenständen, die in unserem Gehirn erzeugt werden, in unserem Bewusstsein auftauchen." (Metzinger in Wildermuth 2014)
"Das heisst, das, was wir erleben, bewusst, ist ein ganz, ganz kleiner Ausschnitt einer viel reichhaltigeren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt. Keiner von uns erlebt zum Beispiel radioaktive Strahlung oder die kosmische Strahlung, die gerade durch unseren Körper hindurchrast. Es gibt sehr viele Wellenlängen oder andere physikalische Eigenschaften, für die wir völlig blind sind." (Metzinger in Wildermuth 2014)
"Man muss einfach sehen, dass wir alle mit unseren geistigen und bewussten Eigenschaften aus einer langen evolutionären Geschichte stammen. Das heisst, die Sinneswahrnehmungen die wir heute haben, die Form von Gedächtnis, die wir haben, die Farberlebnisse, bei denen ging es nicht darum, dass sie die Wirklichkeit akkurat darstellen, sondern es ging darum, die inklusive Fitness der Lebewesen zu erhöhen, den Fortpflanzungserfolg." (Metzinger in Wildermuth 2014)
zu KANT: "Ich denke, dass es gerade im Moment eine sehr aufregende Phase ist, in der viele der ursprünglichen Einsichten, gerade von Kant, genauer und auf eine präzisere und auch empirisch fundierte Weise reformuliert werden." (Metzinger in Wildermuth 2014).
"Denn es ist gewiss kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals erschöpft, wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn, oder etwas noch Einfacheres wäre" (Immanuel Kant 'Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik' 1766).
"Der Tintenfisch an sich, ihn kann er nicht erkennen" widerspricht Immanuel Kant energisch. "Der Geist formt die Sinneseindrücke nach seinen eigenen Gesetzen, ordnet sie in Raum und Zeit, schliesst auf Ursache und Wirkung. Wie die Welt, wie der Tintenfisch wirklich ist, darüber könne man nur spekulieren und solle besser schweigen" (zit.n.Wildermuth 2014).
Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht und brauch es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann (Kant).
Hilary Putnam und Niels Birbaumer - Gehirn im Tank
Das Coming-out des Locked-in: Wie das Gehirn den Sprachlosen Gehör verschafft
Kaum etwas überfordert unsere Vorstellungskraft mehr als das Schicksal eines Locked-in-Patienten, dessen Gehirn auf aberwitzige Weise abgekoppelt ist vom übrigen Körper, weil kein Nervensignal mehr zu seinen Muskeln durchdringt. Das verdammt ihn zu absoluter Bewegungslosigkeit, die nicht nur bedeutet, dass er nicht mehr laufen, greifen, essen, trinken und aufs Klo gehen kann. Sie bedeutet auch das Versiegen sämtlicher Kommunikation. Denn Sprechen, Mimik und Gestik, all das funktioniert ohne Muskeln nicht mehr. Ein kompletter Locked-in-Patient kann nicht einmal die Augen bewegen, um sich mit seiner Umwelt zu verständigen. Was bleibt dann eigentlich noch?
Der Schweizer Philosoph Ludwig Hohl lebte viele Jahre seines Lebens in einem dunklen Kellerloch, unverstanden und manchmal sogar unbemerkt von seiner Umwelt. Das ist noch ziemlich weit weg vom Locked-in, aber es brachte dem isolierten Dichter bereits die Erkenntnis: »Ist die Kommunikationsfähigkeit vorbei, so ist auch das Leben vorbei«. Und das trifft wohl auf den Punkt, den viele von uns mit dem Zustand der absoluten Kommunikationsunfähigkeit verbinden: dass nämlich einfach Schluss ist. Aus und vorbei!
Denn wir sind ja keine Bäume oder Gräser. Wir sind Wesen mit einem hohen Mitteilungsbedürfnis, wir wollen reden oder uns auf andere Weise austauschen, wir wollen uns offenbaren, dem anderen zeigen, dass wir sind, wer wir sind. Doch all das verschwindet, wenn wir eingekerkert sind in einem Körper, der komplett gelähmt ist. Was soll also ein Locked-in-Zustand anderes sein als eine Art Tod im Diesseits, zu dessen Komplettierung im Jenseits nur noch fehlt, dass man die lebenserhaltenden Maschinen abstellt?
Gibt es ein sinnvolles Leben in der Sinnlosigkeit?
Tatsächlich ist Locked-in keineswegs eine Art diesseitiger Abschied vom Leben. Man muss sich allerdings zum Verständnis dessen in die Situation des Betroffenen hineinversetzen, das Unvorstellbare vorstellbar machen. Dazu gehört, sich von Vorurteilen über den Beginn dieses Zustandes zu befreien. Wie etwa, dass Locked-in plötzlich einsetzt. Denn Tatsache ist, dass es sich meistens einschleicht, am Anfang erst unerkannt, später dann offensichtlich werdend und sich unwiderruflich steigernd. Es sind weniger spontane Schlaganfälle, die zur Komplettlähmung führen, als vielmehr solche Krankheiten, die sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte entwickeln, wie etwa Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Multiple Sklerose (MS) und Parkinson. Was einerseits bedeutet, dass sich das Grauenvolle langsam steigert und die Hoffnungen auf Besserung immer wieder vom zunehmenden Verfall des Körpers geschluckt werden, andererseits aber auch, dass man sich daran gewöhnen kann. Klar, es ist das Gewöhnen an eine Katastrophe, aber eben doch etwas anderes, als wenn man von ihr ohne Ankündigung überrollt wird.
Wenn dann sämtliche Muskelaktionen erloschen sind, liegt man bewegungslos im Bett, wird künstlich beatmet und durch eine Magensonde ernährt. Die Schleimhäute trocknen aus, wenn sie nicht künstlich befeuchtet werden. Die Augen sind geschlossen, und wenn jemand sie öffnet, sieht man allenfalls Schemen, weil die Hornhaut im Laufe der Jahre ausgetrocknet ist. Der Tastsinn ist ähnlich verkümmert, weil man lange Zeit nichts mehr gegriffen und immer in gleicher Position gelegen hat. Dadurch verliert der Locked-in-Patient, im wahrsten Sinne, den hautengen Kontakt zur Welt. Oft spürt er kaum noch Berührungen. Aber immerhin verschwindet damit häufig auch der Schmerz.
Dafür bleiben die Ohren offen, der Locked-in-Patient hört noch. Er kriegt also auch mit, wenn Aerzte und Verwandte leichtfertig, weil sie den Patienten mit den geschlossenen Augen für einen bewusstlosen Dauerschläfer halten, über das Abstellen der lebenserhaltenden Maschinen debattieren. Laut Erhebungen meines Mitarbeiters Boris Kotchoubey handelt es sich bei jedem dritten angeblichen Wachkoma-Patienten – der aufgrund einer massiv geschädigten Großhirnrinde ohne bewusste Wahrnehmung ist – in Wahrheit um jemanden, der zwar im Locked-in gefangen, dessen Großhirnrinde aber annähernd oder sogar voll funktions- und aufnahmefähig ist. Kotchoubey hat mehr als hundert Patienten in Deutschland untersucht, und unsere Kooperationspartner in Belgien kommen in einer Studie an ebenfalls hundert Patienten zu einem ähnlichen Ergebnis. Man muss also davon ausgehen, dass allein in Deutschland etwa 3000 Menschen regungslos in einem Krankenhausbett liegen, die trotz ihrer bewussten Wahrnehmungsfähigkeit so behandelt werden, als würden sie nichts mitbekommen! Stattdessen dürfen sich nicht wenige von ihnen anhören, wie man darüber spricht, die lebenserhaltenden Maßnahmen für sie abzustellen. Ein Szenario, das sich Franz Kafka nicht beklemmender hätte ausdenken können (Birbaumer 2014 S.59-62
"Die zeitgenössische Begeisterung für das Vordringen des Menschen in künstliche virtuelle Welten übersieht, dass wir uns immer schon in einem biologisch erzeugten 'Phenospace' befinden: innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität" (Thomas Metzinger 'Subjekt und Selbstmodell' Paderborn 1999 S.243).
"Die Doppelstruktur, dass das ontisch-reale Gehirn zwei sich widersprechende Konstrukte generiert, ein alltagswirkliches und ein naturwissenschaftliches, erkannten wir bereits (...). Einerseits konstruiert das ontisch-reale Gehirn aufgrund eines bestimmten (mir unzugänglichen) Reizes aus der ontischen Realität die Farbwahrnehmung 'Rot', andererseits entwirft es das naturwissenschaftliche Bild, dass dieser Umweltreiz farblos ist und lediglich aus einer bestimmten (mir zugänglichen, in Nanometern bezifferbaren Frequenz) elektromagnetischer Wellen besteht. 'Rot' verhält sich zu "eine elektromagnetische Wellenfrequenz um 700 Nanometer reizt den (wirklichen) visuellen Apparat 'Rot' wahrzunehmen", wie "Mein Ich ist Autor des motorischen Tuns" sich verhält zu "Ein 'readiness potential' des wirklichen Gehirns setzt mein Tun in Gang". Je widerspricht das eine Bildkonstrukt dem anderen." (Peter Lampe 'Die Wirklichkeit als Bild' 2006 S.59).
Eine naturalistische Gegenposition von Thomas Fuchs: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan
--> Quantenphysik als Beleg einer Vermittlung von REAL und Wirklich (symbolisiert/mentalisiert)
--> mit der Neurobiologie gegen die Neurobiologie ! (Ansatz von Gerhard Roth, wo die Psychologie durch die Hintertür wieder reinkommt quasi...)
--> Neurokonstruktivistisches Embodiment: gerade WEIL das Gehirn ein "Gestell" (im Sinne Heideggers) über die Realität legt, wird soziale und leibliche Wirklichkeit zwischen den Menschen geschaffen, sind Synchronisationsprozesse möglich, ein Flow, ein Atunement etc. - durch naturalistisch-automatisches Schwarmverhalten ohne Koordination im Gehirn wäre nichts gewonnen... ich sehe die Kritik von Th. Fuchs et al. nicht ein ...
Der Psychiater Thomas Fuchs vertritt eine auf den ersten Blick sympathische weil relationale Sicht der Erkenntnis. Seine Epistemologie, wie auch die seines Kollegen Tschacher, ist stark von der 'Embodiment'-These (vgl. Kap.8) geleitet, vermengt aber m.E. Realität mit Wirklichkeit, wodurch kein Konstruktivismus mehr möglich ist sondern eine krampfhaft naturalistische Monismus-Position beibehalten wird, obwohl die auch von uns favorisierte Unterscheidung in Hardware (Körper) und Software (Geist) logischer wäre.
Weil dies aber eine recht populäre und bis auf Aristoteles (später u.a. Newton und Descartes) zurückreichende Erkenntnistheorie darstellt, zitiere ich diesen salopp gesagt "Atome (Realität) mit Wahrnehmung (Wirklichkeit)" gekoppelten Ansatz mit einem längeren Zitat:
„Die alltäglich erlebte und vertraute Welt, in der wir gemeinsam leben, bleibt unsere primäre und eigentliche Wirklichkeit. Sie ist nicht das bloße Produkt einer anderen nur wissenschaftlich erkennbaren Realität, kein Scheinbild oder Konstrukt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis (...). Unter dieser Voraussetzung müssen wir (…) auch das Gehirn ganz neu betrachten. Es bringt unsere Welt nicht wie ein geheimer Schöpfer hervor, es hat auch uns selbst weder erschaffen noch dirigiert es uns aus dem Verborgenen wie Marionetten. Das Subjekt ist in ihm gar nicht zu finden. Das Gehirn ist vielmehr das Organ, das unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst vermittelt. Es ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Das Gehirn für sich wäre nur ein totes Organ. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen. (…) Es zeigt sich als Beziehungsorgan." (Fuchs, Thomas (2007). Das Gehirn - ein Beziehungsorgan S.21)
Als zweites Beispiel einer Kombination von Neurologie und Psychologie bzw. Philosophie, möchte ich den Mediziner Thomas Fuchs erwähnen, welcher in unserem oben bereits kurz skizzierten 2-Achsen-Modell die relationale, also waagrechte Ebene, einer vertikalen Strukturperspektive (wie sie z.B. auch Solms oben vertritt), vorzieht, was gemäss Fuchs aus dem Gehirn als feste Struktur ein "Beziehungsorgan in einem Kontext" macht:
Fuchs entwickelt eine phänomenologisch-ökologische Perspektive, die sich an lebensphilosophischen, gestalttheoretischen und phänomenologischen Ueberlegungen orientiert. Die Prozesse im Gehirn können nicht isoliert verstanden werden, sondern müssen im Zusammenspiel des Organismus mit seiner Umwelt – sei es auf materieller, biologischer Ebene oder auf der Ebene bewussten Wahrnehmens – verstanden werden, will man dem Anspruch gerecht werden, ein umfassendes Bild des Menschen zu zeichnen.
Das Gehirn wird als Beziehungsorgan klassifiziert, das im Laufe der menschlichen Entwicklung und der damit verbundenen evolutionären Ausdifferenzierung dem 'homo faber' ein immer größeres Maß an Beziehungen mit der Umwelt ermöglicht hat. Es wird so zum Organ der Freiheit schlechthin, insofern es den Menschen aus dem Reiz-Reaktions-Kreislauf herauslöste. Fuchs argumentiert für diese klassisch lebensphilosophische These, unter zuhilfenahme neurowissenschaftlicher Forschung und der bereits erwähnten philosophischen Positionen.
Fuchs Hauptzeugen sind v.a. Plessner (vermittelte Unmittelbarkeit/exzentrische Positionalität), Ehrenfels (lebendige Kausalität) und Merleau-Ponty (être-au-monde), mit denen er die Eingebundenheit der Person (und seines Gehirns) in eine lebensweltliche Umwelt aufzeigt.
Fuchs Projekt ist aber kein Gegenprogramm zur Neurowissenschaft oder gar verkürzte Wissenschaftskritik, sondern der Versuch der Rückführung wissenschaftlicher Forschung in lebensweltliche Praxis. Sein Anspruch ist dabei nicht weniger als eine angemessene Annäherung an das Phänomen des Lebendigen. Die Rolle des Gehirns wird hierbei von den Neurowissenschaften und den sogenannten 'Life sciences', so Fuchs, überstrapaziert, kann doch das Leben nur als intentionale Bezugnahme auf etwas verstanden werden. Diese Perspektive gehe der neurowissenschaftliche Forschung ab, lautet Fuchs’ Diagnose: "Der Mensch, nicht das Gehirn, ist zur Welt". Das Gehirn bezieht sich auf nichts, es ist nur ein Teil des Gesamtorganismus Mensch.
Quellen:
Fuchs, Thomas (2007). Das Gehirn - ein Beziehungsorgan: eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart: Kohlhammer.
Schick, Johannes (2007). Rezension zu Fuchs, Thomas: Das Gehirn - ein Beziehungsorgan - eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart: Kohlhammer.
....................
Quelle:
http://alltagundphilosophie.com/2009/05/31/thomas-fuchs-kritik-an-bestimmten-vertretern-der-gehirnforschung-und-sein-eigener-entwurf/
Weiterführende Literatur und Quellenangaben:
Birbaumer, Niels (2014). Dein Gehirn weiss mehr als du denkst. Berlin: Ullstein.
Blackmore, Susan (2007). Gespräche über Bewußtsein. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Kant, Immanuel (1787 2teAufl.). Kritik der reinen Vernunft.
Metzinger, Thomas (2003). Being No One - The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, MA: MIT Press.
Metzinger, Thomas (2007 Hrsg.). Grundkurs Philosophie des Geistes, 3 Bände, Band 2, Münster: mentis.
Metzinger, Thomas (2009 Hrsg.). Grundkurs Philosophie des Geistes, 3 Bände, Band 1, Münster: mentis.
Metzinger, Thomas (2014, 2te erw.Ausg.). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. München: Piper (1.Ausg.: Berliner Taschenbuch Verlag).
Wildermuth, Volkart (2014). »Die Welt, wie sie scheint«. In: Sendereihe Philosophie im Hirnscan, 29.5.14
http://www.deutschlandfunk.de/sendereihe-philosophie-im-hirnscan-manuskript-die-welt-wie.740.de.html?dram:article_id=287724
5.7. Bewusstsein - Gehirn - Problem: EMERGENZ - Monismus
"Bezüglich geistiger Phänomene einerseits und körperlicher Phänomene andererseits postuliert die Theorie der Materie-Geist-Einheit – unter Zugrundelegung der Allgemeinen Systemtheorie –, dass mentale Phänomene (wie der Gedanke) relativ zum Nervensystem emergent sind, d.h. sie sind zwar bestimmt durch und auch erzeugt von physiologischen und physiko-chemischen Ereignissen, sie sind aber charakterisiert durch emergente (neue, hierarchisch komplexere) Eigenschaften, welche unterscheidbar sind von neurobiologischen Eigenschaften und welche auch nicht reduzierbar sind auf neurophysiologische Gegebenheiten (Egger 2000/2009a)" (Egger 2017 S.22).
"Die EmergenzvorsteUung wurde im 19. Jahrhundert entwickelt, um einen Mittelweg zwischen dem Mechanismus, der aUes Sein auf die Mechanik zurückführen möchte, und dem Vitaksmus, der von der Existenz eines irrreduziblen nicht-physischen (d.h. übernatürlichen) Faktors zur Erklärung des Lebens ausging, einschlagen zu können (Abb.XY). Es sollte einerseits die Reduktion auf die Mechanik und andererseits die Annahme eines übernatürlichen Faktors vermieden werden (Becker 2009 S.77)".
Die starke Form von Emergenz wird definiert durch eine Reihe von Eigenschaften:
"1. Naturalismus: Alles in der Welt ist auf natürlichem Weg entstanden. Auch der Geist ist natürlich und damit im Rahmen von Anfang an geltender Naturgesetze hevorgegangen.
2. Systemische Eigenschaften: Ein Gesamtsystem besitzt Eigenschaften, die die Einzelkomponenten nicht kennen. Das Bewusstsein entsteht auf der Makroebene des Gehirns, nicht auf der Mikroebene des Neurons.
3. Synchrone Determiniertheit: Eine Veränderung auf der Mikroebene bewirkt eine Veränderung auf der Makroebene. Neuronale Unterschiede machen sich im Bewusstsein bemerkbar.
4. Neuartigkeit: Die Evolution bewirkt, dass neuartige Eigenschaften auftreten. Die Eigenschaften des Bewusstseins sind im Vergleich zu allem, was vorher existierte, neu. Allerdings erscheinen sie nur einem externen Beobachter als neu. Sie waren schon immer in den Gesetzmäßigkeiten der Natur angelegt, kamen aber bisher nicht zum Tragen, weil keine vergleichbare Situation aufgetreten ist.
5. Hierarchie der Existenzstufen: Die Neuartigkeit wird insbesondere durch den Zugewinn an Komplexität erreicht. Neue Eigenschaften entstehen vor allem deshalb, weil das zu Grunde liegende System eine bisher unerreichte Form angenommen hat, die sich in der Regel auch in einem höheren Komplexitätsgrad zeigt.
6. Diachrone Determiniertheit: Die Herausbildung neuer Existenzweisen geschieht nach festen Regeln. Das Bewusstsein müsste entstehen, als ein entsprechend gebautes Gehirn vorlag. Es kann kein Mensch mit einem funktionierenden Gehirn, aber ohne Bewusstsein geboren werden.
7. Irreduzibilität: Eine emergente Eigenschaft ist nicht nur neu, sie kann auch nicht auf ihre Basis reduziert werden. Damit sie auftreten kann, greifen Gesetzmäßigkeiten, die vorher nicht beobachtbar waren. Bevor die Evolution Emergenz ausreichend komplexe Gehirne entwickelt hat, gab es kein Bewusstsein. (...)
8. Unvorhersagbarkeit: Emergente Eigenschaften können nicht vorhergesagt werden, weü sie neu sind und vorher nicht beobachtet werden konnten.
9. Verursachung nach unten: Emergente Eigenschaften beeinflussen die Basis, aus der sie hervorgehen. Das Bewusstsein ist kein wirkungsloses Epiphänomen, kein unnützes Abfallprodukt der Evolution. Es hat einen Sinn, weil es eine kausale RoUe einnimmt. Dies impüziert, dass das Bewusstsein auf die neuronale Mikroebene einwirkt.
Der US-amerikanische Theologe Philip Clayton (geb. 1956) definiert Emergenz kurz als die „theory that cosmic evolution repeatedly includes unpredictable, irreducible, and novel appearances" (Clayton 2004 S.39). Er benutzt zudem für Emergenz die Umschreibung „more than but not altogether other than" (ebd.). Die letzte Formel verweist auf ein in der Philosophie verbreitetes Phänomen: Mit „Aehnlichkeit bei gleichzeitiger Unähnlichkeit" wird der Begriff der Analogie übersetzt. Emergenz meint aber nicht Analogie. Es geht nicht nur um ein „anders als", sondern, wie Clayton schreibt, um ein „mehr als". Das Bewusstsein besteht nicht nur aus seiner physischen Basis. Auf diese ist es zwar zwingend angewiesen und kann sich nicht von ihr abkoppeln, aber es übersteigt sie.
Bewusstsein bedeutet mehr als Gehirn. Es kommen, neue, zusätzliche Eigenschaften dazu: etwa die Intentionalität, Qualia und der (…) freie Wille (...).
Clayton behauptet, dass Emergenz innerhalb der Evolution nicht nur einmalig beim Gehirn, sondern wiederholt auftritt. Die Nähe von Evolution und Emergenz ist nicht zu bestreiten, es ist auch kein Zufall, dass das Emergenzkonzept kurz nach der Evolutionstheorie entwickelt worden ist und als einen Gegner den Vitalismus anvisierte, der das (menschliche) Leben nur durch einen übernatürlichen Wirkmechanismus für möglich hält. Bemerkenswert ist allerdings, dass Emergenz heute eher von den Naturwissenschaften abgelehnt und von der Theologie positiv aufgenommen wird. Hier scheint in beiden Disziplinen ein Kurswechsel stattgefunden zu haben (Becker 2009 S.220-222)".
Clayton nennt eine Reihe von Beispielen:
"Er beginnt auf einer tiefen Ebene, der Physik. Die Leitfähigkeit eines Materials lässt sich nicht anhand der Analyse einzelner Elektronen bestimmen, dazu muss das komplexe Gesamtsystem mit einer grossen Anzahl von Elektronen betrachtet werden. Ein weiteres Beispiel sind Schneeflocken, die eine Form von Selbstorganisation kennen, die nicht aus den kleinsten Bestandteilen heraus erklärt werden kann. Die Existenz von Zeit kann als emergente Eigenschaft der Quantenebene angesehen werden.
Auch das Pauli-Prinzip, nach dem maximal zwei Elektronen eine Bahn um ein Atom einnehmen können, kann nicht aus den betreffenden Bestandteilen erklärt werden. Damit zeigt Clayton eine unüberbrückbare Kluft zwischen Chemie und Physik auf, da dieses Prinzip die Grundlage für das Elementensystem und damit für die Chemie darstellt, ohne von der Physik erklärt werden zu können.
Alle diese Beispiele beinhalten, dass ein Gesamtsystem einer neuen Gesetzlichkeit unterliegt, die aus den Einzelbestandteilen nicht erklärt werden kann. Die Bedingungen von Emergenz sind erfüllt — es ist eine unvorhersehbare, irreduzible Eigenschaft am Werk, die Einfluss auf die niedrigere Ebene ausübt. Die Selbstorganisation der Schneeflocke zum Beispiel hat Einfluss auf die einzelnen Bestandteile von ihr, ohne dass sie aus diesen erklärt werden könnte (...).
Eine weitere, wichtige Ebene von Emergenz untersucht Clayton in der Biochemie: Er fragt sich, wie dort aus chaotischen Zuständen Ordnung entstehen kann. Dieser Vorgang wird im Allgemeinen als Selbstorganisation bezeichnet. Clayton kann sich hier auf Untersuchungen etwa von Ilya Prigogine stützen der bei bestimmten chemischen Prozessen feststellt: „The System behaves as a whole, as if it were the site of long-range forces. [...] The System is structured as though each molecule were ,informed' about the overaü State of the System" (Prigogine 1984 S.171).
Clayton sieht bei derartigen chemischen Prozessen "downward causation" (Clayton 2004 S.75) am Werk. Damit sich ein geordneter Prozess bilden kann, müssen die einzelnen Moleküle (die untere Ebene) vom Gesamtsystem (der oberen Ebene) kausal beeinflusst werden, da die einzelnen Moleküle sich in einen Gesamtplan einfügen, den sie nicht alleine erfinden können, sondern der ihnen vom Gesamtsystem vorgegeben sein muss. Clayton sieht Selbstorganisation und starke Emergenz auch in zahlreichen weiteren Prozessen am Werk, etwa bei der Entstehung von Leben (...).
Clayton wirft den Naturwissenschaften nichts weniger als Blindheit vor, wenn sie ausschliesslich reduktionistisch denken und lediglich eine Form von Aufwärts-Verursachung gelten lassen. Für Clayton ist offensichthch, dass in der Natur Abwärts-Verursachung ebenso ihren Platz besitzt. Daraus folgt für ihn, dass auch beim Bewusstsein angenommen werden darf, dass hier eine Abwärts-Verursachung vorliegt, dass also nicht nur das Gehirn das Bewusstsein beeinflusst, sondern auch umgekehrt das Bewusstsein das Gehirn. Der entscheidende Vorteil von Emergenz liegt darin, dass sie den goldenen Mittelweg zwischen dem radikalen Dualismus Descartes' und dem radikalen Monismus des Naturalismus darstelle. Emergenz könne - und hier stimme ich Clayton uneingeschränkt zu -
ein ganzheithehes Bild ermögkehen, in dem Physisches und Mentales ihren Platz haben, in dem ein evolutiver Entwicklungsstrang vorliege, dem beide Seiten unterliegen, und in dem Mentales und Physisches einer ganzheitlichen, natürlichen Gesetzmässigkeit unterliegen (Becker 2009 S.227-230)".
Meine persönliche Position ist ein 'Neutraler Monismus', in dem die 'Entstehung des Bewusstseins mittels starker Emergenz' geschieht.
"Starke Emergenz meint das Hervorbringen von Eigenschaften, die nicht aus ihren Bestandteilen erklärt und daher auch nicht auf sie reduziert werden können. Zwischen der emergenten Eigenschaft, dem Bewusstsein, und der emergierenden Grundlage, dem Gehirn, findet demnach eine Wechselwirkung statt. Wie das Gehirn auf das Bewusstsein Einfluss nimmt, so wirkt das Bewusstsein auf das Gehirn ein. Unter 'neutralem Monismus' verstehe ich das Konzept, nach dem das Mentale und das Physische nicht zwei Substanzen, sondern zwei Eigenschaften der gleichen Substanz darstellen. Auch wenn das Mentale mittels Emergenz hervorgebracht wird, kann nicht von einer ontologischen Verschiedenheit geredet werden (Becker 2009 S.38)".
EMERGENZ - Theorie der integrierten Information von Giulio Tononi
In der mathematischen 'Theorie der integrierten Information' von Giulio Tononi wird für die Messung von Bewusstsein das informationstheoretischen Maß F eingeführt (mit dem griechischen Buchstaben Phi). F wächst mit Integration in Netzwerken hinreichender Komplexität und sinkt mit der Anzahl des nicht integrierten Wissens und der nicht integrierten Kompetenzen (Differenzierungen). Bewusstsein bildet sich durch Vernetzung, Differenzierung und gleichzeitig zunehmender Integration (auch weit auseinander liegender Module, Strukturen, Prozesse und Ebenen). Der Grad an Synergie und der Präsenz (= Verfügbarkeit = Abrufbarkeit) des Gesamtsystems ist entscheidend.
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"... eine plausible quantitative Theorie des Bewusstseins, die erklärt, warum bestimmte Arten hoch organisierter Materie, insbesondere Gehirne, ein Bewusstsein haben können. Die Theorie der integrierten Information, entwickelt von dem Neurowissenschaftler und Psychiater Giulio Tononi, erklärt ausgehend von zwei grundlegenden Axiomen letztlich alles Phänomenale in der Welt. Das ist keine spekulative Philosophie, sondern führt zu konkreten neurobiologischen Erkenntnissen, zur Konstruktion eines Bewusstseinsmessers, der das Ausmass des Bewusstseins bei Tieren, Babys, Schlafenden, Kranken und anderen abschätzen kann, die sich nicht selbst zu ihrem Erleben äussern können. Die Theorie hat weit reichende Auswirkungen, die in manchem an die prophetischen Gedanken von Pierre Teilhard de Chardin erinnern." (Koch 2013 S.11-12)
"Die 'Theorie der integrierten Information': Es ist eine banale Beobachtung, dass jeder bewusste Zustand ausserordentlich informativ ist. Tatsächlich ist er so spezifisch, dass Sie niemals genau dasselbe Gefühl zweimal erleben werden – niemals! Nicht nur, dass jeder bewusste Zustand unzählige alternative Erfahrungen ausschliesst.
Wenn Sie Ihre Augen in einem pechschwarzen Raum öffnen, sehen Sie gar nichts. Pure Dunkelheit ist offenbar die einfachste visuelle Erfahrung, die man haben kann. Vielleicht glauben Sie sogar, sie beinhalte so gut wie keine Informationen. Das pechschwarze Perzept besagt jedoch implizit, dass Sie kein ruhiges, gut beleuchtetes Wohnzimmer sehen, nicht den Granitfelsen 'Half Dome' im Yosemite-Park und auch kein Bild aus irgendeinem vergangenen oder zukünftigen Film. Ihre subjektive Erfahrung schließt all diese anderen Dinge, die Sie gesehen, sich vorgestellt, gehört, gerochen haben könnten, implizit aus. Als eine solche Reduktion der Ungewissheit oder „Entropie“ hat der Vater der Informationstheorie, der Elektroingenieur Claude Shannon, Information definiert. Das heisst: Jedes bewusste Erleben ist ausserordentlich informativ, außerordentlich differenziert.
Bewusste Zustände teilen eine weitere Eigenschaft: Sie sind stark integriert. Jeder bewusste Zustand ist eine Monade, eine Einheit – er lässt sich nicht in Komponenten zerlegen, die unabhängig von einander erlebt werden. Ganz gleich, wie sehr wir uns bemühen, wir können die Welt weder in Schwarzweiß sehen, noch können wir lediglich die linke (oder rechte) Hälfte unseres Gesichtsfelds sehen (ohne ein Auge zu schließen oder irgendwelche anderen Manipulationen vorzunehmen). Während ich diese Zeilen schreibe, lausche ich der Klage 'Cantus in Memoriam Benjamin Britten' des mystischen Minimalisten Arvo Pärt. Mir ist die ganze Klanglandschaft bewusst. Ich bin nicht in der Lage, die Röhrenglocke oder den finalen Abstieg in die Stille nicht zu hören. Ich erfasse all dies als Einheit.
Ganz gleich, welcher Information ich mir bewusst bin, sie ist vollständig und ganzheitlich in meinem Geist präsent. Dieser Einheit des Bewusstseins liegt eine Fülle kausaler Interaktionen zwischen den relevanten Teilen meines Gehirns zugrunde. Wenn Areale des Gehirns fragmentiert, abgekoppelt oder isoliert werden, wie es in der Narkose geschieht, verblasst das Bewusstsein. Werden umgekehrt viele Regionen synchron aktiviert – was sich im gemeinsamen Steigen und Fallen des EEG-Signals äussert, wie im Tiefschlaf – ist die Integration stark, doch es werden nur wenige spezifische Informationen übermittelt.
Giulio Tononis 'Theorie der integrierten Information' leitet aus diesen beiden Prämissen ab, dass jedes bewusste System eine singuläre, integrierte Einheit mit einem grossen Repertoire hoch differenzierter Zustände sein muss. Das ist sein Rezept – Integration und Differenzierung. Das bildet seine Monade. Nicht mehr und nicht weniger." (Koch 2013 S.223-224)
(..............)
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TEIL I:
- 2.1.1. Ovids 'Metamorphosen' - Narziss und Echo
- 2.1.2. Primärer Narzissmus - Sigmund Freud
- 2.1.3. Sekundärer Narzissmus - Kohut/Kernberg
- 2.1.4. Visuelle Wahrnehmung - Analogie von Auge und Kamera?
- 2.1.5. "Der Sinn der Sinne" - Anthropologie der Sinne und Medien
- 2.1.6. Philosophie: Höhlengleichnis bei Platon
- 2.1.7. Das Ich als Vermittler zwischen Triebwünschen und Zivilisationsansprüchen
- 2.1.8. Weitere Konzepte und Kontroversen
- 2.1.9. "Tertiärer", medial-technischer Narzissmus - Frauchiger
TEIL II:
- 2.2.1. Falsches und wahres Selbst bei D.W. Winnicott, A. Miller, J.F Masterson u.a.
- 2.2.2. Wohlstandsverwahrlosung - Jeunesse dorée - Verwöhnung
- 2.2.3. Narzissmustheorien im Intersubjektivitäts-Paradigma: Selbstwert-Regulations-Modelle
- 2.2.4. Prä-Relationale Konzepte bei Stolorow, Joffe und Sandler, Wink und Blatt
- 2.2.5. Relational Turn: Hegel, Mead, Parsons, Honneth, Mitchell, Benjamin, Altmeyer
- 2.2.6. Der narzisstische Funktionsmodus bzw. Aggregatszustand und 'Das narzisstische Gleichgewicht' - Frauchiger
TEIL III:
- 2.3.1. Psychopathie und Soziopathie als pathologischer Narzissmus mit starken sozialen Folgen
- 2.3.2. Verführen, Belügen, Manipulieren aus psychologischer Sicht
- 2.3.3. Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter
- 2.3.4. Amok und School Schootings
- 2.3.5. Destruktiver und maligner Narzissmus
- 2.3.6. Psychopathie - Soziopathie - Dissozialität - Suizid
- 2.3.7. Scham, Wut, Gewalt und die fehlende (Selbst-)Anerkennung
- 2.3.8. Kränkbarkeit als Leitsymptom unserer Zeit?
Fallbeispiel:
Ich habe eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Bis zu dieser Erkenntnis war es ein langer Weg. Ich habe Menschen verletzt, gedemütigt und manipuliert. Heute kann ich all das erkennen, und ich schäme mich dafür.
Die erste Diagnose vor mehreren Jahren habe ich einfach ignoriert. Ich wollte und konnte es nicht einsehen. Als ich die Diagnose vor einem Jahr bei einer Paartherapie erneut bekam, drang sie zu mir durch. Das Schwierige daran, zu akzeptieren, dass man ein Narzisst ist, ist, dass man ein Narzisst ist. Ich fühlte mich immer schon ungerecht behandelt, wies jegliche Schuld und Kritik stets kategorisch von mir, war nicht fähig zu echter Selbstreflexion.
Durch meine narzisstische Persönlichkeitsstörung fühlte ich mich anderen generell überlegen. Ich empfand Genugtuung dabei, andere zu demütigen. In kleinen und größeren Situationen. So standen bei einer öffentlichen Tanzparty viele Leute um ein Feuer und tranken bier. Nur einer hielt ein rotweinglas, und ich sagte: »Ach, du machst wohl auf intellektuell mit dem Rotwein, hm?« Mein Gegenüber begann zu stottern, wusste nichts zu erwidern. Er war sichtlich verletzt. Einige im Kreis lachten. Ich fühlte mich gut dabei. Es ist ein Irrglaube, Narzissten hätten kein Gespür für Menschen. Ich hatte ein sehr feines Gespür für mein Gegenüber, vor allem für seine Schwächen. Sobald ich sie verortet hatte, griff ich an.
Vor allem mein Verhalten gegenüber meiner Familie beschämt mich sehr. als Narzisst hatte ich einen ständigen Drang nach Bestätigung. Unter anderem wollte ich diese durch Sex, den ich mir durch Manipulation holte. Ich verbreitete schlechte Stimmung zu Hause, war einsilbig, ungeduldig und ungerecht gegenüber meiner Tochter, damit meine Frau versuchte, meine Laune durch Sex aufzuhellen und so die Situation für sie und meine Tochter zu erleichtern.
Ich wurde Narzisst, weil ich nie richtig gelernt habe, zu lieben oder Liebe anzunehmen. Ich musste mir in der Kindheit schon einen Schutz zulegen. Von meiner Mutter erfuhr ich, dass sie versucht hatte, mich abzutreiben, dass ich ein so hässliches Baby gewesen sei und leider kein Mädchen. Ich bin in dem Gefühl aufgewachsen, ungewollt und ungenügend zu sein – eine kalte und traumatische Kindheit. Aus der angst vor Verletzung resultierte meine Art, Menschen zu begegnen. Ich überhöhte mich, um die eigene Minderwertigkeit zu kompensieren. Ich verletzte andere, bevor sie mich verletzen konnten. All das weiss ich heute, damals war mir das nicht bewusst.
Ich arbeite nun hart an mir, ich besuche Seminare zur 'gewaltfreien Kommunikation' und mache eine Therapie. Vertrauen und Nächstenliebe sind Werte, an die ich glauben will. Was für viele selbstverständlich klingt, muss ich erst lernen:
Menschen mit respekt, achtung und ohne pauschale Verurteilungen zu begegnen ('Johannes' in der ZEIT 10/2019 S.58).
Quelle: aus der ZEIT-Rubrik "Wie es wirklich ist... ein Narzisst zu sein". Johannes, 45, lebt in Norddeutschland, aufgezeichnet von Sara TomŠic
NARZISSMUS
"In seinem Buch »Narzissmus - Die Verleugnung des wahren Selbst« schreibt Alexander Lowen: »Als Narzissmus bezeichnen wir sowohl einen psychischen als auch einen kulturellen Zustand. Auf der individuellen Ebene ist er eine Persönlichkeitsstörung, die gekennzeichnet ist durch eine übertriebene Pflege des eigenen Image auf Kosten des Selbst … Auf der kulturellen Ebene kann man den Narzissmus an einem Verlust menschlicher Werte erkennen – an einem Fehlen des Interesses an der Umwelt, an der Lebensqualität, an den Mitmenschen."
2.1.4. Visuelle Wahrnehmung - Analogie von Auge und Kamera?
--> Biologie der Wahrnehmung und des Sehens
Wahrnehmung oder: Wie kommt die Welt in den Kopf?
THESE:
Klischee: ausgehend vom Klischee differenzieren wir energiesparend die Welt, d.h. möglichst viele Abgleiche mit Gedächtnisinhalten (schnell) und möglichst wenig Sinneseindrücke (langsam) sollten notwendig sein, weil letztere viel aufwändiger und langsamer verarbeitet werden vom Kortex --> langsames (kortikales) Denken bei Kahnemann vs. schnelles (limbisches), eben: Klischee-Denken !
Nebenstehende Grafik verdeutlicht sehr schön, wie die Sinnesorgane nur ein Faktor von vielen sind, welche uns "Wahrnehmungen" im Sinne von Wirklichkeitserfahrungen (nicht Realitäten!) ermöglichen.
Identifizieren und Einordnen:
Die wahrgenommenen Informationen werden nun identifiziert und eingeordnet nach:
- Erwartungen
- Vorwissen / Erfahrungen
- Interessen / Aufmerksamkeit
- Kontext
Dabei treten folgende Prozesse auf:
- Abgleich / Wiedererkennung
- Filtereffekt
- Bewertung
- Bedeutungszusprechung
Es entsteht somit ein aktiv konstruiertes, kognitiv-mentales Bild der "Wirklichkeit" [vgl.Kap..
Das heißt, dass das „neu“ Wahrgenommene (im Sinne von sinnlich, als Perzept, vgl.unten) in das bereits bestehende System von Wissen und Werten integriert und dadurch verändert wird.
-> Def. Wahrnehmung
Wahrnehmung = Durch die Sinnesorgane vermittelte komplexe kognitive Inhalte im Sinne von Wahrnehmungserlebnissen (Perzept = Resultat der Informationsgewinnung durch Sinnesdaten).
Aus der Vielfalt des theoretisch Wahrnehmbaren erfolgt in jeder Reizsituation eine Auswahl der Wahrnehmung (Selektivität der Wahrnehmung), deren Kriterien durch physiologische Grenzwerte (Aufmerksamkeit, Vigilanz) bestimmt werden und von den Lernerfahrungen des Individuums abhängen.
Informationstheoretisch gesehen, gehören zu den Voraussetzungen jeder Wahrnehmung a) ein Reiz bzw. Reizmuster, b) ein Aufnahmeorgan (Rezeptor, z.B. die Zäpfchen und Stäbchen der Netzhaut des Auges), das die Reizenergien in nervöse Erregung (Impulse) umsetzt und verschlüsselt (Kodierung), c) die Erregungsleitung vom Sinnesorgan bis in das entsprechende Hirnzentrum, d) die Entschlüsselung (Dekodierung), Verarbeitung und Bewertung der Sinnesdaten im Hirnzentrum.
Wahrnehmungsvorgänge umfassen kognitive Prozesse wie Gedächtnisleistungen und Denkabläufe (Schließen, Urteilen, Einordnen usw.) und werden von emotionalen Prozessen wie Stimmungen und Gefühlen eines Individuums in der jeweiligen Warnehmungssituation einerseits und von motivationalen (konativen) Prozessen wie Bedürfnissen und Erwartungen andererseits überlagert.
Das Perzept bezieht sich 1. auf Gegebenheiten der Realität, wozu auch der eigene Körper eines Individuums gehört (Körperwahrnehmung), 2. auf symbolisierte (vergegenwärtigte) Zusammenhänge, wozu etwa Vorstellungen, Gedanken und Erinnerungen gehören, und 3. auf soziale Gegebenheiten, worunter insbesondere andere Menschen als Handlungspartner in Interaktionssituationen gehören (soziale Wahrnehmung als Personwahrnehmung). Der Begriff der sozialen Wahrnehmung (sozialen Kognition) im engeren Sinne kennzeichnet darüber hinaus solche Wahrnehmungsprozesse, die sozial bedingt und durch soziale Gegebenheiten und Einflüsse modifiziert werden können (http://www.medpsych.uni-freiburg.de/OL/glossar/body_wahrnehmung.html).
"Das evolutionär auf Effizienz getrimmte menschliche Gehirn (zur Erinnerung: 2% Körpermasse, aber 20% Energieverbrauch) strebt Erkennen mit möglichst geringem Aufwand an.
Folgen: Das menschliche Gehirn kann einiges nicht, weil es sich in der Evolution als nicht überlebenswichtig und/oder hinreichend nützlich erwiesen hat (entsprechend dem Motto „use it or lose it“), z.B.: UV-Licht sehen, höchste Töne hören, feinste Duftstoffe riechen… Dafür kann das menschliche Gehirn anderes besonders gut, zum Beispiel: aus wenigen Teilen sehr schnell ein gesamtes Bild konstruieren" (Schaefer et al.2000)
"In der Regel ist unsere Wahrnehmung direkt, erfolgt in der Regel mühelos ohne erlebbare Anstrengung und ist unmittelbar.
Dies verleitet zu der Annahme, dass uns die Wahrnehmung wie ein Spiegel ein direktes Abbild der Außenwelt liefert. Die Europafahne ist in unserer Wahrnehmung blau, wir schreiben der Fahne die Eigenschaft Blau zu, da gibt es scheinbar nichts weiter zu erklären.
Dabei hat schon Helmholtz (1855!) darauf hingewiesen, dass Blau eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist [vgl.Kap.1: Qualia]. In der Realität existiert eigentlich nur eine damit korrelierte Wellenlängenverteilung des Lichts. Die scheinbare Einfachheit der Wahrnehmung führt also dazu, dass wir die Ergebnisse der Wahrnehmung für korrekte Abbilder der Aussenwelt halten. Unsere Erfahrung scheint uns da Recht zu geben. Wir machen kaum Fehler beim Erkennen einer Person oder bei der Bewegung in einem unwegsamen Gelände" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.4).
"Charakteristisch für die Wahrnehmung ist allerdings, dass wir keinen Einblick in den eigentlichen Prozess haben und er sich damit auch weitgehend der kognitiven Kontrolle entzieht. In diesem Sinne ist die Wahrnehmung von anderen kognitiven
Prozessen abgeschottet. Wahrnehmung ist danach ein funktional von anderen kognitiven Teilsystemen, z.B. dem Denken oder Gedächtnis getrenntes Modul (Fodor 1983, Nakayama 2003)" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.5).
Evolutionäre und ökologische Aspekte der Wahrnehmung:
"Die Wahrnehmung muss vor allem die Handlungsfähigkeit des Organismus gewährleisten, insbesondere muss sie das Ueberleben als Individuum oder als Mitglied einer Gruppe sichern. Die speziellen Aufgaben ergeben sich aus lebenswichtigen Anforderungen wie Suche von Nahrung, Schutz, Artgenossen oder Sexualpartnern, Ueberwindung von Hindernissen, Suche von Orten und Erwerb von Wissen.
- Regelhaftigkeiten der Umwelt gehen als Vorannahmen in den Wahrnehmungsprozess ein" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.6).
Der folgende Abschnitt ist insbesondere wichtig für die Embodiment-These meines Narzissmus-Ansatzes, wie er im Kap. X erläutert wird. Dies, weil in beiden Ansätzen, dem evolutionären wie dem ökologischen, die Wahrnehmung als Aktivität betont wird und sich gemäss Hagendorf "Sinnessysteme an relativ konstante Wahrnehmungsbedingungen anpassen" (S.21).
"Wahrnehmung ist ein aktiver Vorgang, der die Suche relevanter Information für die Verhaltenssteuerung beinhaltet. Der aktive Charakter der Wahrnehmung ergibt sich einmal daraus, dass die Wahrnehmung bevorzugt auf Veränderungen reagiert. Mit jeder aktiven Bewegung erzeugt ein Beobachter Veränderungen in der Energieverteilung an den Rezeptoren der Sinnessysteme. Damit werden Informationen zugänglich, die ohne aktive Bewegung nicht zur Verfügung stehen. Wahrnehmung ist eng mit unserem Agieren und Handeln gekoppelt. Im Theorieansatz von Gibson (1966) [vgl.unten] ist dieser Zusammenhang ganz wesentlich. Ein Beispiel ist die Erkennung eines Objektes über das haptische System. Diese Leistung erfordert ein aktives Abtasten, um ein Objekt erkennen zu können. Ein anderes Beispiel dafür ist das Lesen der Brailleschrift durch blinde Personen.
Andererseits müssen für unsere Handlungen und Aktivitäten relevante Informationen zum richtigen Zeitpunkt geliefert werden. Sportarten wie Tennis oder Baseball, bei denen ein Ball mit sehr hoher Geschwindigkeit fliegt, sind Beispiele, an denen dieses
koordinative Problem von Wahrnehmung und Motorik sichtbar wird. Die Rolle der Wahrnehmung für die Fortbewegung beim Treppensteigen ist ein anderes Beispiel. Die Information über die Höhe einer Treppe muss zur Beinlänge in Beziehung gesetzt werden, um die angemessene Bewegung ausführen zu können.
Kohler (1962) führte Versuche mit Prismenbrillen durch. Solche Brillen können eine gerade Linie gekrümmt erscheinen lassen, können eine horizontale oder vertikale Umkehr des Netzhautbildes erzeugen oder können Teile des Gesichtsfeldes in einer bestimmten Farbe erscheinen lassen. Er konnte zeigen, dass nach einiger Zeit der permanenten Veränderung des Netzhautbildes eine Anpassung der Wahrnehmung an die neuen Bedingungen stattfindet. Allerdings setzen diese Anpassungen eine aktive Bewegung voraus" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.21-22).
Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung
"We must perceive in order to move, but we must also move in order to perceive"
(J.J. Gibson 1966, S.223)
In Erweiterung des Funktionalistischen Denkens nach William James, welches in der Tradition der Evolutionstheorie die Anpassung der Wahrnehmung an die Erfordernisse der Handlung betont, sieht die ökologische Psychologie nach James Gibson die wahrnehmende Person als aktiv Handelnde. Durch ihre Eigenbewegung ergeben sich in Wechselwirkung mit der Umwelt vielfältige Informationsangebote.
Mit der ökologisch-funktionalistischen Orientierung und der Betonung komplexer Umweltaspekte schloss Gibson, wenn auch unausgesprochen, inhaltlich an zentrale Einsichten von Jakob von Uexküll, Wilhelm Schapp, der Gestaltpsychologen, Ernst Cassirer, Karl Bühler, Egon Brunswik, Maurice Merleau-Ponty und Albert Michotte an. Anders als die Gestaltpsychologie (s.o.) machte Gibson nicht vorrangig interne Organisationsweisen des Organismus für die komplexen Wahrnehmungsleistungen verantwortlich, sondern die komplexe dynamische Struktur der Reize selbst.
"Die ökologische Optik nach James J. Gibson (1979) geht vom Wahrnehmenden als einem aktiven Beobachter aus, der ständig in Bewegung ist. Die aus dieser Bewegung resultierenden Veränderungen führen zu Aenderungen im Informationsangebot, die vom Wahrnehmungssystem ausgewertet werden können. Diese Aenderungen machen die Reichhaltigkeit des Informationsangebotes aus. Gibson spricht von der umgebenden optischen Anordnung [vgl.oben: Schnelle-Schneyder].
Diese ist die Reizstruktur, die von einem bestimmten Blickpunkt aus in der Umgebung verfügbar ist und die sich durch die Bewegung des Wahrnehmenden ständig verändert. Durch diese Bewegung entsteht das optische Fließen als ein Muster von Veränderungen des Abbildes auf der Retina. Jeder Autofahrer kennt solche Veränderungsmuster, die beispielsweise beim Durchfahren einer Kurve wichtig werden. Die Veränderung der retinalen Größe eines Objektes bei Annäherung oder Entfernung ist ein anderes derartiges dynamisches Muster.
Nach Gibson braucht es keine interne Repräsentation, da infolge dieses aktiven Charakters genügend Information in Form von Invarianten – also Struktureigenschaften, die sich bei Bewegung eines Beobachters nicht ändern – in diesem dynamischen Reizangebot vorhanden ist. Das Wahrnehmungssystem filtert die verhaltensrelevanten Informationen direkt, d.h. ohne vermittelnde Prozesse, aus dem Reizangebot heraus. Ein Beispiel für eine solche Invariante, die in dem erwähnten Aenderungsmuster des Abbildes eines Reizes auf der Retina bei der Annäherung enthalten ist, erlaubt dem Wahrnehmenden zu entscheiden, ob ihn das Objekt trifft oder nicht. Das Wahrnehmungssystem kann diese Information direkt ohne Zwischenschritte für die Verhaltenssteuerung nutzen, daher auch direkte Wahrnehmung. Im betrachteten Beispiel ist es eine Richtungsinformation. Nach diesem Zugang kann Wahrnehmung nur in natürlichen Reizumgebungen studiert werden, daher auch ökologische Perspektive. Mit diesem Forschungsprogramm wurden bedeutsame Informationsquellen im Informationsangebot aufgedeckt.
Für die Praxis: Fahrzeuglenkung
"Beim Lenken eines Fahrzeugs muss ständig der Kursverlauf bestimmt werden. Eine der Informationsquellen ist das optische Fließmuster. Dieses Fließmuster ändert sich bei Richtungsänderungen. Daneben gibt es aber Informationen wie die Randbegrenzungen, die Oberflächenbeschaffenheit der Fahrbahn, die Bepflanzung am Rand. So zeigte sich, dass die Steuerung des Fahrzeuges zuverlässig erfolgt, wenn eine nahe Mittellinie herangezogen werden kann. Eine strukturierte Oberfläche einer Straße ist für die Kontrolle des Fahrzeugs günstiger als eine unstrukturierte Oberfläche. Dass wir aber bei Fortbewegungen nicht immer diese Flussmuster benötigen, zeigen Untersuchungen unter Ausschaltung des Sehsinns. Personen können auch auf der Grundlage einer mentalen Landkarte den Kurs auf ein Ziel halten.
(…) Diese direkte Wahrnehmung entspricht unseren Alltagserfahrungen der Unmittelbarkeit und Einfachheit der Wahrnehmung. Die direkte Wahrnehmung setzt ein Wahrnehmungssystem voraus, das sich in der Interaktion mit den Handlungserfordernissen einer Lebensumwelt entwickelt und an diese angepasst hat" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.28).
Konstruktivität der Wahrnehmung
Konstruktivistische Zugänge zur Wahrnehmung gehen u.a. auf den grossen deutschen Physiologen des 19. Jahrhunderts, Hermann von Helmholtz zurück und betonen
"dass die Wahrnehmung keine Abbilder der Umwelt erzeugt. Wahrnehmungen haben nur indirekte Beziehungen zu den sensorischen Daten und sind das Ergebnis konstruktiver Prozesse. Helmholtz kam bei der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen auf Probleme der Wahrnehmungspsychologie.
Nach der Messung der Nervenleitgeschwindigkeit entwickelte er u.a. die Dreifarbentheorie des Sehens und die Resonanztheorie des Hörens. Sein monumentales Werk »Physiologische Optik« enthält seine wahrnehmungspsychologische Grundkonzeption (dazu Mausfeld 1994). Seine konstruktivistische Grundhaltung wird in dem folgenden Zitat deutlich:
"Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch die äußeren Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt ganz wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den sie gewirkt hat. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von den Eigenthümlichkeiten der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als ein Zeichen gesehen werden, aber nicht als ein Abbild" (Helmholtz 1896 S.586).
Damit wird zugleich eine Aussage zur Wirklichkeitstreue der Wahrnehmung formuliert:
"Wir nennen unsere Vorstellungen von der Außenwelt wahr, wenn sie nur genügend Anweisungen über die Folgen unserer Handlungen der Außenwelt gegenüber geben und uns richtige Schlüsse über die zu erwartenden Veränderungen derselben ziehen lassen" (Helmholtz 1896 S.590)
Der zentrale Begriff seines Ansatzes ist in Anlehnung an die Schlüsse wissenschaftlichen Denkens der unbewusste Schluss:
"Die psychischen Tätigkeiten, durch welche wir zu dem Urteile kommen, dass ein bestimmtes Objekt von bestimmter Beschaffenheit an einem bestimmten Ort außer uns vorhanden sei, sind im allgemeinen nicht bewusste Tätigkeiten, sondern unbewusste. Sie sind in ihrem Resultat einem Schlusse gleich... Es mag erlaubt sein, die psychischen Akte der gewöhnlichen Wahrnehmung als unbewusste Schlüsse zu bezeichnen, da dieser Name sie hinreichend von gewöhnlich so genannten bewussten Schlüssen unterscheidet" (Helmholtz 1896 S.5–6)
In einem engen Zusammenhang damit steht seine Zeichentheorie [vgl.Kap.1], die auf die vermittelnden Prozesse in modernen Theorien verweist:
"Der Hauptsatz der empirischen Ansicht ist: Die Sinnesempfindungen sind für unser Bewußtsein Zeichen, deren Bedeutung verstehen zu lernen unserem Verstande überlassen ist" (Helmholtz 1896 S.346).
Helmholtz ging also davon aus, dass eine interne Repräsentation konstruiert wird und dass diese Repräsentation die perzeptive Erfahrung vermittelt. Er verglich sein Konzept der unbewussten Inferenzen mit den Berechnungen, die ein Astronom anstellt, wenn er auf der Grundlage der Gesetze der Optik die Entfernung eines Sterns ausrechnet. Die angenommenen Inferenzprozesse verweisen auf eine empiristische Konzeption, sie sind erfahrungsbedingt. Aehnliche Konzeptionen stammen von Rock (1998) und Gregory (2001) bzw. von Hoffman (2003). Nach der konstruktivistischen Theorie hat das Wahrnehmungserlebnis nur eine indirekte Beziehung zu den sensorischen Daten. Die Wahrnehmungen werden über unbewusste Inferenzen auf der Grundlage der verfügbaren Sinnesdaten und Vorwissen konstruiert" [vgl.Abb.oben rechts] (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.29-30).
- Helmholtz leistete bereits im 19.Jhdt. wichtige Beiträge zum Verständnis der Wahrnehmung.
- Helmholtz betrachtete Empfindungen als Zeichen von etwas, aber nicht als Abbilder, vgl. Saussure und Peirce.
- Nach Helmholtz muss die Wahrnehmung Informationen liefern, die für aktuelle Handlungen und die Einschätzung zukünftiger Aenderungen der Wahrnehmungssituation relevant sind, vgl. z.B. die Wissenssoziologie.
- Wahrnehmungsprozesse sind uns nach Helmholtz i.allg. nicht bewusst. Er spricht von unbewussten Schlüssen, vgl. Freud.
- Ueber Lernprozesse müssen die Interpretationen der Zeichen im Sinne von Helmholtz erlernt werden, vgl. Skinner und Pawlow.
- Das Ergebnis eines Wahrnehmungsprozesses steht nur in einer indirekten Beziehung zu den sensorischen Daten, vgl. Konstruktivismus.
"Unsere wahrgenommene Welt ist eine Konstruktion, und zwar eine Konstruktion auf der Basis der biologisch vorgegebenen konzeptuellen Grundausstattung unseres Wahrnehmungssystems. Hoffmann (2003) demonstriert dies an vielen Beispielen aus der visuellen Wahrnehmung. Ein eher alltägliches und immer wieder diskutiertes Beispiel für diesen konstruktiven Charakter der Wahrnehmung ist die Tatsache, dass wir ein mehrdeutiges zweidimensionales Abbild auf der Retina des Auges dreidimensional interpretieren, z.B. wird aus einer zweidimensionalen Anordnung von Strichen im retinalen Bild in der Wahrnehmung das räumliche Bild eines Stuhls. In diesem Interpretationsvorgang wird ein Problem dieses konstruktiven Prozesses deutlich. Einem zweidimensionalen Abbild können theoretisch unendlich viele dreidimensionale Umwelten zugeordnet werden. Der Prozess bedarf also Regeln, um die Vielfalt der möglichen Interpretationen einzuschränken. Solche Regeln ergeben sich aus einer kognitionspsychologischen Perspektive durch die Eigenschaften der Umwelten, an die sich das System angepasst hat, also aus den Regularitäten der Umwelt.
(…) Einschränkungen für den konstruktiven Vorgang ergeben sich auch aus Konzepten, mit denen unser Wahrnehmungssystem ausgestattet ist. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen die frühe Verfügbarkeit solcher Konzepte, die die Wahrnehmung vom Beginn der Entwicklung an strukturieren. Wäre dem nicht so, müsste die Entwicklung auf einem unstrukturierten Informationsangebot aufbauen und nur über induktive Prozesse laufen. Ein Beispiel ist das Konzept der Kausalität: Zwei Objekte, die sich unabhängig voneinander bewegen, erzeugen den Eindruck eines Kausalzusammenhangs, wenn bestimmte räumlich-zeitliche Bedingungen erfüllt sind (Michotte 1966)" (Hagendorf/Krummenacher 2011 S.17).
Neurokonstruktivismus der Wahrnehmung
--> vgl. Kap.1: Neurokonstruktivismus bei Gerhard Roth
Folgende Grundprinzipien der Wahrnehmung der äußeren Welt, im Sinne des radikalen Konstruktivismus, schlägt Ernst von Glasersfeld (vgl.Kap.1: Systemtheorie) vor:
„- 1a) Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane, noch durch Kommunikation.
- 1b) Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.
- 2a) Die Funktion der Kognition ist adaptiver Art (…) und zielt auf Passung oder Viabilität [d.h. unsere Interpretation des Wahrgenommenen soll zur Beschaffenheit des Wahrgenommenen passen].
- 2b) Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der ‚Erkenntnis‘ einer objektiven ontologischen Realität.“ (v.Glasersfeld 1998 S.96)
Einerseits wird hier die aktive Bearbeitung der von aussen kommenden Information hervorgehoben. Im Laufe dieser Bearbeitung werden die neuen Informationen in die bereits vorhandenen entsprechend ihrer subjektiven Relevanz, Bedeutungszuweisung usw.
integriert.
Andererseits heisst aktiv nicht unbedingt bewusst. Im Gegenteil: sogar andersrum laufen solche Prozesse meist unbewusst ab.
Hier kommt die „automatisierte“ Seite der Wahrnehmung, die stark im Un- bzw. Vorbewussten verankert ist, zur Geltung.
Dieser Zugang zur Realitätserfassung erlaubt uns die blinden Flecken der persönlichen und der kollektiven Wahrnehmung zu untersuchen, sichtbar zu machen und damit eine Möglichkeit zu fördern, diese als Basis für die folgenden Handlungen und
Problemlösung zu berücksichtigen" (Schwarzenböck 2014 S.33).
Literatur zur Biologie der Wahrnehmung und des Sehens:
Fodor, G (1983). Modularity of the Mind. Cambridge/AM: MIT Press
Gibson, James J (1982, orig:1979). Wahrnehmung und Umwelt - Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. München: Urban&Schwarzenberg
Glasersfeld, E.v. (1998). Radikaler Konstruktivismus - Idee, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Goldstein, EB (2002). Wahrnehmungspsychologie (6. Aufl.). Heidelberg: Spektrum.
Hagendorf, H/Krummenacher, J et al.(2011). Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Berlin: Springer.
Haubold, Lena/Hexges, Ellen/Johannsmann, Christian/Kloock, Stefanie (20xy). Wahrnehmung oder: Wie kommt die Welt in den Kopf?
http://www.psychologie.uni-heidelberg.de/ae/allg/lehre/050512_Wahrnehmung.ppt
Helmholtz, H.v. (1855). Ueber das Sehen des Menschen. In H.von Helmholtz, Vorträge und Reden. Bd.1 (5.Aufl. 1903 S.85–118). Braunschweig: Vieweg.
Helmholtz, H.v. (1878/1971). Ueber die Tatsachen der Wahrnehmung. In H Hörz/S Wollgast (Hrsg.). Hermann von Helmholtz. Philosophische Vorträge und Aufsätze. Berlin: Akademie-Verlag.
Helmholtz, H.v. (1896). Handbuch der Physiologischen Optik. Hamburg: Voss.
Kersten, B/Groner, MT (2005). Praxisfelder der Wahrnehmungspsychologie. Bern: Huber.
Mausfeld, R (2005). Wahrnehmungspsychologie. In A Schütz/H Selg/S Lauterbach (Hrsg.). Einführung in die Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Mausfeld, R (2005). Wahrnehmungspsychologie: Geschichte und Ansätze. In: Funke, J/French, P (Hrsg.). Handwörterbuch Allgemeine Psychologie: Kognition. Göttingen: Hogrefe.
Michotte, A (1966). Die Kausalitätswahrnehmung. In W Metzger/H Erke (Hrsg.) Handbuch der Psychologie 1.Bd. Allgemeine Psychologie - Wahrnehmung und Bewusstsein. Göttingen: Hogrefe.
Nakayama, K (2003). Modularity in Perception, its relation to Cognition and Knowledge. In E.B. Goldstein (Ed.), Blackwell Handbook of Perception. Oxford: Blackwell Publishers
Norman, DA/Shallice, T (1986). Attention to Action: Willed and automatic control of Behaviour. In RJ Davidson/GE Schwartz/D. Shapiro (Eds.), Consciousness and self-regulation: Advances in research (Vol.4 S.1-18). New York: Plenum Press.
Schaefer, Ralph/Goos, Matthias/Goeppert, Sebastian (2000). Glossar. Online-Lehrbuch Medizinische Psychologie. [Online-Zitat vom: 17. Oktober 2013.]
http://www.medpsych.uni-freiburg.de/OL/glossar.html
Schwarzenböck, Darya (2014). Global denken, lokal handeln: Lösung oder Falle? Die Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse bei der Lösung globaler Umweltprobleme. Wien: Diplomarbeit.
Styles, EA (1997). The Psychology of Attention. Hove UK: Psychology Press.
Wolfe JM/Kluender KR/Levi, DM/Bartoshuk, LM/Herz, RS/Klatzky, RL/Lederman, SJ (2006). Sensation&Perception. Sunderland: Sinauer Ass.
TEIL III:
2.3.1. Psychopathie und Soziopathie als pathologischer Narzissmus mit starken sozialen Folgen
Psychopathie - Verrutschte und 'abgeschaltete' Empathiefähigkeit
"Die Journalistin Dorothee Frank (2006) hat Interviews mit Mördern geführt, die sie unter dem aktiv wie passiv zu verstehenden Titel 'Menschen töten' publiziert hat. Darin berichtet sie, wie manche Menschen einen Empathieverlust erleiden, den wir als Resonanzunterbrechung bezeichnen könnten. Sie geraten in eine Bewusstseinsverengung. Die Resonanzunterbrechung ermöglicht ihnen, in einen Zustand der Bereitschaft, einen Menschen zu töten, zu fallen. Für diese Resonanzunterbrechung gibt es eine Metapher: Abschalten. Sie wird von anderen Straftätern (Buchholz 2008b, Buchholz et al.2008) immer wieder genannt und damit wird herausgestellt, dass die Resonanzunterbrechung selbst ein bewusster und formulierbarer Vorgang ist. Sie leiden nicht an einem Mangel an Empathie, sondern können Resonanz »abschalten« bzw. ihre entsprechenden Fähigkeiten funktionalisieren.
Alle von Dorothee Frank Interviewten - Henker und Soldaten, Gattenmörder und soldatische Jugoslawien-Kämpfer - beschreiben, wie sie sich meist schon Tage vor der individuellen Tat in einen Zustand der Bewusstseinsverengung brachten, nur noch über die erlittenen Kränkungen nachsinnen konnten und eine Lösung einzig durch Beseitigung des anderen fantasierten - eine Einengung, die wenige Sekunden nach der Tat von ihnen abfiel. In einem Interview spricht ein Täter, der zwei Polizisten auf dem Parkplatz eines Supermarktes erschossen hat, ganz klar in beinah vertikalen psychoanalytischen Begriffen, obwohl man sicher sein kann, dass er die entsprechende Literatur nicht gelesen hat:
»Ich habe mich zurückgezogen und mir meine eigene Scheinwelt gebastelt, in die ich mich gewissermaßen ausblenden konnte. Also, dass man sich wirklich einlässt auf eine komplett eigene geschaffene Welt, in der man Situationen, in denen man gescheitert ist, noch einmal aufrollt; dann lässt man sie vor seinem geistigen Auge ablaufen wie einen Film und stellt sich selbst in den Mittelpunkt als Held. Es ist gewissermaßen eine Bewusstseinsspaltung. Auf der einen Seite funktioniert man im Alltagsleben einigermaßen, auf der anderen Seite holt man sich den Kick im eigenen Bewusstsein« (Frank 2006 S.75).
Der »Film« mobilisiert eine Wirklichkeitsdeutung, die einflussreich und zugleich verborgen ist. Das ist deshalb von großer Bedeutung, weil auch andere Täter in ähnlicher Weise von einem »Film« sprechen, der in ihnen abläuft und der sie auch dagegen abschirmt, etwa im Verhör durch Kripobeamte zur Kenntnis zu nehmen, dass die geschlagene Freundin an den Folgen der Schläge gestorben ist (ebd., S.129). Die Bedeutung des »Films« ist sehr groß. Im Interview mit einem Killer aus dem Jugoslawienkrieg schreibt die Autorin, sie habe das Gefühl bekommen, selbst »im falschen Film« (ebd., S.219) zu sein - der junge Mann war derartig freundlich, zugewandt und liebenswürdig, dass sie diesen Eindruck und das dokumentierte Wissen um seine Taten nicht zusammenzubringen vermochte.
Zwei Dinge scheinen an diesen von den Tätern genutzten Umwandlungstechniken bemerkenswert:
--> sie verlieren weder ihre sozialen Fähigkeiten
--> noch kann man sagen, sie seien ihrer Entscheidungsfähigkeit beraubt.
Ganz im Gegenteil! Von einem der Täter schreibt die Autorin ganz klar:
»Er durchschaut auf ihn bezogene Absichten anderer, als könnte er Gedanken lesen; aber seinen inneren Abbildern der Menschen mangelt es an jener entscheidenden Dimension von Lebendigkeit, die ihnen nur die Empathie eines Beobachters verleihen kann« (ebd., S.128).
Die lebendige Empathiefähigkeit ist zu einem »sozialen Scannen« gesteigert und zugleich verkümmert, wie wir dieses Phänomen eines paranoiden Stils (Shapiro 1991) zu nennen vorgeschlagen haben (Buchholz et al.2008). Viele Straftäter kennen sich sehr rasch im Gefühlsleben von sie vernehmenden Beamten aus; sie wissen, was diese hören wollen, oder auch, was sie brauchen. Sie erschließen aus kleinsten Anzeichen treffsicher deren Privatleben [vgl. 'cold reading' in Kap.5] und bringen es nicht selten dazu, einen Kripobeamten in Verlegenheit zu bringen oder das hierarchische Verhältnis intern umzukehren. Sie »scannen« ihre soziale Welt präzise. Vielen ist schon aufgefallen, dass die gesteigerte Wahrnehmung für das Gegenüber ein Merkmal dissozialer Charaktere sein kann; sie scannen rasch und mit erstaunlicher Präzision das, was der andere von ihnen hören möchte, sie geben, was gebraucht wird, und nutzen diese Fähigkeit auch für die Kontaktanbahnung zu potenziellen Opfern.
Aber weder das »Scannen« noch die Tat selbst liegt jenseits ihrer Entscheidung! Sie müssen sich selbst in den bedrägendsten Momenten immer noch entscheiden, die Tat zu tun, und sie sind sich dessen in den Interviews überdeutlich bewusst! Die Autorin gibt unter Hinweis auf den Philosophen Hegel zu bedenken, in der juristischen Anerkennung der Entscheidung das spezifische Humanum der Täter zu würdigen.
Sich entschieden zu haben, also nicht »getrieben« zu sein, mache den Täter wieder zu einem menschlichen Subjekt, und diese Qualität erhalte er in der entsprechenden Beurteilung gerade zurück. Der »Film« ist ein in den Interviews teilweise vollkommen bewusstseinsfähig eingesetztes Mittel, die Entscheidung für die Tat zu bearbeiten; er ist hier nicht Folge eines Traumas und könnte sich gerade darin vom »Flashback« bei den Opfern unterscheiden. Die müssen den »Film« vor allem nachts immer wieder sehend erleiden und können ihn nicht abschalten; die Täter aber scheinen eine Wahl zu haben" (Gödde, Buchholz 2011 S.121-124).
Quelle: Gödde, Buchholz 2011. Eine Schwierigkeit: Das Scannen des Gegenübers, S.121-124. In: Unbewusstes.
Der Trait-theoretische Ansatz für Persönlichkeitseigenschaften
Der Trait-theoretische Ansatz der Persönlichkeit besagt, dass
"(…) das Wesen der Menschen durch individuelle Unterschiede gekennzeichnet ist (...). Traits sind demnach „überdauernde Merkmale und Eigenschaften, die eine Person dazu prädisponieren, sich über verschiedene Situationen hinweg konsistent zu verhalten.“ (Gerrig/Zimbardo 2008 S.507). So gibt es z.B. Menschen, die sich anderen gegenüber einfühlsam zeigen und damit für die Arbeit als Flugbegleiterin geeignet sind – andere Personen weisen diese Eigenschaft wiederrum nicht auf. Es liegen also interindividuelle Unterschiede hinsichtlich dieses Verhaltensmerkmals vor. Die Charakterzüge einer Person sind jedoch nicht direkt beobachtbar – sie werden ihr aufgrund des beobachtbaren Verhaltens zugeschrieben und damit auf die darunter liegenden Eigenschaften geschlossen. Dadurch entsteht die Erwartung, dass sich die Person auch in zukünftigen Situationen entsprechend ihres Charakters verhält (vgl.Amelang et al.2006 S.54). Aus diesen Ueberlegungen und der Tatsache, dass Menschen sich durch eine Vielzahl an Eigenschaften auszeichnen, kann Persönlichkeit als „eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen“ (Gerrig/Zimbardo 2008 S.504) definiert werden.
Relevante Persönlichkeitsmodelle, auf die sich die Literatur bezieht, sind das Fünf-Faktoren-Modell sowie das HEXACO Modell. Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit bzw. die 'Big Five' beschreiben die Persönlichkeit von Individuen anhand von fünf Dimensionen, die sich durch bipolare Eigenschaften auszeichnen:
- Gewissenhaftigkeit: organisiert, verantwortungsbewusst, vorsichtig vs. sorglos, leichtsinnig, verantwortungslos
- Extraversion: gesprächig, energiegeladen, durchsetzungsfähig vs. ruhig, zurückhaltend, schüchtern
- Neurotizismus (ängstlich, instabil, launisch vs. stabil, ruhig, zufrieden
- Verträglichkeit: mitfühlend, freundlich, herzlich vs. kalt, streitsüchtig, unbarmherzig
- Offenheit für Erfahrung (kreativ, intellektuell, offen vs. einfach, oberflächlich, nicht intelligent (vgl. McCrae/John 1992 S.177 ff, Gerrig/Zimbardo 2008 S.509). Lee und Ashton (2004) fanden in ihrem HEXACO Modell den zusätzlichen Faktor:
- Ehrlichkeit-Bescheidenheit: ehrlich, fair, bescheiden vs. hinterhältig, betrügerisch und überheblich (vgl. Ashton et al.2004 S.708)
Nach Lee und Ashton (2005) korreliert dieser [zusätzliche sechste Big-Five-] Faktor negativ mit allen drei Persönlichkeitseigenschaften der 'Dunklen Triade', wodurch ein erster Eindruck des Wesens dieser dunklen Charaktere erahnt werden kann" (Kruse 2016 S.14-15).
"Not all psychopaths are in prison. Some are in the boardroom"
(Robert Hare 2002)
Die Dunkle Triade
"Die sogenannte Dunkle Triade (dark triad) umfasst drei Persönlichkeitseigenschaften – Narzissmus (narcissism), Psychopathie (psychopathy) und Machiavellismus (machiavellianism) (vgl.Paulhus/Williams 2002 S.556). Auch wenn die Drei konzeptuell distinkte Konstrukte darstellen, korrelieren sie doch miteinander (vgl.dies.S.560) und teilen folglich gewisse dunkle Eigenschaften: Ichbezogenheit, Gleichgültigkeit, einen Mangel an Empathie und manipulatives Verhalten (vgl.Rauthmann/Kolar 2012 S.884, Jonason/Krause 2013 S.534). Zudem zeichnen sich die drei Mitglieder der Dunklen Triade durch eine niedrige Verträglichkeit aus, die sich als „fehlende Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft sowie ein hohes Mass an Aggressivität, Aergerausdruck und interpersoneller „Kälte““ (Küfner et al.2014 S.2) beschreiben lässt" (Kruse 2016 S.15).
Psychopathie
"Psychopathie kann demgegenüber als die „dunkelste“ Persönlichkeitseigenschaft der Triade angesehen werden (vgl. Rauthmann&Kolar 2013 S.626). Hare (2003) definierte Psychopathen sogar als „social predators who charm, manipulate, and ruthlessly plow their way through life, leaving a broad trail of broken hearts, shattered expectations, and empty wallets in their wake“ (Book et al.2006 S.601). Wie Narzissmus, entstammt auch Psychopathie der klinischen Forschung und ist eine Persönlichkeitsstörung, die affektive, verhaltensbezogene, zwischenmenschliche und antisoziale Eigenschaften vereint. Diese Grundgedanken wurden später adaptiert und daraus ein Zwei-Faktoren-Modell der Psychopathie entwickelt, welches eine Unterscheidung in primäre und sekundäre Psychopathie vornimmt (vgl.Mullins-Nelson et al.2006 S.133).
- Primäre Psychopathie vereint die affektiven und zwischenmenschlichen Eigenschaften, wonach Psychopathen ein angeborenes Defizit haben, welches zu gleichgültigem Verhalten, einem Mangel an Empathie und Reueempfinden sowie oberflächlichem Charme und manipulativem Verhalten führt.
- Sekundäre Psychopathie benötigt dagegen einen Auslöser (z.B. Missbrauch in der Kindheit) und erklärt Verhaltensweisen wie Impulsivität, sozial abweichendes Verhalten, Aggression und emotionale Reaktivität (vgl. Mullins-Nelson et al.2006 S.133; Del Gazio/Falkenbach 2008 S.206; Rauthmann 2012 S.484).
Im organisationalen Kontext werden psychopathische Charaktere aber auch häufig als erfolgreiche Angestellte vorgefunden - durch ihren Fokus auf das Erreichen ihre Ziele, unabhängig von den Konsequenzen für andere Personen (vgl. O’Boyle et al.2012 S.560). Durch diesen Fokus wurden sie in einer Untersuchung von Rauthmann (2012) in Interaktionen aber auch negativ von ihren Partnern bewertet und waren weniger beliebt (491ff). Immer wieder wurden in der Literatur Ueberschneidungen von Psychopathie und Machiavellismus gefunden (vgl.z.B. McHoskey et al.1998 S.201). Was sie unterscheidet ist die Tendenz zu aggressivem Verhalten, die bei Machiavellisten auch unter Provokation nicht beobachtet werden konnte (vgl.Jones/Paulhus 2011 S.260)".
Machiavellismus
"Paulhus und Williams (2002) beschreiben Machiavellismus treffend als „the manipulative personality“ (S.556). Demnach setzen Machiavellisten zwischenmenschliche Strategien ein, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, sowie Betrug und Manipulation zu erreichen (vgl.Jakobwitz&Egan 2006 S.332). Bekanntheit erlangte Machiavellismus durch Christie und Geis (1970), die die Beschreibung des ‚Machiavellisten‘ aus dem Buch 'The Prince' des Autors Machiavelli untersuchen wollten und auf dessen Basis ein Instrument zur Messung dieser Persönlichkeit entwickelten (S.1ff). Nach Christie (1970) setzt die Fähigkeit der Manipulation voraus, dass Machiavellisten andere als Objekte und weniger als Individuen sehen und damit in zwischenmenschlichen Beziehungen wenig emotional involviert sind. Daneben betrachten sie soziale Interaktionen eher nutzenorientiert und befassen sich weniger mit den moralischen Aspekten ihres Handelns (z.B. Lügen, Betrügen). Aufgrund ihrer Rationalität wird ausserdem angenommen, dass machiavellistische Personen keine ausgeprägten Psychosen haben und der Fokus ihres Handelns auf dem Erreichen ihrer eigenen Ziele und nicht dem Streben nach idealistischen Zielen liegt (vgl.Christie 1970 S.3f). Später gab es mehrere Studien, die feststellten, dass Machiavellismus ein vielfältiges Konstrukt ist und sich nicht nur durch manipulatives Verhalten auszeichnet (z.B.Dahling et al.2009; Kessler et al.2010). Kessler et al.(2010) fanden dabei heraus, dass Machiavellismus, bezogen auf den organisationalen Kontext, zwei weitere Komponenten neben ‚Manipulativeness‘ aufweist: ‚Maintaining Power‘ und ‚Management Practices‘. Diese beiden Faktoren zeigen, dass Machiavellisten auch positive Tendenzen haben können, da z.B. positive Korrelationen mit den Persönlichkeitseigenschaften Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit gefunden wurden (S.1883ff). Diese Faktoren können eventuell auch erklären, warum ihr manipulatives Vorgehen selten von anderen wahrgenommen wird (vgl. Becker/Dan O’Hair 2007 S.252). Sie werden allgemein als ehrgeizig, clever, überzeugend und selbstsicher eingeschätzt, gleichzeitig zeigen sie sich aber auch distanziert, zurückhaltend und gefühlskalt (vgl.Cherulnik et al.1981 S.399)" (Kruse 2016 S.17-19).
Die dunkle Triade ins politisch-wirtschaftliche gewendet heisst: Machtspiele statt Rechtsordnung
Im hervorragenden Zeit-Artikel "Das Recht bin ich" beschreibt Thomas Assheuer über die "Rückkehr des Realen" im wie ich es bezeichnen würde "Neo-Sozialdarwinismus" Donald Trumpscher Prägung nahezu in Lacanschem Duktus folgendes:
"Die erste Lektion heisst »Ultrarealismus« und behauptet eine Wahrheit, die zu verstehen Trump noch nie schwerfiel: In der Politik, so lautet sie, zählt nur eine einzige Währung, es zählt nur die Macht. Die unbedingte Macht ist, wie die 'Claremonsters' [eine Polit-Kaderschmiede in der Nachfolge des Philosophen Leo Strauss (1899-1073)] sagen würden, der Fels, an dem sich der Spaten biegt; sie ist das unhintergehbar Reale – während Recht und Gesetz bloss nachträgliche Erfindungen sind. Vor allem das transnationale Recht beruht auf einer egalitären Fiktion. Es behauptet eine Gleichheit der Nationen, die es gar nicht gibt, denn in Wirklichkeit sind Nationen höchst ungleich. Es gibt starke und schwache Nationen, und die Vereinigten Staaten sind von Natur aus [es sei an Rousseaus 'Naturzustand' erinnert] eine starke.
Und warum, fragen die 'Straussianer', ist Amerika schwach geworden? Weil Trumps Vorgänger beim Aufbau einer illusionären [imaginären?] Weltordnung, der Pax Americana, das Land in goldene Ketten gelegt haben. Die Nato-Mitgliedschaft, die Freihandelsverträge, das Pariser Klimaabkommen: Diese Fesseln schneiden tief ins Fleisch der nationalen Souveränität. Amerika ist ein gefesselter Riese.
Es kommt aus Sicht der Konservativen noch schlimmer: Rechtliche Verpflichtungen schwächen nicht nur die Starken, sie ermächtigen zugleich die Schwachen. Genau das meinte Trump, als er dem Iran vorwarf, das Land habe im Windschatten des Atomabkommens seinen Einfluss hinterrücks ausgebaut – es führe Krieg im Jemen und in Syrien, es füttere den Terror von Hisbollah und lege heimlich Feuer. Noch nie sei Israel so gefährdet gewesen, und damit habe das Atomabkommen genau den Ausnahmezustand geschaffen, den es verhindern sollte.
Das Argument kennt man nun schon: Es ist die Denkfigur vom »tiefen Staat«, diesmal nur nach aussen gewendet. Wie die übertrieben liberale Rechtsordnung in den Vereinigten Staaten, so habe auch hier eine rechtliche Regelung – das Atomabkommen – unkontrollierte Zonen geschaffen, Schlupflöcher für finstere Machenschaften, für neuen Terror und neue Teufeleien. Und warum? Weil das internationale Recht in den Augen der Claremonter Philosophen unfähig ist, das Reale aus der Welt zu schaffen, den ewigen Kampf um die Macht, den Kampf zwischen Freund und Feind. In Wahrheit verschiebt das Recht die Gewalt nur ins Klandestine, in die opaken Zwischenräume, die das Atomabkommen eröffnet hat. Während also Moralfreunde in aller Welt den provisorischen Frieden feierten, verhielt sich der Iran wie ein Partisan und setzte in den Lücken des Rechts seine Interessen umso rücksichtsloser durch.
Typisch, würde Trump sagen, so ist es eben mit dem transnationalen Recht: Auf der Vorderseite strahlt es hell und klar, auf der Rückseite stinkt ein Morast aus Heimtücke und Niedertracht. Die Staaten sagen Menschheit und wollen betrügen. Sie sagen Freihandel und profitieren einseitig. Sie sagen Umweltschutz und verkaufen Lügendiesel. Deshalb: »Drain the swamp«, trocknet den Sumpf aus.
Nicht alles an dieser Bilanz ist falsch, im Gegenteil, sie beschreibt triftig das brutale Rattenrennen einer überhitzten Weltgesellschaft. Doch die »Trumpers« ziehen daraus einen fatalen Schluss und sagen: Wenn die Erde ein blutiger Kampfplatz und die 'New World Order' (George Bush sen.) ein romantischer Blütentraum ist – dann muss Amerika die Flucht zurück nach vorn antreten; es muss, wo immer es geht, seine rechtlichen Bindungen lockern und dem Irrglauben an eine regelbasierte Weltordnung abschwören" (Assheuer 2018 S.41).
"Der Krieg als Vater aller Dinge" oder: Politik als aggressives Machtspiel und als wirtschaftliches 'Dealmaking'
"(…) In einer erstaunlich unverblümten Rede hat Nikki Haley, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, ausgeplaudert, was ihre Regierung unter Weltpolitik versteht: Sie versteht sie als Investment, als eine Form politischer Oekonomie. »Wir sind verpflichtet, für unsere Investitionen in die UN mehr zu verlangen. Und wenn unsere Investitionen scheitern, sind wir verpflichtet, unsere Ressourcen produktiver einzusetzen.«br>
Trumps Vertraute trat wie eine Buchhalterin auf, sie bilanzierte nach Gewinn und Verlust, nach Soll und Haben. Das Rezept, die UN als Investitionsobjekt zur Steigerung des eigenen machtpolitischen Profits zu benutzen, könnte direkt aus der Claremonter Gedankenküche stammen. Für Straussianer existiert eben keine Weltgemeinschaft, oder, wie einer ihrer Anhänger, der Philosoph mit dem sprechenden Namen Thomas G. West, schon vor Jahren schrieb: »Das ist eine Täuschung.«
Nationen sind für Trump wie Firmen, die je nach militärisch-ökonomischer Potenz ihre Interessen durchsetzen – oder auch nicht [vergleichbar mit Darwins 'Survival of the Fittest', deshalb: Neo-Sozialdarwinismus]. Wer im Naturzustand der Weltgesellschaft die Macht hat, der schafft Ordnung, ein globales Recht braucht es dafür nicht. Deshalb hat Trump nichts dagegen, mit dem Iran nachzuverhandeln – allerdings nicht unter dem Dach der impotenten UN, sondern Auge in Auge, als Deal zwischen der iranischen Regierung und den USA, zur Not unter Androhung militärischer Gewalt. Das Schwert der konkreten Macht durchschlägt den gordischen Knoten des abstrakten Rechts.
Es ist eine abgründige, noch gänzlich unbegriffene Ironie der Geschichte, dass völkische Intellektuelle weltweit ein ähnlich nationalegoistisches Programm verfolgen wie Trumps Vordenker. Sie können es kaum glauben, dass ausgerechnet Amerika die Axt an den westlichen Universalismus legt und den Krieg, das 'ius ad bellum', als natürliches Mittel nationaler Selbstbehauptung rehabilitierten will.
Der russische Philosoph Alexander Dugin zum Beispiel, ein Stichwortgeber [Putins und] der internationalen Rechten, hat eine Zukunftsvision entworfen, in der es keine UN mehr gibt, denn Frieden entstehe nicht durch Recht, sondern durch Stärke. Wer keine Macht habe, sei keine vollwertige Nation: Die künftige »multipolare Welt betrachtet die Souveränität der Nationalstaaten nicht als heilige Kuh, weil diese auf rein juristischer Grundlage beruht und durch kein starkes militärisches und wirtschaftliches Potenzial gestützt wird«. Dugin schlägt vor, die Welt nach Grossräumen zu ordnen und diese mit einem Interventionsverbot für raumfremde Mächte zu belegen. In ihrem Hoheitsgebiet dürfe dann jede Macht schalten und walten, wie sie wolle. Und die Menschenrechte? Ein Konstrukt, an das ihre westlichen Erfinder selbst nicht mehr glaubten.
Es ist müssig, darüber zu spekulieren, ob der Westen noch existiert, wenn die Vormacht USA willens ist, das Ziel einer globalen Rechtsordnung preiszugeben. In Trumps Wolfsarena gibt es nur einen Universalismus – den grenzenlosen Markt und die eroberungsfähige Macht. Das Einzige, was die Nationen noch mit einander verbindet, ist der gemeinsame Feind, es sind die Leute, die von Menschenrechten reden, von Frieden und Freiheit und amerikanischen Idealen" (Assheuer 2018 S.42).
Die sieben Tricks der Populisten (3Sat Dok vom 23.8.2017)
- Aufmerksamkeit um jeden Preis
- Wir gegen die: "Wir sind das Volk" vs. Feindbilder
- Die Macht der Sprache, z.B. Opferdiskurse
- Verschwörungstheorien
- Wirkungsvolle Inszenierung, z.B. als Opferhaltung
- Das Spiel mit der Angst
- Fake News
--> Die dunkle Triade ergänzen mit Externbrink 2018 !!!
Quellen:
Ashton, Michael C./Lee, Kibeom/Goldberg, Lewis R. (2004). A hierarchical Analysis of 1710 English personality-descriptive Adjectives. In: 'Journal of Personality and Social Psychology' 87.Jg.Nr.5 S.707-721.
Amelang, Manfred/Bartussek, Dieter/Stemmler, Gerhard/Hagemann, Dirk (2006,6.Aufl.). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Stuttgart: ......
Assheuer, Thomas (2018). Das Recht bin ich - Donald J. Trump. In: Die ZEIT Nr.21 vom 17.05.18 S.41-42
Externbrink, Kai/Keil, Moritz (2018). Die dunkle Triade................................
Gerrig, Richard J./Zimbardo, Philip G. (2008). Psychologie, 18.Auflage, München.
Hare, ............................
Kruse, Sandra (2016). Die Dunkle Triade im Dienstleistungskontext. Wiesbaden: Springer Gabler
Lee, Kibeom/Ashton, Michael C. (2005). Psychopathy, Machiavellianism and Narcissism in the Five-Factor Model and the HEXACO model of personality structure. In: 'Personality and Individual Differences' 38.Jg.Nr.7 S.1571-1582.
Paulhus, Delroy L./Williams, Kevin M (2002). The dark triad of personality: Narcissism, Machiavellianism and Psychopathy. In: 'Journal of Research in Personality' 36.Jg.Nr.6 S.556-563.
Rauthmann, John F./Kolar, Gerald P. (2012). How “dark” are the Dark Triad traits? Examining the perceived darkness of narcissism, machiavellianism, and Psychopathy. In 'Personality and Individual Differences' 53.Jg.Nr.7 S.884-889.
Rauthmann, John F./Kolar, Gerald P. (2013). Positioning the Dark Triad in the interpersonal circumplex: The friendly-dominant narcissist, hostile-submissive Machiavellian, and hostile-dominant psychopath?. In 'Personality and
Individual Differences' 54.Jg.Nr.5 S.622-627.
Küfner, ACP/Dufner, M/Back, MD (2014). Das Dreckige Dutzend und die Niederträchtigen Neun: Kurzskalen zur Erfassung von Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Diagnostica, 61(2), 76–91.
LeBreton, JM/Binning, JF/Adorno, AJ (2006). Subclinical psychopaths. In JC Thomas/D Segal (Hrsg.), Comprehensive handbook of personality and psychopathology: Vol. 1. Personality and everyday functioning (S. 388–411). New York, NY: Wiley.
Paulhus, DL/Williams, KM (2002). The dark triad of personality: Narcissism, Machiavellianism, and psychopathy. Journal of Research in Personality, 36(6), 556–563.
TEIL I: Das Zeitalter des Narzissmus
- Erich Fromm - Die Furcht vor der Freiheit
- David Riesman - Innengeleiteter vs. aussengeleiteter Charakter
- R.D. Putnam - Bowling alone
- Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch
- Christopher Lasch - Selbstwertkrise und Depression
- Richard Sennett - Tyrranei der Intimität
- Alain Ehrenberg - Das erschöpfte Selbst
- Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft
- Hartmut Rosa: Zeitalter der Beschleunigung
TEIL II: Soziale Pathologien
- Diana Diamond: 'Kritische Psychoanalyse'
- Ljiljana Radonic: Narzisstische Kränkung und Projektion als gesellschaftliche Phänomene
- Heiner Keupp: Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft
- Kommerzieller Narzissmus und Wirtschaft: Fairness, Egoismus, Altruismus, Moralphilosophie und Empathie (Ernst Fehr, Jeremy Rifkin, Richard David Precht)
- Narzisstisches Wetteifern in allen Lebensbereichen: Kommerz und FAKE - Robert Misik, David Graeber, Negri/Hardt, Slavoj Zizek
- Götz Eisenberg - Der Narzissmus als sozialpsychologische Signatur des konsumistischen Zeitalters
Literatur und Links (Update 2020):
- Meyer, Michael/Wagner, Elisabeth (2018). Macht, Eitelkeit und die neue Wehleidigkeit: Sind wir alle Narzissten? In: Der Standard vom 23.1.18 - https://www.derstandard.at/story/2000065411855/macht-eitelkeit-und-die-neue-wehleidigkeit-sind-wir-alle-narzissten
- Wardetzki, Bärbel (2014). "Die Narzisstin ist ein menschliches Chamäleon". In: Der Spiegel online vom 21.8.14 - https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/narzissmuss-ursprung-liegt-oft-in-der-kindheit-a-986907.html
Teil I: Entwicklungstheorien
- Dialektik von Differenzierung und Integration - Klein, Mahler, Erikson u.a.m.
- Prozesse der Introjektion und Projektion (Melanie Klein 1930)
- Theorie der Entwicklung von Separation und Individuation (Margaret Mahler 1952)
- Entwicklung des narzisstischen Systems (Heinz Kohut 1975)
Teil II: Entwicklung des Kindesalters
- Psychoanalytische Säuglings- und Kleinkindforschung (Daniel Stern 1990, Martin Dornes 1993)
- Bindungstheorie (John Bowlby 1969)
- Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy 2002)
- Integratives Entwicklungskonzept der "Relationalen Psychoanalyse" (Martin Altmeyer 2006)
- Daniel Stern: Entwicklung und Säuglingsforschung (Boston School)
- Bindungsforschung: Fonagy und die Londoner School (Mentalisieren)
Teil II: Entwicklung des Jugend- und Erwachsenenalters - Narzisse, Spiesser, Hipster, Heuchler
- Wiederkehr der Konformität - Spiesser - Hipster - Jeunesse dorée
Primärer Narzissmus
"Die meisten Psychologen sind sich darin einig, dass es zwar viele Möglichkeiten gibt, Narzissmus zu betrachten (und viele verschiedene Formen von Narzissmus), dass es sich dabei im allgemeinen jedoch um einen normalen Zug der Kindheit handelt, aus dem ein Mensch idealerweise herauswächst, zumindest in einem erheblichen Ausmaß. In der Tat kann man Entwicklung als ein sukzessives Abnehmen der Egozentrik definieren. Der Säugling ist noch weitgehend in seine eigene Welt eingeschlossen und ist sich eines großen Teils seiner Umwelt und der meisten menschlichen Interaktionen nicht bewusst. 16 Während Stärke und Fähigkeiten seines Bewusstseins allmählich wachsen, kann sich das Kind seiner selbst und anderer bewusst werden. Schließlich vermag es sogar, sich in andere hineinzuversetzen und auf diese Weise Fürsorge, Mitgefühl und eine großzügige integrale Aufnahmebereitschaft zu entwickeln, die ihm nicht angeboren sind" (Wilber 2001 S.17).
Entwicklung als Abnehmen der Egozentrik
Howard Gardner, Entwicklungspsychologe an der Universität Harvard, erinnert uns:
Das kleine Kind ist total egozentrisch – was nicht bedeutet, dass es selbstsüchtig nur über sich selbst nachdenkt, sondern dass es im Gegenteil unfähig ist, über sich selbst nachzudenken. Das egozentrische Kind ist nicht in der Lage, zwischen sich und der übrigen Welt zu differenzieren; es hat sich noch nicht von anderen oder von Objekten abgetrennt. Dementsprechend empfindet es, dass andere an seinem Leid oder seinen Freuden teilhaben, dass sein Gestammel ohne weiteres verstanden wird, dass auch alle anderen Personen seine Perspektive
teilen, dass selbst Tiere und Pflanzen an seinem Bewusstsein teilhaben.
Beim Versteckspielen "versteckt" es sich vor den Augen anderer Personen, weil sein Egozentrik es daran hindert zu erkennen, dass andere Personen um seinen Ort wissen. Der gesamte Verlauf
menschlicher Entwicklung kann als eine fortlaufende Abnahme der Egozentrik angesehen werden. 17
Entwicklung beinhaltet also zu einem erheblichen Maße abnehmenden Narzissmus und wachsendes Bewusstsein – oder die Fähigkeit, andere Menschen, Orte und Dinge zu berücksichtigen und somit jedem Fürsorge zukommen zu lassen. Beispielsweise hat Carol Gilligan herausgefunden, dass die moralische Entwicklung von Frauen im allgemeinen drei Stufen durchläuft, die sie als selbstsüchtig, fürsorglich und universal fürsorglich bezeichnet. Auf jeder Stufe weitet sich der Kreis von Fürsorge und Mitgefühl aus und die Egozentrik nimmt ab. Zunächst kümmert sich das junge Mädchen hauptsächlich um sich selbst; dann vermag es sich auch um andere zu kümmern (etwa seine Familie und Freunde); schließlich kann es seine Fürsorge und guten Wünsche der Menschheit insgesamt zuwenden (und sich auf diese Weise in Richtung einer integralen Einbindung bewegen). Jede höhere Stufe bedeutet nicht, dass man aufhört, sich um sich selbst zu
kümmern, sondern dass man mehr und mehr andere einbezieht, für die man ebenfalls eine echte Sorge und echtes Mitgefühl bezeugt. Uebrigens durchlaufen männliche Wesen dieselben drei allgemeinen Stufen, obgleich sie, wie Gilligan schreibt, normalerweise Rechte und Gerechtigkeit stärker betonen als Fürsorge und Beziehungen. Gilligan meint, dass es nach der
dritten Stufe bei beiden Geschlechtern zu einer Integration des kontrasexuellen Verhaltens kommen kann, so dass Männer und Frauen im universal-integralen Stadium die männlichen und weiblichen Stimmen in sich selbst in erheblichem Maße integrieren und auf diese Weise Gerechtigkeit und Mitgefühl vereinigen. Diese integrale Aufnahmebereitschaft ist eine Art
Höhepunkt der dritten allgemeinen Stufe universaler Fürsorge (ich werde das im Folgenden mit andere Modellen, etwa der Spiral Dynamics, in Beziehung setzen).
Diese drei allgemeinen Stadien haben die meisten Modelle der
Entwicklung gemeinsam. Man kennt sie unter vielen Bezeichnungen wie
präkonventionell, konventionell und postkonventionell; oder egozentrisch,
soziozentrisch und weltzentrisch; oder auch "Ich", "Wir" und "Wir alle".
Das selbstsüchtige Stadium wird oft präkonventionell genannt, weil
Säugling und Kleinkind noch keine konventionellen Regeln und Rollen gelernt
haben. Sie sind noch nicht sozialisiert. Sie können sich noch nicht in andere
hineinversetzen und dadurch beginnen, echte Fürsorge und Mitgefühl zu
entwickeln. Daher bleiben sie egozentrisch, selbstsüchtig, narzisstisch und so
weiter. Das bedeutet aber nicht, dass Kleinkinder keine Gefühle für andere
haben, ebenso wenig, dass sie gänzlich amoralisch sind. Es bedeutet einfach,
dass – verglichen mit darauffolgenden Entwicklungsstadien – ihre Gefühle
und ihre Moral noch stark auf ihre eigenen Impulse, physiologischen
Bedürfnisse und instinktiven Ausscheidungen zentriert sind. (Auch wenn
einige romantische Theoretiker meinen, das Kleinkind existiere in einem
Zustand nondualer Freiheit und ursprünglichen Gutseins – welches Baby wäre
denn wahrhaft frei? Man kann höchstens sagen, dass der Zustand eines
Kleinkindes durch Potentialität und Offenheit gekennzeichnet ist, nicht durch
tatsächlich gegebene Freiheit, da ein von Impulsen, Hunger, Spannungen
und Ausscheidungen dominierter Zustand wohl kaum wahrhaft frei sein kann.
Auf jeden Fall zeigen die Studien übereinstimmend, dass ein Kleinkind sich
nicht an die Stelle anderer versetzen kann und somit nicht zu echtem
Mitgefühl, zu Fürsorge oder Liebe fähig ist.) 18
Mit etwa sechs oder sieben Jahren beginnt eine tiefgreifende Verlagerung
im Bewusstsein. Das Kind fängt an, sich an die Stelle anderer zu versetzen.
Ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie haben ein Buch, dessen Einband auf der
Vorderseite blau, der Rückseite orangefarben ist. Zeigen Sie das Buch einem
fünfjährigen Kind von beiden Seiten. Dann halten Sie das Buch zwischen sich
und das Kind. Sie schauen auf die orangefarbene Seite, das Kind auf die
blaue. Fragen Sie das Kind, welche Farbe es sieht, und es wird korrekt "Blau"
sagen. Dann fragen Sie es, welche Farbe Sie selbst sehen, und es wird
ebenfalls "Blau" sagen; ein sieben Jahre altes Kind wird "Orange" sagen.
Mit anderen Worten: Das Fünfjährige kann sich nicht an Ihre Stelle
versetzen und Ihren Gesichtspunkt einnehmen. Es besitzt noch nicht die
kognitive Fähigkeit, aus seiner Haut zu schlüpfen und für eine Weile in die
Ihre. Deshalb wird es Ihre Perspektive, wird es Sie niemals verstehen. Es
kann niemals zu einer wechselseitigen Anerkennung kommen. Deshalb kann
28
es auch niemals wahrhaft Ihren Gesichtspunkt berücksichtigen (so sehr es
Sie auch emotional lieben mag). Doch all das beginnt sich mit dem
Aufkommen der Fähigkeit zu ändern, sich an die Stelle anderer zu versetzen,
weshalb Gilligan dieses Stadium den Wandel von selbstsüchtig zu fürsorglich
nennt.
Dieses fürsorgliche Stadium, das im allgemeinen vom siebten Lebensjahr
bis zum frühen Erwachsenenalter dauert, kennt man unter den
Bezeichnungen konventionell , konformistisch , ethnozentrisch oder
soziozentrisch – was bedeutet, dass es auf die Gruppe (Familie, Gleichaltrige,
Stamm, Nation) zentriert ist. Das Kind verlässt seine begrenzte Perspektive
und beginnt die Anschauungen und Perspektiven anderer zu teilen, und das
sogar so weit, dass das Kind oft in die Falle der Anschauungen anderer gerät,
also konformistisch ist. Dieses Stadium nennt man oft "braver Junge, gutes
Mädchen", "Recht oder Unrecht – mein Vaterland zuerst" und so weiter.
Darin spiegeln sich die intensive Konformität, der Druck der Gefährtengruppe
und die Vorherrschaft der Gruppe wider, die gewöhnlich diese allgemeine
Periode begleiten. Obwohl das Individuum in diesem Stadium bis zu einem
gewissen Grad aus seiner eigenen Perspektive ausscheren kann, kann es
nicht aus der Gruppe ausscheren. Es hat sich vom "Ich" zum "Wir" bewegt –
eine bedeutende Abnahme der Egozentrik –, doch da steckt es nun fest: "Ob
Recht oder Unrecht – mein Vaterland zuerst!"
Das alles beginnt sich mit dem Auftauchen von postkonventionellem und
weltzentrischem Bewusstsein (Gilligans universale Fürsorge) bei den
Heranwachsenden zu ändern. Dies ist ein weiterer bedeutender Rückgang
der Egozentrik, weil diesmal die eigene Gefährtengruppe hinterfragt wird.
Was ist richtig und fair, nicht nur für mich, meinen Stamm oder meine
Nation, sondern für alle Menschen, ohne Rücksicht auf Rasse, Religion,
Geschlecht oder Glaube? Der Heranwachsende kann zu einem feurigen
Idealisten werden, erregt von all den Möglichkeiten – ein Kreuzritter der
Gerechtigkeit, ein Revolutionär, der darauf aus ist, die Welt aus den Angeln
zu heben. Natürlich ist einiges davon nur eine Explosion von Hormonen, eine
Überhitzung des Gemüts. Doch ein guter Teil davon ist das Aufkommen des
Stadiums universaler Fürsorge, von Gerechtigkeit und Fairness. Und in der
Tat ist dies schlichtweg der Beginn der Möglichkeit, eine wahrhaft integrales,
umfangendes Weltverständnis zu entwickeln" (Wilber 2001 S.25-28).
LACAN - Entwicklungspsychologie vom Realen "R", übers Imaginäre "I" hin zum Symbolischen "S"
Das Imaginäre des Subjekts und der Narzissmus
Vor dem Hintergrund des französischen Surrealismus der späten zwanziger und dreissiger Jahre hat Jacques Lacan in Anlehnung an Melanie Klein (s.o.) die Theorie des Ich weiterentwickelt. Dabei setzte seine Kritik besonders an dem 'Cogito' der decartschen Tradition an (René Decartes: "Cogito ergo sum" vgl. Kap.1).
Ausgangspunkt ist für ihn das Begehren des Subjekts. Das Begehren stellt das menschliche Subjekt vor drei Unmöglichkeiten:
1. Das Begehren kann nicht nicht begehren.
2. Es findet nicht, was es begehrt.
3. Es kann sich nicht abfinden damit, dass es nicht findet...
In Modifikation der Freud‘schen Strukturtheorie von Es, Ich und Ueber-Ich unterscheidet Jacques Lacan drei Momente des Subjekts: Das Reale – das Imaginäre – das Symbolische, vgl. Kap.1.
Das Reale ist das Unaussprechliche, das sich nur auf einer fiktiven Linie situiert im Imaginären. Das Imaginäre geht nicht auf im Symbolischen. Der nicht aufgehende Rest ist, so Dieter Kamper, das Reale, das bei Lacan bedrohliche Umrisse hat und nur in extremen Situationen der Perversion, der Psychose oder der Todesangst überhaupt zugänglich ist.
Ein erster Aufsatz, vielmehr ein Vortrag, mit dem Jacques Lacan die Aufmerksamkeit der psychoanalytischen Schule erregte, hat den Titel 'Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion'. Darin beschreibt er eine Ur-Szene, um deutlich zu machen, wie das Imaginäre entsteht. „Das Menschenjunge erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während der es vom Schimpansenjungen an motorischer Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein eigenes Bild als solches.
Dieses (scheinbare!) Erkennen (nachträglich wird ein Verkennen daraus) wird signalisiert durch die illuminative Mimik des Aha-Erlebnisses, in dem – als einen wichtigen Augenblick des Intelligenz-Aktes – sich nach Köhler die Wahrnehmung der Situation ausdrückt. Dieser Akt erschöpft sich nicht, wie bei Affen, im ein für allemal erlernten Wissen von der Nichtigkeit des Bildes, sondern löst beim Kind sofort eine Reihe von Gesten aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur Realität untersucht, die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen Körper oder in den Personen oder sogar in Objekten, die sich neben ihm befinden.
Dieses Ereignis kann – wir wissen es seit Baldwin – vom sechsten Monat an ausgelöst werden; seine Wiederholung hat – als ein ergreifendes Schauspiel – unser Nachdenken oft festgehalten: vor dem Spiegel ein Säugling, der noch nicht gehen, ja noch nicht einmal aufrecht stehen kann, der aber, von einem Menschen oder einem Apparat (in Frankreich nennt man ihn ‚trotte-bébé‘) umfangen, in einer Art jubilatorischer Geschäftigkeit aus den Fesseln eben dieser Stütze aussteigen, sich in eine mehr oder weniger labile Position bringen und einen momentanen Aspekt des Bildes noch einmal erhaschen will, um ihn zu fixieren.“ (Lacan 1996 S.63)
Quellen:
Breyvogel, Wilfried (2004). Der „coole“ Narziss und die Gewalt. Vorlesung vom 12.01.04
Kamper, Dietmar (1983). Die Ent-Setzung des Subjekts, in: W. Breyvogel/A. Wentzel: Subjektivität und Schule. Essen, S.127-134).
Lacan, Jacques (1996, 4.durchges.Aufl.). Schriften - Band I. Weinheim/Berlin.
Roudinesco, Elisabeth (1996). Jacques Lacan - Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Köln: Kiepenheuer&Witsch.
Lacan stützt sich für seine Theorie des Spiegelstadiums hauptsächlich auf physiologische Untersuchungen.
Wichtig ist dabei, dass die menschliche Geburt vorzeitig eintritt (vgl. Portmann: Mensch als Frühgeburt), sodass das Zentralnervensystem bei der Geburt unfertig ist. So ist die kindliche Instinkt-Ausstattung mangelhaft entwickelt.
Gliederung des Spiegelstadiums in 3 Abschnitte
Wahrnehmung des Spiegelbilds als: Daraus folgt:
1.) Wahrnehmung des Spiegelbilds als reales Wesen -> Versuch des Kindes sich durch bewegter Mimik dem Wesen zu nähern
2.) Wahrnehmung des Spiegelbilds als kein Wesen bzw. nur ein Bild -> Kein Versuch der Annäherung mehr
3.) Wahrnehmung des Spiegelbilds als sein eigenes Bild -> Erkennen des Anderen im Spiegelbild als sein eigenes
Bild
Durch die Wahrnehmung des Spiegelbildes seines Körpers, antizipiert das Kind die Einheit seines Ich. Das Kind identifiziert sich mit dem Bild des Aehnlichen als einer Gesamtgestalt. Dadurch entsteht in einem Repräsentationsvorgang, dessen Medium das Imaginäre ist, ein Ur-Subjekt. Diese primäre Identifikation ist die Grundlage aller späteren sekundärer Identifikationen. Bei diesem Identifikationsvorgang ist gemäss Lacan die Anwesenheit eines Dritten Voraussetzung. Es ist meist ein Elternteil, der dem Kind den Spiegel vorhält und verbal Anerkennung ausdrückt. Dadurch wird neben dem Imaginären anderen, das Symbolische andere durch die Sprache eingeführt und verfestigt. Diese Konstellation wird als Triangulierung bezeichnet. Das Kind differenziert nun zwischen Imaginär / Symbolisch / Real (Bild / Signifikant / Referent) und es erweitert seine Beziehung von einer narzisstisch-dyadischen zu einer triadischen im Intersubjektiven Bereich, was den Beginn der ödipalen Phase als nächstes Entwicklungsstadium bedeutet.
Die Spiegelerfahrung ist als visuelles Phänomen nur ein Musterfall. Wesentlich für die Kategorie des Imaginären ist nicht ein visuelles Abbild sondern eine Repräsentation, die auf Aehnlichkeit bzw. auf Punkt-für-Punkt-Entsprechung beruht. Dies ist dann auch der Unterschied zur Kategorie des Symbolischen, dessen Repräsentationselemente Signifikant und Buchstabe (Signifikat) durch Differenz und Arbitrarität (menschengemachte Konvention statt naturgegebene Affinität) gegenüber dem Repräsentierten charakterisiert sind.
Ein Defekt in der Bildung des Spiegel-Ich kann zu Psychosen, schweren Charakterpathologien oder psychosomatischen Störungen führen, vgl.Kap.2 und 10.
Die ödipale Identifizierung und ihr mögliches Misslingen
Beim Eintritt in den Oedipuskomplex kommt es beim Kind zu einem Transformationsgeschehen: Hat das Ich sich zuvor mit einem Doppelgänger narzisstisch identifiziert, so liegt nun eine Triade vor. Dabei sublimiert das Ich die Realität und das Objekt des Begehrens und das Objekt der Identifizierung werden voneinander getrennt.
Durch die ödipale Identifizierung kommt es zur Bildung des Ich-Ideals. Diese Transformation wird lt. Ruhs von einem Licht des Erstaunens begleitet.
Sublimierung der Realität = Der Prozess bei dem das Objekt des Begehrens verschwindet, sobald das Objekt der
Identifizierung erscheint.
Die ödipale Identifizierung stützt die vorangegangene narzisstische Identifizierung. Die Identifikation mit dem Vaterimago führt nicht zu einer narzisstischen Identifikation sondern erzeugt eine Oppositionsstellung zum Ich.
Das Vaterobjekt verstellt zwar den Weg zum Begehren der Mutter aber es repräsentiert gleichzeitig das verbotene Geniessen.
Entstehung der Psychose
Der Eintritt in die Psychose verläuft analog zum Eintritt in den Oedipuskomplex. Dabei ist die Transformation von der Dyade zur Triade nicht durch das Licht des Erstaunens sondern durch eine Rätselhafte Bedeutung begleitet, die Schockwirkung mit sich bringt:
- Dieser Schock verhindert die Sublimierung der Realität.
- Keine Triade entsteht sondern die Dyade wird beibehalten.
- Der Rahmen des Begehrens bricht zusammen.
- Der oberflächliche Konformismus zur Maskierung der narzisstischen Beziehung zur Realität wird aufgeben.
- Die Opposition Ich-Anderer verlagert sich ins Subjekt, das gespalten wird.
- Der Andere im Subjekt setzt das Subjekt herab und verstößt es.
- Halluzinationen mit Selbstdiffamierungscharakter (Vokalisierung).
- Moralische Repression / Auswüchse der Ueber-Ich-Strukturen.
Sprachwissenschaft bis und mit Saussure
Sprache ist Ausdruck des Denkens für die Philologen bis zum Ende des 19.Jahrhunderts. Der Satz ist eine Abbildung des Gedankens -> Die Organisation des Satzes ist der Organisation des Gedankens nachgeahmt -> Es gibt somit eine natürliche Anordnung der Elemente des Satzes.
Wilhelm von Humboldt erkannte bereits im 18.Jahrhundert, dass natürliche Sprachen autonome Ordnungen darstellen: Die innere Anordnung des Wortes wird bei ihm nicht mehr etymologisch, im Hinblick auf die Welt, sondern als konstante Sprachgewohnheit gedeutet.
Die willkürliche, gewohnheitsmässige Organisationsform der Sprache ist gemäss W.v.Humboldt ein Mittel, um eine Darstellungsfunktion zu erfüllen.
Ferdinand de Saussure folgt Humboldt indem er sich hauptsächlich dem synchronischen (beschreibenden bzw. statischen Aspekt der Sprache) zuwendet: Saussure unterscheidet die Sprache ('language'=Gesamtheit der empirischen Sprachäusserungen) in A.) 'langue' (das abstrakte Regelsystem der Sprache) und B.) 'parole', das Sprechen selber, den konkreten Sprechakt, also die individuelle Realisierung.
Nach Saussure sind lautliche und semantische (formale und inhaltliche) Elemente der Sprache nicht isoliert voneinander möglich. Es besteht ein arbiträrer (willkürlicher) Zusammenhang von lautlichem und semantischem Aspekt (s.o.).
Für F.d.Saussure sind weder das Denken noch das Lautmaterial Strukturen. Ein Zeichen ist die Verbindung (=Signifikat) mit dem dazugehörigen Lautbild bzw. der Form (=Signifikant).
Die Grundlage der Sprache ist die Differenz, d.h. die Identität eines Elements besteht darin, etwas zu sein, was die anderen nicht sind. Jedes sprachliche Element erhält erst durch seine Stellung im Gesamtsystem der Sprache seinen Wert. Das Element allein ist ohne Substanz.
Im saussureschen Strukturalismus bildet die Sprache ein System binärer Oppositionen, wie hell/dunkel, jung/alt etc.
Hierarchie von Signifikat und Signifikant
Für Saussure ist eine Reihe von Lauten erst dann sprachlich, wenn sie als Träger einer Idee funktioniert. Im Gegensatz zu Lacan (s.u.) ist bei ihm das Signifikat dem Signifikant übergeordnet.
Für Lacan ergeben die Signifikate erst Sinn, wenn sie sich in das Netz der Signifikanten eingliedern. Das Signifikat wird erst durch sein Verweisen auf andere Signifikate, d.h. durch seinen Signifikanten mit sich selbst identisch, was ganze Ketten von Signifikanten ermögicht. Sprache ist bei Lacan nicht Repräsentation sondern Artikulation. Sprache ist Grundlage des Subjekts im Sinn des Symbolischen "S". Dies im Gegensatz zum Imaginären "I" wo es noch kein Subjekt gibt, sondern eine Verkennung desselben, s.o. Spiegelstadium.
Für Lacan ist der Mensch nicht der Schöpfer der symbolischen Ordnung. Im Gegenteil: Das Subjekt ist von der Sprache nicht nur beherrscht sondern es wird durch sie erst konstituiert.
Identitätsentwicklung
Keupp et al. (2006):
„Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient.
Keupp, H., Ahbe, Th., Gmür, W., Höfer, R., Mitzscherlich, B., Kraus, W., Straus, F. (2006 Hrsg.). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (3.Aufl.). Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg.
Teil II: Narzisse, Spiesser, Hipster, Heuchler
Wiederkehr der Konformität - Spiesser - Hipster - Jeunesse dorée
Teil I: Esoterik als narzisstische Kompensationsmöglichkeit jedes Menschen
- Empirische Forschung: Kognitive Theorien – Dissonanztheorie von Festinger - Der Beitrag der Skeptiker
- Esoterik 2.0: Perfekte Symbiose von Narzissmus und Kapitalismus - Johannes Fischler
- "Magie" und Scripted Reality: Kommerz und Visualität (Bourdieu: Medienkritik)
Teil II: Esoterik 2.0 als kapitalistischer Antrieb von Medien und Wirtschaft
- Die Medien, die Esoterik und der Kommerz: ein Traum-Trio des kollektiven Narzissmus
Teil III: Esoterik und ihre gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen
- Esoterik und Rechtspopulismus - Politische Implikationen narzisstischer Kompensationen und des Falschen Selbst
- Propaganda als Kernelement des Antisemitismus und Faschismus
Kränkbarkeit als Leitsymptom unserer Zeit?
PROPAGANDA und öffentliche Meinung
Vor 100 Jahren schon, stand für Walter Lippmann, dem Mitbegründer bzw. Wegbereiter des sog. 'Neoliberalismus' (nebst Friedrich von Hayek), bereits fest: "Der gewöhnliche Zeitgenosse ist in einer Demokratie überfordert und nicht in der Lage, die komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu durchschauen". Also entwickelte er in seinem 1922 erschienenen Buch "Die öffentliche Meinung" (Public Opinion) das Konzept einer gelenkten Demokratie, wie sie heute in u.a. Ungarn und Russland praktiziert wird, in der die Meinung der Massen mit manipulativen Techniken gesteuert wird. In unseren "postfaktischen Zeiten" (Oetsch/Graupe 2018) sind Lippmanns Analysen und Strategien "aktueller denn je".
"Lippmann beschreibt in 'Die öffentliche Meinung', wie Menschen durch imaginative Bilder beeinflusst und gesteuert werden können. Die Aktualität dieser Fragestellung liegt auf der Hand: Wir leben in einer Welt, in der andauernd versucht wird, die Vorstellungswelten breiter Schichten der Bevölkerung zu beeinflussen. Werbung, politischer Spin und Inszenierungen sind selbstverständlicher Bestandteil von Wirtschaft und Politik geworden. Der Rechtspopulismus hat dem eine neue Note verliehen. Auffallend ist, wie wenig über die mediale Beeinflussung von imaginativen Vorstellungen reflektiert wird" (Oetsch/Graupe 2018 Einführung).
Die Pseudoumwelt - das Imaginäre
"(…) es ist völlig klar, dass Menschen unter gewissen Bedingungen auf Fiktionen ebenso stark reagieren wie auf Wirklichkeiten und dass sie in vielen Fällen erst die Fiktionen schaffen helfen, auf die sie eingehen. Es möge derjenige den ersten Stein werfen, der nicht an die russische Armee geglaubt hat, die im August 1914 angeblich England durquerte, der nicht, ohne einen direkten Beweis zu haben, jede Geschichte von Scheusslichkeiten für wahr hielt und der noch nie eine Verschwörung, einen Verräter oder einen Spion gesehen hat, wo tatsächlich keiner war. Es möge auch derjenige einen Stein werfen, der niemals als echte innere Wahrheit weitergab, was er von irgendjemandem gehört hatte, der nicht mehr wusste als er selbst.
Bei all diesen Beispielen müssen wir ein gemeinsames Element besonders hervorheben: die Einfügung einer Pseudoumwelt zwischen
Mensch und Umwelt. Sein Verhalten ist die Reaktion auf diese Pseudoumwelt. Gerade weil es sich um eine Verhaltensweise handelt,
zeigen sich die Folgen, sofern es sich um Handlungen handelt, nicht in der Pseudoumwelt, von der das Verhalten angeregt wird, sondern die Handlung vollzieht sich in der realen Umwelt. Ist das Verhalten nicht eine konkrete Handlung, sondern das, was wir grob Gedanken und Empfindungen nennen, so kann es lange dauern, bis im Gewebe der Phantasiewelt ein Riss erkennbar wird (Lippmann 2018 S.64).
(…) die reale Umgebung ist insgesamt zu gross, zu komplex und auch zu fliessend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen zu können. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können. Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben. Ihre beständige Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich Karten beschaffen müssen, die nicht bereits durch ihre eigenen Bedürfnisse oder die Bedürfnisse irgendeines anderen verfälscht worden sind" (Lippmann 2018 S.65).
Pseudoumwelt: öffentliche Meinung und Demokratie
"Wer die öffentliche Meinung analysieren will, muss daher mit der Erkenntnis der Dreiecksbeziehung zwischen dem Schauplatz, dem Bild des Menschen von diesem Schauplatz und der Reaktion des Menschen auf dieses Bild, die sich wiederum selbst auf dem Schauplatz ereignet, beginnen. Es ist wie ein Theaterstück, zu dem die Schauspieler durch ihre eigene Erfahrung angeregt werden und in dem die Handlung nicht nur Auswirkungen auf deren Bühnenrollen, sondern auch auf das reale Leben der Schauspieler hat. Der Film stellt oft mit großem Geschick dieses doppelte Drama der inneren Motive und des äußeren Verhaltens heraus.
Zwei Männer streiten sich, offensichtlich über Geld, aber ihre Leidenschaftlichkeit ist unerklärlich. Dann schwindet das Bild, und nun wird filmisch dargestellt, was der eine oder der andere der beiden Männer vor seinem inneren Auge erblickt" (Lippmann 2018 S.65f).
(…) Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben, liegt ausser Reichweite, ausser Sicht, ausserhalb unseres Geistes. Man muss sie erst erforschen, schildern und sich vorstellen (Lippmann 2018 S.75).
(…) Wir nennen diejenigen Merkmale der äusseren Welt, die mit dem Verhalten anderer menschlicher Wesen verknüpft sind, soweit ihr Verhalten das unsere überschneidet, von uns abhängt oder für uns von Interesse ist, grob 'öffentliche Angelegenheiten'. Die Bilder in den Köpfen dieser menschlichen Wesen, die Bilder von sich selbst, von anderen, von ihren Bedürfnissen, Zielen und Beziehungen zueinander sind diejenigen Bilder, nach denen ganze Gruppen von Menschen oder Individuen im Namen von Gruppen handeln, sind die 'Oeffentliche Meinung', geschrieben in Grossbuchstaben. In dieser Weise werden wir (…) zunächst einige der Gründe untersuchen, aus denen die Menschen in ihrem Umgang mit der äusseren Welt ihr inneres Bild so oft in die Irre führt" (Lippmann 2018 S.75f).
(…) Wesentlicher Gehalt dieser Darlegung ist die Feststellung, dass die Demokratie in ihrer ursprünglichen Gestalt sich niemals ernsthaft mit dem Problem auseinandergesetzt hat, das daraus entsteht, dass die inneren Bilder der Menschen nicht automatisch mit der äusseren Welt übereinstimmen" (Lippmann 2018 S.76f).
Propaganda
"Wir haben gelernt, das Propaganda zu nennen. Eine Gruppe von Menschen, die der Oeffentlichkeit den ungehinderten Zugang zu den
Ereignissen verwehren kann, arrangiert die Nachrichten, damit sie ihren Zwecken dienen (Lippmann 2018 S.84).
(…) Ohne eine gewisse Form der Zensur ist Propaganda im strengen Sinne nicht möglich. Um Propaganda zu betreiben, muss eine gewisse Schranke zwischen Oeffentlichkeit und Ereignis errichtet werden. Der Zugang zu der wirklichen Umwelt muss begrenzt werden, ehe jemand eine Pseudoumwelt errichten kann, die er für klug oder wünschenswert hält.
Denn während Leute, die unmittelbaren Zugang haben, missverstehen können, was sie sehen, kann niemand sonst darüber bestimmen, wie sie es missverstehen sollen, es sei denn, jemand könnte bestimmen, wohin sie schauen und was sie sehen sollen. Die militärische Zensur ist die einfachste Form dieser Schranke, aber keinesfalls die wichtigste, weil man weiss, dass sie existiert und man ihr daher in gewisser Weise zustimmen oder sie ablehnen kann (Lippmann 2018 S.85)
(…) Sofern man das Wort Propaganda nicht unbedingt in seinem negativen Sinn versteht, sind die alten Konstanten unseres Denkens unter ihrer Einwirkung zu veränderlichen Grössen geworden. Es ist zum Beispiel nicht länger möglich, an das ursprüngliche Dogma der Demokratie zu glauben, nämlich dass die Kenntnisse, die man für die Bewältigung der menschlichen Angelegenheiten braucht, spontan aus dem Herzen des Menschen kommen. Wo wir aus dieser Theorie heraus handeln, überlassen wir uns der Selbsttäuschung und Formen der Meinungsbildung, die wir nicht dem Wahrheitsbeweis unterwerfen können. Wir haben gezeigt, dass wir uns nicht auf die Intuition, das Gewissen oder die Zufälligkeiten einer Meinung verlassen können, wenn wir es mit der Welt zu tun haben, die ausserhalb unserer konkreten Wahrnehmung liegt" (Lippmann 2018 S.231).
Stereotype
"Es gibt, sagt Aristoteles, Wesen, die von Natur aus Sklaven sind. »Er ist daher von der Natur zum Sklaven gebildet und geeignet, Leibeigener einer anderen Person zu werden, und ist es aus diesem Grund«. All dies besagt aber in Wirklichkeit, dass, wer zufällig Sklave ist, von Natur auch dazu bestimmt ist, einer zu sein. Logisch ist die Feststellung wertlos, aber in Wahrheit ist sie überhaupt keine Behauptung, und die Logik hat damit überhaupt nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine Stereotype oder eher den Teil einer Stereotype (Lippmann 2018 S.122).
(…) Es ist ihr Merkmal, dass sie dem Gebrauch der Vernunft vorausgeht; sie ist eine Form der Wahrnehmung und drängt den Gegebenheiten, die unsere Sinne aufnehmen, gewisse Merkmale auf, bevor diese Gegebenheiten den Verstand erreichen. Die Stereotype gleicht den lavendelfarbenen Fensterscheiben in 'Beacon Street' oder dem Türsteher bei einem Maskenball, der beurteilt, ob der Gast eine angemessene Verkleidung trägt. Nichts verhält sich der Erziehung oder der Kritik gegenüber so unnachgiebig wie die Stereotype. Sie bestimmt die Wertung eines Gegenstands bereits im Moment seiner Wahrnehmung (Lippmann 2018 S.123).
Organisierte Intelligenzen
"Ich behaupte, dass ein repräsentatives Regime weder in dem, was gewöhnlich Politik genannt wird, noch in der Industrie erfolgreich funktionieren kann, gleichgültig, wie das Wahlsystem aussieht, wenn es nicht eine unabhängige, sachkundige Organisation gibt, welche die ungesehenen Tatsachen für diejenigen verständlich macht, die die Entscheidungen zu treffen haben. Ich versuche deshalb darzulegen, dass nur die ernst gemeinte Uebernahme des Prinzips der Ergänzung persönlicher Repräsentation durch die Repräsentation der ungesehenen Tatsachen uns eine befriedigende Dezentralisation und gleichfalls ein Entrinnen aus der unerträglichen und undurchführbaren Fiktion gestattet, dass jeder von uns eine kompetente Meinung zu allen öffentlichen Angelegenheiten erlangen müsse (Lippmann 2018 S.77).
(…) Diese Organisation sehe ich als Aufgabe vor allem einer politischen Wissenschaft, die vor einer realen Entscheidung ihren eigenen Standpunkt gewonnen hat und formuliert, statt die Entscheidung im Nachhinein zu verteidigen, zu kritisieren, oder Berichterstatter zu sein (Lippmann 2018 S.77).
(…) Diese Einrichtung würde ziemlich bald ein Sammelpunkt für Nachrichten der ungewöhnlichsten Art werden. Den Mitarbeitern würde klar, wie die Probleme der Regierung wirklich aussehen. Sie würden sich mit Fragen der Definition, der Terminologie, der statistischen Technik und der Logik beschäftigen. Sie würden wahrlich die ganze Stufenleiter der Gesellschaftswissenschaften durchklettern. Es fällt schwer einzusehen, warum all dieses Material – mit Ausnahme weniger diplomatischer und militärischer Geheimnisse – nicht den Gelehrten des Landes offenstehen sollte. Hier nämlich würde der Gelehrte der Politischen Wissenschaften die wirklichen Nüsse zum Knacken finden und die wirklichen Forschungsaufgaben für seine Studenten. Die Arbeit muss nicht allein in Washington, könnte aber im Hinblick auf Washington getan werden (Lippmann 2018 S.328).
(…) Wenn die Analyse der öffentlichen Meinung und der demokratischen Theorien in ihrem Verhältnis zur modernen Umwelt grundsätzlich
vernünftig erscheint, dann sehe ich nicht ein, wie man der Tatsache ausweichen kann, dass solche Informationsarbeit der Schlüssel zur Besserung ist" (Lippmann 2018 S.331).
Quellen: Lippmann, Walter (2018). Die öffentliche Meinung - Wie Sie entsteht und manipuliert wird. Herausgegeben und erweitert von Oetsch, Walter Otto/Graupe, Silja. Frankfurt a.M.: Westend.
"Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je grösser die zu erfassende Masse der Menschen sein soll. Handelt es sich aber, wie bei der Propaganda für die Durchhaltung eines Krieges, darum, ein ganzes Volk in ihren Wirkungsbereich zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht gross genug sein.
Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist, und je mehr sie ausschliesslich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender der Erfolg. Dieser aber ist der beste Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda und nicht die gelungene Befriedigung einiger Gelehrter oder ästhetischer Jünglinge.
Gerade darin liegt die Kunst der Propaganda, dass sie, die gefühlsmäßige Vorstellungswelt der großen Masse begreifend, in psychologisch richtiger Form den Weg zur Aufmerksamkeit und weiter zum Herzen der breiten Masse findet. Dass dies von unseren Neunmalklugen nicht begriffen wird, beweist nur deren Denkfaulheit oder Einbildung.
Versteht man aber die Notwendigkeit der Einstellung der Werbekunst der Propaganda auf die breite Masse, so ergibt sich weiter schon daraus folgende Lehre: Es ist falsch, der Propaganda die Vielseitigkeit etwa des wissenschaftlichen Unterrichts geben zu wollen.
Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit gross. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag." (A.H.)
"Esoterische Angebote bieten Lebenshilfe: Sie dienen den Einzelnen dazu, in der flexiblen, hybriden Moderne zurechtzukommen. Sie fördern das Gefühl der Authentizität, liefern Erklärungen und Entlastung für Erfahrungen des Scheiterns und verschaffen scheinbare Erleichterung angesichts des Gefühls von Entfremdung und Selbstentfremdung" (Claudia Barth 2012).
Die Leipziger "Mitte-Studien"
Seit 2002 erstellt die Universität Leipzig im Zweijahresrhythmus ihre "Mitte"-Studien. Die aktuelle Version "Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland" entstand in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Für die Erhebung wurden im Frühjahr 2016 insgesamt 2420 repräsentativ ausgewählte Personen im Alter zwischen 14 und 93 Jahren befragt - 1917 in den alten und 503 in den neuen Bundesländern. Die Stichprobe umfasste 1338 Frauen und 1082 Männer. Zur Erhebung besuchten Interviewer die Befragten in deren Wohnungen. Die Teilnehmer füllten einen schriftlichen Fragebogen aus.
Die Autoren machen eine rechtsextreme Einstellung an sechs Dimensionen fest:
- Befürwortung einer Diktatur: Der Aussage "Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform" stimmten 6,7 Prozent der Befragten zu - 13,8 Prozent im Osten und 4,8 Prozent im Westen.
- Ausländerfeindlichkeit: Drei von zehn Deutschen glauben, dass Ausländer nur nach Deutschland kommen, um den Sozialstaat auszunutzen.
- Antisemitismus: Rund zehn Prozent der Deutschen glauben, dass Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen.
- Chauvinismus: Mehr als jeder fünfte Befragte ist der Ansicht, es sollte das oberste Ziel deutscher Politik sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht.
- Sozialdarwinismus: Knapp neun Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass es wertvolles und unwertes Leben gibt.
- Verharmlosung der NS-Zeit: Mehr als acht Prozent der Deutschen glauben, dass der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte - und knapp sechs Prozent finden, ohne Judenvernichtung wäre Hitler als großer Staatsmann in die Geschichte eingegangen.
Zu diesen sechs Faktoren legten die Forscher allen Befragten jeweils drei Aussagen vor, die auf einer fünfstufigen Skala bewertet werden konnten: von "Stimme überhaupt nicht zu" bis "Stimme voll und ganz zu". Die Höhe der Zustimmung ergab sich aus der Summe der "Stimme überwiegend zu"- und "Stimme voll und ganz zu"-Angaben.
Hass auf Muslime, Parolen gegen Asylbewerber: Eine Studie zeigt das rechtsextreme, antidemokratische Potenzial in der Gesellschaft. Viele Bürger denken völkisch - und finden in der AfD eine politische Heimat.
Deutschland im Jahr 2016: Jeder Zehnte wünscht sich einen Führer, der das Land zum Wohle aller mit starker Hand regiert. Elf Prozent der Bürger glauben, dass Juden zu viel Einfluss haben. Zwölf Prozent sind der Ansicht, Deutsche seien anderen Völkern von Natur aus überlegen. Ein Viertel der U30-Generation in Ostdeutschland ist ausländerfeindlich. Und ein Drittel der Deutschen hält das Land für gefährlich überfremdet.
Die Zahlen sind der Studie "Die enthemmte Mitte" der Universität Leipzig entnommen. Die repräsentative Erhebung ist der neueste Teil eines Langzeitforschungsprojekts, das seit 2002 politische Einstellungen in Deutschland untersucht. Die jüngsten Ergebnisse sind bedenklich.
"Noch immer sind weite Teile der Bevölkerung bereit, abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen", schreiben Oliver Decker und Elmar Brähler, zwei der Studien-Herausgeber. Aus der Mitte der Gesellschaft - lange der "Schutzraum der Demokratie" - erwachse inzwischen ein grosses antidemokratisches Potenzial. Was die NPD in der Vergangenheit nicht geschafft habe, gelinge nun der AfD: diese Wählerschaft für sich zu mobilisieren.
"Rechtsextreme haben in der AfD eine neue Heimat gefunden", sagt Forscher Decker im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Bei Nazis und Rechtsextremen denkt man an die Ränder der Gesellschaft. Das trifft es aber nicht, die Ideologie des völkischen Denkens ist sehr verbreitet."
Quelle: Schulz, Benjamin (2016). Studie zu Rechtsextremismus: Deutschlands hässliche Fratze. In: Der Spiegel Online vom 15.6.2016
Rechtsextremismus-Studie - die enthemmte Mitte
Die narzisstische Kraft der Medien in Moderne und Postmoderne
Political Correctness: Denkverbote oder "obszönes Geniessen"?
Slavoj Zizek und "der politisch korrekte Mensch"
... wie Fabian Ludwig in seinem Essay in der WOZ vom Juni 2017 schreibt:
"Der linke Starphilosoph Slavoj Zizek etwa schreibt in der NZZ [........] davon, dass die politisch Korrekten mit ihren Sprachregelungen ein «unterdrückendes Regime der totalen Kontrolle» aufbauten, das jegliche Zweideutigkeit, körperliche Intensität und unverkrampfte Kommunikation verhindern würde.
Ins gleiche Horn stiess der britische Comedian Andrew Doyle mit seinem «Appell an die Linke», ebenfalls in der NZZ. Beide äussern die Ansicht, dass Political Correctness und Identitätspolitik mit ihren kleinlichen Anliegen die eigentlichen Probleme (Sexismus, Rassismus) lediglich kaschieren würden, statt sie anzugehen.
Anders ausgedrückt: Wenn nur die politisch Korrekten nicht wären, könnte sich die Linke endlich wieder um die wahrhaft linken Anliegen kümmern und echte Veränderungen bewirken.
Witzfigur und Gefahr zugleich: Das Bild, das vom politisch korrekten Menschen gezeichnet wird, ist höchst widersprüchlich. Einerseits ist er eine Witzfigur, ein überempfindliches «Schneeflöckchen». Zugleich ist er eine übermächtige und gefährliche Figur: Er knechtet angeblich die Gesellschaft mit seinen Denkverboten, er zensiert identitätsstiftendes Kulturgut und verhilft Randgruppen zu exzessiven Sonderrechten. Eine politisch korrekte Elite soll also Politik, Medien und Wissenschaft korrumpieren (Ludwig 2017)".
Quellen:
- Ludwig, Fabian (2017). Für einen Neandertaler wäre auch Zizek ein «Schneeflöckchen». So what? Die Steinzeit ist vorbei.
In: WOZ (Schweizer Wochenzeitung) Nr.25 vom 22.06.2017: https://www.woz.ch/1725/essay/fuer-einen-neandertaler-waere-auch-zizek-ein-schneefloeckchen-so-what-die-steinzeit-ist
Linker Gutmenschen-Kitsch: RELOTIUS - RELATION - STORYDEALER
Die Gutmenschen und der Kitsch der Linken
Es gibt natürlich auch auf der linken Seite des politischen Spektrums imaginäre Erscheinungsformen. Nachdem wir v.a. im Esoterik-Kapitel festgestellt haben, dass die rechtsextremen Formen des Imaginären oftmals bildhaft und holzschnittartig sind, kommen narzisstische Formen des Politischen auf der linken Seite des Spektrums eher in sprachlicher Kommunikation daher. Versprachlichung von Inhalten heisst also noch lange nicht, dass Sätze automatisch aus dem Bereich des SYMBOLISCHEN kommen. Im Gegenteil: je verschwurbelter und komplizierter Inhalte transportiert und präsentiert werden, desto eher besteht die Gefahr, dass sie sich vom REALEN weg entfernen in ein selbstbezügliches (Stichwort: Spiegelstadium) IMAGINAERES, wo auch schon mal ein märchenhafte, "kitschige" Sprache Raum greift, was meist auf Kosten realer Fakten geht (vgl.unten: Fall Relotius). Eine häufige Erscheinungsform des politisch links verorteten Kommunizierens ist der sogenannte
Gutmenschen-Kitsch
.....................
Quellen:
Bittermann, Klaus/Henschel, Gerhard (1994 Hrsg.). Das Wörterbuch des Gutmenschen - Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache. Edition Tiamat.
Henschel, Gerhard (1998). Das Blöken der Lämmer - Die Linke und der Kitsch. Edition Tiamat.
Gruber, Bettina/Parr, Rolf (2015 Hrsg.). Linker Kitsch - Bekenntnisse - Ikonen - Gesamtkunstwerke. München: Fink.
Kaeser, Eduard in NZZ und Journal21 . Wissenschaftskitsch et al. ..........................
Baudrillards Konzept der 'Hyperrealität' findet nicht nur nicht nur im 'Visuellen Imaginären' (Kap.2) seinen Niederschlag, sondern ist auch im 'Sprachlichen Imaginären' des journalistischen Reporters (beispielhaft: Claas Relotius, s.u.) zu finden: der sog. 'Relotius-Sound' der 10er Jahre des 21. Jahrhunderts.
Ich beziehe mich im folgenden auf das sog. #spiegelgate, den Skandal um den Reporter Claas Relotius (u.a. Spiegel, SZ, Zeit, Weltwoche, NZZaS etc.) von Ende 2018.
Anhand dieses Einzelfalles lassen sich einige aus unseren bisherigen Ausführungen hervorgegangene Konzeptionen integrierend darstellen: Narzissmus, Kitsch, Narration, Erwartungen, Clichées, Vorurteile, Manipulation, Populismus, aber auch Konzepte wie erwähnt die Hyperrealität, das Imaginäre Lacans, Storytelling als narrativer Veränderungs-Ansatz u.a. bei Geisslinger, der Sozialkonstruktivismus eines Gergen, Systemtheorien allgemein (u.a. Watzlawick) - kurz: RELOTIUS kam wie gerufen, als ich mich Ende 2018 daranmachte, eine Ueberarbeitung sämtlicher Kapitel vorzunehmen. Neben Trump und Pegida/AfD aus der rechten Ecke kommt nun auch aus den Reihen der 'konformistischen Linken' (Cornelia Koppetsch) ein diesmal schon vom Namen her wohlklingender Kränkungs-Skandal aus dem Reich des Imaginären ans Tageslicht:
Der Fall CLAAS RELOTIUS
Die kitschige, schleimspurige Schreibe dieses SPIEGEL-Autors (als Reporter hat er allerdings auch andere Zeitschriften beliefert) hat mich persönlich noch nie interessiert, ich überschlug jeweils seine seitenlangen "Reportagen" im gedruckten SPIEGEL. Wie am 19.12.2018 auskam, waren weite Teile seiner Artikel gefälscht und narrativ "aufgehübscht":
"Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-"Journalist of the Year" gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der "30 under 30 - Europe: Media" - und man fragt sich, wie er die Elogen der Laudatoren ertragen konnte, ohne vor Scham aus dem Saal zu laufen" (Fichtner 2018 S.41).
Quellen:
Fichtner, Ullrich (2018). SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen - Eine Rekonstruktion in eigener Sache. Der Spiegel 52-2018 S.40-46
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html
"Bei der Lektüre des „Spiegels“, aber auch anderer Blätter stösst man immer häufiger auf lange Artikel und Reportagen, bei deren Lektüre man spürt, dass sie an ein dreifaches Publikum gerichtet sind: am wenigsten an die Leser, deutlich stärker an Ressortleiter und Chefredaktion, vor allem aber an die Jurys journalistischer Preise.
Die aufgeplusterten Texte wirken oft wie ein einziges Buhlen um narzisstische Exzellenz. Wer hat die schönste Metapher? Wer die steilste These? Wer den innigsten Blick auf die Hinterbühne der Macht? Wer versteht es – ohne in den Verdacht der Häme zu geraten – am besten, den eben noch gefeierten Politiker als armes Würstchen erscheinen zu lassen? Der Wettbewerb dieser selbstverliebten Exzellenzdarsteller droht zu einem selbstreferenziellen Spiel zu werden" (Schmid 2018 S.2).
"Früher galt einmal: schreiben, was ist. Also: gutes Handwerk. Diese Methode ist jedoch in einer Zeit der informationellen Dauerexplosionen ins Hintertreffen gekommen. Sie gilt als langweilig. Die Wirklichkeit ist zumeist grau [vgl.Kap.2]. Um sie zu einem farbenprächtigen Bild zu formen, braucht es Fantasie, Zugaben, kleine Zuspitzungen und etliche Erfindungen.
Der Kollege von Relotius, der den Schwindel aufgedeckt hat, sagte im Interview mit der „SZ“ zur Erklärung für dessen Erfolg: „Die Reportage hat sich in den letzten Jahren massiv Richtung Kurzgeschichte, Richtung Literatur entwickelt.“ Literatur aber ist Fiktion, ist immer auch Lüge. Und tatsächlich, alles Schreiben ist – da nicht Wirklichkeit, sondern dargestellte Wirklichkeit – der Gefahr der Lüge ausgesetzt. Deswegen ist in Teilen des Journalismus die erkennbare Tendenz, Reportagen unbekümmert zu literarisieren, gefährlich" (Schmid 2018 S.2).
Quelle: Schmid, Thomas (2018). Schminkt euch endlich en hybriden Narzissmus ab. In: Die WELT vom 22./23.Dez.2018 S.2-3
Der Relotius-Sound und seine Anhänger bei den Journalisten-Preisen
Wer das Weltbild bestätigte, stand bald auf der Bühne:
"Süffig und selbstgewiss - Er hat gezogen, dieser Relotius-Sound, der den Jurys ihr Weltbild so angenehm bestätigte. Nun ist Zeit für eine gründliche Selbstüberprüfung
im Journalismus, meint Jörg Thadeusz" (Thadeusz 2018 'WELT am Sonntag' S.24).
"Mir war es in den Jurysitzungen oft so vorgekommen, als stünde ein gewisses Weltbild fest. Wer das mit einer süffigen Geschichte möglichst prachtvoll bestätigt, hört wahrscheinlich seinen Namen von einer Bühne schallen" (Thadeusz 2018 'WELT am Sonntag' S.53).
"(…) Mir war es in den Jurysitzungen oft so vorgekommen, als stünde ein gewisses Weltbild fest. Wer das mit einer süffigen Geschichte möglichst prachtvoll bestätigt, hört wahrscheinlich seinen Namen von einer Bühne schallen. (...)
Quellen:
Thadeusz, Jörg (2018). Süffig und selbstgewiss. In: 'Die Welt am Sonntag' vom 23.Dez.2018 S.24
Thadeusz, Jörg (2018). Wir müssen es mit der Selbstprüfung übertreiben. In: 'Die Welt am Sonntag' vom 23.Dez.2018 S.53
http://amp.welt.de/kultur/medien/article185992466/Joerg-Thadeusz-ueber-Relotius-Wer-das-Weltbild-bestaetigt-bekommt-Preise.html
Story Bias: "Finden was man sucht" - Bernhard Pörksen in Die ZEIT vom 22.Dez.2018
"(…) Das alles ist einfach ein herrlicher Plot. Simpel, überschaubar, den Erwartungen entsprechend. Nur die Wirklichkeit, die leider nicht so richtig mit dem Klischee kooperiert, ist in Wahrheit ein bisschen anstrengender und komplizierter (...).
Was sich hier zeigt, nennt man die narrative Verzerrung, den Story Bias. Man hat die Geschichte im Kopf, man weiss, welchen Sound Leser oder Kolleginnen gerne hören wollen. Und man liefert, was funktioniert. Genauso hat es vermutlich auch Claas Relotius gemacht, nur dass sich bei ihm die Verzerrung zur narrativen Verführung steigerte, auf die zahlreiche Medien hereinfielen. Sein Schreiben war von größerer stilistischer Raffinesse, einer guten Portion krimineller Energie und der Bereitschaft zur offensiven Lüge geprägt. Wie jeder erfolgreiche Hochstapler hat er entlang von Plausibilitäten fingiert, archetypische Muster und gängige Erwartungen bedient, das Bekannte so variiert, dass es als bekanntes Unbekanntes erschien – und bei all dem die Faszinationsbereitschaft des Publikums nach Kräften missbraucht. (...)
... mit den Erwartungen der Kollegen und des Publikums so spielen, dass sie einerseits überraschen und faszinieren, andererseits jedoch bestätigen, was man ohnehin zu wissen glaubt. Claas Relotius hat genau das getan. Er hat seine Autorität missbraucht, Belege gefälscht, Begegnungen erfunden, Klischees in konkrete Dramen übersetzt und Authentizität durch die vermeintliche Präzision und eine Fülle von Einzelheiten simuliert. (...)
Quellen:
Pörksen, Bernhard (2018). Die grosse Gereiztheit - Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser Verlag.
Pörksen, Bernhard (2018). Die Schönheit einer Lüge - Der Fall Claas Relotius zeigt die offene Flanke des Edelfederjournalismus: Die Medienbranche muss sich der Macht der narrativen Verführung bewusst werden. Ein Gastbeitrag vom 22. Dezember 2018 in Die ZEIT-Online.
http://www.zeit.de/kultur/2018-12/medienjournalismus-story-bias-betrug-claas-relotius-transparenz
"Reporter haben in der Gesellschaft eine Aufgabe zu erfüllen: Sie setzen das Bild der Welt zusammen. Wenn sie dabei lügen, stimmt die Welt nicht mehr"
"Auch Egon Erwin Kisch, später der größte aller Reporter, war verführbar. Als junger Mann wurde er von seiner Zeitung zu einem Mühlenbrand geschickt. Doch die Kollegen von der Konkurrenz waren längst da, hatten die besseren Kontakte zu Polizei und Feuerwehr, bekamen genauere Informationen. Kurz: Kisch konnte nicht besser sein als die anderen - und hatte eine Idee. Er begann zu fantasieren. Er ließ Obdachlose im Schein der Flammen auftauchen, er beschrieb, wie sich ein gewalttätiger Hüne und ein Gendarm drohend gegenüberstanden.
Tags darauf fragten die Chefredakteure der Konkurrenzblätter ihre Leute: "Warum haben wir das nicht?" Und als die Journalisten zu erklären versuchten, das sei doch so gar nicht gewesen, da schimpfte ein Chef seinen Reporter: "Komisch, dass sich die anderen immer die interessantesten Lügen ausdenken, und Sie immer nur die langweiligste Wahrheit wissen." (...)
Relotius brachte Preis um Preis nach Hause. Er schrieb Geschichten, die "larger than life" waren, größer und schöner als das Leben, mit perfekten Protagonisten, mit einer Dramaturgie, die sich ein Regisseur nicht besser hätte ausdenken können. Seine Texte entwickelten einen Sog wie ein Roman. Genau das waren sie auch: Geschichten von einem Märchenerzähler, der sich als Journalist ausgab. Es ist der GAU, für den Spiegel und für die ganze Branche. Denn Journalisten leben davon, dass man ihnen glaubt. (...)
Journalisten setzen das Bild der Welt zusammen - wenn sie dabei lügen, stimmt die Welt nicht mehr. Die Verführung ist stark, dieses Bild ein wenig aufzupolieren, es funkeln zu lassen - und damit auch sich persönlich. Selbst der solideste Reporter, die leidenschaftlichste Reporterin kennt die Tage, an denen bei der Recherche nichts läuft wie gewünscht: das Meer vor Libyen spiegelglatt und kein Schlepperboot in Sicht; das Dorf in Sachsen, wo der Neonazi-Aufmarsch sein soll, ausgestorben und kein Nazi weit und breit; der Gesprächspartner maulfaul und uninspiriert. Man kann dann entweder fantasieren - oder weitersuchen, die "extra Meile gehen", wie US-Journalisten das nennen. Wenn man Glück hat, das Reporterglück, findet man dann jemanden, der einem erzählt von seinen Erlebnissen - mit den Schleppern, mit den Nazis. Aber reicht das der Redaktion? Ist das gut genug, um gedruckt zu werden? Um zu glänzen? (...)
Quelle: Ramelsberger, Annette (2018). Fall Relotius - Journalisten müssen der Wahrheit dienen, nicht dem eigenen Ruhm. In: Süddeutsche 52/18: https://www.sueddeutsche.de/medien/relotius-journalismus-der-spiegel-1.4262298
Wirklicher als die Wirklichkeit - Bigger than Life - Konstruktivismus - 'Story Dealer'
Die Rückkehr des Imaginären auch im vermeintlich seriösen Reportagen-Journalismus
"Die Fotos wirken sehr perfekt, von Bild- und Lichtgestaltung her. Fotografische Aufnahmen von bester Qualität, kaum zu toppen. Vor gut einem Monat habe ich mir ein neues Bildbearbeitungsprogramm für den Computer zugelegt. Natürlich wusste ich da schon, dass man Bilder auf vielfältige Weise verbessern und verändern kann. Was ich aber noch nicht so wirklich realisiert hatte, war das Ausmass dessen, was heute möglich ist. Aus flauen Fotos werden Bilder mit strahlenden Farben, der matte Himmel wird blau mit Wolkenzeichnung oder er stammt gar von einem anderen Foto, Sonnenstrahlen können beliebig platziert und Dinge und Menschen spurlos gelöscht werden. Aus einem mittelmässigen Foto wird so eine neue, strahlende Wirklichkeit und wer das weiss, wundert sich nicht mehr über die geradezu übernatürliche Schönheit und Klarheit von Landschaften und Menschen in den Werbe-Prospekten.
Wir wissen, so manches Foto der Zeitgeschichte ist gestellt, der Fotograf hat ein bisschen nachgeholfen. Ergänzt wird dies nun durch die technischen Möglichkeiten der Algorithmen. Und der Journalismus? Soll der immer noch das alte Lied von Wahrheit und Wahrhaftigkeit singen?
Der Neoliberalismus hat mit dem digitalen Internet gemeinsam, dass beide der Optimierung, der Effizienzsteigerung, dem Bewertungs- und Bemessungswahn huldigen. Fotos werden nicht nur optimaler, sondern sind auch immer schneller verfügbar. Demgegenüber ist der Journalismus der Wahrhaftigkeit ein Fossil: Hingehen, reden, nachfragen, anschauen, nachdenken, aufschreiben, schreiben - ja geht's noch? Wenn die Dinge nicht ruck-zuck auf dem Smartphone zu lesen sind, kräht niemand mehr danach. Relotius entstammt der Digital-Natives-Generation, in der Journalismus so verstanden wird: Handy hochhalten, Kamera einschalten und ab ins Netz.
Permanente Selbstoptimierung hin zum perfekten Produkt
Und was ist das denn noch: Wahrheit? Wenn der Spiegel-Reporter so tut, als sei er im Foltercamp Guantanamo mit dabei gewesen, dann ist das Haltung. Aus der Naturwissenschaft wissen wir, dass das Messinstrument selbst das Messergebnis verändert. Und ist der Journalist nichts anderes als selbst ein Faktor, der die Wirklichkeit, die er beschreiben soll, durch seine Anwesenheit verändert? Und sind dann erfundene Details wie das an einer Kette getragen Kreuz jener Frau, die Hinrichtungen aufsucht, aber die Relotius niemals getroffen hat, nicht auch eine mögliche Wirklichkeit, so wie das Computerprogramm fehlende Bildteile in einer Fotografie rechnerisch ergänzt beziehungsweise simuliert?
Relotius hat mit seinen gefakten Stories einen Traum realisiert: Den Traum von der perfekten journalistischen Reportage. Kein Wunder, dass er diverse Journalistenpreise eingeheimst hat. (...)
... ist das Aussehen dieser journalistischen Alpha-Tiere vielleicht kein Zufall, sondern entspringt der Logik eines neu strukturierten journalistischen Feldes, in dem der (An)Schein gegenüber dem Sein an Gewicht gewonnen hat?
Die Anforderungen, die Relotius glaubte erfüllen zu müssen, sind die der digitalen (neoliberalen) Welt (und eines sich immer rasender gebärdenden Live-Journalismus): Die permanente Selbstoptimierung hin zum perfekten Produkt und die Ausschöpfung der Wirklichkeit, was aber in der Wirklichkeit nur als Simulation möglich ist, ganz im Gegensatz zum digitalen Universum, in dem es nichts zu schöpfen gibt, außer dem ohnehin bereits Geschöpften.
Die Reportagen von Relotius entsprechen mit ihrer Perfektion einer erfundenen oder simulierten Welt folgerichtig den Ansprüchen einer Gesellschaft, deren Mitglieder ständig dazu angehalten werden, über den nach außen gezeigten Schein die eigenen Vermarktungschancen auf den "Märkten" zu steigern. "Es ist totaler Zeitgeist", sagt Co-Autor Moreno (in der SZ) über den Anspruch der Chefredaktion an die Reportage. Umso größer das Entsetzen, wenn die Luft entweicht und die aufgeblasene Identität in sich zusammenfällt" (Stumberger 2018).
Quelle:
Stumberger, Rudolf (2018). Der geplatzte Traum von der perfekten Reportage. In: Telepolis vom 21.Dez.18
https://www.heise.de/tp/features/Der-geplatzte-Traum-von-der-perfekten-Reportage-4258069.html
Wenn das Narrativ stimmt, sind Fakten zweitrangig
"(…) es wäre ein Verdikt von Rudolf [Augstein, der langjährige Spiegel-Chef] ergangen, dass diese magazinigen, gefühligen Reportagen mit Human-Touch-Getue und Real-Life-Suggestionen, all diese "große Reportage"-Prosa mit ihren szenischen Textbausteinen aus dem Creative-Writing-Workshop, in einem "Nachrichtenmagazin" absolut nichts zu suchen haben. Sie haben ihre Berechtigung auf den Vergnügungsdampfern der Unterhaltungsindustrie, aber nicht in einem dem Journalismus verpflichteten Presseorgan mit dem Motto: "Sagen, was ist."
Dass Spiegel-Artikel zu Augsteins Zeiten nur in Ausnahmefällen namentlich gekennzeichnet waren, hatte ja durchaus sein Gutes: Verhinderte Schriftsteller und Prosaisten konnten sich nicht spreizen, die berichteten Tatsachen, die Nachricht, stand im Vordergrund. Und die Qualität der Beiträge wurde nicht in Journalistenpreisen gemessen, sondern an dem, was sie politisch, juristisch oder sonst wie ins Rollen brachten. (...)
Diese Zeiten sind lange vorbei und am wenigsten kann man das dem jetzt geächteten Jungstar am Reporterhimmel Claas Relotius vorwerfen, denn der phantasiebegabte Autor hat einfach nur geliefert, was seine Oberen verlangten und in ihren Spin passte. Keine Nachrichten, sondern Stimmungsbilder - und wenn die Stimmung stimmt, kommt es auf Fakten nicht mehr wirklich an. Wenn dann das, "was ist", zum Beispiel die stinknormalen Trump-Wähler einer Kleinstadt in Minnesota, den gewünschten Spin nicht hergibt, dann erfindet der kreative Schreiber eben ein finsteres Nest waffentragender Dumpfbacken. Und wenn das Narrativ stimmt, sind die Fakten zweitrangig und der Schwurbel kommt prominent ins Blatt. (...)
... die Real-Life-Suggestion, das so Tun als würde man "Terroristen" bei der Vorbereitung des Anschlags über die Schulter schauen, die ganze szenische Dramaturgie mit atmosphärischen Einsprengseln und der "Wir waren dabei und kennen die Wahrheit"-Gestus, der sich dann auch nicht scheut, diese Prosa-Melange unter dem Titel "9/11- Was wirklich geschah" als Dokument, als Nachricht, als Journalismus zu verkaufen" (Bröckers 2018).
Quelle: Bröckers, Mathias (2018). Wenn das Narrativ stimmt, sind Fakten zweitrangig. In: Telepolis vom 22.Dez.18
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-das-Narrativ-stimmt-sind-Fakten-zweitrangig-4258586.html
Die Versuchung des inneren Relotius (WELT Online-Kolumne von Don Alphonso)
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Quelle: Alphonso, Don (2018). Highway to Hell - Die Versuchung des inneren Relotius. In: 'Die Welt' vom 4.Okt.2018 S.....
Die intersubjektive Wende
Relationalität und Anerkennung
Quelle: Prengel, Annedore (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Barbara Budrich
Begriff und Metapher des Relationalen
In der Einführung haben wir das "Fadenkreuz-Modell" mit den beiden Achsen kennengelernt und wollen nun nach der inhaltlichen Präsentation der y-Achse mit Henselers Narzissmus-Text, eine Vorstellung der x-Achse vornehmen, wo Frau Prof. Prengel die relationale Dimension des Menschseins beschreibt und historisch-philosophisch herleitet.
Ich erlaube mir kurz ein Wort zur Darstellungsweise: Hervorhebungen in Form von Fettschrift bzw. von Unterstreichungen (bzw. in der Online-Version als "Links" versehene Stellen) stammen wie immer von mir, dem die Originaltextlektüre begleitenden Kommentator. Längere Zitate sind der wissenschaftlichen Usanz entsprechend leicht eingezogen, [auch wenn darin in eckigen Klammern eigene Anmerkungen zum Zitat eingebunden sind]:
"Mit dem interdisziplinären Begriff der Relation können wir einen hoch abstrakten Begriff heranziehen, der es erlaubt, das Phänomen der Relationalität in seinen grundlegenden Strukturen zu reflektieren. Dabei geht es darum, die Aufmerksamkeit auf das „Zwischen“, also die Wechselwirkungen, die sich im Zwischenraum zwischen den Relata (Singular: Relatum), also den Gegebenheiten, die auch „Objekte“, „Entitäten“ oder „Substanzen“ genannt werden und die sich in Beziehung zueinander befinden, zu lenken (Erler et al. 1992, S. 678-611). Diese Beziehungen sind in relationentheoretischer Sicht konstitutiv für das, was wir als Wirklichkeit empfinden [Weiteres hierzu in Kap. 2 und 6].
Ein Diktum des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) bringt diese Einsicht in aller Kürze auf den Begriff, wenn er sagt: „Le reel est relationnel“ (Bourdieu 1994, S. 17) - „das Reale ist relational“.
Welche bildlichen Assoziationen finden wir auf der Suche nach Metaphern, die veranschaulichen, was wir uns unter Relation vorstellen können?
Ins Spiel kommen eher Denkbilder für fluide energetische Prozesse und weniger für sichtbare oder anfassbare Objekte von konsistenter Beschaffenheit. So kann schon ein Hinweis auf die Grundkräfte der Physik, wie Gravitation und elektromagnetische Wechselwirkung, wie Licht, Elektrizität und Magnetismus, plausibel machen, von welcher Relevanz Relationen in der materiellen Welt sind. Zur Veranschaulichung des Relationalen werden Vorstellungen aus der Quantenphysik herangezogen, in denen es weniger um Teilchen, sondern vielmehr um sich wechselseitig konstituierende Energiefelder geht (Emirbayer 1997, S.287; Künkler 2011, S.527). Zur Veranschaulichung personaler Relationen werden auch optisch und akustisch anmutende Imaginationen verwendet.
Das Reflektieren der Blicke, die vom Auge im Antlitz des Anderen oder von einer Glas- oder Wasseroberfläche gespiegelt werden, dient dazu, Beziehungen zum Anderen oder zum Selbst darzustellen (Levinas 1999).
Die Resonanz, die durch wechselseitige Vibrationen zum Schwingen kommt, ist eine besonders starke Metapher für relationale soziale Prozesse (Rosa 2011/12) [vgl. hierzu Kap.8]. Vielleicht können wir uns eine soziale Beziehung ausmalen wie ein Musikstück: Es ist real, aber nicht gegenständlich, es wird immer wieder, aber niemals ganz gleich aufgeführt, es wird zu Gehör gebracht und gehört, und es kann mit seinen Harmonien oder Dissonanzen die unterschiedlichsten Stimmungen vermitteln. Ein Musikstück wird improvisierend oder rekapitulierend aufgeführt, es ist, wie unsere Beziehungen, performativ [vgl. hierzu die Ausführungen von Buchholz und Rosa in Kap.8].
Die Tatsache, dass wir kontinuierlich Beziehungen zu anderen Menschen gestalten, von Beziehungen zu anderen Menschen abhängig sind und ohne solche Beziehungen, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, gar nicht leben könnten, wird in den Metaphern der Luft, die wir atmen (Buber 1923/2006, S. 41) oder des Sauerstoffs (Todorov 1996), den wir von allem Anfang an zum Leben brauchen, eindrucksvoll gefasst. So wie wir Atmen, befinden wir uns in Beziehung zu Anderen, so lange wir lebendig sind.
Schliesslich hat sich mit „Netzwerk“ eine äusserst einflussreiche Metapher herausgebildet, mit der die Analyse von Beziehungen, Positionen, Knoten, Kanten und Löchern in sozialen Gefügen propagiert und die auf Entitäten, Dinge und Substanzen mit ihren Eigenschaften gerichtete Forschung kritisiert wird.
Walter Herzog zieht zur Veranschaulichung des Phänomens der Relationalität, die besonders eindrucksvollen Metaphern der „Strömung“ und des „Wirbels“ von George Herbert Mead heran:
„Das Selbst ist sozusagen ein Wirbel in der gesellschaftlichen Strömung und somit immer Teil dieser Strömung“ (Mead 1934/1973, zitiert in der Uebersetzung von Herzog 2001 S.533).
„Das Selbst“, so Walter Herzog, „ist keine dinghafte Substanz, der Relationen lediglich akzidentiell zukämen, sondern in seiner ganzen Art relational“ (Herzog 2001 S.533) [sowie die Unterkapitel zum Selbst in den Kapiteln 2, 4 und 8].
Angesichts der hier angesprochenen Definitionen und Imaginationen wird vorstellbar, worum es bei der Auseinandersetzung mit Relationalität geht und die existenzielle und gesellschaftliche Bedeutung der Bezogenheit für alles, was wir erleben und wie wir uns entwickeln, wird einsichtig.
Quelle: Prengel, Annedore (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz, S.19-21
Annedore Prengel spricht hier in verdichteter, lebendiger Form sehr wichtige AutorInnen und deren Texte an [Verweise auf eigene Kapitel in eckigen Klammern an Ort und Stelle im zitierten Text: Bourdieu, Rosa, Mead], wie sie auch für meine eigene Konzeption massgebend sind. Es war deshalb ein grosser Glücksfall, dass ich gegen Ende meiner fünfjährigen in meiner Freizeit vorgenommenen Recherche-Arbeit (2010-2015) auf dieses kleine, feine Büchlein mit der eine Triangulation "Lehrerin, Schülerin und Buch (als Uebergangsobjekt", vgl. Kap. 8 und 10) darstellenden sakralen Skulptur auf dem Deckblatt stiess und nun die Ehre habe, es ganz zu Beginn meines eigenen Buches einbauen zu dürfen um darzulegen, wieviel reichhaltige, spannende und erbauende Literatur aus den unterschiedlichsten Richtungen und Zeiten es zum Thema der Bezogenheit (hier zunächst bewusst trocken-technisch verkürzt als x-Achse eingeführt) gibt. Doch hören wir weiter der Autorin zu, wie sie im nächsten Zitat spannende Philosophiegeschichte betreibt:
Zur Geschichte und Philosophie von Relationalität
Dass wir als Menschen stets in gesellschaftlichen Beziehungen leben und dass diese Beziehungen sich kulturell und historisch wandeln, lässt sich als anthropologische Gegebenheit bezeichnen. Während soziale Bewegungen und sozialwissenschaftliche Theorien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - als Reaktion auf rassistisches, behindertenfeindliches, sexistisches oder auch patriarchales Benutzen von universalistisch-biologistischen Argumentationsweisen - Universalismen vehement als falsch kritisiert haben, artikulieren sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts Denkweisen, die auf neue Weise nach universellen Gemeinsamkeiten aller Menschen fragen, ohne die kulturellen Differenzen zu vernachlässigen.
So plädiert der Ethnologe Christoph Antweiler für die ethnologische und anthropologische Untersuchung von Universalien der menschlichen Existenz und will einen Beitrag zur „Fundierung eines realistischen Humanismus’“ (Antweiler 2011 S.25) leisten:
„Alle Menschen stehen in ubiquitären Konstellationen und erleben gleiche Problemstellungen wie sie etwa durch Geburt, Aufwachsen und Tod sowie durch Arbeit, Daseinssicherung, Spiel und Kunst markiert werden“ (Antweiler 2011 S.21). Gemeinsam haben alle Menschen, dass sich unser Leben als Leben in Beziehung zu unserer menschlichen und materiellen Mitwelt ereignet. Jedes Individuum geht aus Beziehungen hervor, existiert durch Beziehungen und gestaltet Beziehungen. Jede Kultur lässt sich als veränderliches Gefüge aus Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern sowie aus Verhältnissen zwischen Gruppierungen beschreiben, und in jeder Kultur werden diese Relationen und die Konflikte um sie mit den kulturellen Mitteln der Zeit symbolisiert und verhandelt. (Prengel 2013 S.25/26)
(…) [Es] zeigt sich, dass die zentralen Begriffe unserer sozialen und politischen Sprache stets menschliche Beziehungen und Verhältnisse implizieren; das gilt für Gerechtigkeit ebenso wie – um nur einige Beispiele zu nennen – für Gleichheit und Ungleichheit, Freiheit und Zwang, Solidarität, Ausbeutung, Herrschaft, Demokratie, Diktatur, Monarchie, Partizipation, Diskriminierung, Anerkennung, Globalisierung usw.
Wenn Beziehungen sich verändern und, wie etwa in gegenwärtigen Zeitdiagnosen, als weniger eng und verbunden angesehen werden, so gilt auch hier, dass die entsprechenden Begriffen wie Anomie, Einsamkeit, Individualisierung usw. Beziehungsqualitäten zum Ausdruck bringen [vgl. hierzu die Befunde zeitdiagnostischer Studien, welche auf die Knappheit an Relationen in der Einsamkeit, die aus Individualisierung hervorgehen kann, hinweisen (Ehrenberg 2011) sowie das grundlegende Werk von Hans Peter Dreitzel (1970) zur 'Soziologie der Einsamkeit', Fussnote A.P.].
Wenn wir das Relationale, das den Begriffen unserer politischen Sprache innewohnt, zum Vorschein bringen, erweisen sie sich auf besondere Weise als gehaltvoll.
(…) Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass Beziehungen eine universelle Gegebenheit sind, in allen Kulturen werden sie auf je besondere Weise gestaltet und im Laufe der historischen Entwicklung verändern sie sich. Um die Angemessenheit von Beziehungen wird weltweit und zu allen Zeiten verhandelt und gestritten, denn das was als gelingendes Leben oder als unakzeptable Ungerechtigkeit empfunden wird, beruht auf Ereignissen in nahen Beziehungen oder Verhältnissen zwischen grösseren Gruppierungen. Aufgrund der Unhintergehbarkeit der Generationendifferenz bildet die Gestaltung der Generationenbeziehungen in allen Gesellschaften eine zentrale Aufgabe der älteren Generation, die besondere Brisanz aufweist, weil die Kinder der neuen Generationen stets eine ausserordentlich hohe Abhängigkeit und Vulnerabilität aufweisen. Jede Zeit findet ihre Weise das Generationenverhältnis zu gestalten.
Die hier dargelegte historische Unhintergehbarkeit und Variabilität von Beziehungen hat ihren Ausdruck in Theorien der Relationalität gefunden. Sie sind bedeutsam u.a. in der Logik, in der Mathematik, in der Erkenntnistheorie (Erler et al.1992 S.678-611).
An einige grundlegende Gedanken zur Bedeutung von Relationalität aus der europäischen Geistesgeschichte zu erinnern, ist aufschlussreich. Die Autoren des ausserordentlich informativen Artikels zum Stichwort „Relation“ im historischen Wörterbuch der Philosophie fassen nach den Hinweisen auf die umfassende antike und mittelalterliche Vorgeschichte neuzeitliche Theorien zusammen:
Schon nach John Locke (1632-1704) „enthält die einfach Idee der Kraft (power) eine Relation (...). Schliesslich sind die sekundären Sinnesqualitäten wie Farben und Gerüche geradezu definierbar als die Kräfte verschiedener Körper in Relation auf unsere Wahrnehmung“ (Erler/Mojsisch/Baum/Wolzogen/Steiner 1992, S. 596). „Und schliesslich gibt es keinen Gegenstand, der so abgetrennt von allen anderen wäre, dass seine vollständige Analyse nicht zeigte, dass er Relationen auf andere Dinge, ja auf alle anderen Dinge in sich enthält“ - so Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) (Erler et al.1992 S.597).
Nach diesen Wegbereitern der Aufklärung kommt in den Gedankengebäuden der philosophischen Klassiker der Aufklärung und des deutschen Idealismus der Auseinandersetzung mit Relationalität eine wachsende Bedeutung zu, die dann, neukantianisch inspiriert, in einer zuspitzenden Debatte ausgetragen wird, die sich explizit darum dreht, ob den „Relata“ (Singular: Relatum), das heisst, den Gegebenheiten, die in Beziehung zueinander stehen, überhaupt eine unabhängige Existenz zugesprochen werden könne und ob nicht die Beziehung das Wesentliche überhaupt sei.
In jedem Fall setzt die Analyse der Bezogenheit von Elementen voraus, dass sie sich in irgendeiner Hinsicht unterscheiden und aufeinander einwirken; das heisst, Relation beruht auf Differenz und Dynamik (Erler et al.1992 S.599-606). Als ein Beispiel für die bedeutenden Plädoyers für Relationalität vom Anfang des 20. Jahrhunderts sei an dieser Stelle nur Ernst Cassirers 1910 erschienenes Werk "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" genannt, in dem Erkenntnis als Gewebe von Relationen herausgearbeitet und dem Dingbegriff gegenübergestellt wird (Prengel 2013 S.27/28).
Bezogenheitskonzepte und Dialogtheorien von Buber bis Nussbaum
Wenn wir nun mit Annedore Prengel Relation bzw. das Relatum definiert und eingeordnet haben und nun historisch-philosophisch weitergehen und schauen, was die Moderne zum Thema zu bieten hat, wird bereits Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich, dass die Dialektik bzw. der Gegensatz von Aufklärerisch-versachlichenden Ansichten und romantisch-gefühlsbetonenden Philosophien nicht beendet wird, sondern im Gegenteil sich bis heute eher noch zuspitzt und teilweise verhärtet, wenn wir z.B. aktuelle politische und weltanschauliche Konflikte zwischen eher konservativ-hierarchischen Denkweisen westlicher und östlicher Diktatoren und Diktaturen betrachten und auf der anderen Seite den Versuchen, eine demokratische, auf Dialog und Begegnung der Kulturen progressiv-sozialen Denk- und Handlungsweise.
Die in der Einleitung dargestellten Gegensatzpaare im Fadenkreuz von x- und y-Achse finden sich nicht nur in der Wissenschaftstheorie wieder sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen, inklusive Politik, Philosophie, Psychologie und Pädagogik.
Prengel stellt in der Folge deshalb dar, wie wichtig und unabdingbar es ist, dass Dialogtheorien wieder- und weiterbelebt werden, wollen wir aus dem "Unbehagen an der Moderne" (Buchtitel von Charles Taylor, ähnlich zu finden auch bei Sigmund Freud und Alain Ehrenberg) herausfinden und eine lebenswerte, enkeltaugliche Mit- und Umwelt erhalten und hegen und pflegen:
Angesichts der für das Fin de Siècle konstatierten emphatischen philosophischen Strömung relationalen Denkens scheint ein geistiger Horizont auf, in dem Martin Bubers (1978-1965) religiös und poetisch gestimmte Dialogtheorie im frühen 20. Jahrhundert entstehen konnte. Sie leistet es, eine Sphäre des „Zwischen“ zu begründen, die es ermöglicht, dass erst der Dialog die Subjekte, in Bubers berühmten Formulierungen „Ich“ und „Du“ (Buber 1923/2006), hervorbringt.
Dialogtheorien fussen nach wie vor auf Bubers Schriften, die auch in der Pädagogik einflussreich wurden (vgl. Künkler 2011, S. 465-476).
In den grundlegenden Prämissen der Theorie der Relationalität ist angelegt, dass sie erkenntnistheoretisch bedeutsam ist: Wenn Erkenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand als Relata gedeutet werden, geht die zu gewinnende Erkenntnis aus der Relation zwischen beiden hervor. Veränderungen, sei es auf der erkennenden oder auf der zu erkennenden Seite, führe zu veränderten Erkenntnissen (Erler et al. 1992).
Erkenntnis ist ein relationaler Prozess, und Erkenntnisperspektiven sind relational bedingt. Je nachdem welche Erkenntnisperspektive gewählt wird, kann ein einzelnes Relatum einschliesslich seiner verhältnismässig konstanten oder dynamischen Eigenschaften und deren Beziehungen untereinander oder aber eine Relation zwischen mehreren Relata einschliesslich ihrer langsameren oder schnelleren Dynamiken betrachtet werden. Jede dieser Perspektiven macht in ihrem Rahmen je eigene Erkenntnisse möglich und ist zugleich ihren je eigenen Begrenztheiten verhaftet. Darum erscheint es in perspektivitätstheoretischer Sicht müssig, darum zu streiten, ob einem Relatum oder der Relation Priorität zukommen soll, denn beide erweisen sich als bedeutsame Erkenntnisgegenstände, die voneinander abhängig sind.
Bei der näheren Betrachtung eines jeden Relatums zeigt sich zudem, so meine These [A.P.], dass seine vermeintliche Substanz sich wie unter einem Mikroskop auflöst und wiederum Beziehungen sichtbar werden. Denn nun geht es um intrasubstantielle Beziehungen zwischen den Substrukturen des Relatums und um deren Dynamik.
Darum soll (…) nicht etwa von – wie es teilweise in der relationalen Soziologie geschieht – einem „Paradigmenwechsel“ oder „turn“ geredet werden. Interessant scheint nicht so sehr ein paradigmatisch Neues behaupten zu wollen, sondern im Früheren schon längst enthaltene relationale Aspekte aufzudecken. Auch wird hier die Pluralität der Forschungsperspektiven und ihr wechselseitiger Respekt favorisiert, in deren vielfältigem Spektrum die Beziehungsforschung eine wichtige, aber auch begrenzte Rolle neben ganz anderen nicht weniger wichtigen und spannenden Ansätzen spielt.
Quelle: Prengel, Annedore (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz, S. 28-29
Gerade letzterer Punkt Prengels zur "Pluralität der Forschungsperspektiven" ist mir besonders wichtig, weil gerade dadurch der Respekt und die Anerkennung des jeweils Anderen, auch und gerade in ihrem/seinem Anderssein hervorgehoben wird. Es geht mir also nicht um ein Entweder-Oder des z.B. Normorientierten vs. dem Subjektiven, sondern um eine Zusammenarbeit und Synergie welche entsteht, wenn derselbe Gegenstand oder Mensch von verschiedenen Seiten her betrachtet wird, um in der Sphäre des Forschens zu bleiben einerseits also messend-normativ-strukturiert und andererseits begegnend-emotional-subjektiv.
Wenn wir auf diesen Erkenntnissen weiter aufbauend die politische und gesellschaftliche Dimension (oder 'Sphäre' gemäss Michael Walzer) hinzunehmen und die relationale Betrachtungs- und Seinsweise dominant werden lassen im Fadenkreuz der Perspektiven (also nach rechts auf der x-Achse) landen wir bei Emotionen und Menschenrechten, bei Demokratie und Gerechtigkeit und bei Empathie und Liebe, wie Prof. Prengel im folgenden sehr schön beschreibt:
"In diesem Kontext [der Anerkennung und der Fürsorge, u.a.Honneth/Gilligan vgl.Kap.10] leistet Martha Nussbaums Deutung der Gefühle einen wesentlichen Beitrag. Ihre Perspektive wird unterstützt von der sozialtheoretischen Emotionsforschung: „Mit dem Konzept der 'emotionalen Vergesellschaftung' soll gerade nicht gemeint sein, dass Emotionalität an die Stelle von Rationalität und Moralität tritt, sondern dass Rationalität und Moralität auf Emotionen angewiesen sind, um ihre Koordinierungs- und Steuerungsleistungen erbringen zu können (...)“ (Schützeichel 2006 S.9). Das wird begründet mit der relationalen Annahme:
„Emotionen sind keine inneren Zustände, sondern intentional auf Dinge in der inneren oder äusseren Umwelt des Subjekts bezogen“ (ebd. S.14). Das Gefühl der Liebe wird von Martha Nussbaum aus seiner Verbannung in die Sphäre passionierter Zweisamkeit, familiärer Häuslichkeit oder gar erotisierend-pädagogischen Missbrauchs gelöst und zu einer Inspirationsquelle für die rationale Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse gemacht (Nussbaum 2001). Die Sozialphilosophin legt eine neuartige Theorie des Gefühls der Liebe vor, in der diese als demokratische Tugend ausgewiesen wird (Brumlik 2010 S.35).
(…) Nach Nussbaum (2002 S.12) gehören Gefühle der Liebe, der Sympathie, der Fürsorglichkeit zum „innersten Kern des ethischen Lebens“. „Keine Gesellschaft kann es sich leisten, diese Gefühle nicht zu kultivieren. Gewiss bedarf eine Gesellschaft, die sich bemüht, ein Erbe schlimmer Ungerechtigkeit zu überwinden, aller Liebe und Sympathie, die sie aufbieten kann“ (Nussbaum 2002 S.12).
Daraus folgt: Unsere Empfindungen der Empathie sind in allen gesellschaftlichen Sphären, wenn es darum geht, sie zu humanisieren, relevant. Die Arbeitsbeziehungen in diesen Sphären, also auch jenseits von Familie und Freundschaft, müssen eine Komponente des Liebevollen enthalten, die üblicherweise nur persönlichen Beziehungen zugeschrieben wird.
Christa Schnabl (2005) begründet, dass die Empfindung der Fürsorge in der Sehnsucht nach Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt, sie verbindet gerechtigkeits- und fürsorgetheoretische Ansätze und nennt ihr Buch „Gerecht sorgen“. Wenn Liebevolles, das auch in Wohlwollen, Fürsorge, Mitgefühl mitschwingt und das in den Wunsch einmündet, dass dem Selbst und dem Anderen Wohlergehen und Gerechtigkeit widerfahren mögen, in Arbeitsbeziehungen fehlt, muss demokratisches Zusammenleben verkümmern.
Quelle: Prengel, Annedore (2014). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz, S.33
Zurückkehrend in die Sphäre des Individuellen und Privaten, bietet sich die Psychoanalyse und ihre Weiterentwicklungen an als Untersuchungsmethode intra- und auch intersubjektiver Vorgänge. Zu diesen konkreten psychotherapeutischen Anwendungen relationalen Denkens und damit auch Grundlagen zur Entwicklung von 'Narzissmus' liefernd (vgl. Kap. 2 und 4: Bindungen), hat Annedore Prengel folgendes geschrieben:
"Parallel zu und in Austausch mit den oben genannten sozialpsychologischen Ansätzen entwickelte sich, begründet durch Sigmund Freud (1856-1939), die Psychoanalyse, die intrapsychische „seelische“ Dynamiken, auch in ihrer Abhängigkeit von intersubjektiven Beziehungen und ihren biografischen Vorgeschichten, erforscht.
Psychoanalyse widmet sich relationalen Prozessen, denn die in innerpsychischen und zwischenmenschlichen Konflikten wirksamen emotionalen Kräfte bilden ihr zentrales Erkenntnisinteresse.
Aus der Gestalttheorie, der Psychoanalyse und anderen Einflüssen ist die von - wegen des Faschismus aus Deutschland in die USA emigrierten - Psychoanalytikern entwickelte Gestalttherapie hervorgegangen. Zentral ist die gestalttherapeutische Kategorie des „Kontakts“, die sich auf das intersubjektive, relationale Geschehen bezieht. Auch die Themenzentrierte Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn (vgl. Reiser 2006) und die Gesprächspsychotherapie sind hier zu nennen, denn sie haben relational orientierte pädagogisch [und psychotherapeutisch, M.F.] einflussreiche Ansätze entwickelt. In der Psychoanalyse hat sich seit längerem schon eine relationale Wende ereignet [dies sehen längst nicht alle Analytiker so, vgl. Kap. 2]. Auf neue Weise wird betont:
Das werdende Subjekt besitzt von Anfang an eine dialogische Binnenstruktur, sodass der Austausch mit dem Anderen konstitutiv ist (Altmeyer/Thomä 2006, S.17). Für die Analyse des Subjekts wird die Analyse der intersubjektiven Relationen zentral. Innere und äußere Wirklichkeit gehen ineinander über. „Niemand ist eine Insel“ (Altmeyer/Thomä 2006, S.33).
Selbst Körperliches wird als relational konstituiert und die Theorie der Inter-Körperlichkeit [vgl. Kapitel 8: Embodiment] geht davon aus, dass auch auf leiblicher Ebene und ohne direkte Berührung unablässig intersubjektive Wahrnehmungs- und Austauschprozesse geschehen (Appel-Opper 2013; Neckel 2006, S.132). Je nachdem in welchem Beziehungskontext wir uns befinden, aktualisieren wir andere Körperzustände, Empfindungen, Gesten, sind wir also - radikal formuliert - jemand anders [vgl. hierzu Kap. 6: Konstruktivismus].
Von herausragender Bedeutung für die Frage [pädagogischer] Beziehungen ist die Bindungstheorie. In diesem von John Bowlby (1907-1990) und Mary Ainsworth (1913-1999) ausgehenden und seither international verbreiteten und weiterentwickelten Ansatz, geht es um die Tatsache, dass wir als menschliche Kinder von Anfang an persönliche Bindungen brauchen, um aufwachsen zu können (Cassidy/Shaver 2008).
Die Qualität der frühen Bindungen, die die Menschen, die uns in der ersten Lebensphase versorgen, mit uns eingehen, prägt die Entwicklung unserer intrapersonellen Strukturen (unseres „inneren Arbeitsmodells“ [die sog. 'Theory of Mind' wird in Kapitel 4 und 10 "Mentalisieren" beschrieben]) und ist entscheidend dafür, was wir dann von anderen Menschen erwarten und für die Art, in der wir uns ihnen und unserer äusseren Umwelt annähern.
„Bindungsmuster sind das Resultat wiederkehrender Beziehungserfahrungen, die das Kind mit seinen primären Bezugspersonen macht“ (Grawe 2004 S.197 [sowie Kap. 8 und 10]; vgl. auch Gahleitner 2009 und Ahnert 2008).
Genügend gute frühe Beziehungen tragen langfristig zu unserem Wohlbefinden und zu unserer Beziehungsfähigkeit bei. In ihnen erfährt das Kleinstkind Aufmerksamkeit, die von „Feinfühligkeit“ [vgl.Kap.4u.8:Empathie] geprägt ist. Problematische frühe Beziehungen, zu denen neben dem Mangel an Feinfühligkeit auch Beziehungsbrüche gehören, haben schädliche Wirkungen. Die Folgen solcher Traumatisierungen werden später als Verhaltensstörungen, Lernstörungen oder Unfähigkeit zu lieben, wahrgenommen. Die Bindungstheorie kann als Beispiel für Entwürfe gelesen werden, in denen dem Phänomen der intersubjektiven Relationalität höchste Bedeutung zukommt, in dem aber gleichwohl auch langfristig recht stabilen Strukturen der einzelnen Subjekte eine gewisse Konsistenz zugesprochen wird. Im Lichte der Theorie der Relationalität mit ihrer Kritik an der Lehre von den dauerhaft haltbaren „Substanzen“, können von der Bindungstheorie noch stärker relationale Impulse ausgehen. Dann werden die jeweils aktuellen Beziehungen stärker gewichtet.
(…) Aus relationaler Sicht werden vor allem förderliche Situationen mit guten Beziehungen zu anderen als unterstützend für schwer belastete Menschen angesehen. (aus: Prengel 2013 S.40-41)
Anerkennung (Honneth würde von "Anerkennung in der Sphäre des Rechts" sprechen, Kap. 6 und 9) erhält die Bindungstheorie sogar von allerhöchster gesundheitspolitischer Stelle, von der Weltgesundheitsorganisation WHO, welche bereits 1946 folgenden Satzungsartikel beschlossen hat:
„Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (WHO 2009, S.1). Wenn in diesem Grundsatz ein Zusammenhang zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Aspekten hergestellt wird, so wird damit in Abgrenzung von einem rein körperbezogenen medizinischen Modell die Bedeutung multidimensionaler relationaler Prozesse für ein gesundes Leben hervorgehoben. Auf der Basis des durch die WHO als Maxime, im Sinne eines Ideals, formulierten Gesundheitsverständnisses, wurden weitergehende Konzepte entwickelt, die Krankheit und Gesundheit nicht als Zustände, sondern als relationale Prozesse beschreiben. So betont die mit „Salutogenese“ umschriebene Gesundheitstheorie die gesundheitsförderliche Balance der Auseinandersetzung zwischen den stets gleichzeitig gegebenen gesunden und kranken Anteilen (Antonovsky/Franke 1997). Gesundheit kommt hier selbstregulativen Prozessen des Umgangs sowohl mit Ressourcen als auch mit Störungen gleich, die durch protektive Faktoren gestärkt werden können (Egger 2010 S.38). Auf der Basis eines solchen salutogenetischen Verständnisses wird Gesundheit als „gelungene Anpassung an sozio-ökologische Lebensbedingungen“ (Egger S.39) gesehen. (aus: Prengel 2013 S.42)
Abschliessend zu dieser 'Tour d'Horizon du relationnel' möchte ein letztes mal Prof. A. Prengel zitieren, wie sie sich zur empirischen Befund- und Studienlage bezüglich Empathie, Intuition, Beziehung, Kooperation, ... kurz: zur Relationalität (oder wer's lieber so mag: zur Intersubjektivität) und im Anschluss daran zu den Menschenrechten äussert:
Studien zu prosozialen Relationen, die eine anthropologisch gegebene und früh in der kindlichen Entwicklung sichtbar werdende Fähigkeit zur Empathie untersuchen, nehmen zu:
» Sennett, R. (2012). Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation
» Rifkin, J. (2010). Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein
» Waal, F. de (2011). Das Prinzip Empathie: Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können
» Fuchs, T. (2010). Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption
und populärwissenschaftlich:
» Bauer, J. (2006). Warum ich fühle was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen
» Hüther, G. (2012). Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollten
Als frühes Beispiel eines solchen Erkenntnisinteresses kann das zuerst 1902 erschienene Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ des kommunistischen Anarchisten Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin genannt werden (Kropotkin 1975).
In solchen Studien wird herausgearbeitet, wie sehr sich die Fähigkeit zur Empathie kontinuierlich ontogenetisch und phylogenetisch nachweisen lässt und wie undenkbar menschliches Leben und menschliche Kulturleistungen von Anfang an ohne eine ausgeprägte Zusammengehörigkeit und Kooperation waren und sind.
Nach Aleida Assmann (2006a, 2006b) brauchen wir Empathie mit den Opfern historischer Gewaltereignisse, darum ist Empathie ein Bildungsziel der Erinnerungskultur [vgl. hierzu auch Kap. 9: Ubuntu].
Angesichts der Gleichzeitigkeit von „gut“ und „böse“ in menschlichen Beziehungen, die - trotz situativ unterschiedlichen Gewichts der beiden qualitativen Dimensionen - ubiquitär zu sein scheint, also angesichts der Ambivalenzen und ihrer in der aktuellen spätmodernen Phase typischen Figurationen, kann die Konzeption der Menschenrechte als Versuch gelesen werden, mit den Mitteln unserer historischen Epoche anerkennende Tendenzen zu bekräftigen und verletzende Tendenzen zu schwächen. Dazu dienen die menschenrechtlichen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität in ihrem Zusammenhang [Fortsetzung dieser Gedanken im Kapitel 9: Menschenrechte].
Quelle: Prengel, Annedore (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz S.48-49
Nach Maturana lässt sich Selbstreferenz so charakterisieren:
"Aufgrund seiner zirkulären Organisation hat ein lebendes System eine selbstbezogene Domäne der Interaktion – es ist also ein "Selfrefering-System". Seine Bedingung, eine Einheit der Interaktionen darzustellen, ist deshalb aufrecht erhalten, weil seine Organisation nur dadurch funktionale Bedeutung hat, dass sie auf die Aufrechterhaltung seiner Zirkularität ausgerichtet ist und auf diese Weise seine Domäne der Interaktion definiert“ (Maturana 1970; Uebersetzung von Mitterauer 2009).
Hier handelt es sich um eine systemtheoretische Beschreibung der Selbstreferenz, die man aus psychologischer Sicht den lebensnotwendigen und ungestörten Narzissmus nennen kann.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass unser Forschungsergebnis aus den Siebzigerjahren mittlerweile in der Psychiatrie, allerdings unzitiert, berücksichtigt wird. So wurde in den gängigen Diagnoseschemata bei narzisstischen Störungen auch die Selbstbezogenheit als diagnostisches Kriterium eingeführt.
Im Jahre 2003 habe ich diesen Ansatz weiter entwickelt und versucht, das „Prinzip des Narzissmus als Modell der polyontologischen Selbstreferenz“ darzustellen (Mitterauer 2003 a). Dabei geht es auch um eine neue Hirntheorie, auf deren Grundlage man Erklärungsmodelle für die so genannten endogenen Psychosen (Depression, Manie, Wahn) entwickeln kann.
Bis hierher können wir festhalten:
Psychische Gesundheit bedingt ein jeweils adäquates, kontextabhängiges Einpendeln und Aktivieren sowohl des inneren als auch des äusseren Selbst.
Gemäss der 50/50-Regel (siehe Kap. 5): ca. 50% muss ich selbstbewusst (!) selber beitragen zu meinem Glück, die anderen 50% muss ich die Spannung des nichts-tun-könnens aushalten und muss anerkennen, dass ich auch von Anderen und vom Kontext abhängig bin) sollte beides in der Summe ausbalanciert sein.
Ausgehend von der Beobachtung „echter“, authentischer Momente, überraschender Wendungen mit oft stark "berührender" Intensität und grosser zwischenmenschlicher "Stimmigkeit" in zahlreichen Psychotherapie-Sitzungen, aber auch im Alltag, möchte ich im folgenden der Frage nachgehen, wie es kommt, dass wir Menschen einen grossen Teil unseres Lebens hinter einer Fassade von Anpassung, Konvention, sozialer Erwünschbarkeit bis hin zu Manipulation, Täuschung, Esoterik und Kitsch (D.W. Winnicott und Karen Horney nennen dies "das falsche Selbst") verbringen und wie es möglich wird, das dahinter bzw. daneben vermutete und in spontanen Momenten des Ausbrechens aus den üblichen sozialen Rollen spürbare "wahre Selbst" lebendiger werden und in ein stimmigeres Zusammenspiel mit dem äusseren oder Rollen-Selbst (siehe z.B. Mead oder Goffman bzw. Moreno oder Petzold) kommen zu lassen.
Wir werden feststellen, dass es nicht um ein 'entweder-oder' dieser beiden 'Selbste' geht, sondern um ein dialektisches Zusammenspiel der beiden Instanzen oder treffender: Ausprägungen des einen unteilbaren Selbst in Form von 'Aggregatszuständen'; dem oft eher scheuen und ängstlichen 'inneren Selbst' wie ich es nennen möchte (statt dem "wahren" Selbst) und dem eher eloquenten, berechnenden, manchmal aber auch strategisch schweigenden oder sich bewusst verstellenden etc., 'äusseren ("falschen") Selbst'.
TEIL IV: Digitale, imaginäre Relationen
Die Rückkehr des Imaginären in der Bild-Sprache
Soziale Netzwerke befördern nicht den Kosmopolitismus, sondern die Provinzialisierung der Kommunikation
"Die Umstellung der digitalen Kommunikation auf Bilder, wie sie sich in der Verwendung von Emoticons und Kürzelschrift zeigt, ist (…) ein Symptom. Emoticons und Kürzel sind keine Hilfsmittel zur Vereinfachung der Kommunikation, sondern standardisierte Substitute sprachlichen Ausdrucks, deren routinierte Nutzung an die Stelle der Arbeit an der Sprache tritt. Was als unmittelbarer Ausdruck im Gegensatz zur mühsamen Formulierung erscheint, ist in Wahrheit restlos vermittelt und wird als fertiges Formelrepertoire massenhaft in den verschiedensten Kommunikationssituationen reproduziert.
Die Tendenz zur Standardisierung in der digitalen Kommunikation ist nicht zu verwechseln mit der Konventionalisierung von Sprache. Sprachkonventionen waren gerade charakteristisch für die bürgerliche Briefkommunikation. Anrede und Schlussformel, rhetorische Fragen und so weiter bildeten hier ein Geflecht sprachlicher Regeln, deren Beherrschung den subjektiven Ausdruck, der über das Konventionelle hinausweist, überhaupt erst möglich machte. Die Unterscheidung zwischen Konvention und Affekt, vorgefundener Form und subjektivem Ausdruck wird jedoch in der standardisierten digitalen Kommunikation aufgelöst.
Die Affektschablonen, mit denen Gewohnheitsnutzer der sozialen Netzwerke so geschickt wie schamlos umgehen, sind konstitutiv taktlos: Wo eine konventionelle Sprachgeste gefordert wäre, erscheinen sie plump und roh (wie die weinenden Gesichter unter geposteten Nachrufen); wo dersubjektive Ausdruck verlangt wäre, wirken sie routiniert und kalt (wie die Herzchen unter Texten, die jemandem besonders gut gefallen). Der durch die Irrealisierung der Vermittlung ausgeblendete Widerstand kehrt in den digitalen Kommunikationsformen so als immanente Brutalität zurück – wie als Rache dafür, dass ihre Nutzer sich die Anstrengung der Vermittlung dank geschickter Kombination von Schablonen glauben sparen zu können.
Die Rohheit der digitalen Kommunikationsformen, von der Hass-Postings nur ein drastischer Ausdruck sind, verleiht der Rede vom „globalen Dorf“ [vgl.McLuhan u.a.Kap.1] Plausibilität. Die sozialen Netzwerke sind, da es zwar lauter beruflich Weltreisende, aber keine Kosmopoliten mehr gibt, zum Medium eines internationalisierten Provinzlertums geworden, dessen Angehörige in der Ueberzeugung, mit der ganzen Welt vernetzt zu sein, unter sich bleiben [vgl.'Filter Bubbles' Kap.8, 'Plattformkapitalismus' Kap.9]].
Nicht nur bleibt jede Kommunikationsgeste auf den eigenen digitalen Anhang bezogen, die Individualisierung der Profile sorgt auch dafür, dass jeder nur noch zu lesen und zu sehen bekommt, was ihn ohnehin interessiert. Und wie Kumpel am Stammtisch geben die Vernetzten einander halb ironische, halb despektierliche Phantasienamen. Man fällt sich ins Wort (die Vermündlichung der Schriftsprache ist eine virulente Tendenz der digitalen Kommunikation), beschimpft sich und verträgt sich. Der kommunikative Konformismus, der dadurch entsteht, simuliert zwischen atomisierten Individuen, was in der Dorfgemeinschaft noch Wirklichkeit war [--> "Wiederkehr des Imaginären"!].
Es würde sich lohnen, vor diesem Hintergrund noch einmal Marshall McLuhan zu lesen. Dieser war nämlich, anders als oft geglaubt wird, kein Prophet, sondern ein Skeptiker der digitalen Kommunikation und wollte die Metapher vom globalen Dorf nicht als Utopie, sondern als Warnung verstanden wissen: davor, dass die technologischen Netzwerke nicht die weltweite Verwirklichung, sondern den universalen Verrat des amerikanischen Traums befördern könnten" (Klaue 2018 S.11).
Quelle: Klaue, Magnus (2018). Affektroutinen des globalen Dorfes. In: FAZ vom 9.März S.11
"My Country Talks": Die Schweiz/Deutschland/Oesterreich etc. spricht
Als "Therapie" dieser Sprachlosigkeit bzw. codierten, digitalen Hass- und Wutreden sehe auch ich das Gespräch, die "mündliche Rede", die Habermas'schen "Herrschaftsfreien Diskurse". Im Sinne Lacans gilt es aus dem 'Imaginären' der Filterblasen heraustretend sich weiterzuentwickeln hin zu einem diskursiven Modus des Symbolischen, wo Sprache und Anerkennung, Demokratie und Toleranz, kurz: Menschenrechte, gelten.
In diesem Verständnis des Zusammenlebens kommen wir nicht umhin, auch entgegengesetzte Meinungen und Argumente uns immer wieder anzuhören, in gemeinsame Resonanz zu kommen - oder auch in Dissonanz, aber als 'Konsens im Dissens' (vgl.Kap.10) - um so dialektisch-relational unseren Horizont zu weiten und auch extreme Positionen zuzulassen und kennenzulernen.
Ganz in diesem Sinne haben ein Kollektiv diverser Tages- und Wochenzeitungen in den letzten Jahren Gesprächsräume organisiert, wo politisch Andersedenkende miteinander reden konnten:
"Deutschland spricht" heisst eine Plattform für politische Zwiegespräche von u.v.a. ZEIT ONLINE. Das Versprechen: Menschen zusammenbringen, die politisch völlig unterschiedlich denken und möglichst nahe beieinander wohnen. Am 23. September 2018 trafen sich Tausende Menschen in ganz Deutschland. Insgesamt elf Medienhäuser riefen in diesem Jahr gemeinsam zu der Aktion auf. Schirmherr war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Am 21. Oktober 2018 fand dasselbe Format unter dem Titel "Die Schweiz spricht" auch hierzulande statt:
"Die von ZEIT ONLINE gemeinsam mit internationalen Medienpartnern entwickelte Plattform "My Country Talks" ermöglicht es Medienhäusern weltweit, ihre Leserinnen und Leser in kontroverse Gespräche mit Andersdenkenden zu vermitteln. Nach "Deutschland spricht" und "Österreich spricht" fand am 21. Oktober 2018 "Die Schweiz spricht" statt (#D18)".
Weil diese spannenden Gespräche aus rechtlichen Gründen hier nicht wiedergegeben werden dürfen, habe ich mich entschieden, beispielhaft die Kommunikation und Beziehung eines prominenten Paares aus Deutschland wiederzugeben: er links, sie rechts. Diese Zwiegespräche haben übrigens nichts mit obiger Aktion zu tun, sondern ergaben sich quasi natürlicherweise im Biotop eines gemeinsamen Haushalts, was eine viel grössere Brisanz und Dynamik mit sich bringt als wenn Zufallsbekannte miteinander streiten, wie es in "My Country Talks" per Algorithmus geschieht.
"Mit Rechten reden" und "Mit Linken leben" oder "Besuch von anderen Planeten"
"Kulturwissenschaftler Helmut Lethen gilt als 68er, dem das Aufbegehren der Neuen Rechten widerstrebt. Zu ihr gehört neuerdings auch seine Ehefrau Caroline Sommerfeld.
'Unheimliche Nachbarschaften', so heisst ein Buch des bedeutenden Ideenhistorikers und Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen. Es geht ihm da, wie in anderen Studien, um eine "Sphäre des Austauschs" in der nervösen Zeit zwischen den Weltkriegen: eine Sphäre, "in der Radikale, die sich politisch durch Welten von einander getrennt empfanden, lebhaft miteinander kommunizierten".
Nun ist Helmut Lethen dieser Untersuchungsgegenstand näher gerückt als erwartet. Denn seine Frau Caroline Sommerfeld-Lethen, mit der er seit zwei Jahrzehnten verheiratet ist, Kinder hat und in Wien zusammenlebt, ist vor zwei Jahren zu den neurechten "Identitären" übergelaufen. Caroline Sommerfeld-Lethen hat vor zwölf Jahren eine viel gelobte philosophische Dissertation über Immanuel Kant unter dem Titel "Wie moralisch werden?" veröffentlicht, und sie war gern gesehener Gast auf geisteswissenschaftlichen Tagungen. (...)
Caroline Sommerfeld schreibt (nur unter diesem Namen) Blogs für das rechtsintellektuelle Magazin 'Sezession' unter der Ägide von Götz Kubitschek. Sie glaubt an den "Grossen Austausch", wonach Europas Bevölkerung durch Muslime unterwandert und ersetzt werden soll. Den ungarisch-amerikanischen Milliardär und Mäzen George Soros hält sie für einen Strippenzieher der "Masseneinwanderung". Im Februar dieses Jahres wurde Sommerfeld als Köchin einer Wiener Waldorfschule suspendiert, weil sie auf rechtsradikalen Internetseiten schreibe. Auf der Wiener Erster-Mai-Demonstration hielt sie ein Plakat hoch, auf dem stand: "SPÖ = Islampartei".
Ihr Mann hingegen, Helmut Lethen, ist so etwas wie ein intellektueller Parade-Achtundsechziger. Er stammt aus rheinisch-katholischem Milieu und wurde dann einerseits Germanist, andererseits Mitglied maoistischer Splittergruppen im Zuge der Studentenbewegung. Er bekam deshalb erst keine Stelle an einer deutschen Universität, lehrte dann in den Niederlanden - "glücklich den Grabenkämpfen entronnen", wie er in seinen Erinnerungen schreibt -, wurde nach der Wende Professor in Rostock und war bis 2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien/Linz, das jetzt Thomas Macho leitet.
In den kommunistischen Kadern der Siebzigerjahre wurde Helmut Lethen, Jahrgang 1939, einst des "Versöhnlertums" bezichtigt. Mit Faszination und gelehrter Einfühlung blickte er hernach auf die Denker und Dichter der Extreme, auf die Avantgarden der sozialistischen und konservativen Revolutionen wie Carl Schmitt, Bertolt Brecht oder Ernst Jünger; seine Suhrkamp-Studie "Verhaltenslehren der Kälte" wurde zum Theorie-Kultbuch über die Intellektuellenkämpfe, Menschenbilder und Obsessionen der Zeit der Weimarer Republik. (...)
Beispielhafter Ehekampf um die Diskurshoheit
"Die SZ hat Helmut Lethen dieser Tage getroffen, er möchte dazu aber nicht zitiert werden: "Sie können ruhig schreiben, dass ich mich in buddhistisches Schweigen hülle". Das Ganze wäre auch eher ein privates Drama, das keinen etwas angeht, vielleicht noch ein deutsches Sittenstück - wenn nicht Caroline Sommerfeld es über den Küchentisch in die Oeffentlichkeit hinaustrüge, um einen beispielhaften Ehekampf um die Diskurshoheit daraus zu machen.
Denn erstens hat sie bei 'Sezession' mehrere "Dialoge mit H." publik gemacht. Darin teilt sie die privaten Debatten mit ihrem Mann mit, ohne seine Mitwirkung. Wenn er daheim liberale Mindeststandards einfordert, etwa Anerkennung der Verantwortung für den Holocaust, kritisiert sie ihn im Internet als "Diskurswächter, der er nicht sein will" und moniert den "Schuldkult" und "Ethnomasochismus". Einmal heisst es: "Ein besonders lieber Lemming sitzt im Wohnzimmer ..." Und an anderer Stelle: "Jeder reklamiert die Vernunft für sich, jeder wirft dem andern Erfahrungsleere vor".
Zweitens hat Caroline Sommerfeld soeben zusammen mit Martin Lichtmesz, einem der Wiener Köpfe der neuen Rechten und Ideologen der Identitären, ein Buch unter dem Titel "Mit Linken leben" verfasst. Es erscheint im Antaios-Verlag von Götz Kubitschek und wird jetzt von den beiden auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. "Mit Linken leben" ist als Gegenmittel zu dem Buch "Mit Rechten reden" von Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn gedacht, [das fast zeitgleich im Herbst 2017 erschienen ist]. (...)
Es gibt also einen grösseren politischen Konflikt, den eben auch belesene Menschen führen können - und es gibt die bisher intakte Akademikerfamilie Lethen. Ist sie Ausnahme oder schon Exempel? Caroline Sommerfeld sagt zur SZ, es stünden sich "zwei unvereinbare Wahrnehmungen der Wirklichkeit gegenüber". Sie und ihr Mann könnten aber "die schmerzhafte Zerreissprobe aushalten", weil sie die Ehe "mit all ihren verschiedenen Ebenen des Halts, der Rückversicherung, des Vertrauens, der Erfahrungen im Hintergrund haben" (Schloemann 2017)".
Ich zitiere, den SZ-Artikel über Lethen/Sommerfeld konkretisierend, aus oben genanntem 'Sezession'-Blogartikel (Sommerfeld 2017):
"Was mich motiviert hat zu den "Dialogen mit H."? Der "Widerstreit zweier Diskursarten" (Lyotard), der sich als Abbild der gegenwärtigen Polarisierung der Gesellschaft zwischen uns abspielt. Da stehen sich zwei unvereinbare Wahrnehmungen der Wirklichkeit [in unserem Modell: "I" und "S"] gegenüber, wir spielen täglich "Ich-sehe-was-das-du-nicht-siehst". Wo ich Krise sehe, sieht er Bereicherung, wo ich phänotypische Unterschiede sehe, sieht er Gleichheit, wo ich geschichtliche Umbrüche sehe, sieht er Individuen, wo ich Agon sehe, sieht er Konsens.
Jeder sieht den anderen als "Mainstream", jeder sieht den anderen in einer "Echokammer", jeder sieht die Ideologie des anderen als Gefahr. Die Frage ist dann: Gibt es einen Beobachter zweiter Ordnung, der entscheiden kann, wessen Wahrnehmung trügt? Gibt es Diskursregeln, die bestimmen könnten, wer recht hat?
Linke, und eben auch mein Mann, täuschen sich in diesen Fragen über eines: dass sie als Diskurshegemonen die Wahrnehmungswerkzeuge seit Jahrzehnten geformt, deformiert und untauglich gemacht haben. (...)
........... (Sommerfeld 2017)
"Die Knotenpunkte der Geschichte entstehen da, wo ihre Protagonisten um das Sagbare und das Unsagbare gerade noch streiten können. Es gibt Begriffe, die kurz vorm Verschwinden von der diskursiven Bildfläche sind: »das Eigene / Eigentliche / Substanz«, dann: »Volk«, »Heimat«, »Nationalstaat«, und konkreter: »Deutschsein«.
Ich habe das historisch grosse Glück, mit meinem Mann ein Schauspiel zweier Generationen aufführen zu können. Uns verbindet das Gerade-noch-Sagbare. H ist Jahrgang 1939, kennt also die oben genannten Substanzbegriffe in ihrer rhetorisch heissesten Phase noch, genauso wie er bei ihrem Herunterkühlen und Verschwindenlassen heftig mitgearbeitet hat.
Ich, Jahrgang 1975, kenne sozialisationsbedingt alles Wesentliche nur aus zweiter Hand, der Hand der 68er. In der kühlen Fadheit der Bundesrepublik nach 1990 schwelte aber untergründig doch noch eine Faszination für das, was einstmals Begeisterung entfacht haben musste, was als das »Böse« zu sehen uns mit logischer Stringenz beigebracht worden war.
Es blieb lange Zeit untergründig, offen nur der Abscheu gegen das allzu selbstverständliche »Gute«, und brach sich erst im vergangenen Jahr aufgrund der dramatischen politischen Lage eindeutig Bahn. Ich erschrak vor mir selbst, dass ich – ohne es zunächst explizit zu wissen – mich selbstverständlich mit etwas identifizierte, das nicht mehr in den Bereich des Sagbaren gehörte.
Noch vor ein paar Jahren glaubte ich, ich hätte keine Werte. Das »Wir-Gefühl« der amerikanischen Kommunitaristen, allen voran meines Lieblingsphilosophen Richard Rorty, war mir fremd, ich setzte eher darauf, die »liberale Ironikerin« zu verkörpern. In 'Kontingenz, Ironie und Solidarität' von 1989 verband Rorty ästhetische Distanz, Typus Nietzsche, mit solidarischem Engagement, Typus Marx. Mir war klar, welche Rolle ich spielen wollte und unter welcher ich litt, weil sie mir nicht gelang. Dass dieses Gefühl ein urdeutsches war, war mir nicht bewusst". (...)
"Die Werte und Ueberzeugungen der 68er-Generation bestimmen dieser Tage kulturhegemoniell den medialen Mainstream, das muss man sich vor Augen halten, es geht also nicht um die Historisierung eines psychischen Musters. Die seelische Ueberfremdung (Besatzung, Schuldkomplex, »Alles Fremde ist besser als alles Eigene«) hat dazu geführt, dass ihre Protagonisten aus der Feindschaft gegen das Eigene inzwischen ein Nichterkennen des Eigenen entwickelt haben. Daher nimmt es dann nicht länger wunder, wenn in der Nachkriegszeit aufgewachsene Menschen offensichtlich mit den Diskursen ihrer frühen Kindheit komplett gebrochen haben: Sie sind komplett gebrochen worden. Dass dergestalt gebrochene Figuren sich allzumeist wohlfühlen in der Gegenwart, ist nur auf den ersten Blick paradox. Denn das psychisch degradierende Schuldigsprechen, die Erniedrigung des Besiegten, die Erziehungsbedürftigkeit wurde mit der Freisetzung eines Aufbruchs in die Freiheit verknüpft. Wer die Kollektivschuld erkennt und auf sich bezieht, der sei berechtigt, alle alten Motive des Schuldigwerdens als »Faschismus« zu erkennen und sich im »Antifaschismus« neu zu entwerfen. Das gilt für Ost- wie für Westdeutschland, in Sonderheit für die »revolutionäre Praxis« der linken Intellektuellen seit den frühen siebziger Jahren und die mehrheitsfähige Fortführung derselben bis in die unmittelbare Gegenwart" (Sommerfeld 2016 S.16).
"Wir sind nicht für eine autoritäre Gesellschaft! Nur für eine weniger stromlinienförmig linke, dumme, dekadente, heuchlerische, einseitige, sich selbst untergrabende, sich ihrerseits selbst den Ast, auf dem sie sitzt, absägende.
»Widersprüchlichkeit bindet, Widerspruchsfreiheit löst Bindungen auf«. Albrecht Koschorke hat unter dieses Gesetz das Erzählen als wesentliches Medium der Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft gestellt. Und wie wir uns widersprechen! Wir stellen grosse Erzählungen paradigmatisch gegeneinander, Lyotards 'Widerstreit' feiert fröhliche Urständ. Das erzeugt eine
tiefere Bindung, als wir Eheleute ahnten, bevor wir uns ideologisch abhanden kamen.
Indes: Anders als 1983, als 'Der Widerstreit' erschien, ist gegenwärtig das Risiko grösser, weil nicht nur postmodern-diskursiv »Erzählungen« (Récits) auf dem Spiel stehen, sondern daran globale Machtverhältnisse festhängen. Lyotards »Ende der grossen Erzählungen« hat sich nicht bewahrheitet. In meiner Erzählung über den 'Grossen Austausch', die 'Neue Weltordnung', den Verlust des Eigenen und die gebotene Verteidigung des Eigenen kommt echte Gefahr vor. Bindung bringt in nicht unerheblichem Masse Sorge mit sich. Womöglich ist es schierer Fürsorgetrieb, der Selbstverleugnung dieser Generation einen Halt entgegenzusetzen, und zwar auch dann, wenn sie diesen Halt unbeirrbar für das schlechthin Böse halten wird" (Sommerfeld 2016 S.17).
Eine deutsche Liebesgeschichte
Der Germanist Helmut Lethen hat ein Buch über das „Dritte Reich“ geschrieben. Es ist auch ein Brief des 68ers an seine Frau, die sich der Identitären Bewegung angeschlossen hat:
"„Mit Linken leben“ heisst Sommerfelds Buch, sie hat es zusammen mit dem österreichischen Autor und Uebersetzer Martin Lichtmesz geschrieben, ebenfalls Aktivist der rechten Szene. Sie versuchen darin, der linken und liberalen Oeffentlichkeit nachzuweisen, dass die Toleranz und Offenheit, deren sie sich rühme, enge Grenzen hätten. Dass ausgeschlossen werde, wer sich nicht an die Regeln des Meinungsmainstreams halte. Und dass das demokratische System totalitäre Züge habe – diese aber nicht sehen könne und das auch nicht wolle. Deshalb gab es die Aufregung in Frankfurt, Sommerfeld und Lichtmesz nahmen sie als Bestätigung. (...)
Es arbeitet in ihm [gemeint ist H.Lethen], das ist offensichtlich. Wie sollte es auch anders sein. Lethen und Sommerfeld, das ist eine deutsche Liebesgeschichte, wie sie reiner und tragischer gerade kaum vorstellbar ist. Es gibt drei historische Brüche in der Geschichte der Bundesrepublik:
I. die Studentenbewegung, II. die Wiedervereinigung und III. die Flüchtlingskrise.
Zwei davon finden sich bei Lethens am Frühstückstisch wieder. Da ist der 68er, der eine Frau liebt, die zur Aktivistin der Identitären Bewegung geworden ist. Ein alter Linker, für dessen Frau der Weg aus seinem Schatten nach rechts führt. Und eine ehemalige Studentin, die ihren Professor geheiratet hat – der nun der Mann ist, den sie politisch zerstören will. All das sind keine Geheimnisse. Sommerfeld schreibt darüber. „Dialoge mit H.“ heißen etwa die Protokolle des politischen Wohnzimmerstreits des Paares. (...)
Leute wie der Verleger Götz Kubitschek, bei dem das Buch von Sommerfeld und Lichtmesz erschienen ist, und seine Freunde beziehen sich in ihrem Deutschlandbild ja keineswegs auf die Nazis. Die Denker der konservativen Revolution haben es ihnen angetan, die Schriftsteller der inneren Emigration, die Elite des Deutschen Reichs, die nicht ins Exil ging, sondern blieb. Das liegt zum einen an dem eigenartigen Ableitungsdenken der Rechten. Für Kubitschek sind die heutigen Liberalen, wenn sie sich auf den damaligen Widerstand oder das Exil beziehen, schlicht verlogen – wer heute angepasst lebe, hätte es damals auch getan.
Gleichzeitig leben die Neurechten in dem konstanten Gefühl, sich durch feindliches Gebiet zu bewegen. Durch eine Welt, die von Hollywood und 'Political Correctness' beherrscht werde – und auf die man gar nicht anders als mit Mimikry und Selbstbeherrschung reagieren könne [vgl.Kap.5]. Auch dieses Gefühl lässt sich in einer verqueren Art auf das Leben der Konservativen projizieren, die Deutschland nach 1933 nicht verliessen, sondern glaubten, innere Distanz zum Regime reiche aus" (Rapp 2018 S.130).
Quellen:
Rapp, Tobias (2018). Eine deutsche Liebesgeschichte. Der SPIEGEL 9/18, S.128-130
Schloemann, Johan (2017). Er predigt den Austausch, sie marschiert auf Fackelzügen. In: Süddeutsche vom 12.10.17.
Sommerfeld, Caroline (2017). Mit Linken leben II. In: Sezession Online vom 11.Okt.17.
Sommerfeld, Caroline (2016). Dialoge mit H – Wie war der Verlust des Eigenen möglich? In: Sezession 74, Okt.16, S.14-17
https://www.zeit.de/serie/deutschland-spricht
https://www.zeit.de/thema/d18
https://www.mycountrytalks.org/
https://www.woz.ch/schweizspricht
https://interaktiv.berneroberlaender.ch/2018/schweiz-spricht/
Der Andere, das moralische/sittliche Dritte, das Zwischen, Triangulierung; Resonanzraum, Feld, Empathie
Anerkennungskonzepte: Jessica Benjamin und die Relationale Psychoanalyse
Paartherapie, Täter/Opfer, Kollusion und Anerkennung (Jürg Willi et al.)
Anerkennungskonzepte in Pädagogik, Pflegewissenschaft und Sozialarbeit
Martin Altmeyer: Narzissmus und Objekt
Martin Altmeyer: Mentale Bezogenheit
Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele
Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe
Axel Honneth: Kampf um Anerkennung
Jürgen Habermas: Naturalismus und Religion
Otto F. Kernberg/Diana Diamond: Narzissmus und die Gesellschaft
Daniel N. Stern: Gegenwartsmomente (Now-Moments)
Peter Fonagy, Mary Target et al.: Affektregulierung und Mentalisieren
7. TECHNIK: Vom Anthropozän zum Posthumanismus - Konsum, Wachstum und digital-visueller Narzissmus
TEIL I: Technokratie oder das Ge-stell
- 7.1.1. Die Menschheit schafft sich ab - Die Erde im Griff des Anthropozän
- Prometheus und das "prometheische Grauen"
- Der eindimensionale Mensch - Frühe Technikkritik als Technokratiethese
- Martin Heidegger: Das Ge-stell
- Norbert Bolz: Das Ge-stell
- Technokratie: "Von Mensch zu Mensch wird über Bande gespielt"
- Kränkbarkeit als Leitsymptom unserer Zeit
TEIL II: Digital-visueller Narzissmus
- 7.2.1. Vom Analogen ins Digitale - vom Echten zum Falschen?
- 7.2.2. Digitale Entfremdung und Oberflächentechnik
- 7.2.3. Aesthetischer Narzissmus
- 7.2.4. Narzisstisches Scheinen in der darstellenden Kunst
- 7.2.5. Politisches Handeln – politisches Scheinen: Symbolische Politik
- 7.2.6. Entfremdung und Selbst-Design
- 7.2.x. Das Selfie und die 'Oekonomie der Aufmerksamkeit'
- 7.2.7. Narzissmus in den Social Media: Selfie-'Kultur' auf Facebook, Twitter und Youtube
- 7.2.8. Narzissmus im Fernsehen: Casting Formate und Medienkritik à la Bourdieu, Luhman und Postman
TEIL III: Das digitale Zeitalter - Dataismus, Big Data, Spieltheorie und Algorithmen
- 7.3.1. Wie wirklich ist die Wirklichkeit I - Strukturalismus und Semiotik
- 7.3.2. Wie wirklich ist die Wirklichkeit II - Jean Baudrillard: Simulakra und Simulation
- 7.3.3. Wie wirklich ist die Wirklichkeit III - Hans Blumenberg: Wirklichkeitsverhältnisse
- 7.3.4. KONSUM: Falsch statt Echt: Der Siegeszug des Kommerzes – Ernst Fehr und R.D. Precht
- 7.3.5. Das Selbst - Die Maske - Der Bluff - Manfred Prisching
- 7.3.6. Der Existenzbastler in der Multioptionsgesellschaft - Hitzler/Gross
- 7.3.7. Baudrillard II: Die Konsumgesellschaft - Ihre Mythen, ihre Strukturen
- 7.3.8. Spieltheorie und Big Data-Manipulationen bei Frank Schirrmacher
- Stammeskultur im Netz, Re-Tribalisierung und die geschlossene digitale Gesellschaft
- Adorno, Horkheimer, Marcuse, Fromm und die Frankfurter Schule - Kritische Theorie und Neo-Psychoanalyse
TEIL IV: Das Post-Digitale Zeitalter: Psychopolitik, Superintelligenz und 'Homo Deus'
- ..........................
- Byung-Chul HAN: Psychopolitik und Kritik des Neoliberalismus
- Müdigkeitgesellschaft: Optimierung des "falschen Selbst" macht schlapp
TEIL V: KONSUM: Wachstumskritik des "Immer mehr" im real existierenden Kapitalismus
- Erdheim: «Der Konsumwunsch erwächst aus den kapitalistischen Arbeitsbedingungen»
- Décroissance, Small is Beautiful, Downsizing - Mässigung, Balance, Toleranz
- Kapitalismus- und Medienkritik: Was kommt nach dem Kapitalismus? Minimalismus, Urban Gardening, Tauschkreise?
- Niko Paech: Grundzüge einer Postwachstumsökonomie
"Man muss sich fragen, ob der menschliche Geist das beherrschen kann, was er geschaffen hat."
(Paul Valery)
"Mit Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877 wird Technik „zur Zentralkategorie der Selbstdeutung des Menschen“: Erstmals wird Geschichte als Technikgeschichte interpretiert, das heisst, die Geschichte des Menschen wird als die der Entwicklung und Verbesserung seiner technischen Artefakte angesehen. Seit dieser Zeit gibt es
in den Kultur- und Sozialwissenschaften zahlreiche Autoren, die sich mit dem Problemfeld auseinandersetzen, das zwischen den Eckpfeilern 'Mensch', 'Natur' und 'Technik' aufgespannt wird. Diese zahlreichen und vielfältigen Versuche, dem 'Wesen' der technischen Artefakte auf die Spur zu kommen, insbesondere deren Einschätzung des Stellenwerts von Technik in bezug auf den Menschen, sind der Gegenstand dieser Untersuchung" (Fohler 2003 S.11)
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Quelle: Fohler, Susanne (2003). Techniktheorien - Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen.
Jacques Ellul: „The Technological Society“ (1954)
Der französische Soziologe und Philosoph Jacques Ellul (1912–1994) war einer der ersten die eine "Dystopie einer monolithischen technischen Welt" (um nicht immer Orwell oder Huxley zu zitieren...) diagnostizierten bzw. voraussagten:
Ellul "diagnostiziert, dass die moderne, durch die Technik dominierte Gesellschaft dabei sei, sich in eine effizient organisierte und planvoll gestaltete kollektivistische und autoritäre Gesellschaft zu verwandeln.
Seine Basisargumentation lautet in komprimierter Form: Der Mensch hat sich vermittels der Technik von den Naturzwängen emanzipiert, aber dies führt in der Gegenwart zur Unterwerfung des Menschen und seiner Institutionen unter die Zwänge der Technik. Anstatt in der Befreiung von der Arbeitsfron resultiert die entfesselte Technik in der totalen Herrschaft einer technischen Rationalisierungsideologie, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der modernen Planungseuphorie findet. Der Liberalkapitalismus verwandelt sich auf diese Weise in einen zentralistisch gesteuerten Staatskapitalismus; Politik reduziert sich auf die Koordination und Ausführung technisch vermittelter Handlungszwänge; und auch der Mensch regrediert zum Objekt der Technik, das heißt des Plans, der Verwaltung, der Propaganda und der Reklame. Das Versprechen der Freiheitsgewinne durch Technisierung entpuppt sich als ein großes Projekt der Freiheits- und Demokratieberaubung. Technologische Gesellschaften sind totalitär" (Bogner 2015 S.65)
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"Technik ist damit das Gegenteil von menschlicher Kreativität, Improvisation und Spontaneität; sie gleicht in ihrer Rigidität einer Anleitung zum Bau von Bücherregalen. Die Technik ist für Ellul kein Gegenstand, sondern ein spezifisch modernes Denk- und Handlungsmuster, dessen Leitwert die Effizienz ist: „what characterizes technical action within a particular activity, is the search for greater efficiency. Completely natural and spontaneous effort is replaced by a complex of acts designed to improve, say, the yield.“ (Ellul 1964 S.20)" (zit. in Bogner 2015 S.65/66)
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"Die Antwort kann im Sinne Elluls nur lauten: Weil die Technik in der Moderne als Königsweg zu einem guten Leben für alle gilt. Schliesslich soll dieses gute Leben über Produktivitätssteigerung und Wachstum erreicht werden. Das heißt, die Zielvorgaben sind gewissermaßen schon technisch formuliert („durch Wachstum zum Glück“); Fortschritt wird auf diese Weise als Steigerung des quantitativ Messbaren ausbuchstabiert. Eine derartige Zielbestimmung muss zwangsläufig die Technik ins Spiel bringen. Dass deren Entfesselung nicht ins erwartete Paradies führt, sondern in die traurige Realität einer durchrationalisierten Gesellschaft, scheint Ellul evident. Dafür will er sensibilisieren" (Bogner 2015 S.66)
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Quelle: Bogner, Alexander (2015, 2te Aufl.): Gesellschaftsdiagnosen - ein Ueberblick. Weinheim: Beltz Juventa.
Kommen wir im Anschluss ans Esoterik-Kapitel 5 kurz zurück auf Propaganda, hier als technologiegetriebenes Mittel der Beeinflussung (vgl. auch Kap.9: Diktatur):
Robert R. Kirsch, Journalist der Los Angeles Times, bezeichnete Propaganda als „ein viel erschreckenderes Werk als jeder der Albtraumromane von George Orwell. Mit der Logik, die ein grossartiges Instrument des französischen Denkens ist, versucht Jacques Ellul seine These zu beweisen, dass Propaganda ungeachtet positiver oder negativer Intentionen nicht nur eine zerstörerische Wirkung für die Demokratie hat, sondern vielleicht die grösste Gefahr für die Menschheit der modernen Welt ist.“
Marshall McLuhan schrieb in der 'Book Week', dass Jacques Ellul bewiesen habe, dass „wenn unsere neuen Technologien von jeder Kultur oder Gesellschaft Besitz ergriffen haben, das Ergebnis Propaganda sei.“ (aus dem Wikipedia-Eintrag zu Propaganda)
Digitalisierung: "Von Mensch zu Mensch wird über Bande gespielt"
"In Anlehnung an das Kommunistische Manifest von Karl Marx kann der Leser vermuten: 'Es geht ein Gespenst um in Deutschland'.
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7.3.1. Wie wirklich ist die Wirklichkeit I - Strukturalismus und Semiotik
--> ergänzen in Kap.7.: wachstumskritik.htm
STRUKTURALISMUS
--> Def. etc.
"Der Strukturalismus gewann seit den 1950er Jahren Einfluss auf das geistige Leben in Frankreich und trat in den 60er Jahren in seine »belle époque« (Dosse 1/1999, 279 ff.) ein, ehe er seit Mitte der 70er Jahre von poststrukturalistischen Auffassungen (vgl.Moebius 2009), den »nouveaux philosophes« (vgl.Schiwy 1986) und anderen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denkrichtungen verdrängt wurde.
Die Entwicklung des Strukturalismus verstand sich zunächst als kritische Antwort auf die Hegemonie der subjektzentrierten Paradigmen der Phänomenologie und des Existenzialismus im intellektuellen Diskurs der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
An diesen beiden Denkströmungen, aber auch anderen philosophischen Theorien und Konzepten monierte der Strukturalismus einen eklatanten Mangel an Wissenschaftlichkeit. Hinter dem Konflikt zwischen Subjektphilosophie und idiografischen Auffassungen einerseits und Strukturalismus andererseits zeichneten sich die Umrisse einer gewissen Pattsituation der konkurrierenden Diskurse ab. Während Jean-Paul Sartre , Maurice Merleau-Ponty , Simone de Beauvoir , Pierre Vidal-Naquet und andere jenen Typ
des engagierten linken Intellektuellen auf dem wissenschaftlichen und philosophischen Feld verkörperten, der in den Gang der Geschichte eingreifen will, gingen Claude Lévi-Strauss und andere Vertreter des Strukturalismus zum parteilichen politischen
Engagement auf Distanz, weil sie sich einem von strenger Systematik und Methodik geprägten Wissenschaftsethos verpflichtet fühlten und den Möglichkeiten politischer Veränderungen durch intellektuelle Praxis skeptisch gegenüber standen (Winock
2003 696ff.)". [zit.nach Moebius/Peter 2014 S.20].
Dialektische Soziologie und »strukturalistischer Konstruktivismus«
Dialektische Soziologie (Niephaus 2018) bedeutet, Gesellschaft sowohl als objektive Realität wie auch als subjektive Wirklichkeit zu konzipieren. Solch ein Gegenstand lässt sich in einer Theorie unterbringen, die strukturalistische wie auch konstruktivistische Elemente aufweist. Eine solche Theorie des Sozialen – einen konstruktivistischen Strukturalismus oder auch strukturalistischen Konstruktivismus – hat Pierre Bourdieu vorgelegt.
Bourdieu hat seine soziologische Theorie selbst gelegentlich als »genetischen Strukturalismus«, »strukturalistischen Konstruktivismus« oder »konstruktivistischen Strukturalismus« (1992b 31/135) bezeichnet und so auf jene wissenschaftliche Strömung hingewiesen, die als Strukturalismus in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist:
„Hätte ich meine Absicht in zwei Worten zu charakterisieren, das heißt, wie es heute oft geschieht, sie zu etikettieren, würde ich von strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen, dabei das Wort Strukturalismus allerdings in einer ganz anderen Bedeutung fassen als in der Tradition von Saussure oder Lévi-Strauss . Mit dem Wort ‚Strukturalismus‘ oder ‚strukturalistisch‘ will ich sagen, daß es in der sozialen Welt selbst – und nicht bloß in den symbolischen Systemen, Sprache, Mythos usw . – objektive Strukturen gibt, die vom Bewußstein und Willen der Handelnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken oder Vorstellungen zu leiten und zu begrenzen . Mit dem Wort „Konstruktivismus“ ist gemeint, daß es eine soziale Genese gibt einerseits der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die für das konstitutiv sind, was ich Habitus nenne, andererseits der sozialen Strukturen und da nicht zuletzt jener Phänomene, die ich als Felder und als Gruppen bezeichne, insbesondere die herkömmlicherweise so genannten sozialen Klassen“ (Bourdieu 1992a S.135).
Mit diesem Wortspiel will Bourdieu „die dialektische Verknüpfung beider Momente (des objektivistischen und des subjektivistischen) seiner Theorie“ (Wacquant 1996 S.29) betonen. An anderer Stelle verwendet Bourdieu auch die Bezeichnung des genetischen Strukturalismus (Bourdieu 1992b S.31); zit.nach Niephaus 2018 S.99
Quellen:
Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (2014 Hrsg.). Bourdieu Handbuch, Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler.
Moebius, Stephan/Peter, Lothar (2014). Strukturalismus - Intellektueller Diskurs und gesellschaftlicher Kontext. In: Fröhlich/Rehbein. Bourdieu Handbuch, S.20-28.
Niephaus, Yasemin (2018). Oekonomisierung. Feldtheorie-Genetischer-Strukturalismus. Springer VS
7.3.4. KONSUM: Falsch statt Echt: Der Siegeszug des Kommerzes – Ernst Fehr und R.D. Precht
Scripted Reality - TV
"Was sich verkauft, ist der Unterhaltungswert der Jauche-Information. Die höchsten Einschaltquoten erzielen Sendungen, die Durchschnittsmenschen dazu manipulieren, ihre Intimsphäre zu exhibieren, vor allem weil dies für den Zuschauer authentisch ist und die ihn manipulierende Absicht verdeckt. Da werden Teilnehmer in peinliche Situationen gebracht, Lebensberatung in Call-In-Shows angeboten (etwa für schmutzige Wäsche zwischen Partnern, unerwünschte Schwangerschaft); in Talkshows (zur Zeit über 50 im deutschen Fernsehen) wird den Teilnehmern suggeriert, sich mit ihren Ansichten und Forderungen profilieren zu können, während der Profimoderator Fallen aufgestellt und die Talkpartner sich unterbrechen, abwerten, Polemik betreiben und die Beschädigung anderer als Pluspunkte einzufahren suchen. Das Reality-TV reicht von Amateuraufnahmen über Dokumentation mit versteckten oder offiziell überwachenden Kameras bis zur Reality-Soap à la Big Brother. Weitere Information in Gözen 2000 [s.u.].
Masseninformation nutzt öffentliches Interesse als Alibi, um durch Jauche Auflagen und Einschaltquoten zu steigern. Rücksichtnahme auf Nebenwirkungen und gesellschaftliche Folgeschäden gibt es kaum; denn gerade im Medienbereich erweist sich, dass rechtliche Reglementierung gegen Manipulation nur schwer greift, Richard Forno spricht von Hightech-Heroin. Und das Energiesparprinzip sorgt dafür, dass sich der Geruchssinn der Oeffentlichkeit dem Informationsgestank immer wieder anpasst und die Duldungsgrenze sich entsprechend verschiebt. Forno hat deshalb bereits einen Nachruf auf das Informationszeitalter verfasst (Website infowarrior.org).
Was Jauche heutzutage alles an Zeit und Produktivität vernichtet! Um in solchem Klima „gesund“ zu bleiben, gibt es nur einen Weg: sich eine angemessene manipulative Eigenkompetenz zuzulegen. Wir dürfen für diese Schattenseite der Psyche und unserer Kulturepoche nicht persönlich verletzbar sein, müssen uns gegen sie immunisieren" (Brendl 2004 S.68).
Quellen:
Brendl, Erich (2004 2teAufl.). Clever manipulieren: Die Kunst, sich geschickt und erfolgreich durchzusetzen. Wiesbaden: Gabler
Jire Emine Gözen (2000). „Menschen als medienkreierte Produkte - Authentizität, Banalität und Big Brother“. Referat "Medienkritik Teil I: Requiem auf das Fernsehen" im Sommersemester 2000
Online: J.E. Gözen über Big Brother
TEIL V: KONSUM: Wachstumskritik des "Immer mehr" im real existierenden Kapitalismus
Konsumkritik - Wachstumskritik
„Pointiert gesagt, basiert ein Grossteil heutiger Wirtschaft auf dem gelangweilten Konsumenten, denn der Konsum von Gütern soll Bedürfnisse gerade nicht befriedigen oder nur soweit befriedigen, dass sie neue Bedürfnisse nähren. Die Tretmühle muss in Gang gehalten werden. Kann man sie zum Stillstand bringen? Will man es überhaupt?“ (Kaeser 2014 S.27)
--> EMPATHIE vs. Dehumanisierung: Rifkin, "Deutschland spricht" Kap.6
Schilderung vom ersten Weltkrieg: Wunder der Weihnachten zwischen Engländern und Deutschen Soldaten
"Spricht ein Mensch einem anderen das Menschsein ab, nennen Psychologen das Dehumanisierung. Eine Gesellschaft, in der es zu viel davon gibt, hat meist ein Problem. Die Griechen und die Sklaven, die Amerikaner und die Indianer, die Nazis und die Juden. Derzeit erleben die westlichen Gesellschaften wieder ein bedrohliches Maß an Dehumanisierung. Rechte entmenschlichen Ausländer, indem sie von »brüten« sprechen oder von »rammeln«, als ginge es um Tiere. Linke entmenschlichen Rechte, indem sie von »Wilden« sprechen oder von »blutrünstigen Bestien«. (...)
Psychologische Experimente zeigen, wie gefährlich das ist. Wenn wir sehen, wie einem anderen Menschen mit einer Nadel in die Hand gestochen wird, empfinden wir selbst Schmerzen. Bei einem Feind kümmert uns das nicht. Sehen wir ein Foto eines unbekannten traurigen Menschen, leiden wir mit. Ist dieser Mensch ein Feind, empfinden wir Freude. Selbst unser Speichel verändert sich, haben Forscher herausgefunden. (...)
Psychologen haben nachgewiesen, dass das Gehirn auf die Bedrohung der eigenen Identität durch ein Argument oder ein Bild genauso reagiert wie auf die Begegnung mit einem Bären im Wald. Es lässt die Nebenniere Cortisol produzieren, ein Stresshormon. Der Körper rüstet sich zum Kampf. Mein Eindruck ist, der Cortisol-Spiegel unserer Gesellschaft steigt täglich. Die gute Nachricht ist, es gibt eine Lösung, eine sehr einfache: Kontakt.
Schauen wir einem fremden Menschen in die Augen, reagieren wir meist empathisch. Aus der Ferne betrachtet wird ein Muslim leicht zum Terroristen, ein AfD-Wähler zum Neonazi. Aus der Nähe verwandeln sich diese Gestalten auf einmal in Menschen, in Katzenfreunde, Jazz-Fans, Fußballkenner, Hobbyornithologen. Je näher uns jemand ist, desto schwerer fällt es, ihn zu hassen. Selbst professionelle Feinde können sich dem nicht entziehen" (Berbner 2018 S.13).
Peter Coleman: Ein Mensch hat viele Identitäten
"[Der Sozialpsychologe Peter Coleman] leitet heute das Difficult Conversations Lab, ein Labor, weltweit das erste dieser Art, in dem er erforscht, wie man richtig streitet. 95 Prozent aller Konflikte seien leicht zu lösen, sagt Cole man. Wer wäscht ab? Nudeln oder Pizza? Kaufen oder mieten? Hinsetzen, drüber reden, das war’s. Ihn interessieren die anderen fünf Prozent, jene Konflikte, die so vertrackt sind, dass sie kaum lösbar erscheinen. Tantalus, die Figur aus der griechischen Mythologie, sei ein gutes Beispiel.
Weil Tantalus seinen Sohn zerstückelte und den Göttern zum Essen servierte, verfluchten die seine Familie. Sie verbannten ihn in die Unterwelt, versteinerten seine Tochter, töteten 14 seiner Enkel. Zwei der Überlebenden, Atreus und Thyestes, ermordeten erst ihren Halbbruder, danach verführte der eine die Frau des anderen und stahl dessen Goldenes Vlies. Beim Versöhnungsessen tischte Atreus seinem Bruder dessen eigene Kinder auf. Generation für Generation ging es weiter, Mord, Kannibalismus, Inzest, nebenbei löste das Familiendrama den Trojanischen Krieg aus. Alles, weil einer einen Fehler gemacht hatte. Der Konflikt fütterte sich selbst. So wie mancher Ehekrach. So wie der Nahostkonflikt. Man stelle sich vor, irgendwer von Tantalus’ Nachfahren hätte gesagt: Stopp! Wir setzen uns jetzt hin und reden! Wie das gelingen kann, erforscht Peter Cole man. Cole man lächelt, als ich ihm erzähle, dass einige in Deutschland sagen, mit Politikern und Wählern der AfD dürfe man nicht reden. »Mit wem wollen Sie sonst reden, um politische Konflikte zu lösen? Mit Ihren Freunden?«, fragt er. »Außerdem«, sagt er, »älteste Regel: Am Ende gewinnt, wer seinen Gegner kennt. Dafür musst du mit ihm reden.« Hunderte Male ließ Coleman im Labor politische Gegner streiten, über Abtreibung, über Sterbehilfe, über die Todesstrafe. Viele Gespräche wurden schnell persönlich. Einige eskalierten. Andere aber verliefen erstaunlich konstruktiv und endeten mit einem Kompromiss.
Coleman und seinem Team fiel auf, dass in diesen Gesprächen mehr Fragen gestellt wurden. Die Probanden waren neugierig, versetzten sich in ihr Gegenüber. Manchmal sagten sie: »Moment, nur um sicherzugehen, dass ich das richtig verstehe, du meinst also, dass ...« Dann wiederholten sie die gegnerische Po si tion, und wenn sie etwas falsch verstanden hatten, schärften sie nach, bis der andere sagte: »Ja, genau.« Wer sind diese guten Streiter? Was macht sie toleranter als andere? Cole man stieß auf eine Gemeinsamkeit.
Ein Mensch hat viele Identitäten. Stellen wir uns eine Frau vor, die Jana ähneln könnte. Die Frau lebt in einer Großstadt, ist Veganerin, engagiert sich bei den Grünen, ist Feministin und befürwortet die Homo-Ehe. Das passt alles gut zusammen. Ihre Identitäten sind kongruent.
Stellen wir uns eine andere Frau vor. Sie ist lesbisch, aber gegen die Homo-Ehe, sie mag Seehofer, ist aber für offene Grenzen, sie ist Muslimin, stellt aber an Weihnachten einen Baum auf. Da passt nichts zusammen. Ihre Identitäten sind inkongruent. Coleman spricht von »hoher Komplexität«. Die wichtigste Erkenntnis Colemans lautet: Je mehr Komplexität man in seinem Leben hat, kognitiv, emotional, lebensweltlich, desto toleranter und besser streitet man. Wer selbst nicht in Schubladen passt, steckt auch andere nicht hinein, der verurteilt nicht so schnell. Wo andere nur Feindschaft vermuten, finden diese Menschen Gemeinsames.
Was die Frage aufwirft: Kann man das lernen?
Eine Mitarbeiterin Cole mans machte ein Experiment. Sie teilte Gesprächspaare, die zum Streiten ins Labor kamen, in zwei Gruppen. Die eine Gruppe ließ sie zwei Texte über Abtreibung lesen; beide waren geschrieben wie Plädoyers von scharfzüngigen Anwälten, der eine argumentierte für ein Recht auf Abtreibung, der andere dagegen, die Sprache war spitz, der Ton konfrontativ. Die Paare in der anderen Gruppe lasen nur einen Text. Er enthielt dieselben Argumente; nur waren sie dieses Mal mit ein an der verwoben, die Sprache war abwägend, nuanciert, der Ton zurückhaltend. Nach der Lektüre sollten die Probanden über Abtreibung diskutieren. Die Plädoyer-Paare waren dabei aggressiver, die Nuancen-Paare konstruktiver. Die Psychologen hatten sie zu besseren Streitern gemacht. Dann entdeckten die Wissenschaftler noch etwas: Die Nuancen-Paare waren sogar kompromissbereiter, wenn sie, nachdem sie den Abtreibungstext gelesen hatten, über etwas ganz anderes diskutierten, etwa über die Todesstrafe. Im Kleinen kultiviert, färbt Komplexität das Wesen wie ein paar Tropfen Farbe ein Wasserbad. Als ich Coleman frage, wie ich mein Leben komplexer machen kann, empfiehlt er mir, Fremde zu treffen. Raus aus der Blase, je fremder, desto besser. Warum nicht mit dem größtmöglichen politischen Gegner ganz offen nach Gemeinsamkeiten suchen? Ich überlege, einen AfD-Wähler zu treffen. Aber Cole man sagt: Je extremer das Experiment, desto besser. Trauen Sie sich was" (Berbner 2018 S.14).
Homo empathicus - Jeremy Rifkin
Ein besonders kitschiges Beispiel "empathischer Athmosphäre" findet sich in Jeremy Rifkins Bestseller "Die empathische Zivilisation". Ich bringe den berühmten »Weihnachtsfrieden« in dieser an die Reportagen des Claas Relotius erinnernden Form, weil die Geschichte einen wahren Kern beinhaltet, wie die Forschung zeigt (Quellen unten) und trotz überzeichneter Darstellung eindrücklich zeigt, wie Stimmungen und Athmosphären auf Menschen und -Gruppen sich auswirken können - Resonanz erzeugen:
"Flandern, am Abend des 24. Dezember 1914. Der Erste Weltkrieg ging in seinen fünften Monat. Millionen Soldaten hatten sich verschanzt in den verzweigten, provisorisch ausgehobenen Gräben, die die europäischen Frontlinien markierten. Auf vielen Schlachtfeldern lagen sich die gegnerischen Armeen nur 30 bis 50 Meter gegenüber – in Rufweite. Die Bedingungen waren höllisch. Die Eiseskälte des Winters drang bis in die Knochen. In den Gräben stand das Wasser. Die Soldaten teilten ihr Domizil mit Ratten und Ungeziefer. In Ermangelung vernünftiger Latrinen stank es überall nach menschlichen Exkrementen. Die Männer schliefen im Stehen, um nicht im Dreck und Matsch ihrer unzulänglichen Quartiere liegen zu müssen. Das »Niemandsland« zwischen den feindlichen Fronten war mit toten Soldaten übersät, deren Leichen wenige Meter von ihren Kameraden entfernt vor sich hin faulten, weil sie nicht geborgen und begraben werden konnten.
Als die Dämmerung über den Schlachtfeldern hereinbrach, geschah etwas Unerhörtes (Weintraub 2001, Bunnenberg 2006, Jürgs 2005):
Die Deutschen entzündeten Kerzen an Tausenden von kleinen Christbäumen, die man ihnen aus der Heimat geschickt hatte. Dann fingen sie an, Weihnachtslieder zu singen – als erstes 'Stille Nacht', gefolgt von anderen Weisen. Die britischen Soldaten waren perplex. Sie starrten fassungslos zu den feindlichen Linien hinüber, und einer von ihnen bemerkte, die hell erleuchteten Gräben sähen aus wie »das Rampenlicht im Theater«. Die Engländer reagierten mit Applaus, erst zaghaft, dann mit Begeisterung. Schliesslich stimmten sie ihrerseits Weihnachtslieder an, begleitet vom ebenso donnernden Applaus ihrer Feinde. Auf beiden Seiten begannen einzelne Soldaten aus den Gräben zu klettern und über das Niemandsland aufeinander zuzugehen. Hunderte folgten ihrem Beispiel.
Die Geschichte begann sich in Windeseile an den Fronten herumzusprechen, und Tausende strömten aus ihren Gräben. Sie schüttelten sich die Hände, tauschten Zigaretten und Plätzchen, zeigten Familienfotos herum. Sie unterhielten sich darüber, woher sie kamen, schwelgten in Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste und machten Witze über die Absurdität des Kriegs. Als am nächsten Morgen die Weihnachtssonne über dem Schlachtfeld Europa aufging, standen Zehntausende Männer – manche Schätzungen gingen gar von 100 000 aus – friedlich beieinander und unterhielten sich (Brown 2004). Soldaten, die noch 24 Stunden zuvor Feinde gewesen waren, begruben jetzt gemeinsam ihre toten Kameraden. Berichte von manch einem spontan organisierten Fußballspiel machten die Runde. Während die Offiziere an der Front mit von der Partie waren, reagierten die Stabsoffiziere, als die Nachricht von den Ereignissen zu den Heeresführungen im Hinterland durchsickerte, weniger begeistert. Weil die Generäle fürchteten, der Waffenstillstand könne die Kampfmoral der Soldaten unterminieren, riefen sie ihre Truppen eilends zur Ordnung.
Der surreale »Weihnachtsfrieden« endete so abrupt, wie er begonnen hatte – alles in allem nur ein winziges Lichtsignal in einem Krieg, der im November 1918 nach dem bis dato grössten Gemetzel in der Geschichte der Menschheit mit achteinhalb Millionen Toten zu Ende gehen sollte. Für ein paar Stunden, nicht mehr als einen Tag lang, verweigerten Zehntausende von Männern nicht nur ihren Heeresführungen die Gefolgschaft, sondern ignorierten auch ihre Treueeide aufs Vaterland, um ihre elementare Menschlichkeit zu bekunden. An die Front geschickt, um zu verstümmeln und zu töten, missachteten sie mutig ihre militärischen Pflichten, um miteinander zu fühlen und das Leben zu feiern.
Obwohl Heldentum im Krieg an der Bereitschaft gemessen wird, für eine hehre, das tägliche Leben transzendierende Sache zu töten und zu sterben, entschieden sich diese Männer für eine andere Art von Heldenmut. Sie nahmen am Leid ihrer Feinde teil und suchten Trost in ihrer gegenseitigen Verzweiflung. Sie überquerten das Niemandsland und fanden sich selbst im jeweils anderen. Die Kraft, einander Trost zu spenden, schöpften sie aus dem tiefen, unausgesprochenen Gefühl ihrer eigenen Verwundbarkeit.
Was sich da am Weihnachtsabend des Jahres 1914 auf den Schlachtfeldern von Flandern zwischen Zehntausenden von Männern abspielte, war, ohne jede Einschränkung, ein zutiefst menschlicher Augenblick. Die Soldaten gaben einer Empfindung Ausdruck, die dem Innersten des Menschen entspringt und über die Schleusen der Zeit und das Diktat aller zufällig gerade gültigen Lehrmeinungen hinausgeht. Wir brauchen uns nur zu fragen, warum uns das, was diese Männer getan haben, so berührt: Sie hatten sich entschlossen, menschlich zu sein. Und das elementare Gefühl, das sie zum Ausdruck brachten, war gegenseitiges Einfühlungsvermögen. Empathie ist so alt wie unsere Spezies, und sie lässt sich zurückverfolgen bis zu unseren Vorfahren unter den Primaten und, in noch fernerer Vergangenheit, unter den Säugetieren. Erst in jüngerer Zeit haben jedoch Biologen und Kognitionswissenschaftler Hinweise darauf entdeckt, dass es im gesamten Reich der Säugetiere primitive Formen empathischen Verhaltens gibt – um so mehr sind die Primaten und insbesondere wir Menschen mit unserem höher entwickelten Neokortex dafür prädestiniert.
Ohne ein einigermaßen entwickeltes Bewusstsein des Selbst wären wir jedoch ausserstande, Empathie auszudrücken. Forscher wissen längst, dass Säuglinge schon kurz nach der Geburt in der Lage sind, das Schreien anderer Neugeborener zu erkennen, und dann ebenfalls anfangen zu schreien. Dies ist eine primitive Form der Fähigkeit, mit eigenen Gefühlen auf die Verzweiflung oder die Notlage einer anderen Person zu reagieren, die in unserem Wesen angelegt ist. Ein echtes Einfühlungsvermögen entwickelt sich allerdings erst im Alter von 18 Monaten bis zweieinhalb Jahren, wenn das Kleinkind anfängt, zwischen sich und anderen Personen zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Erst wenn das Kleinkind in der Lage ist zu begreifen, dass ein anderer Mensch als von ihm selbst getrenntes Wesen existiert, kann es dessen Befindlichkeit so wahrnehmen, »als ob« es seine eigene wäre, und entsprechend reagieren.
In Studien wurde beobachtet, dass Zweijährige oft zusammenzucken, wenn sie den Kummer oder den Schmerz eines anderen Kindes mit ansehen, und dass sie dann zu diesem Kind hingehen, um ihm ein Spielzeug zu geben, es zu umarmen oder es zur eigenen Mutter zu bringen, damit sie es tröstet. Wie weit sich das empathische Bewusstsein im Laufe der Kindheit, der Jugend und des Erwachsenendaseins entwickelt, hängt vom Grad der frühkindlichen Bindung an die Eltern [vgl.Kap.4] ebenso ab wie von den Werten und der Weltsicht der Kultur, in die man eingebunden ist, und von den etwaigen Einflüssen »anderer« Kulturen" (Rifkin 2010 S.17-20).
Ambiguitätstoleranz statt verkürzter Eindeutigkeit = Resonanz!
„Der Begriff Ambiguität ist im Deutschen weniger gebräuchlich als sein englisches oder französisches Aequivalent, denn ,ambiguity‘ und ,ambiguité‘ sind Wörter der Alltagssprache. Das Wort ist aber im Deutschen unverzichtbar, nämlich als Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden“, schreibt Thomas Bauer (2018 S. ....).
"Gleichzeitig seien die Menschen immer unwilliger, Vielfalt in all seinen Erscheinungsformen zu ertragen. Das beklagt neben Bauer auch der Soziologe Zygmunt Bauman, wenn er schreibt, Ambiguität erscheine inzwischen „als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen“. Im Ergebnis sei Vagheit damit nicht nur zu begrüßen, sondern unbedingt notwendig. Abzulehnen sei dagegen jede Form von Ambiguitätsintoleranz, wie sie der Psychiater Christopher Baethge den Amerikanern attestiert.
Diese seien „um grösste Eindeutigkeit bemüht“ und versuchten im Allgemeinen – und dies trotz grosser individueller Unterschiede – „das Aufkommen von Ambivalenz um jeden Preis zu verhindern“. (…) In Amerika sind Mannschaftssportarten beliebt, in denen es fast nie ein Unentschieden gibt, anders als beim Fussball in Europa. Als aktuelles Beispiel könnte man die Rhetorik von Donald Trump anführen, der seinen Anhängern eine wunderbare Eindeutigkeit präsentiert, die sich freilich im Tagesrhythmus ändern kann.
Gegner von Ambiguität seien unter anderem Fundamentalisten, schreibt Bauer. Diese würden nur eine einzige gültige Wahrheit akzeptieren, statt sich mit Wahrscheinlichkeiten zufriedenzustellen. Diese Wahrheit muss überzeitlich gültig und rein sein. Alles, was interpretiert und gedeutet werden muss, sei unrein. „Hat man dieses Fundament des Fundamentalismus erkannt, wird man
leicht entsprechende Wesenszüge auch in gesellschaftlichen Bereichen erkennen können, in denen es bislang nicht üblich war, von Fundamentalismus zu sprechen“ (Bauer zit. von Zenthöfer 2018).
Quellen:
Bauer, Thomas (2018). Die Vereindeutigung der Welt. Ditzingen: Reclam.
Berbner, Bastian (2018). Mit euch kann man doch eh nicht reden. In: Die ZEIT 39 S.13-15
Brown, David (2004). »Remembering a Victory for Human Kindness«. In: Washington Post 25.12.04
Bunnenberg, Christian (2006). »Dezember 1914: Stille Nacht im Schützengraben – Die Erinnerung an die Weihnachtsfrieden in Flandern«. In: Tobias Arand (Hrsg) Die »Urkatastrophe« als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs. Münster: ZfL-Verlag. S.15-60.
Jürgs, Michael (2005). Der kleine Frieden im Grossen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München: Goldmann.
Rifkin, Jeremy (2010). Die empathische Zivilisation - Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt: Campus.
Weintraub, Stanley (2001). Silent Night: The Story of the World War I Christmas Truce. New York: Simon&Schuster.
Zenthöfer, Jochen (2018). Alles Banane - Wenn Kapitalismuskritik versagt. In: FAZ vom 20.8.18 S.16
Empathie und Vorurteile neuropsychologisch: Politische Emotionen - Gruppenphänomene und Verteilungskämpfe
"Wenn Vertrauen zerstört wird, reagiert unser Gehirn. (…) Wie ist es um das Mitgefühl einer alleinerziehenden Mutter für Zugewanderte bestellt, die sich im Verteilungskampf um einen Laib Brot von Migranten verdrängt gefühlt hat? Und umgekehrt? Oder nehmen wir einen ganz normalen Zeitungsleser: Wie gross wird dessen Empathie nach den bisweilen hysterischen Schlagzeilen noch sein für Menschen, die hilfesuchend zu uns kommen? Höchstwahrscheinlich würde man feststellen, dass die Empathie auf allen Seiten dramatisch gesunken ist.
Warum? Weil „Empathie immer einen Nährboden aus Sicherheit und Vertrauen braucht“, sagt die Neuropsychologin Grit Hein, die an der Universität Würzburg lehrt. Wer Angst hat, zu kurz zu kommen, sei es nun bei der Vergabe von Nahrungsmitteln oder billigem Wohnraum, der wird sich jedenfalls keine Empathie leisten können, der wird vermutlich angsterfüllt auf alles Unvertraute blicken, sich in sein Ingroup-Denken zurückziehen und Mauern errichten. Würde man so jemanden in einen Kernspintomographen legen, könnte man seine Aengste bildlich sehen.
Grit Hein war federführend an einer in Zürich durchgeführten Studie beteiligt, die herausfinden wollte, ob positive Erfahrungen mit Fremden die Empathie erhöhen können und wie viele von diesen positiven Erfahrungen für einen nachweisbaren Effekt tatsächlich benötigt werden. Den nach Herkunft in „Eigengruppe“ und „Fremdgruppe“ aufgeteilten Probanden wurden schmerzhafte Reize an der Hand zugefügt. Sie machten allerdings die Erfahrung, dass jemand aus der eigenen oder aus der Fremdgruppe Geld bezahlte, um ihnen den Schmerz zu ersparen. Zu Beginn der Studie zeigten die im Kernspintomographen liegenden Probanden schwächere Hirnaktivitäten, wenn einem Fremdgruppenmitglied Schmerzen zugefügt wurden. Empathischer reagierten sie bei den eigenen Leuten. Doch schon nach wenigen guten Erfahrungen mit einer Person der Fremdgruppe wendete sich das Blatt.
Ueberraschend ist, „dass positive Erfahrungen auch neuronal die Empathie für die Fremdgruppe erhöhen“. Und: „Diese Empathie gilt nicht allein der Person, die einem den Gefallen getan hat, sondern auch anderen Personen derselben Gruppe“, sagt Grit Hein. Die erhöhte empathische Hirnreaktion für die Fremdgruppe werde durch ein neuronales Lernsignal getrieben, das durch die überraschend positiven Erfahrungen mit einem Fremden entstehe. Das heisst nicht, dass Integrationsskeptiker mit Ueberfremdungsängsten oder Geflüchtete, die ihre deutschen Nachbarn argwöhnisch beäugen, von heute auf morgen ihr Weltbild auf den Kopf stellen.
Empathie ist kein Allheilmittel, sondern nur eine mögliche Motivation für prosoziales Handeln. „Ich kann auch aus ganz anderen Gründen helfen, zum Beispiel, weil es der sozialen Norm entspricht – oder aus egoistischen Motiven, weil ich eine Belohnung erwarte“, sagt Grit Hein.
Vorurteile mögen politisch nicht korrekt sein. Nur ändert das nichts an der Tatsache, „dass jeder Mensch sie hat, dass es Vorbehalte gegenüber allem Unbekannten gibt, auch bei jenen, die von sich selbst behaupten, sie seien weltläufig, liberal und tolerant“, sagt Grit Hein. Diese Aengste seien schlicht ein basaler biologischer Mechanismus, den man bereits bei fremdelnden und sich abgrenzenden Kleinkindern beobachten könne. Doch wir sind unseren Aengsten nicht ausgeliefert, im Gegenteil. „Wir können sie ,überlernen‘“.
Das beste Empathie-Training aber scheitert, wenn es auf ein Klima des Misstrauens und der Unsicherheit trifft. „Mangel an Empathie in einer Gesellschaft sagt in erster Linie etwas über die Gesellschaft und erst in zweiter Linie etwas über den Menschen aus“. Menschen seien besonders dann empathisch, wenn es vom sozialen und gesellschaftlichen Umfeld ermöglicht und gefördert werde.
(…) Zwischenmenschlich betrachtet, ist ein „Transitzentrum“ [für Geflüchtete] wie in Bamberg allerdings Nährboden für Misstrauen. Das Ombudsteam der Stadt warnte kürzlich in einer Pressemitteilung vor ähnlichen Massenunterkünften für Flüchtlinge. Die Asylbewerber würden isoliert, der Kontakt zu Einheimischen erschwert, wodurch die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber geflüchteten Menschen sinke. Was einem der gesunde Menschenverstand sagt, ist neuronal nachweisbar: „Ergebnisse wie die der Züricher Studie zeigen eindeutig, dass Ghettoisierung falsch ist“, sagt Grit Hein. Stattdessen müssten gezielt Kontakte aufgebaut werden, von beiden Seiten.
Das alles ist seit langem bekannt [vgl.'Kontakthypothese':Allport 1954, Pettigrew 1998/2006, Wagner et al.2006], wurde unzählige Male eindrücklich beschrieben und kritisiert. Deshalb sei es ja so verwunderlich, sagt Grit Hein, die eben auch durch die Brille der Wissenschaftlerin auf dieses Land schaut, dass für die Stärkung des Wir-Gefühls von politischer Seite im Moment relativ wenig getan werde" (Mühl 2018 S.9).
Quellen:
Allport, Gordon W (1954). The nature of prejudice. Cambridge: Addison-Wesley.
Hein, Grit (2018). Neuropsychologische Sozialpsychologie. Wiesbaden: Springer.
Mühl, Melanie (2018). Mitfühlen - Ueber eine wichtige Fähigkeiten in unruhigen Zeiten. Hanser.
Mühl, Melanie (2018). Jeder Mensch hat Vorurteile. In: FAZ vom 9.3.18 S.9
Pettigrew, TF/Tropp, LR (2006). A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90, 751–783.
Wagner, U/Christ, O/Pettigrew, TF/Stellmacher, J/Wolf, C (2006). Prejudice and minority proportion: Contact instead of threat effects. Social Psychology Quarterly, 69, 380–390.
Literatur zu Körper, Embodiment und Resonanz:
- Althans, Birgit (2010). Zur anthropologischen Notwendigkeit des Verkennens. In: Jörissen/Zirfas - Schluesselwerke der Identitaetsforschung, S.55-66. Springer VS.
- Buchholz
- Cantieni, Benita
- Honer, Anne (2011). Kleine Leiblichkeiten. VS
- Leuzinger-Bohleber,
- Rosa, Hartmut (2016). Resonanz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Seier, Andrea / Surma, Hanna (2008): Schnitt-Stellen. Mediale Subjektivierungsprozesse in THE SWAN. In: Villa, Paula (Hrsg.): Schön Normal - Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld: transcript, S.173-197.
- Storch, Maja
- Tschacher, Wolfgang
Byung-Chul HAN 2019: Echo vs. Resonanz
Dialektik von Imaginär-Narzisstischem mit Symbolisch-Resonantem
- Echos erzeugen nur fortlaufende, gleichbliebende Thesen in ermüdendem autoritären, alternativlosen Duktus
- Resonanzen erzeugen Antithesen und Synthesen in einem immer größer werdenden Resonanzkörper, in herrschaftsfreien Diskursen, im Palaver, im Durcheinander, in Rede und Gegenrede
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"Opium für das Volk" - Imaginär-Digitales Online-Leben vs. Real-Analoges Offline-'Real-Life'
"Es mutet nachgerade zynisch an, wenn Silicon-Valley-Veteranen, die uns das Starren auf den Bildschirm als höchstes Glück verkaufen und daraus ihre exorbitanten Gewinne abschöpfen, im realen Leben physischen Freuden zuneigen, sich an edlem Essen und Spitzenweinen delektieren, gerne die Gesellschaft realer Freunde pflegen, sich abenteuerliche Hobbys zulegen. Die Reichen können es sich leisten, offline zu leben. Während der Plebs sich in virtuellen Pubs mit virtuellen Kumpels vergnügt. Ein neuer Klassengegensatz tut sich mittlerweile auf, nicht zwischen den Herren des Kapitals und dem Proletariat, sondern zwischen den Herren der elektronischen Luftschlösser und deren Bewohnern (Kaeser 2014 S.38).
"(…) m.E. erscheint heute nichts dringender, als mit einer kritischen Sensibilität der «Mischexistenz» innezuwerden, die wir im Umgang mit den neuen Medien führen.
Die «Mischexistenz» ist der Normalzustand. Wer am Morgen zu Kaffee und Gipfeli auf dem Tablet liest, exemplifiziert diesen Normalzustand in seiner vollen Banalität: Er nimmt sowohl Atome als auch Bits zu sich (das tut übrigens auch der Zeitungsleser, das tut der Mensch seit je).
Makroskopisch gesehen, verhält es sich mit Online und Offline so, wie wenn wir in einer Salatsauce leben würden, in der sich Oel und Essig nur schwer, falls überhaupt, scheiden lassen. Aber gerade deshalb sollten wir ein kulturelles Trennverfahren pflegen, in Form einer medialen Mikrokompetenz, über die wir alle verfügen. Sie lässt sich mit einem einfachen unprätentiösen Wort definieren: Unterscheidungsvermögen.
Entscheiden lernen, wann ich das Gerät brauchen will und wann nicht; wann ich ihm trauen soll uns wann nicht. Genau das macht uns «real». Denn «Augmented reality» ist ein Euphemismus für das Suchtpotenzial all der schönen smarten Dinge, die darauf optimiert werden, uns zu sagen, was wir tun und lassen sollen. Dahinter stecken natürlich deren Entwickler. Höchste Zeit, ihr Menschenbild zu durchleuchten, das sie in ihre Gadgets zum alleinigen Zweck der «Wertschöpfung» verpacken.
Ich vermute, der eigenständige, der «reale» Mensch findet darin kaum noch Platz. Und genau das ist die Katastrophe, die sich still und flächendeckend in Gestalt des entfesselten Elektronikm arktes ereignet. Wie schrieb McLuhan vor fast 50 Jahren: «Unsere Augen, Ohren und Nerven an kommerzielle Interessen zu verpachten ist fast das Gleiche, wie wenn man die menschliche Sprache einem Privatunternehmen übergäbe, oder die Erdatmosphäre zu einem Monopol einer Firma machte».
Ein neuer Klassengegensatz?
Vor über fünfzig Jahren, angesichts des massenhaften Aufkommens von Radio und Fernsehen, sprach Günther Anders vom «prometheischen Gefälle» zwischen Mensch und Technik [vgl.Kap.7]. Der Mensch sei dem immer weniger gewachsen, was er hervorbringt. Er wird zum Anhängsel seiner Erfindungen. Heute machen sich in der ehemaligen Avantgarde des Virtuellen ähnliche Anzeichen eines Zauberlehrling-Effekts bemerkbar.
Jaron Lanier, einer der Pioniere der Virtual Reality, hat kürzlich ein Manifest publiziert, das den Titel trägt «You are not a Gadget». Er trifft den Nagel auf den Kopf: Du bist kein Gerät, kein technischer Schnickschnack - kein Avatar. Du bist eine verkörperte Person in einer physischen Welt, mit all den Beschränkungen, Unzulänglichkeiten, Verletzlichkeiten, aber auch all den Freuden, der Lust, der Sinnerfüllung, die eine solche Existenz mit sich bringt.
Philip Rosedale zum Beispiel, der Schöpfer von «Second Life», ist ein passionierter Flieger, und zwar nicht im Flugsimulator. Es mutet nachgerade zynisch an, wenn Silicon-Valley-Veteranen, die uns das Starren auf den Bildschirm als höchstes Glück verkaufen und daraus ihre exorbitanten Gewinne abschöpfen, im realen Leben physischen Freuden zuneigen, sich an edlem Essen und Spitzenweinen delektieren, gerne die Gesellschaft realer Freunde pflegen, sich abenteuerliche Hobbys zulegen. Die Reichen können es sich leisten, offline zu leben. Während der Plebs sich in virtuellen Pubs mit virtuellen Kumpels vergnügt. Ein neuer Klassengegensatz tut sich mittlerweile auf, nicht zwischen den Herren des Kapitals und dem Proletariat, sondern zwischen den Herren der elektronischen Luftschlösser und deren Bewohnern.
Na und, ist das ein Widerspruch? Geht es denn nicht darum, das Beste aus beiden Welten herauszuholen?, kann man zurückfragen. Doch, eben darum geht es: um beide Welten. Und zuvor darum, den Unterschied nicht zu verlernen. Vor noch nicht allzu langer Zeit Hessen südkoreanische Eltern ihr Baby verhungern, weil sie sich mehr um ihr Avatarbaby kümmerten. Das reale Baby war das «Zweitbeste» [Turkle 2012]. Wenn unser inneres Navigationssystem durch die Grenzverwischung zwischen Realität und Simulation derart in Schieflage gerät, haben wir in der Tat ein Problem, ein echtes. Mit ungeheurer Geschwindigkeit sind wir innert zwanzig Jahren zu Bürgern zweier Welten geworden, einer materiellen und einer immateriellen. Und die Grenzen verwischen sich von Tag zu Tag mehr.
Fast scheint es, als hätten wir in dieser digitalen Vertigo den aufrechten Gang ein zweites Mal zu lernen. Diesmal nicht naturgeschichtlich, sondern zivilisationsgeschichtlich. Denn es gibt kein richtiges Leben im virtuellen" (Kaeser 2014 S.36-39)
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Kaeser, Eduard (2014). 'Simulo ergo sum' oder 'Der digitale Dualismus'. In: ders. "Trost der Langeweile" S.S.29-39
Turkle, Sherry (2009). Frontline-PBS-Interview. Online:www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/digitalnation/interviews/turkle.html - abgerufen 10.11.2017
"Sex ist gefährlich und bringt die Menschen buchstäblich an ihr Limit. Denn es gibt keinen Sex, wenn zwei Wesen, die sich aneinander freuen, nicht bereit sind, im entscheidenden Moment die Kontrolle zu verlieren. Plötzlich geben sie bedrohliche Laute von sich, sagen etwas Unpassendes, werden grob. Zweideutigkeit, Kontrollverlust, körperliche Intensität: All dies ist in der abgedämpften Welt der Political Correctness nicht mehr vorgesehen.
Der letzte kommerzielle Schrei in den USA ist das sogenannte «Affirmative Consent Kit», das online vom «Affirmative Consent Project» für zwei Dollar vertrieben wird: eine kleine Tasche mit einem Kondom, einem Stift, einigen Minzetabletten und einem einfachen Vertrag. Letzterer hält fest, dass beide Parteien darin übereinkommen, einvernehmlichen Sex zu haben" (Zizek 2017).
Quelle: Zizek, Slavoj (2017). Das Leben ist nun einmal krass - Vertraglich geregelter Sex. Neue Zürcher Zeitung NZZ vom 25.3.17
Zizek über die Notwendigkeit von Kontrollverlust
Das Schicksal der Echo
Stimme, Ueber-Ich und Musik - Von der Triebhaftigkeit im Akustischen
Die beiden tragenden menschlichen Kommunikationsfelder, also sowohl Sehen/Gesehenwerden als auch Sprechen/Hören, finden sich in ihrer Bedeutung für den Subjektivierungsprozess im Mythos von »Narziss und Echo« thematisiert. Die von den beiden Figuren der Geschichte jeweils verkörperten Spiegelfunktionen, die zunächst für die Bildung eines imaginären Ich [hierzu in Kap. 4: Entstehung des Spiegelstadiums] – einerseits durch den Blick und andererseits durch die Stimme – bedeutsam sind, werden aber zumeist zugunsten einer letztlich nicht haltbaren Vorrangigkeit des Visuellen gegenüber dem Akustischen abgehandelt.
So hat man auch in den klassischen psychoanalytischen Triebkonzepten zwar einen dem Auge korrespondierenden Schautrieb herausgearbeitet, nicht aber ein aus Stimme und Gehör zusammengesetztes eigenes Triebdispositiv. Hingegen hat Lacan einen sogenannten Anrufungstrieb ('pulsion invocante') konzipiert, welcher der besonderen Topologie und der speziellen Dynamik eines aus »Hören und Tönen« bestehenden Partialtriebgeschehens Rechnung trägt. Das für Bewusstseinsbildung und Intersubjektivitätsentwicklung relevante Ur-Objekt dieses Triebs, dessen Elemente man als »sonore Objekte« bezeichnen kann, ist die menschliche Stimme. Sie soll unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für die Genese der Ueber-Ich-Strukturen Beachtung finden, bevor auf ihre Rolle für das Geniessen im Musikalischen eingegangen wird, das durch spezifische Sublimierungs- und Idealisierungsvorgänge auf Trieb- und Objektseite ermöglicht wird.
Zunächst aber sei an die mythische Geschichte der Echo im Zusammenhang mit jener von Narziss/Narkissos erinnert:
"Narkissos war der Sohn der Nymphe Leiriope, die der Flussgott Kephissos einst mit seinen gewundenen Flüssen umschlungen und hernach vergewaltigt hatte. Narkissos war von trotzigem Stolz auf seine eigene Schönheit erfüllt und wies schon früh herzlos die Liebe von Männern und Frauen zurück. Auch die Nymphe Echo verliebte sich in ihn. Sie war mit dem Verlust ihrer Sprache bestraft worden – sie konnte nur die Rufe anderer nachschwätzen –, weil sie Hera einst mit langen Geschichten unterhalten hatte, so dass die Konkubinen des Zeus ihrem eifersüchtigen Auge entwischen konnten. Eines Tages ging Narkissos zur Hirschjagd. Echo folgte ihm leise durch den weglosen Forst und wollte mit ihm sprechen. Sie konnte aber das Gespräch nicht selbst beginnen. Endlich rief Narkissos, als er sich verirrt hatte: »Ist jemand hier?« - »Hier!« antwortet Echo zur Verwunderung des Narkissos, da er niemanden sehen konnte. »Komm!« - »Komm!« - »Warum meidest du mich?« - »Warum meidest du mich?« - »Laß uns hier zusammenkommen!« - »Laß uns hier zusammenkommen!« wiederholte Echo und rannte voller Freude aus ihrem Versteck, um Narkissos zu umarmen. Roh schüttelte er sie von sich und lief davon. »Ich würde eher sterben, als mit dir liegen!« rief er.
»Mit mir liegen!« flehte Echo. Doch Narkissos war bereits fortgegangen, und sie verbrachte den Rest ihres Lebens in einsamen Schluchten. Dort siechte sie vor Liebeskummer dahin, bis nur ihre Stimme zurückblieb. Als Narkissos eines Tages auf Jagd war, folgte sie ihm. Und als er sich verirrte und nach jemandem rief, konnte sie auf seinen Ruf antworten und sich schliesslich zeigen. Als sie ihm aber auch ihre Liebe zeigen wollte, wies er sie schrof zurück, worauf sie sich in Liebesgram verzehrte. Und während sich der eitle Narziß in sein eigenes Bild verliebte und dahinschmachtete, bis er in eine Blume verwandelt war, lebt Echos Stimme, der Widerhall, auf den Bergen und in den Wäldern fort" (nach Ranke-Graves 1985 S.259f) [vgl. Kap.2: Narzissmus].
Ovid führt dazu aus:
»Die Stimme allein und die Knochen sind übrig; jene hat Dauer, die Knochen, sie wurden zu Stein, so erzählt man. Und jetzt ist sie verborgen in Wäldern; man sieht sie auf keinem Berg, doch jedermann hört sie: ihr Ton ist lebendig geblieben« (Ovid 1964 S.104).
Es liegt offenbar an der scheinbaren Uebermacht des Auges und an der aussergewöhnlichen Sinnfälligkeit des Visuellen, dass in den alltäglichen Kurzfassungen der hauptsächlich als »Narzissmythos« tradierten Geschichte das Schicksal der Echo so konsequent unterschlagen wird, was uns wie eine tragische Wiederholung ihres Verschmähtwerdens in der Erzählung selbst anmutet.
Dabei ist dem Primat des Optischen und der Vorrangigkeit des Visuellen die Vorgängigkeit des Akustischen gegenüberzustellen. Denn in der Entwicklung des Subjekts und in seiner Naturgeschichte der Sinne geht das Universum des Hörbaren der Welt des Sichtbaren eindeutig voraus, wenngleich die offenbar grössere Gier des Auges und die stärkere Ueberzeugungskraft seiner Bilder das von Immaterialität und Intensität bestimmte Akustische stets in den Hintergrund zu drängen versucht. Hingegen ist es aber der ursprünglich von der Stimme getragene Diskurs, der uns einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit des Sichtbaren liefert, indem er bestimmt, was zu sehen ist und damit der Intentionalität des Schautriebs Inhalte und Strukturen bereitstellt.
Damit wird der Sprache und ihrer Ordnung eine organisierende Funktion gegenüber der reinen Dingwelt eingeräumt, was auf die Anerkennung hinausläuft, dass die Ordnung der Wörter der Ordnung der Dinge vorausgeht.
Ohne Zweifel hat sich in unserer Kultur während der letzten Jahre der vielbeschworenen Bilderflut ein Tonschwall und ein Stimmengewirr hinzugesellt. Diese Phonomanie, die einem gegenwärtigen Panoptikum ein Panakustikum gegenüberstellt und im Rahmen einer bereits gesellschaftlich geforderten akustischen Tele-Präsenz mit einem (Lust-)Zwang zu intersubjektiver Kommunikation auf partieller Basis einhergeht, ist selbstverständlich soziokulturell vielschichtig determiniert. In Anbetracht einer bisweilen in die Obszönität der öffentlichen und privaten Telefonerotik reichenden Hör- und Sprechlust, welcher immer auch der Verdacht einer Vermeidung sogenannter ganzheitlicher zwischenmenschlicher Beziehungen anhaftet, lässt allerdings auch die Frage nach einer akustisch determinierten Triebhaftigkeit auftauchen, welcher von der Psychoanalyse bisher – wenn überhaupt – nur randständige Bedeutung eingeräumt worden ist. In diesem Zusammenhang wäre es übrigens verlockend, der vom Auge dominierten Gefallsucht des Narzissmus eine als »Echoismus« zu bezeichnende Neigung, sich selbst gerne reden zu hören, gegenüberzustellen. Ein aus Stimme und Gehör zusammengesetztes Triebdispositiv, welches die Zusammenarbeit zweier getrennter Apparate bzw. Organe impliziert, zeigt sich im allgemeinen aber eher von sublimem Charakter, weil es vor allem von dem von Mässigung und Vernunft getragenen Feld des Sprechens besetzt wird. Bezieht man sich hingegen stärker auf das rein Stimmliche, so ist man dem Triebhaften bereits näher. Einerseits kommt der Stimme in der Radikalität des Schreies unmittelbare und unvermittelte Ausdruckskraft realen seelischen Erlebens zu, andererseits spielt sie, vereint mit sadomasochistischen Strebungen, in jeder Macht- und Herrschaftsausübung eine entscheidende Rolle.
Hier trefen Mündigkeit und Hörigkeit in aggressiver Weise zusammen, wenngleich dem Hören in seiner scheinbaren Passivität nicht von vornherein dieselbe Triebhaftigkeit wie dem stimmlich Expressiven eingeräumt werden kann. Es ist jedoch zu bedenken, dass auch dem Begriffsfeld des Hörens Wahrnehmungsmodalitäten verschiedener Intensität mit verschiedenem Aktivitätsgrad zugehören, so dass Steigerungsstufen etwa vom Zuhören über das Lauschen, Horchen, Aushorchen, Verhören bis hin zum sogenannten Lauschangriff die Unschuldsvermutung des Ohrs in Frage stellen und seine Einbindung in ein triebdynamisches Geschehen als sinnvoll erscheinen lassen. In dieser Hinsicht wäre dann auch das Ohr, so wie das Auge, eine autonome erogene Zone und die Quelle eines spezifischen Triebes.
Der Anrufungstrieb
Wie bereits angedeutet, kommt in Freuds Triebtheorie und in seiner Entwicklungsgeschichte der Triebe zwar dem Sehen, aber nicht dem Hören/Sprechen triebhafte Bedeutung zu. Dies ist umso erstaunlicher, als Freud auf seinem Erkenntnisweg gerade mit seinem Richtungswechsel von der Beobachtung zur Anhörung zu einem besseren Verständnis des menschlichen Psychismus dahingehend gelangte, dass sich die Spezifität des Menschen der Sprache und dem Sprechen verdankt und dass das menschliche Subjekt – als 'animal symbolicum' im Sinne Cassirers – vor allem ein der symbolischen Ordnung unterworfenes Subjekt und damit ein höriges und mündiges Subjekt ist. Auch in späteren psychoanalytischen Standardwerken sind Stichworte aus dem Bereich von Stimme und Gehör kaum zu finden. Es scheint, als ob die an das Sprechen und Zuhören gebundene Psychoanalyse nur schwer ihr Standbein bewegen könne, um sich durch Infragestellung und Analyse ihres entscheidenden Trägermediums nicht ihres Fundaments zu berauben.
So bildet sich am Ort der Psychoanalyse als dem Ort des schärfsten Hörens ein Zentrum aus, das analog zum blinden Fleck auf der Netzhaut als tauber Fleck im Ohr imponiert.
Es bedurfte offenbar einer Wende in der Geschichte der psychoanalytischen Theoriebildung, um die Existenz eines spezifischen und relativ abgegrenzten akustischen Partialtriebs in Erwägung zu ziehen. Der von Lacan und seiner strukturalen Psychoanalyse eingeführte Perspektivenwechsel, den man nach dem 'linguistic-turn' Freuds als 'imaginary-return' bezeichnen könnte, hat offenbar die Frage nach der Funktion der Stimme und ihrer Objekthaftigkeit bezüglich eines spezifischen, an das Gehör gebundenen Triebes in den Vordergrund gerückt. Die Herausarbeitung von Blick und Stimme als eher verkannte Objekte zweier Partialtriebe sind auch in Zusammenhang mit der psychiatrischen Erfahrung Lacans und insbesondere mit seiner Beschäftigung mit der Ich-Entstehung und dem Problem der Psychosen zu sehen.
Unter der Prämisse, dass es eine so genannte ganze Sexualstrebung als Repräsentation einer Triebgesamtheit am Endpunkt der psychosexuellen Entwicklung nicht gibt, ist jeder Trieb (und damit auch der Genitaltrieb) prinzipiell Partialtrieb und als solcher bekanntlich durch seine Quelle, durch sein Objekt und durch sein Ziel bestimmt. Aus diesem Grund unterscheidet Lacan, Freud folgend, die Ebene der (Sexual-)Triebe relativ deutlich von jener der Liebe, welche im Gegensatz zum »kopflosen« Subjekt des Triebs die Bildung eines zunächst imaginären Gesamt-Ich sowie schliesslich eines vom sprachlich/symbolischen Anderen her bestimmten Subjekts impliziert.
Während sich der Partialtrieb an einem Objekt Befriedigung verschaffen kann, bleibt er andererseits stets zielgehemmt, weil das Ziel der Sexualität der Arterhaltung und der geschlechtlichen Reproduktion dient. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint dann auch das Triebobjekt als etwas Sekundäres, was Freud bekanntlich in der Weise ausgedrückt hat, dass das Variabelste am Trieb das Objekt sei. Dieses Triebobjekt ist als solches immer als ein Rest und als ein Abfall zu verstehen, Effekt der Verhaftung des Subjekts und seiner Um- bzw. Innenwelt mit der Sprache. Es ist der Rest eines ursprünglichen, unvermittelten, aber auch nicht bewussten Geniessens, worauf das Subjekt zu verzichten hat, wenn es sich in der sogenannten symbolischen Kastration der Vermittlungsfunktion des Zeichens und der Sprache unterwirft.
"Das Wort ist der Mord am Ding", sagt Hegel, und das aus dem unvermittelten Ding durch das Symbol entstandene Objekt ist somit Abfall des Signifikanten und damit Ur-Sache des Begehrens als Ausdruck eines symbolisch nicht assimilierbaren Ueberbleibsels, das nur im imaginären Szenario des Phantasmas dem Subjekt gegenüber seinen Platz findet. Dieses Objekt, das ewig fehlt, dieses stets gesuchte und für immer verlorene Objekt, das bei jeder erneut auftretenden Bedürfnisspannung auf ein ursprüngliches Befriedigungserlebnis verweist und durch eine Besetzung von Erinnerungsspuren charakterisiert ist, kennzeichnet Lacan, wie bereits mehrmals erwähnt, mit dem Begriff des Objekts »a«. Dabei wird jedem Partialtrieb ein spezifisches Ur-Objekt zugeordnet, dessen Merkmal es aber ist, Objektalität dadurch zu besitzen, dass es sich von einem Körper ablösen lässt, weil sich zunächst alle Erfahrungen des Kindes auf den Körper beziehen. Dieser Körper ist sowohl der Körper des anderen als auch der eigene Körper, weil auf dieser Ebene der Subjektgenese der Transitivismus der imaginären (Spiegel-)Beziehung vorherrscht [vgl. Kap.4: Spiegelstadium] (nach Freud ist die erste Objektbeziehung eine Identifizierung: 'Ich ist ein anderer und der andere ist Ich', bzw.: 'Was ich begehre, das bin ich auch!').
So stellt Lacan den Freudschen Triebmodalitäten des Oral-, Anal- und Schautriebs die von einem Körper ablösbaren Objekte Brust, Faeces und Blick gegenüber, und obwohl in dieser Liste auch die Stimme als spezifisches Objekt figuriert, ergibt sich für deren Zuordnung zu einem entsprechenden Partialtrieb ein Problem (siehe dazu v.a. Lacan 1964 S.204f; Miller, 1994; Ruhs 2003 S.147-164).
Beim Versuch, dem Objekt Stimme einen genuinen akustischen Partialtrieb zuzuordnen, ergibt sich in erster Annäherung die Schwierigkeit, dass hier offensichtlich zwei im Organismus voneinander getrennte Organe im Spiel sind. Denn in die Modalitäten des Hörens und des Sich-hören-Machens treten sowohl der Stimmapparat als auch der Hörapparat in ihrer Heterotopie in Funktion. Lacan macht für die Eigenart eines solchen Triebs, den er als 'pulsion invocante'/Anrufungstrieb bezeichnet, eine von vornherein bestehende sozialkommunikative Funktion geltend.
Zunächst ist zu beachten, dass die Ohren als Wahrnehmungsorgane Körperöffnungen sind, die sich nicht schliessen können. Im Gegensatz zum Sich-sehen-machen im Bereich des Schautriebs, wo im Exhibitionismus eine narzisstische Rückkehrbewegung vom Objekt zum Subjekt stattindet, indem man letztlich sich selbst über den anderen beschaut, geht aus strukturellen Gründen das analoge Sich-hören-machen an den Anderen, was einen entscheidenden Schritt in die Dimension des intersubjektiven Miteinanders bedeutet.
So ist es offenbar gerade diese Streckung des Bogens der Triebbewegung, welche durch das Zusammenwirken zweier erogener Zonen innerhalb eines Partialtriebkomplexes bedingt ist, dass der Stimme und ihrem Ausdrucks- und Rezeptionsapparat eine so bedeutsame Stelle in der Bildung des Ueber-Ich zuteil wird. In diesem Aufklaffen eines Bedürfnisses müsste also einer der Gründe für die Möglichkeit dessen liegen, was einer Objektbeziehung ausserhalb einer unmittelbaren und unvermittelten, eben kopflosen Reflexivität anderer Partialtriebdynamiken entspricht.
Ueber-Ich
In Bezug auf das Ueber-Ich, das sich im psychoanalytischen Diskurs nicht auf eine Instanz der Moral, der Kritik und der idealen Werte im Sinne eines Ueber-Ichs des Bewusstseins reduzieren lässt, müssen wir bekanntlich zwei Formationen der Ueber-Ich-Strukturen unterscheiden und dem Ueber-Ich im engeren Sinne (d.h. als Erbe des Oedipuskomplexes) ein grundsätzlich unbewusstes archaisches und tyrannisches Ueber-Ich gegenüberstellen. Denn ausser der mit der Fähigkeit zur Objektbesetzung und Identifizierung mit dem Objekt (als anderem Subjekt) einhergehenden Bildung des Ich-Ideals, welches die Wurzel des reiferen Ueber-Ich darstellt [vgl. Kap.1], ist Freud zufolge eine zweite Instanz zu beachten, welche sich in der primitiven oralen Phase des Individuums noch diesseits einer Trennung von Objektbesetzung und Identifizierung konfiguriert. In »Das Ich und das Es« schreibt Freud:
»Dies führt uns zur Entstehung des Ich-Ideals zurück, denn hinter ihm verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit. Dieser scheint zunächst nicht der Erfolg oder Ausgang einer Objektbesetzung zu sein, sie ist eine direkte und unmittelbare und frühzeitiger als jede Objektbesetzung« (Freud 1923 S.298f).
Erst auf dieser widersprüchlich und paradox anmutenden totalen Identifizierung mit einem Objekt als ganzem scheinen sich mit der Organisation des Geniessens in der ödipalen Phase jene imaginären und symbolischen Identifizierungen als Ueber-Ich im engeren Sinne herauszubilden, welche ebenfalls eine Paradoxie und Widersprüchlichkeit zu überwinden haben. Denn Freud weist darauf hin, dass das Ueber-Ich nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen des 'Es' ist, sondern dass es auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung gegen dieselben hat:»Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in der Mahnung: ›So (wie der Vater) sollst Du sein‹, sie umfasst auch das Verbot: ›So (wie der Vater) darfst Du nicht sein« (ebd. 301f).
In diesem Sinne lässt sich das Ueber-Ich nicht auf das Gesetz reduzieren, sondern auf einen Komplex von Gesetz und Geniessen, wobei das Gesetz nicht das (inzestuöse) Begehren des Kindes verbietet, sondern nur dessen Befriedigung, dessen Genießen. Daraus folgt weiterhin, dass sich ein Teil des Individuums mit dem Begehren identifiziert, ein anderer mit dem Gesetz bzw. mit dem Verbot, was hinsichtlich des Geniessens zu drei verschiedenen Verhaltensweisen führt: zunächst muss das Objekt auf das verbotene Genießen verzichten, sodann aber auch sein Begehren bezüglich des als unerreichbar erachteten Genießens aufrechterhalten und schliesslich seine körperliche und seelische Integrität vor der Gefahr der Zerstörung retten, was sich insbesondere auf die Rettung des Penis durch die Kastrationsdrohung als Stütze des Gesetzes bezieht. »Wenn das Ueber-Ich diese drei Prinzipien auf eine einzige zwingende Formel bringen könnte, würde es dem Ich anordnen: ›Begehre das Absolute, auf das Du verzichten musst, weil es für Dich verboten und gefährlich ist!« (Nasio 1999 S.108).
Die Beziehung des Ueber-Ich zum Genießen entspricht der engen Es-Ueber-Ich-Relation bei Freud: »Somit steht das Ueber-Ich dem Es dauernd nahe und kann dem Ich gegenüber dessen Vertretung führen. Es taucht tief ins Es ein, ist dafür entfernter vom Bewusstsein als das Ich« (Freud 1923 S.315). Und an anderer Stelle: »Während das Ich wesentlich Repräsentant der Außenwelt, der Realität ist, tritt ihm das Ueber-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es, gegenüber« (ebd. 303). Weiter ausgeführt bedeutet dies folgendes:
»Das Ueber-Ich spricht für das Es, das Ueber-Ich ist die Stimme des Dings. Das Ueber-Ich als Imperativ des Es ist somit die Stimme des Genießens; die Stimme, die das Genießen einerseits begrenzt – indem sie erfahrbar macht, was definitionsgemäss jede Form von Umrahmung überschreitet –, andererseits befördert sie es auf eine Art und Weise, die gelegentlich jede Kontrollfähigkeit des Subjekts übersteigt. Das Ueber-Ich ist eine Instanz, die das Genießen gleichzeitig repräsentiert und eingrenzt, und gerade darin liegt die Funktion der Vermittlung des Genießens mit dem Anderen..., worin es dem Partialobjekt (Objekt »a«) nahe kommt« (Leikert 1995 S.38, Uebers.: August Ruhs).
Das andere schon von Freud postulierte archaische Ueber-Ich ist aber diesem Ueber-Ich des moralischen Bewusstseins mit seinen Funktionen des Verbots, der Ermunterung und des Schutzes entgegengesetzt. Es ist von besonderer psychoanalytischer Relevanz, weil es unbewusst das moralische, kritische und ideale Bewusstsein des hauptsächlich dem Rationalen untergeordneten Ueber-Ich subvertiert.
»Während das Trachten des Ueber-Ichs des Bewusstseins zur Förderung des Wohlbefindens beiträgt, gibt es ein anderes, wildes und grausames Ueber-Ich, das zum grossen Teil Ursache für menschliches Elend sowie absurder und infernalischer Handlungen des Menschen (Selbstmord, Mord, Zerstörung und Krieg) ist.
Das ›Gute‹, das uns das wilde Ueber-Ich zu finden befiehlt, ist nicht die gute Moral (d.h. das, was aus der Sicht der Gesellschaft gut ist), sondern das absolute Geniessen selbst. Es befiehlt uns, jede Grenze zu überschreiten und die Unmöglichkeit eines unaufhörlich sich entziehenden Genießens zu erlangen. Das tyrannische Ueber-Ich befiehlt und wir gehorchen, ohne zu wissen, auch dann, wenn es oft den Verlust und die Zerstörung dessen herbeiführt, was uns das Teuerste ist« (Nasio 1999 S.110).
Dieses grausame Ueber-Ich repräsentiert gegenüber dem Ich nun ausschließlich die ekstatische Kraft des Es, dem es befehlenden Nachdruck verleiht. In diesem Sinne müssen wir Lacans Formulierung »Das Ueber-Ich ist der Imperativ des Genießens – Genieße!« verstehen. Auf der (vergeblichen) Suche nach einer absoluten Befriedigung führt dieses Ueber-Ich das Subjekt zu den grausamsten Handlungen bis hin zu Verbrechen, Selbstmord und Mord, wodurch es sich als die »kulturelle« Ausformung des Todestriebes bzw. des reinen Triebhaften erweist. Aber auch dieses Ueber-Ich wirkt auf den drei Ebenen des Verbots, der Ermunterung und des Schutzes, wenn auch auf krankhafte Weise übersteigert. Während die übertriebene Ermahnung zur Realisierung destruktiver Impulse führt, gibt das zu strenge Verbot Anlass zu absurden Manifestationen der Selbstbestrafung wie etwa im Falle der Melancholie oder bestimmten paranoiden Entwicklungen. Als Ich-Protektor kann es schliesslich derartig eifersüchtig über das Subjekt wachen, dass es zu einem von sinnlosen Verboten charakterisiertem Verhalten führt.
Was nun die Genese dieses grausamen Ueber-Ich anbelangt, ist es als »Erbe eines primitiven Traumas« zu betrachten, in welchem das Zerrbild eines Verbots in einer zum grotesken Schrei deformierten Stimme zur Wirkung gelangt und ein Phantasma erzeugt, das durchaus jenen oralen und sadistischen Phantasmen des Säuglings entspricht, wie sie durch die Schule Melanie Kleins in Bezug auf eine frühzeitige Ueber-Ich-Bildung herausgearbeitet wurden. Innerhalb einer solchen Phantasiebildung kann das Kind die Stimme eines Erwachsenen wie einen brutalen und verletzenden Befehl erleben:
»Wie in einem Rausch spürt das Kind das Gewicht der elterlichen Autorität und Einschüchterung, ohne zu verstehen, worauf sich das von den phantasierten Stimmen der Eltern geäußerte Verbot wirklich bezieht. Der Sinn des Verbotes, ein Sinn, der grundsätzlich über jedes symbolische und strukturierende Sprechen vermittelt werden kann, wird durch den penetranten Ton des elterlichen Schreiens aufgehoben. Der phantasierte Ton vertreibt den symbolischen Sinn und wird innerhalb des Ich zum klingenden, isolierten und herumirrenden Ort, in dem sich das tyrannische Ueber-Ich einrichtet« (ebd. 113).
Indem das Symbolische im Sinne einer Verwerfung energisch zurückgewiesen wird, reduziert sich die Substanz dieses Ueber-Ichs auf ein herumirrendes Stimmfragment, das als ein Partialobjekt das sinn- und bedeutungslose Loch im Realen imaginär als »wildes und unsinniges Dröhnen des Gesetzes« (ebd. 114) auffüllt.
Musik
Von dieser wahrlich archaischen Dimension der Stimme ausgehend ergibt sich ein anderer Zugang zum psychoanalytischen Verständnis des Wesens musikalischer Phänomene als von jener
Verfassung der Stimme, die bereits von der Kategorie des Wortes eingenommen worden ist. In diesem letzteren Sinn ist sie nicht mehr als partielles Ur-Objekt im Sinne eines Objekts »a« zu betrachten, sondern als ein vom signifikanten System eingefangenes phonematisches Objekt. Aber gerade in Bezug auf das Genießen in der Musik zeigt sich mit Nachdruck die Möglichkeit der Umgehung der symbolischen Kastration, weil sich die Musik besonders vehement gegen Sinn- und Bedeutungszuordnungen wehrt.
Wenn auch die Stimme im weitesten Sinn des Begriffes jenem Realen des Körpers und der Körper entspricht, in welches die notierten Signifikanten ihre Einschnitte, Modulationen und Artikulationen einbringen, und wenn sie als solche ein grundsätzliches Urobjekt der Musik darstellt, so ist doch für die Erfassung der reinen Dimension des Genießens in der Musik jenseits des Symbolischen ein Begrif zu erwägen, welcher einer präziseren Bestimmung und damit einer gewissen Festlegung entgeht. Man könnte sich diesbezüglich an den Terminus eines Klangobjekts halten, welches wie alle anderen Objekte von Trieben ein vages, unabgegrenztes und verlorenes Objekt repräsentiert. Dieses Klangobjekt scheint dem Restobjekt Lacans, dem Objekt des Genießens und des ursprünglichen Befriedigungserlebnisses, das, wie bereits erwähnt, durch die Einschreibung als Erinnerungsspur ins Register der Signifikanten verloren geht und immer wieder gesucht wird, eher zu entsprechen als das in den Dimensionen von Psychose und Neurose relevante Objekt der Stimme in ihrer Nähe zum Geniessen und zum bewusstseinsfähigen und bewusstseinsnahen Organ des ödipalen Ueber-Ichs.
Durch Sprache und Sprechen, durch die Wirkung des Signifikanten verwandelt sich nach Lacan das Objekt »a« als »Objekt des Genießens« in ein »Objekt-Ursache des Begehrens«, welches nun, dem Begehren als einem grundsätzlichen Begehren des (immer) anderen unterworfen, ein stets ersehntes und gesuchtes Objekt ist. Für einen Autor wie Leikert (1994) bedeutet die Suche nach dem verlorenen Objekt in der Musik vor allem die Suche nach der absoluten Stimme, wobei gerade im Kastraten dieses ultimative Klangobjekt in herausragender Weise verkörpert erscheint. Die reale Kastration anstelle der symbolischen bedeutet für das Subjekt, nicht zum Subjekt des Signifikanten, sondern zum Objekt des Genießens zu werden, wodurch die Fetischfunktion des Kastraten und der Zusammenhang von Musik und Perversion deutlich wird. Hier nimmt also der Kastrat den Platz des Klangobjekts ein. Das Absolute an diesem Objekt ist für Leikert (ebd.) der Schrei jenseits der binären Artikulation des Sprechens, in dem der Signifikant das Geniessen aufgehoben hat. Dabei wird auch die Zeit-Ordnung aufgehoben, die eine Leistung des Signifikanten ist (nach Hegel ist bekanntlich der Begriff die Zeit des Dings).
So wird der Begriff des Moments der Stimme, welcher in verschiedenen Variationen in den diversen Musikstücken auftaucht, zum Inbegriff eines Moments des Geniessens. Die dem Schrei benachbarte musikalische Stimme als Klangobjekt eines akustischen Partialtriebes ist somit der letzte Schutzschirm vor der Unerträglichkeit des Realen des Triebs, welcher hier in besonderer Weise seine imaginäre Zähmung erlangt.
Der reale Untergrund der Musik bedeutet auch eine Verkörperung des Seins und eine Vergegenwärtigung der Existenz selbst. Als Sublimierung eines angeblich kaum erträglichen Ur-Geräusches im Mutterleib, eines ontogenetischen Ur-Knalles gewissermaßen, siedelt sich die Musik am Rande des Diskurses an, aus welchem sie hinunterreicht in die Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit des Realen und damit sowohl in den Bereich des reinen Lebens als auch des reinen Todes.
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Ganze Welten und Systeme scheinbar gesicherter Erkenntnis sind im vergangenenen Jahrhundert zusammengebrochen. In dieser Situation ist der Klangcharakter der Welt eine der wenigen Sicherheiten, die wir besitzen: Die Welt ist Klang, ist Rhythmus und Schwingung. Behrendts Buch ist eine Reise durch Asien und Europa, durch Afrika und Lateinamerika, aber vor allem ist es eine Reise durch die unerforschten Regionen des Unbewußten, das sich uns als eine Landschaft aus Klängen darstellt.
Quellen:
Berendt, Joachim-Ernst (2005). Nada Brahma - Die Welt ist Klang. XY: Rowohlt.
Sloterdjik, Peter (20xy) ..........................
Nachdem in den bisherigen Argumentationen ein erster dialektischer Raum eröffnet wurde zwischen Strukturmerkmalen bzw. einer Sichtweise der Regulation (y-Achse) und dynamischen Mermalen der Relation (x-Achse, vgl. Tab. xy), bildet die im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu skizzierende Denkfigur ein zweites Modell zum Verständnis narzisstischer Phänomene: die Dialektik von wahrem und falschem Selbst wie es v.a. bei Donald Winnicott und Karen Horney (zwei Psychoanalytikern) bereits Mitte des 20. Jahrhunderts auftaucht, in den 70er Jahren aber auch z.B. bei Alice Miller und James Masterson vorkommt und in jüngerer Zeit sogar in der Soziologie eines Manfred Prisching oder eines Ronald Hitzler, vgl. Kap. XY.
Wir werden im folgenden feststellen, dass uns hierzu die diversen Narzissmus-Konzepte nicht mehr sehr weiterhelfen, weil Narzissmus per definitionem immer etwas Künstliches, Gespieltes, Unechtes in sich birgt, also weitgehend dem falschen Selbst entspricht.
Zur Unterscheidung von Echt vs. Falsch oder auch zwischen innen und aussen oder auch zwischen Selbst und Andere, sind körpernahe und begegnungsorientierte Resonanzphänomene eine viel bessere Orientierungshilfe, um die unterschiedlichsten bewussten wie unbewussten Manipulationsversuche (der Werbung beispielsweise, Kap. 3 oder der Propaganda, Kap. 5) zu entlarven und somit zu unterscheiden von echten, engagierten und kraftvollen (Stichwort: Empowerment, Embodiment, Enactment) Handlungen und Erlebensweisen.
Balance, Rhythmus, Resonanz: Auf dem Weg zu einer Komplementarität zwischen »vertikaler« und »resonanter« Dimension des Unbewussten
Aus dem bis hierher beschriebenen folgt: Das wahre Selbst ist nicht besser oder schlechter, nicht wahrer oder falscher als das falsche Selbst bzw. der Narzissmus, sondern erfüllt andere, nach innen gerichtete, "private" Funktionen des Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls. Im Zusammenspiel der beiden (daher der Buchuntertitel: 'Regulation in Relation') entsteht erst ein ausbalanciertes und "stimmiges", bzgl. sich und glztg. den anderen achtsames Lebensgefühl und eine robuste Identität als Andere anerkennender und wertebewusster Mensch.
- Ueber den Narzissmus hinaus: Vom Schein zum Sein - Selbstkonzepte
- "Von der Regulation des Narzissmus zum Anerkennen des Anderen"
- Intuition und Resonanz
Sozusagen als dritte Dimension zu diesem skizzierten Fadenkreuz-Modell in die Tiefe gehend, kommt ein Kontinuum hinzu, welches ausgehend vom Digitalen (noch zweidimensionalen, narzisstischen!) als stumme Oberfläche bzw. BILD (2D) bis hin zu einem immer grösser und analoger werdenden, körperlich erfahrbaren RAUM (3D), dem ich die Resonanz zuordne, wo das Selbstgefühl ein klingendes, eben resonantes und rhythmisches ist.
Es fallen mir fast nur Metaphern und Sprachspiele aus der Musik (wenn es ums erfahren des analogen Selbst geht) und Malerei/Fotografie/Film dazu ein, wenn es ums narzisstisch-digitale Selbst geht, was, wie wir sehen werden, natürlich kein Zufall ist.
Somit wird durch das ganze Buch hindurch immer deutlicher ein hoffentlich gangbarer Weg aufgezeigt werden, eine Diagnostik und Therapie für ein ausgewogenes, "stimmiges" In-der-Welt-Sein.
Dies wird konzeptuell und anhand von Anwendungen und Beispielen aus zahlreichen Lebensbereichen dargelegt werden um eine Sinnhaftigkeit und Lebendigkeit (wieder-)zuermöglichen, wo Spontaneität, Mut und Freude Raum greifen statt narzisstischer Depressivität und Leere, wie sie nur allzuoft in unseren Praxen und anderswo anzutreffen sind.
Verwirrend dabei könnte für den einen oder für die andere sein, dass es beide 'Selbste' oder eben "Aggregatszustände", also den digitalen (visuellen) wie den analogen (akustischen), für ein ausgeglichenes Leben braucht, obwohl das intuitive Verständnis des 'common sense' und auch der Mainstream in der Psychologie darauf schliessen lassen könnten, dass das Narzisstisch-Digitale immer negativ und unerwünscht wäre und das analog-"schwingende" Selbst immer positiv und richtig und eben "wahr" sei.
Dieses für manche contra-Intuitive ist auch ein Grund weshalb ich lieber von z.B. "innen vs. aussen" spreche und nicht von "wahr vs. falsch" um diese einseitigen Wertigkeiten zu vermeiden.
C.G. Jungs "Person vs. Persona"-Selbstkonzept hat beispielsweise Aehnlichkeiten damit, es gibt aber noch viele weitere Anleihen bei diversesten Schulen und Richtungen auch noch, wie wir weiter unten entdecken werden.
Robert Spaemann - Person-Sein
"Die grundlegende Bedeutung, die unserem Selbstverständnis als Personen für unseren Zugang zur Wirklichkeit überhaupt zukommt, entfaltet Robert Spaemann in seinem Beitrag "Wirklichkeit als Anthropomorphismus" [vgl. ausführlich Kap.7 Teil III], der zugleich als „Summe“ seiner Philosophie der Person verstanden werden kann:
Personen sind das Paradigma von Wirklichkeit, denn Personen sind füreinander objektive Subjektivitäten, die über die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Sie geben einander zu verstehen, daß sie selbst noch etwas jenseits dessen sind, als was sie sich zeigen. Weil wir in uns selbst den ersten und grundlegenden Zugang zur Wirklichkeit besitzen, können wir auch aussermenschliches Leben und überhaupt alle Wirklichkeit nicht anders betrachten als unter dem Aspekt ihrer größeren oder geringeren Aehnlichkeit mit uns:
Wir müssen sie 'anthropomorph' verstehen. Ein solcher Zugang zur Wirklichkeit markiert die notwendige Alternative zum Weltverständnis der modernen Naturwissenschaften. Denn er überwindet den für diese grundlegenden Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Bewusstsein und Sein, indem der Mensch nicht mehr teleologisch und als lebendige Substanz
verstanden und die Wirklichkeit der Person letztlich zum Verschwinden gebracht wird (Nissing 2008 S.8).
Quelle: Nissing, H.G. (2008 Hrsg). Grundvollzüge der Person - Dimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann. München: Institut zur Förderung der Glaubenslehre, hier: Vorwort S.8.
Empowerment:
- Resonanz statt blosse (narzisstische) Spiegelung
- Anerkennung statt blosse Aufmerksamkeit
- Anerkennung statt Narzissmus
- Real statt Fake
Enactment:
- Sinnlich (auditiv, taktil, olfaktorisch) statt bloss visuell wie im Narzissmus
- relational-anerkennend statt bloss empathisch
- Audio statt Video
- Analog statt Digital
- Rogers' Variablen: Wertschätzung, Echtheit und Kongruenz
Embodiment:
- Systemtheoretische Grundlagen des "psychologischen Selbst" (Tschacher/Storch)
- Felt Sense, Focusing, Experiencing (Eugene Gendlin)
- Now Moments (Daniel N. Stern)
- Psychoanalytisches Ereignis (Trimborn)
Teil I: Demokratie als Kulturtechnik der Aufklärung
- Demokratie - Das prekäre Projekt
- HEGEL - Kampf um Anerkennung im deutschen Idealismus
Teil II: Postdemokratische Krisen
- Demokratie oder Diktatur?
- Verwilderung - Die Empörung des Wutbürgers
- Das demokratische Zusammenleben der Kulturen jenseits eurozentristischer Arroganz
- Ein psychoanalytischer Beitrag zum Verständnis des Islam: Die Verletzung des Selbstwertgefühls
Teil III: Narzissmus und Technik - Regressive Krisen
- Ist Demokratie durch Technokratie gefährdet?
- Kritische Theorie und der Narzissmus in der Gesellschaft
- Gesellschaft: Demokratie, Terrorismus, Gewalt und Destruktivität
- Hans-Jürgen Wirth: Macht als Verleugnung von Abhängigkeit
- Demokratie als Shitstorm
Teil IV: Zukunft der Demokratie?
- Demokratie, Gerechtigkeit, Kommunitarismus und Ethik
- Charles Taylor, Michael Sandel und der Kommunitarismus
- Axel Honneth: "Verwilderungen" - Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert
- Jessica Benjamin: Das Prinzip sittliche ANERKENNUNG
- "Ich bin weil Du bist" - Ubuntu und der Multikulturalismus
Das Dispositiv Neoliberalismus
„Der Staat strebe die Herrschaft des Gesetzes als
politisches Ideal an, verhindere Gewalt und Betrug,
schaffe alle Privilegien ab, sichere Vertrags- und
Gewerbefreiheit, schütze das Privateigentum, halte
die Märkte offen für Wissen, Menschen, Güter und
Kapital, sorge für hochwertige öffentliche Güter,
dann wird die eigennützige Triebkraft menschlichen
Handelns zum besten wirtschaftlichen Ergebnis für
alle führen.“ - Adam Smith (1723-1790)
"Die Regierung der Psyche – Psychopolitik und die Kultur des Therapeutischen in der neoliberalen Gesellschaft" - Alexandra Rau
"Müsste man Kurzgeschichten zur Entwicklung der westlichen Gegenwartsgesellschaft im 20. Jahrhundert erzählen, der Siegeszug des Neoliberalismus US-amerikanischen Vorbilds würde zweifelsohne dazugehören. Im Kern handelt es sich dabei um einen herrschaftsförmigen Umbau der Gesellschaft seit Ende der 1980er Jahre, bei dem unter dem Vorzeichen der Globalisierung bestehende staatliche Reglementierungen gegenüber der Oekonomie aufgehoben wurden, um dem so genannten freien Spiel der Marktkräfte Bahn zu verschaffen (vgl. Bourdieu 1998).
Unterschiede und Ungleichheiten zwischen Individuen zu fördern, statt sie einzuebnen, ist dabei Teil der neoliberalen Programmatik genauso wie der Appell an den Staat, sich auf die Funktion zurückzuziehen, lediglich die geeigneten Rahmenbedingungen für die neuen Strategien des Kapitals zu schaffen (vgl.Steinert 2008). Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung sind hier nur einige der Stichworte, mit denen dieses Projekt durchgesetzt wurde. Auch die Soziale Arbeit und das ihr zugehörige Feld des Sozialen blieben von diesem Prozess nicht unberührt, was u.a. unter der Bezeichnung »Oekonomisierung des Sozialen« (Bröckling et al. 2000) oder – aus einer Sozialstaatsperspektive – als »Neosozialität« (Lessenich 2008) diskutiert wird. Bis dahin eher marktfern gewesen, so sind heute jedenfalls auch AkteurInnen der Sozialen Arbeit dazu angehalten, etwa ›Produkte‹ für ›KundInnen‹ zu definieren und in Konkurrenz zu anderen Anbietern sozialer Dienstleistungen zu treten; und ihre NutzerInnen werden auf 'employability' hin getrimmt und müssen »Aktivität« demonstrieren (ebd.). Nach David Harvey ist schliesslich über die Annexion des Sozialen hinaus der »Neoliberalismus […] zur herrschenden Denk- und Handlungsweise geworden, und zwar so weitgehend, dass neoliberale Interpretationen sich häufig in den ›gesunden Menschenverstand‹ eingeschlichen haben, mit dem viele Menschen ihr Alltagsleben und das Funktionieren unserer Welt wahrnehmen und interpretieren« (Harvey 2007 S.9). Und tatsächlich ist der Neoliberalismus ein Projekt, das weder auf die Wirtschaft beschränkt ist, noch allein auch das Soziale überformt, sondern das die gesellschaftliche Existenzweise als solche verändert hat. Mit ihm wurde das Modell des Unternehmens gesellschaftlich verallgemeinert: »Unternehmer seiner selbst« zu sein (Foucault 2004/1979 S.314), ist für das Individuum heute Norm wie Selbstverständlichkeit (01). Die Soziale Arbeit ist in diesem Sinne dazu aufgefordert, ihre Rolle in einer Gesellschaft zu klären, die grundlegend durch den Neoliberalismus geprägt ist.
Therapeutisierung als Psychopolitik
Allerdings ist es damit nicht getan. Das Verständnis der Gegenwartsgesellschaft geht nämlich nicht allein im Neoliberalismus auf. Es lässt sich zudem eine Entwicklung beobachten, die als »Therapeutisierung« der Gesellschaft (Maasen et al.2011) oder als Herausbildung einer Kultur des Therapeutischen (Furedi 2004) bezeichnet wird. Dabei ist zu bemerken, dass dieser Prozess weder nur als eine Randnotiz im Neoliberalismus zu verbuchen ist, noch dem neoliberalen Projekt einfach subsumiert werden könnte. Vielmehr stellt er eine eigendynamische und ebenso tiefgreifende Transformation der Grundstruktur der westlichen Gesellschaft dar. Diese Eigenständigkeit begründet sich – so die These, die hier entwickelt werden soll – über einen im Zuge der Therapeutisierung entstehenden historisch neuen Typus der Macht, mit sich unsere Subjektivierungs- und Vergesellschafuungsweise auf grundlegende Art verändert zeigt. Diesen Machttypus definiere ich im Anschluss an das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität als:
Psychopolitik: Ihre Spezifik besteht darin, dass sie das Individuum durch den Modus der Psyche regiert (02). Der hier formulierte Vorschlag lautet entsprechend, die Therapeutisierung der Gesellschaft in einer machttheoretischen Perspektive nachzuvollziehen und folglich die Kultur des Therapeutischen im Analyseraster einer Regierungsweise zu interpretieren, bei der
die Produktion »psycho-logischen« Wissens, Handelns und Seins zentral sind. Die Kernaussage der Ausführungen besteht dabei in dem Gedanken, dass die Therapeutisierung der Gesellschafu nicht ohne die Machtform der Psychopolitik zu verstehen ist und erst mit dieser Perspektive die relative Eigenständigkeit des Prozesses in den Blick kommt. Gleichwohl ist in den Blick zu nehmen, dass die Psychopolitik einen wichtigen Stützpfeiler unternehmerischer Praktiken bildet, sie bietet jedoch in Bezug auf den Neoliberalismus und seine Normen potentiell auch Ansatzpunkte für Strategien der Gegenregierung und damit für widerständiges Handeln.
Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt die Herausbildung der Machtform der Psychopolitik rekonstruieren und ihre Bedeutung im Kontext der therapeutischen Ueberformung der Gesellschaft veranschaulichen (01). Hierbei werde ich in einer genealogischen Skizzierung die historischen Vorbedingungen darlegen, um mich sodann auf die Phase des Psychobooms in der BRD ab den 1960er Jahren zu konzentrieren. Eine Charakterisierung der psychopolitischen Arbeitsweise schließt diesen Teil ab. Dass die Psychopolitik und die Kultur des Therapeutischen, obgleich sie eine relativ unabhängige Geschichtlichkeit dem Neoliberalismus gegenüber aufweisen, dennoch Beziehungen und Wahlverwandtschaften mit ihm eingehen, wird dann mit Blick auf ein spezifisches Feld, so genannten subjektivierten Lohnarbeitsverhältnissen, verdeutlicht (2). Vor dieser Folie werden abschließend Ueberlegungen dazu angestellt, welche Probleme und Ambivalenzen sich für die Soziale Arbeit ergeben und welche Ansätze ihr dazu verhelfen könnten, ihre kritisch-emanzipativen Potenziale zur Geltung zu bringen (3)" (Rau 2013 S.647-649).
Anmerkungen:
1 »Alle, vom Kleinkind bis zum Rentner, vom Kindergarten bis über die Hochschule bis zum Wasserwerk, sollen sich unternehmerisch verhalten, sollen im Wettbewerb die Erstplatzierten und Exzellenten, niemand und nichts darf einfach nur gut sein« (Demirovic 2008 S.17).
2 Prinzipiell soll mit dem Rekurs auf das Foucaultsche Denkwerkzeug betont werden, dass Macht nichts ist, das einfach aus den Notwendigkeiten des Kapitals abgeleitet werden kann und es entsprechend nicht der Kapitalismus neoliberaler Prägung ist, der unweigerlich zu einer psychopolitischen Therapeutisierung führt. Vielmehr soll hier die Einsicht fortgeschrieben werden, dass Machtformen und Machttechniken ihre eigene Geschichte haben und damit ein relativ autonomes Feld darstellen, das als solches umkämpft ist (vgl.Foucault 2005/1982 S.276).
Quellen:
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Links:
https://prezi.com/4mdkya-opfwh/neoliberalismus-eigenverantwortung-verhindert-revolution/
https://prezi.com/4mdkya-opfwh/?utm_campaign=share&utm_medium=copy&rc=ex0share
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Quellen:
http://frblog.de/kuehnert/
Mit dem "Gleichgewicht des Selbstwertes" ist nebst persönlicher Entwicklung auch eine Grundlage gelegt um mehr Demokratie im Kollektiven und mehr "wahres Selbst" im Individuellen zu ermöglichen.
Nach der Analyse der "verkauften Gesellschaft" und des "erschöpften Selbst" (Ehrenberg) geht es im zweiten Teil deshalb um die über die Diagnose hinausgehenden, weiterführenden, konstruktiven Themen Resonanz, Bezogenheit im Individuellen sowie Anerkennung und Demokratie im Kollektiven um ebendiesen gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzuwirken und in unserem Fall psychotherapeutisch aktiv zu werden.
Ein auf Ausgleich der Extreme ausgerichtetes Vorgehen bedeutet demnach auch, dass das Zusammenwirken individueller (Krankheits-)Faktoren mit gesellschaftlichen Veränderungen stark gewichtet wird und deshalb in der Psychotherapie vorrangig behandelt werden sollte.
Psychotherapie so verstanden ist nicht neutral, kann und will es nicht sein; will heissen: Arbeit an sich selber ist gleichzeitig immer auch sozial/politisch/gesellschaftlich Stellung-nehmend und ethisch-moralisch wertend (gemäss Charles Taylors Konzept der "starken Wertungen", s.u.).
Teil I: Narzissmus und Technik - Regressive Krisen
Technokratie und Digitalisierung: Bedrohung und Rückfallgefahr durch Technik
"Die Technokratie repräsentiert (…) so etwas wie den „sanften Faschismus“, eine Form totaler Herrschaft, die nicht auf Basis politischer Ideologie operiert, sondern im Dienste technischer Rationalisierung steht. Für die westlichen Ländern heisst dies: Herrschaft der Technik bei formalem Weiterbestehen der Demokratie. Die jeweilige politische Ordnung wird zur blossen Hülle. Ob Faschismus oder Kommunismus oder Demokratie: Ueberall regiert der Zwang zur Effizienz, zur Vereinheitlichung und Vermassung, zur Anpassung und zum Konformismus: „the social order is everywhere essentially identical“, fasst Jacques Ellul [vgl.Kap.7] zusammen, „the variation from democracy to Communism to Fascism represents a merely superficial phenomenon.“ (Ellul 1964 S.420)" (zit.nach Bogner 2015 S.68/69)
Quelle: Bogner, Alexander (2015 2teAufl.): Gesellschaftsdiagnosen - ein Ueberblick. Weinheim: Beltz Juventa.
"So werden digitale Zeiten zu Weimarer Zeiten. Der anti-liberale, rein antagonistisch gedachte Begriff des Politischen, wie ihn Carl Schmitt konzipierte, erfährt nicht zufällig jetzt, im Zeitalter von digitalen sozialen Netzwerken, eine Renaissance. Politik wird auf das Niveau von Einsen oder Nullen reduziert. Freund oder Feind, dazwischen gibt es nichts mehr. Und aus dieser Frontstellung werden immer hermetischere, immer einseitigere Filterblasen".
Quelle: Alt-Left - die Neue Linke?
Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft - Heiner Keupp
Der Figur eines Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Anpassung (sensu Jessica Benjamin) begegnen wir bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts:
"Als Erik H. Erikson 1970 in einer autobiographisch angelegten Rückschau die Resonanz seines 1946 eingeführten Identitätsbegriffs kommentierte, stellte er fest, „dass der Begriff Identität sich recht schnell einen angestammten Platz im Denken, oder jedenfalls im Wortschatz eines breiten Publikums in vielen Ländern gesichert hat - ganz zu schweigen von seinem Auftauchen in Karikaturen, die die jeweilige intellektuelle Mode spiegeln“ (Erikson 1982 S.15). Dreieinhalb Jahrzehnte später müsste wohl seine Diagnose noch eindeutiger ausfallen: Identität ist ein Begriff der im Alltag angekommen ist und dessen Nutzung durchaus inflationäre Züge angenommen hat. Er ist von Erikson längst abgekoppelt, aber der Anspruch auf eine fachwissenschaftliche Fortführung der Identitätsforschung sollte sinnvoller Weise bei Erikson anknüpfen. Auf den „Schultern des Riesen“ stehend lässt sich dann gut fragen, ob seine Antworten auf die Identitätsfrage ausreichen oder ob sie differenziert und weiterentwickelt werden müssen.
Die Frage nach der Identität hat eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionierung. Es geht bei Identität immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven „Innen“ und dem gesellschaftlichen „Aussen“, also zur Produktion einer individuellen sozialen Verortung. Aber diese Passungsarbeit ist in „heissen Perioden“ der Geschichte für die Subjekte dramatischer als in „kühlen Perioden“, denn die kulturellen Prothesen für bewährte Passungen verlieren an Bedeutung. Die aktuellen Identitätsdiskurse sind als Beleg dafür zu nehmen, dass die Suche nach sozialer Verortung zu einem brisanten Thema geworden ist.
Die universelle Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Es soll dem anthropologisch als „Mängelwesen“ bestimmbaren Subjekt eine Selbstverortung ermöglichen, liefert eine individuelle Sinnbestimmung, soll den individuellen Bedürfnissen sozial akzeptable Formen der Befriedigung eröffnen. Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äusseren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das soziale Akzeptable darstellbar machen.
Insofern stellt sie immer eine Kompromissbildung zwischen „Eigensinn“ und Anpassung dar, insofern ist der Identitätsdiskurs immer auch mit Bedeutungsvarianten von Autonomiestreben (z.B. Nunner-Winkler 1983) und Unterwerfung (so Adorno oder Foucault) assoziiert, aber erst in der dialektischen Verknüpfung von Autonomie bzw. Unterwerfung mit den jeweils verfügbaren Kontexten sozialer Anerkennung entsteht ein konzeptuell ausreichender Rahmen".
(…) Dieses Problem der Gleichheit in der Verschiedenheit beherrscht auch die aktuellen Identitätstheorien. Für Erik Erikson, der den durchsetzungsfähigsten Versuch zu einer psychologischen Identitätstheorie unternommen hat, besteht „das Kernproblem der Identität in der Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten“ (1964 S.87). An anderer Stelle definiert er Identität als ein Grundgefühl: „Das Gefühl der Ich-Identität ist ... das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten“ (1966 S.107).
Identität wird von Erikson also als ein Konstrukt entworfen, mit dem das subjektive Vertrauen in die eigene Kompetenz zur Wahrung von Kontinuität und Kohärenz formuliert wird. Dieses „Identitätsgefühl“ (vgl. Bohleber 1997) oder dieser „sense of identity“ (Greenwood 1994) ist die Basis für die Beantwortung der Frage: „Wer bin ich?“, die in einfachster Form das Identitätsthema formuliert. So einfach diese Frage klingen mag, sie eröffnet darüber hinaus komplexe Fragen der inneren Strukturbildung der Person.
Die Konzeption von Erikson ist in den 80er Jahren teilweise heftig kritisiert worden. Die Kritik bezog sich vor allem auf seine Vorstellung eines kontinuierlichen Stufenmodells, dessen adäquates Durchlaufen bis zur Adoleszenz eine Identitätsplattform für das weitere Erwachsenenleben sichern würde. Das Subjekt hätte dann einen stabilen Kern ausgebildet, ein "inneres Kapital" (Erikson 1966 S.107) akkumuliert, das ihm eine erfolgreiche Lebensbewältigung sichern würde.
So wird die Frage der Identitätsarbeit ganz wesentlich an die Adoleszenzphase geknüpft. In einem psychosozialen Moratorium wird den Heranwachsenden ein Experimentierstadium zugebilligt, in dem sie die adäquate Passung ihrer inneren mit der äusseren Welt herauszufinden haben.
Wenn es gelingt, dann ist eine tragfähige Basis für die weitere Biographie gelegt. Thematisiert wurde auch die Eriksonsche Unterstellung, als würde eine problemlose Synchronisation von innerer und äusserer Welt gelingen. Die Leiden, der Schmerz und die Unterwerfung, die mit diesem Einpassungspassungsprozess gerade auch dann, wenn er gesellschaftlich als gelungen gilt, verbunden sind, werden nicht aufgezeigt.
Das Konzept von Erikson ist offensichtlich unauflöslich mit dem Projekt der Moderne verbunden.
Es überträgt auf die Identitätsthematik ein modernes Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe. Es unterstellt eine gesellschaftliche Kontinuität und Berechenbarkeit, in die sich die subjektive Selbstfindung verlässlich einbinden kann. Gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung angesprochen sind, haben das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage gestellt. Der dafür stehende Diskurs der Postmoderne hat auch die Identitätstheorie erreicht. In ihm wird ein radikaler Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität vollzogen.
Es wird unterstellt, „dass jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört“ (Hall 1994 S.181).
In der Dekonstruktion grundlegender Koordinaten modernen Selbstverständnisses sind vor allem Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik oder Fortschritt zertrümmert worden. Begriffe wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zerstreuung, Reflexivität oder Uebergänge sollen zentrale Merkmale der Welterfahrung thematisieren. Identitätsbildung unter diesen gesellschaftlichen Signaturen wird von ihnen durch und durch bestimmt.
Identität wird deshalb auch nicht mit mehr als Entstehung eines inneren Kerns thematisiert, sondern als ein Prozessgeschehen beständiger „alltäglicher Identitätsarbeit“, als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äusseren Welten. Die Vorstellung von Identität als einer fortschreitenden und abschliessbaren Kapitalbildung wird zunehmend abgelöst durch die Idee, dass es bei Identität um einen „Projektentwurf' des eigenen Lebens“ (Fend 1991 S.21) geht oder um die Abfolge von Projekten, wahrscheinlich sogar um die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Projekte über die ganze Lebensspanne hinweg".
Quelle: Keupp, Heiner. Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft - Vortrag im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010 (www.Lptw.de)
Auswirkungen der individuellen narzisstischen Störungen auf die Gesellschaft und umgekehrt
Ich möchte im folgenden aufzeigen, dass es auch bei aktuellen, wie auch bei längst vergangenen Ereignissen und Zeitdiagnostiken immer wieder um ein Ringen zwischen Demokratie auf der einen Seite und Autorität auf der anderen Seite geht. Diese Menschenbild-Diskussion erleben wir beispielhaft im Erziehungs- und Schulbereich wo es um Fragen geht, ob kollektiv gestraft werden kann als Extrem auf der Autoritätsseite oder ob die Kinder alles selber wählen dürfen und nach Lust und Laune lernen oder eben nicht, was der anti-autoritären Grundhaltung entspräche, vgl. hierzu Kapitel 4 in diesem Buch.
In der Pädagogik wird intuitiv viel deutlicher, was auch Gesellschaftlich verhandelt werden muss: wieviel Staat versus wieviel individueller Freiheit, wieviel und wie strenge Gesetze vs. libertäre deregulierte Wirtschaft etc. etc. Es geht in beiden Sphären (ein Ausdruck von Honneth um die Ebenen zu unterscheiden, siehe Kap. 9) um einen Mittelweg, einen Kompromiss und v.a. um einen zu findenden Konsens zwischen konservativen und progressiven Wertvorstellungen, auch hier gilt: eine narzisstische Balance finden, damit keine Gesellschaftsgruppe aussen vor bleibt und ohne Anerkennung als z.B. APO-Bewegung wie Pegida oder in den 70ern die RAF einen Weg ausserhalb des Konsenses und der Demokratie suchen muss.
Die Demokratische Grundhaltung ist auf der Basis eines "Gesellschaftsvertrages" (z.B. Rawls), einer normativen Moral (z.B. Honneth), eines Grundgesetzes bzw. wie es in der Schweiz heisst: der Verfassung, zu jeder Zeit dialog- und verhandlungsbereit. Innerhalb des weit gesteckten Rahmens der Menschenrechte und des Völkerrechts wird immer wieder gestritten, debattiert, diskutiert und ab und zu sogar abgestimmt bzw. gewählt, in welcher Art und in welchem Mass gesellschaftsrelevante Grundfragen verändert, nachjustiert oder Gesetze neu geschrieben bzw. auch mal verworfen werden sollen.
Dieser auf wechselseitiger Anerkennung (vgl. Jessica Benjamins Beiträge weiter hinten im Buch bzw. Online-Text) und v.a. RESPEKT aufbauenden politischen Philosophie steht diametral entgegen eine Haltung des autoritären Herrschens einer Klasse, eines Clans oder auch eines einzelnen, gottähnlichen Königs, Kaisers, Gurus oder wie auch immer genannten Despoten.
"Wir" als jeweilige Gesellschaft, als bestimmte Nation, als gewachsene Region, als Stadt, als Dorf, aber auch als Familie, als Paar etc., bis hinunter zu jedem einzelnen Individuum, müssen uns immer wieder neu und grundsätzlich entscheiden, ob wir den Weg der Auseinandersetzung, der Aufklärung und des lernenden, neugierigen Bewusstwerdens beschreiten oder aber uns unterwerfen wollen unter Herrscher oder eine herrschende Klasse, welche nicht-hinterfragbare, vereinfachende Parolen, Sprüche oder auch ganze Bücher (z.B. Bibel, Koran etc.), welche in Form einer definitiven Lehre alle Antworten parat halten und diese autoritär und unhinterfragbar vor sich her tragen und bei Zuwiderhandlung empört, störrisch, gekränkt oder wie auch immer, auf jeden Fall aber nicht-dialogisch, mit Repression und ohne Respekt Andersdenkenden gegenüber sogar mit Waffengewalt durchzusetzen bereit sind.
Es ist vielleicht gar nicht schlecht, dieses Kapitel mit einem klassisch-psychoanalytischen Ansatz im Paradigma der Freudschen Triebtheorie zu versehen und auf diesem Wege nebenbei eine kleine Auffrischung in Sachen Staatskunde mitzunehmen, welche uns dann in den nächsten "kollektiven" Kapiteln wo es u.a. um die Demokratie und die Anerkennungstheorie von Honneth und Benjamin geht, weiter begleiten wird:
Das Gewaltmonopol des Staates
Gewalt als Ausdruck missglückter narzisstischer Regulation
- Benno Winker -
"Gewalt steht im Zusammenhang mit dem Narzissmus, Gewalt ist eine Regulationsmöglichkeit des Narzissmus [vgl. mein Modell in Kap. 2], das ist das Thema und der Ausgangspunkt dieser Ausführungen, es ist auch deren Ziel.
Wenn wir von Narzissmus reden, dann meinen wir damit Selbstzufriedenheit, also das, was für den Menschen wohl das Wichtigste ist im Leben. Wir meinen damit die Zufriedenheit mit sich selbst, seinem Leben und seinem Schicksal. Streben nach Geld, Streben nach Schönheit, Streben nach Macht, Streben nach Ansehen - all das dient dazu, uns zufrieden zu machen, uns klarzumachen, dass wir wertvoll sind, dass wir wichtig sind. Und als solche wertvollen und anerkannten Menschen sind wir auch zufriedene Menschen.
Während dieses Ziel klar ist, ist der Weg dahin das eigentliche Problem. Denn die Erreichung dieses Zieles hängt von vielerlei ab. Es hängt ab von den Gaben und Anlagen, die wir mitbekommen haben, es hängt ab von der sozialen Struktur, in die wir hineingeboren werden, es hängt ab von der gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtsituation, welche Chance und Möglichkeiten sich hier öffnen, welche Förderung wir erfahren oder welche Hemmungen.
Da diese Voraussetzungen sehr unterschiedlich verteilt sind, kommt der narzisstischen Eigenregulation eine sehr grosse Bedeutung zu. Deren Aufgabe besteht darin, Zufriedenheit zu erreichen unter den gegebenen Umständen, also auch dann, wenn diese nicht dem entsprechen, was wir uns eigentlich wünschen. Wenn wir also nicht so reich, nicht so schön, nicht so mächtig, nicht so angesehen sind, wie wir es gerne möchten. Wie kann man unter diesen Umständen dennoch Selbstzufriedenheit erreichen? Das ist die Frage und das ist das Problem, das sich der Regulation des Narzissmus stellt.
Ein Versagen derselben, eine Krise des Narzissmus also, hat Henseler als Ursache für den Suizid beschrieben, der ja Gewalt ist gegen die eigene Person. Hier wird der Zusammenhang sichtbar zwischen dem Zusammenbruch der Narzisstischen Regulation und dem Sichtbar-Werden, dem Auftreten von Gewalt. Beim Suizid richtet sich die Gewalt gegen die eigene Person, sie kann sich aber genauso gegen andere Objekte richten, sofern diese als Ursache der narzisstischen Krise betrachtet und angeschuldigt werden. Gewalt kann also das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen versagten, um zu einer wenn auch nur vorübergehenden Befriedigung zu kommen. Ausser dieser aus der Not entstandenen narzisstischen Gewaltäusserung gibt es allerdings auch eine bewusste und gewollte Identifizierung mit der Gewaltanwendung als fest etablierte Abwehr gegen die tatsächliche oder befürchtete Schwäche des narzisstischen Gleichgewichtes. Vor allem bei gewaltbereiten Ideologien findet sich diese Dynamik [vgl. das NS-Unterkapitel im Esoterik-Kapitel 5].
Was meinen wir, wenn wir von Gewalt sprechen? Wir meinen damit, dass jemand seine eigenen Interessen, seine eigenen momentan vorherrschenden und nach Entladung und Entlastung drängenden Gefühle und Triebe, aber auch seine hoch besetzen Meinungen und Vorstellungen durchsetzt oder durchzusetzen versucht, ohne Rücksicht auf die Mitmenschen, auf die persönliche und soziale Umwelt.
Wir unterscheiden prinzipiell zwei Motive für die Ausübung von Gewalt. Einmal dient die Anwendung von Gewalt dazu,
I. sich selbst rigoros zu behaupten, aus der Ueberzeugung, dass man selber der Wichtigste ist und dass die anderen sich zu fügen haben.
Ein Beispiel: Der Held, der Eroberer, der sich allein von der Ueberzeugung seiner eigenen Grossartigkeit leiten lässt und die anderen Menschen im Grunde verachtet. Der andere Grund für brachiale Gewaltanwendung ist
II. der Drang, sich zu befreien von einem zunehmend starken inneren Druck, entstanden und herrührend von unerträglichen und auf andere Weise unüberwindlichen Kränkungen.
Typisches Beispiel dafür ist der Ehemann, der sich seiner Frau unterlegen fühlt, der deshalb ins Wirtshaus geht, sich betrinkt und dann nach Hause kommt und sie schlägt. Wir verurteilen Gewalt, weil sie unseren kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen zuwider läuft, obwohl uns andererseits die Erfahrung lehrt, dass Gewalt ein Teil der Natur des Menschen ist, des Teiles allerdings, den wir als kulturfeindlich betrachten, und den wir deswegen zu kontrollieren trachten. Denn:
Kennen wir nicht alle zumindest gewalttätige Phantasien? Es geht also weniger um die Frage der Herkunft von Gewalt sondern darum, unter welchen Umständen die Steuerung von Gewalt versagt.
Nicht vergessen wollen wir aber jene indirekte Gewalt derer sich die Schwäche bedient, und die wir als Erpressung bezeichnen. Diese entfaltet unter dem Deckmantel einer positiven kulturellen Errungenschaft, nämlich dem Ueber-Ich, ihre Wirkung. In der Verkleidung einer moralischen oder ethischen Forderung veranlasst sie den Mitmenschen zu Handlungen, die dessen Erkenntnis und freier Entscheidung widersprechen, die ihn zwingen, Dinge zu tun, die er eigentlich seinen eigenen Idealen und Ueberzeugungen gegenüber nicht vertreten kann. Auf eine weitere Form der indirekten Gewalt werde ich später eingehen.
In unserer aktuellen politischen Realität wird die Frage einer natürlichen Neigung zur Gewalt allerdings nicht überall in dieser Weise gesehen, wie es hier vorgetragen wird. Wenn auch rein pazifistische Bewegungen und Richtungen in der politischen Realität nicht präsent sind, so gibt es doch sowohl bei den Grünen als auch bei anderen Gruppierungen den so genannten politischen Pazifismus, womit ein der Realpolitik angepasster und insgesamt abgemildeter Pazifismus gemeint ist. Aber auch hier steht im Hintergrund die Phantasie, dass Gewalt etwas sei, was eigentlich überwunden werden könnte, was prinzipiell vermeidbar wäre.
Da Gewalt immer eine soziokulturelle Umgebung voraussetzt, weil der Mensch sich immer schon als Mitmensch vorfindet und weil gerade darin die Begrenzung seiner reinen narzisstischen Strebungen besteht, müssen wir nach dem Verhältnis von Gewalt und Kultur fragen. Wir beziehen uns hier auf die Vorstellungen von Sigmund Freud über das Entstehen der Kultur, dass sie aufgrund eines Triebverzichtes zustande kommt. Zwar meint Freud hier den Verzicht auf libidinöse Strebungen, das gilt jedoch genauso für den narzisstischen Bereich des Menschen.
Das Gewaltmonopol des Staates
"Das Funktionieren einer sozialen, staatlichen und kulturellen Umwelt setzt den Verzicht auf das ungehinderte Ausleben narzisstischer Bedürfnisse voraus. Das heisst: Um ein Gemeinwesen zu etablieren und um es aufrecht zu erhalten und sein Funktionieren zu ermöglichen, verzichtet der Einzelne in gewissem Umfang auf seine narzisstischen Strebungen, also auf die gewalttätige Durchsetzung dieser Strebungen und gibt diese Möglichkeit der Gewalt an den Staat ab, wo diese Gewalt sich in kontrollierter Weise in Form von Gesetzen und Verordnungen niederschlägt. Der Verzicht des Einzelnen auf Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner narzisstischen Wünsche und Forderungen führt so zum Gewaltmonopol des Staates.
Der Gewalttätige missachtet dies und besteht auf dem Vorrecht der Ausübung und Darstellung seiner Machtansprüche und seiner Selbstbehauptung. So wird der Zusammenhang zwischen Narzissmus und Gewalt sichtbar als ein Reflex der immer schon vorgegebenen Spannung zwischen dem einzelnen Individuum mit seinen narzisstischen Wünschen und der dieses Individuum umgebenden Welt, bestehend aus anderen Individuen, die ihr Recht einfordern und denen gegenüber deswegen auf eigene Ansprüche verzichtet werden muss, soweit sie nur mit Gewalt durchgesetzt werden könnten.
Das Gewaltmonopol des Staates und der kulturellen Gemeinschaft verbietet nun zwar, wie gesagt, die gewaltsamen Lebensäusserungen des Einzelnen, es bietet dafür aber auch jedem dieser Einzelnen Schutz vor der Gewalt des anderen. Es ist dies in der Tat ein wesentlicher, wenn nicht der wesentliche Bestandteil unserer kulturellen Entwicklung und anders als auf diese Weise kann wohl kein Staat existieren. Allerdings ist festzuhalten, dass durch diese Konstruktion Gewalt nicht etwa verschwunden ist, sondern dass sie nur verschoben wurde vom Einzelnen auf das Kollektiv, dass sie aber als prinzipiell anwesend und auf irgendeine Art und Weise auch als berechtigt - wenn nicht gar notwendig - angesehen wird. Entscheidend dabei ist, dass die Form der Gewalt und das Recht, Gewalt auszuüben, streng determiniert sind durch Gesetze, die das Kollektiv sich gibt. In ihnen wird also der Vorgang des Verschiebens von Gewalt einerseits sichtbar, andererseits begrenzt. Wir alle erlauben es also dem Staat, dass er Gewalt anwendet, und wir fordern es sogar von ihm. Objekte und Opfer der gesetzlichen Gewalt sind dabei diejenigen, die sich an diese Grundvereinbarung nicht gebunden fühlen, die diesen kulturstiftenden Vorgang »rückgängig« machen wollen, indem sie für sich selbst beanspruchen, mit Gewalt ihre Interessen durchzusetzen - auch gegen die kulturellen Forderungen.
Gewalt ist also als Phänomen nicht nur vorhanden, sondern sie wird in vorgegebenen Formen auch prinzipiell akzeptiert. Damit befinden wir uns in Uebereinstimmung mit der alltäglichen Erfahrung und wir verzichten deshalb auf den Versuch, die Ursachen von Gewalt in misslungenen oder unzureichenden sozialen Strukturen zu finden.
Die phänomenologischen Beschreibung von Gewalt führt uns zu der Einsicht, dass Gewalt ein Verstoss ist gegen etwas. Dieses Etwas ist immer schon vorhanden und determiniert das Wesen von Gewalt. Dieses Etwas bezeichnen wir als die innere Repräsentanz der Kultur. Diese können wir in unserem Zusammenhang vor allem durch die Begriffe Ethos und Moral charakterisieren. Dabei versuchen wir den Inhalt dessen, was wir Ethik nennen, mit den Begriffen Vernunft, Kritikfähigkeit und Willensfreiheit zu beschreiben. Vernunft meint die Entwicklung allgemein gültiger und verpflichtender Vorstellungen und Verhaltensanweisungen im Hinblick auf die Forderungen eines Zusammenlebens in der Gesellschaft. Diese ethischen Normen, die von der Vernunft determiniert sind, beziehen sich vorwiegend, wenn nicht ausschliesslich, auf die geltende soziokulturelle Umgebung. Auf die religiös und ideologisch bedingten Forderungen, die eher einen absoluten Anspruch erheben, die eine metaphysische Transformation von oft unbewussten Vorstellungen sind und die wir hier als Moral bezeichnen, werden wir anschliessend eingehen.
Es ist also die Vernunft, die im demokratischen Verfahren Gesetze, Normen und Verhaltensweisen aufstellt, nachdem sie deren Tauglichkeit für das Gemeinschaftsleben überprüft hat. Die Kritikfähigkeit ist es, die den Menschen in die Lage versetzt, diese vorgegebenen Werte und Normen ständig zu überprüfen, sie auf ihre aktuelle Gültigkeit hin zu untersuchen, sie
daun anzuerkennen und das eigene Verhalten, die eigenen Wünsche, die eigenen Strebungen damit in Übereinstimmung zu bringen. Die Willensfreiheit schliesslich ist die Bereitschaft, der Entschluss, sich von diesen Erkenntnissen im I landein leiten zu lassen und gegebenenfalls Triebverzicht zu leisten.
Willensfreiheit setzt voraus, dass das Subjekt zwischen diesen kulturell anerkannten Normen und den eigenen inneren Wünschen und Motiven wählen kann, dass es sich dann in positiver Weise im Hinblick auf die allgemeine Angemessenheit für die Motive aus den vorgegebenen Normen entscheidet und sich nicht ausschliesslich von den eigenen Gefühlen und Trieben leiten lässt, die von sich aus eine starke Neigung haben, die Herrschaft im Bereich des Handelns zu übernehmen.
Nun zu der unterschiedlichen Entstehung von Ethik einerseits und Moral, wie wir sie hier verstehen, andererseits.
Dem Niederschlag narzisstischer Gewaltstrebungen in Gesetzen, soweit diese in demokratischer Weise zustande gekommen sind, kommt neben der kollektiv notwendigen auch eine ethische Bedeutung zu. So beschreiben wir also Ethos als einen Gewaltverzicht, der auf demokratischem Weg, also mit Zustimmung der Mehrheit der Beteiligten, zustande gekommen ist. Die Grundlage bilden vernünftige Überlegungen im Hinblick auf das Zusammenleben und die Achtung der Rechte sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft.
Gesetze und Normen werden aber auch in anderen kulturellen Bereichen aufgestellt, vor allem in autoritären Saaten sowie im religiösen und ideologischen Bereich. Während im staatlichen Bereich das Autoritäre mehr oder weniger deutlich zutage tritt, geschieht das im religiösen und ideologischen Bereich oft indirekt und im Verborgenen. Der Wahrheitsanspruch einer Religion oder einer Ideologie birgt in sich immer eine Neigung zur Intoleranz und damit auch zur Gewalt. Die geschichtlichen Beispiele dafür brauchen hier und heute nicht ausgeführt werden. Religiöse Vorschriften zum Beispiel kommen nicht als Zustimmung der Vielen zustande, sondern sie werden hergeleitet von einem göttlichen Willen.
Zwar wird von vielen religiösen Gemeinschaften auch das Ideal der Toleranz vertreten, aber es ist nicht zu übersehen, dass hier fast immer eine Aporie besteht in dem Sinn, als das Recht des Einzelnen auf eine eigene Meinung dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der vorgelegten und verkündeten Dogmen widerspricht. Die Beziehung zum Narzissmus wird deutlich in der Herleitung der religiösen Vorschriften aus einem göttlichen Willen, der eben nur dieser speziellen Religion in besonderer Weise als ein Akt der Gnade und Bevorzugung kund getan wurde. Gnade, Unfehlbarkeit, Auserwähltheit, ewige Wahrheit, unerschütterliche Gewissheit sind denn auch die Begriffe, die wir immer im Bereich des Religiösen und teilweise auch bei den Ideologien finden. Dies zusammen mit einem allwissenden und allmächtigen Gott, den die Religion sich zu eigen macht, weist hin auf die narzisstische Grundstruktur. Die Gefahr von Intoleranz und Gewalt sind die logischen Folgen dieser absoluten Ansprüche. Je demokratischer eine Religion ist, je mehr sie auf besondere Auserwähltheit, auf besonderes Wissen, auf besondere Eingebungen, auf besondere Gnade verzichtet, umso toleranter kann sie sein und um so weniger wird sie zu Gewalt neigen.
Die vom Kollektiv an Kirchen und ideologische Gruppierungen, wie zum Beispiel Parteien, abgetretenen Gewalt ist also im Allgemeinen umfangreicher und tiefgreifender als die im demokratischen Prozess an den Staat abgegebene.
Vor allem aber ist sie indirekter und deshalb oft nicht als solche zu erkennen. Der narzisstische Gewaltverzicht fliesst also zunächst der Kirche oder der Partei zu und gelangt von dort in Form von Vorschriften und Gesetzen über das Über-Ich der Gläubigen in die Erziehung der Kinder. Das ist der Punkt, wo wir uns als Analytiker wieder auf sicherem, von der täglichen Praxis bestätigten Boden befinden, wenn wir uns nur vor Augen halten, in welchem Ausmass nicht nur früher, sondern auch heute noch direkte, vor allem aber indirekte Gewalt die Erziehung beeinflusst. Immer noch glauben Eltern, sie müssten autoritär vorgegebene moralische Vorschriften und Vorstellungen über die freie Entscheidung ihrer Kinder stellen, über deren Autonomie und deren Recht, ihren Lebensweg selbst zu wählen. Je mehr sich ein Kind dagegen wehrt, umso mehr Gewalt ist notwendig, um die Autonomie zu unterdrücken.
Der Kreislauf der narzisstischen Gewalt schliesst sich dann, wenn ein junger Mensch sich nicht mehr anders zu helfen weiss, als mit offener und brutaler Gewalt gegen alles Bestehende, letztlich aber gegen die Unterdrückung seiner Autonomie vorzugehen. Das aber ist genau der Punkt, von dem die kulturelle Entwicklung ausging, indem man daran ging, eben diese absolute Autonomie freiwillig und im Interesse aller einzuschränken.
Werfen wir nun einen Blick auf den Narzissmus, genauer gesagt sowohl auf die innere Dynamik, als auch auf die Struktur dieses wichtigen Aspekts Gewalt als Ausdruck missglückter narzisstischer Regulation der Persönlichkeit. Freud spricht in diesem Zusammenhang auch vom Selbstgefühl und er entwickelt die Vorstellung, dass dieses Selbstgefühl, man könnte auch sagen das narzisstische Wohlbefinden des Menschen sich zusammensetzt aus drei Elementen:
- Da ist einmal ein Rest des alten primären Narzissmus aus der frühesten Kindheit, aus jener Zeit also, wo Selbsttriebe und Libido noch nicht zu unterscheiden waren und wo das Kind noch in der paradiesischen Vorstellung lebte, dass ihm alles möglich sei.
- Ein anderer Teil dieses Selbstgefühles stammt aus der Zustimmung des Ich-Ideals. Dieses Ich-Ideal, wir wissen es, ist einst entstanden parallel zur Herausbildung des Ichs aus dem primären Narzissmus. Es ist insofern ein Nachfolger desselben, als das Ich ständig bestrebt ist, durch dieses Ich-Ideal bestätigt und gelobt zu werden. Dies geschieht allerdings nur dann, wenn es den Wünschen und Forderungen des Ich-Ideals entspricht.
- Der dritte Teil dieses Selbstgefühls stammt aus der Befriedigung der Objektlibido. Dies entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass in der Tat gelungene Objektbeziehungen eine Befriedigung für uns darstellen und auch das Gefühl unseres eigenen Wertes erhöhen. Es gefällt uns und es bestätigt uns, wenn wir liebe und gute Freunde haben, wenn wir eine gelungene Partnerbeziehung leben dürfen.
Es scheint so, als ob diese drei Komponenten des Selbstgefühls sich komplementär verhalten, dass hier sozusagen ein "steady state" herrscht, dass es sich also um ein dynamisches Gleichgewicht handelt und nicht etwa um eine festgezurrte Struktur. Ein Teil dieses Gedankenganges ist für unser Thema nun von besonderer Bedeutung, nämlich der, dass dem Ich-Ideal nicht nur ein individueller, sondern wie Freud sagt, ein sozialer Aspekt, wir könnten auch sagen, dass ihm ein kollektiver Aspekt zukommt. Dieses Ich-Ideal kann nämlich die Identität mit einer Gruppe, mit einer Nation, mit einer Kasse, mit einer Hautfarbe, mit was auch immer verkörpern. Und vor allem, hier ist der Sitz der Ideologien. Dieser kollektive Teil des Ich-Ideals erhebt in gleicher Weise wie der individuelle Anteil einerseits ganz bestimmte Forderungen, andererseits gewährt er Bestätigung und Befriedigung, so wie wir sie im individuellen Bereich erfahren, wenn wir uns den Forderungen unseres individuellen Ich-Ideals nähern. Als Gewissen beschreibt Freud die Instanz, die ständig die Uebereinstimmung - oder auch nicht Übereinstimmung -
unseres Handelns mit den Inhalten des Ich-Ideals überprüft. Es scheint nun durchaus so zu sein, dass der eine Teil dieses Ich-Ideals jeweils auf Kosten des anderen wächst bzw. zugunsten des anderen abnimmt, dass also mit einer Abnahme des individuellen Anteils der kollektive Aspekt des Ich-Ideals zu nimmt und schliesslich auch die beherrschende Position einnehmen kann.
Zwischen diesen drei Bereichen also, diesen drei Aspekten spielt sich das ab, was wir die narzisstische Regulation nennen. Dabei ist offensichtlich, dass diese drei Teile verschiedenen Entwicklungsstufen entsprechen. Das ist das eine. Das andere ist, dass sie korrespondieren mit den Möglichkeiten des Individuums.
So finden sich z. B. im Ich-Ideal nicht nur idealistische und ethische Forderungen, dass der Mensch gut sein soll, sozial, hilfsbereit und so weiter. Die Erfüllung dieser Forderungen ist insofern am einfachsten, als das im Prinzip jedem Menschen möglich ist, soweit er es überhaupt will. Es finden sich dort aber auch andere Forderungen, denen nicht immer in ausreichendem Masse entsprochen werden kann, die aber wesentlich Inhalte unserer gegenwärtigen Kultur sind. Gemeint sind Begriffe wie Reichtum, Ansehen, Stärke, Einfluss, Macht, soziales Prestige. Selbstzufriedenheit und ein Bewusstsein des eigenen Wertes hängt in hohem Masse von diesen Faktoren ab. In dieser Hinsicht reichen aber die Anlagen, Gaben und Möglichkeiten es Einzelnen nicht immer aus, um Zufriedenheit in dieser Hinsicht zu erreichen.
Gelingt das nämlich nicht oder nur unzureichend, dann weicht die Regulation auf andere Bereiche aus. Entweder werden jetzt die Niederschläge der Objektbeziehungen verstärkt und vergrössert, oder aber, wenn auch das misslingt, wird unter bestimmten Umständen zurückgegriffen auf die Reste des primären Narzissmus. Dieser tritt immer dann in den Vordergrund, wenn die höher strukturierten Anteile versagen, und er induziert dann durch Entzug von Besetzung deren Regression und Entdifferenzierung. Im Hinblick auf das Ich-Ideal bedeutet das, dass an die Stelle der positiven allgemein gültigen kulturellen Ideale Gruppenideale installiert und besetzt werden. Diese zeichnen sich aus durch Pseudowerte. Sie setzten auch weitgehend keine besondere Leistung oder Begabung des Einzelnen voraus, vielmehr stellt allein die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eine Auszeichnung dar und ein Auserwähltsein.
Entsprechend gross ist dabei die narzisstische Gratifikation.
Kehren wir noch einmal zu der beschriebenen Dreiteilung des Narzissmus zurück. Dieser bedeutet eine Differenzierung, weg von autokratischer Selbstherrlichkeit, hin zu einer sozial verträglichen narzisstischen Befriedigung. Diese individuelle Reifung und Entwicklung ist Ursache und zugleich Parallele der kulturellen Entwicklung. Die Verschiebung der narzisstischen Befriedigung weg vom primären Narzissmus hin zu sekundären Strukturen, führt den kollektiven Werten Energie zu und festigt und bestätigt diese so in ihrer Gültigkeit. Gewaltverzicht nennen w ir das in Analogie zum Triebverzicht und w ir stehen damit vor der grundsätzlichen Frage, ob Kultur nur auf diesem Weg entstehen kann, oder ob es vielleicht auch noch eine von den beschriebenen Mechanismen unabhängige Eigendynamik der Menschheitsentwicklung gibt. Das ist aber ein weites Feld und sprengt den Rahmen dieses Vortrages.
Wenn wir nun anknüpfend an das weiter oben Gesagte uns vor Augen halten, welcher Zusammenhang zwischen Kultur und Gewalt besteht, so geht es bei unserer Untersuchung nicht um das Problem, inwiefern durch die Kultur, durch bestimmte gesellschaftliche Umstände Gewalt provoziert und gefördert wird. Denn da, wie gesagt, individuelle Gewalt sozusagen ein vorkultureller Zustand ist, der zugunsten der Kulturentwicklung eingeschränkt wurde, so lautet die Frage: Unter welchen Umständen gelingt es der Kultur nicht mehr, die ursprüngliche und archaische Gewaltbereitschaft zu zügeln und zu kontrollieren. Besteht, so müssen wir fragen, ein Zusammenhang zwischen der Stärke, mit der Vitalität einer Kultur und ihrer Fähigkeit, die auf sie übertragene Gewalt voll zu nutzen und es nicht zuzulassen, dass in regressiver Weise diese Gewalt zurückfliesst zum Individuum, das nun gegen die Gesetze in archaischer Weise das Recht des Stärkeren für sich beansprucht und durchsetzt? Wovon aber mag diese Vitalität der Kultur abhängen?
Hängt sie ausschliesslich ab von dem möglichst breiten Konsens aller Beteiligten oder müssen wir davon ausgehen, dass davon unabhängige, autonome Vorgänge die Kultur stärken oder schwächen. Wir hören zwar vermehrt die Klage, dass es keine Werte mehr gäbe, keine verpflichtenden Werte. Es ist aber die Frage ob solche plakativen und unüberprüften Äusserungen hilfreich sind, oder ob es sich dabei nicht vielmehr um den Ausdruck einer subdepressiven Grundeinstellung handelt. Ob w ir es also, mit anderen Worten, mit einem abgewehrten kollektiven Schuldgefühl zu tun haben, und dass wir in der davon ausgehenden Schwächung einen der Gründe dafür zu sehen haben, dass die Kontrolle der individuellen Gewalt immer wieder versagt, oder doch insgesamt nur ungenügend funktioniert.
Wenn wir unter diesem Aspekt die rechte Gewalt als Beispiel betrachten, die uns ja im Moment sehr beschäftigt, so müssen wir sehr genau darüber nachdenken, welcher Weg zu beschreiten ist, wobei natürlich unbestritten ist, dass gewalttätige junge Menschen, die über das Leben und die Gesundheit Anderer einfach hinweggehen, bestraft werden müssen. Es wird aber aus unseren bisherigen Ueberlegungen auch klar, dass wir ein Symptom behandeln und nicht die Krankheit. Die Krankheit ist, so vermuten wir, eine Schwäche unserer gegenwärtigen Kultur, deren Ursachen noch zu untersuchen wären. Es scheint so zu sein, dass die jugendlichen Gewalttäter sich ein Gruppenideal aussuchen und sich diesem verpflichtet fühlen, einem Ideal, das allerdings primitiver Natur ist, jedoch eine hohe Kohärenz der Gruppe verspricht.
Dieses primitive Ich-Ideal erlaubt es, in regressiver Weise die an die kulturelle Gemeinschaft abgegebene Gewalt zurückzuholen, indem eigene Gesetze geschaffen werden, deren Durchsetzung auch mit Gewalt erfolgen darf. Wir erinnern uns: Gesetzlichkeit ist immer mit Gewalt verbunden, insofern als ihre Geltung denen gegenüber rigoros durchgesetzt werden muss, die sich ihr entziehen wollen. Eine Entdifferenzierung des Ich-Ideals in Richtung auf eine primitivere Struktur (Kollektivierung und Entindividualisierung) desselben bedeutet, so scheint es, auch einen Rückgang der Sublimierungsfähigkeit, indem in diesem Fall aggressive Triebe ihrer höheren Bedeutung, die sie vielleicht einmal erreicht hatten, wieder beraubt werden und in einen früheren Zustand zurückkehren. Warum aber wählen diese jungen Leute diesen Weg, um narzisstische Selbstzufriedenheit zu erlangen und ein starkes Selbstgefühl zu bekommen?
Hängt es vielleicht damit zusammen, dass unsere Kultur und Gesellschaft sehr hohe Anforderungen stellt, die nur schwer zu erfüllen sind und deshalb erst spät zu einer Befriedigung führen? Wenn wir fragen, was den Menschen heute ein gutes Selbstgefühl vermittelt, das Gefühl, jemand zu sein, etwas darzustellen, wertvoll zu sein und wichtig, so stossen wir auf Begriffe, wie Schönheit, Reichtum, Popularität, Berühmtheit, hohe soziale Positionen, Einfluss, Macht. Wenn wir uns das vor Augen halten, dann müssen wir erneut darüber nachdenken, ob an dieser Wertediskussion doch etwas sein könnte.
Ein Beispiel: Wenn Nächstenliebe in unserer Gesellschaft wirklich ein Wert wäre, wäre dann nicht die Erfüllung dieses Ideals vielleicht einer grösseren Anzahl von Menschen möglich, als wenn es um Reichtum und Macht geht, um Einfluss und Schönheit? Gelangen wir aber damit zu der Feststellung, dass unsere kollektiven Ideale Zeichen einer regressiven Primitivität aufweisen, indem sie nämlich nicht mehr durch individuelle Anstrengung zu erreichen sind, sondern sich herleiten aus natürlichen Gaben, also gewissermassen eine natürliche Bevorzugung darstellen? Diese Tendenz zu einer kollektiven narzisstischen Regression verstärkt dann aber auch die Regressionsneigung in den gesellschaftlichen Randgruppen, indem nun auch deren Ideale, wenngleich von anderer Art, vermehrt primitive Züge aufweisen und durch den ständigen Zufluss entdifferenzierter Energie gestärkt werden. Sicher scheint zu sein, wenn wir diese Randgruppen betrachten, dass sie eben nicht zu denen gehören, die erfolgreich sind, und die aus diesem Grund einen erheblichen Mangel an narzisstischer Befriedigung und an Selbstwertgefühl haben und so einerseits, dynamisch betrachtet, wieder Gewalt für sich zurückfordern, also mit der Übertragung der Gewalt an die Gesellschaft nur noch begrenzt einverstanden sind, andererseits zu alten regressiven Ich-Idealen zurückkehren, die zwar im übrigen kulturellen Kontext erheblich stören, denen aber eine triebhaft archaische Kraft und Gewalt inne wohnt und die durch die zurückflutende und denaturierte aggressive Energie verstärkt werden.
Gewalt als narzisstische Regulation stellt sich uns also dar als ein Phänomen, das uns zwar gegenwärtig besonders beschäftigt, von dem ich aber nicht sicher bin, ob es nur in unserer Gegenwart herrscht. Ich neige eher zu der Annahme, dass in den verschiedensten kulturellen Zuständen die Neigung bestand oder besteht, dass einzelnen oder auch Gruppen den früher einmal stattgehabten Gewaltverzicht verneinen, dass sie mangels anderer Möglichkeiten, das Selbstgefühl zu stärken, auf einen ursprünglichen Narzissmus zurückgreifen, der seine Erfüllung in Machtphantasien findet, in Grössenphantasien und im Verzicht auf und im Abwerfen von kulturellen Banden und Bindungen. Dieser kulturell geforderte Verzicht auf narzisstische Gewalt, auf narzisstisches Durchsetzen eigener Interessen ohne Rücksicht auf andere kann nur dann erfolgreich sein, wenn eine entsprechende narzisstische Gratifikation auf höherer Ebene gewährt wird, denn das prinzipielle Problem der narzisstischen Zufriedenheit bleibt bestehen und es geht immer nur um die Frage, auf welcher Ebene diese Befriedigung stattfinden kann. Da ich mir, wie gesagt, nicht sicher bin, ob das Gewaltproblem in unserer Gegenwart wirklich so gravierend ist im Vergleich zu anderen Zeiten, weiss ich auch nicht zu sagen, ob der gegenwärtige Umgang mit dieser Gewalt der richtige ist. Freuds Kulturpessimismus ist sicher nach wie vor verbreitet. Immer wieder klingt es durch, dass eigentlich alles Kulturelle nur mehr oder weniger mühsam zustande kommt und dass darunter ständig das Böse lauert. Könnte es nicht sein, dass die aktuellen und konkreten Erscheinungen von Gewalt Ausdruck eines zunehmenden Kulturpessimismus sind?
Dass diese vermutete Schwäche unserer Kultur eben darin besteht, dass sie sich selber nicht mehr traut, dass sie den Optimismus verloren hat, die tiefe Ueberzeugung, dass Kultur etwas ist, das aus sich selber wächst und stark ist und nicht nur Folge eines Dressuraktes? Kann es sein, dass viele heutzutage nicht mehr davon überzeugt sind, dass die beschriebene Abgabe narzisstischer Gewalt des Einzelnen an das Kollektiv auch freiwillig erfolgen kann und nicht nur unter dem Druck, unter dem Zwang, da sonst Chaos herrscht, wenn jeder einfach tut, was er will? Kann es sein, dass diese Schwäche der Kultur einer Schwäche der Vernunft entspricht? Wäre es dann aber nicht besser, wir würden unsere Aufmerksamkeit mehr diesen Problemen unserer Kultur zuwenden, anstatt uns zu sehr auf das Symptom, nämlich die Gewalt, die wir darunter beobachten, zu konzentrieren?
Könnte es nicht sein, dass die ständige Diskussion dieser Gewalt eine Abwehr ist, indem wir unseren eigenen Pessimismus, unsere eigene Gewaltproblematik projizieren auf die anderen, auf die also, die in der Tat und aktuell gewalttätig handeln?
»Homo homini lupus« sagt ein altes lateinisches Sprichwort [vgl. auch den schottischen Moralphilosophen Hobbes, M.F.]. Sollen wir ihm glauben? Wenn allerdings tatsächlich Kultur nichts anderes wäre, als eine Zwangsmassnahme, dann wäre es nicht verwunderlich, wenn es immer wieder zu Ausbrüchen archaischer Zustände kommt. Aber wie wären dann die positiven Leistungen der Kultur zu verstehen? Reicht die Idee einer Sublimierung wirklich aus, um das alles zu erklären? Manche neigen ja dazu, das Zurückgehen von Religiosität als typisches Beispiel zu sehen für die Werteproblematik, aber könnte dieses Phänomen nicht auch eine Emanzipation bedeuten, ein Erwachsenwerden der Menschen gegenüber einem supponierten, einem angenommenen Gott? Wenn wir ein aktuelles Gottesbild betrachten, wie es zum Beispiel in der Diskussion um die Implantationsdiagnostik oder um die Forschung an und mit Stammzellen vorgestellt wird, eines Gottes also, der den Menschen zwar den Verstand gibt, ihm dann aber plötzlich nicht mehr erlaubt, diesen Verstand zu gebrauchen. Eines Gottes, der eigensinnig und eifersüchtig auf Vorrechten beharrt. Wenn wir diesen Gott also betrachten, ist es dann nicht eher ein Fortschritt, wenn er überwunden wird, wenn er ersetzt wird durch einen Gott, der den Menschen die Freiheit auch wirklich lässt, die er ihm gegeben hat, der sich vielleicht sogar daran erfreut, wenn der göttliche Funken, den er in diese Menschen gelegt hat, immer heller leuchtet und wenn diese seine Kinder, wie es bezeichnenderweise immer heisst, erwachsen werden, gleichberechtigt. Es ist sicher kein Zufall, dass auch und gerade in unserer Gegenwart Religion so häufig mit Gewalt verbunden ist. Ich denke, dies sind Anzeichen, die uns nachdenklich machen müssten und die uns nach den grösseren Zusammenhängen suchen lassen sollten, wenn wir von Gewalt sprechen.
Es wäre also von Vorteil, wenn wir zu einer komplexeren Vorstellung von Narzissmus kämen, indem w ir den Zusammenhang verstehen mit dem, was man als Gott oder das Göttliche bezeichnet, dass wir also aus der Kinderwelt, in der wir zum Teil immer noch leben, uns befreien, indem wir nicht nur aus Zwang auf unsere gewalttätigen narzisstischen Wünsche verzichten und den Gesetzen gehorchen, getrieben von der Angst vor Strafe, sondern freiwillig und aus Einsicht und Achtung vor den Rechten des anderen. Nur so kann Gewaltfreiheit zu einem echten, positiven Wert werden der dann auch in freier Entscheidung erkannt, anerkannt und gewürdigt wird.
Literatur
Freud, S. (1914). Zur Einführung des Narzissmus. In: Freud, S. (1975): Studienausgabe, Bd.III. Frankfurt (Fischer), S.37-68
Henseler, H. (1976). Die Theorie des Narzissmus. In: Eicke, D. (Hg.) (1976): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Zürich (Kindler) S.459-477
Henseler, H. (1976). Der psychoanalytische Beitrag zum Suizidproblem. In: Eicke, D. (Hg.) (1976): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Zürich (Kindler), S.824-837.
„Aber wie anders als naiv soll man anfangen?“
(Niklas Luhmann in 'Erkenntnis als Konstruktion'S.13)
--> Dreischritt: Phänomenologie – WAS? – Hermeneutik – WARUM? - DIALEKTIK – WIE?
Diese drei geisteswissenschaftlichen Methoden werden ergänzt durch die Empirie, welche meist nur unter Laborbedingungen an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen betrieben werden kann.
Als "Praxis-Forscher", d.h. PsychotherapeutIn betreiben wir also den Dreischritt: Phänomenologie – WAS? – Hermeneutik – WARUM? - DIALEKTIK – WIE?
In nunmehr 20 Jahren Psychotherapie-Praxis sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich bin ich immer mehr zur Erkenntnis gelangt, dass die allermeisten psychischen Phänomene und Störungen Regulationsphänomene sind, will heissen: es besteht ein mehr oder weniger breites Spektrum zwischen zwei Extremen bzw. zwischen Antagonisten, welche eine, wennauch labile, Balance findend das beste "Ergebnis" erzielen, seien es Ausgleichsprozesse auf der biologischen Ebene z.B. Adrenalin/Noradrenalin oder Serotonin/Dopamin etc. oder auf der psychischen Ebene zwischen Depression und Manie oder zwischen Extraversion und Introversion, auf der sozialen Ebene zwischen männlich und weiblich (Vorsicht: gender!) oder, sehr zentral in diesem Buch, zwischen den Konzepten Konkurrenz und Kooperation oder zwischen Egoismus und Altruismus bzw. innerem und äusserem Selbst.
Dieser dialektische Raum, welcher m.E. als Grundkonzeption für fast alle psychischen Phänomene anwendbar ist, bildet den roten Faden dieses Buches.
Dies, weil nach meiner Erfahrung die weitaus meisten Fragestellungen in heutigen Psychotherapien sich um narzisstische Regulations- und Relationssphänomene ranken, zu deren Beantwortung für jeden Einzelnen von uns optimalerweise ein zwar labiles, aber kreatives, stets gefährdetes "Gleichgewicht des Selbst und des Narzissmus" gefunden und erprobt oder gar erfunden und angewendet werden muss.
Es wird ein weiter Weg sein, der uns beschreibend, argumentativ und sogar in Ansätzen empirisch auf diese etwas ungewohnte Narzissmus-Definition und-Behandlung bringen wird. Es werden nebst psychologischen und biologischen auch soziologische, historische und philosophische Betrachtungen und Phänomene eine wichtige Rolle spielen. Denn auch zwischen den Diziplinen gilt: ein Ausgleich der Sichtweisen (Dialektik: These/Antithese), ein Austarieren der Faktoren und Konzepte bringt uns erst den zu beschreibenden Phänomenen am nächsten.
Eine auf Ausgleich und Integration der Extreme ausgerichtete Psychotherapie, will heissen: das gesunde Mass findend, egal in welchem Lebensbereich, ist ein Hauptziel jeder (meiner) psychotherapeutischen Bemühungen, unabhängig davon, welche Symptome jemand "präsentiert".
Ein Klient von mir hat einmal gesagt: "Wenn ich mich verändere, verändere ich automatisch auch meine Mit- und Umwelt und damit ein klein wenig auch die gesellschaftlichen Verhältnisse".
Dieser hoffnungsvolle und optimistische kollektive Aspekt der sozialen, therapeutischen Arbeit mit Menschen wird meines Erachtens noch immer stark unterschätzt in einer noch immer zu stark auf individuelle Defizite ausgerichteten Psychotherapie-Szene.
Als Abschluss des Buches werden die beiden zuvor als dialektisch beschriebenen Achsen (Y: die strukturelle Sichtweise (Narzissmus als Kontinuum zwischen den Extremen Psychopathie und Depression) und X: die dynamische Sichtweise) wieder "heruntergebrochen" auf die konkrete Therapiesituation und ein darauf aufbauender "relational-regulativer" Psychotherapie-Ansatz entworfen:
Die wichtigste Dimension der alltäglichen psychotherapeutischen Praxis bildet dabei die Beziehung bzw. der Kontakt zwischen TherapeutIn und KlientIn. Auch hier ist immer wieder ein Mass zu finden zwischen Nähe und Distanz, zwischen Intensität und Entspannung. Besonders betonen möchte ich, dass die Extreme, z.B. des Engagements, auch mal an einem Wochenende oder während des Urlaubs oder der langen Distanznahme und Abstinenz, sehr wohl vorkommen sollen - über viele Sitzungen hinweg gesehen, sollte sich aber ein gesundes Klima einer mittleren Aufmerksamkeit, einer Ausgewogenheit zwischen z.B. Involviertheit und Loslassen, zwischen Konfrontation und Entstehen-lassen einstellen.
Es gilt demnach immer wieder von Neuem, d.h. in jeder Lebenslage und -phase, sogar in jeder einzelnen Situation, ein Gleichgewicht zu finden zwischen zahreichen Antagonisten oder Gegenspielern, wie z.B. Egoismus versus Altruismus, kurz: das Gleichgewicht von Narzissmus und Selbst zu finden!
Die Extreme für sich genommen und ohne Kontext, tun uns und den anderen nicht gut:
Egoismus ins Extreme gesteigert bekommt, klinisch betrachtet, eine Tendenz zur Narzisstischen Persönlichkeitsstörung bis hin zu Psychopathie und Soziopathie, einen Mangel an Empathie also, was übrigens die meisten Kriminellen "auszeichnet" (siehe z.B. Kevin Dutton 2013)...
Altruismus auf der anderen Seite, also das selbstlose anderen helfen und eine "andere immer zuerst"-Haltung (vgl. u.v.a. Schmidbauers "Die hilflosen Helfer"), tendiert klinisch überspitzt gesehen, zu allerlei Sucht(verhalten), zu diversen Depressionsarten bis hin zu Psychose und Suizid.
Diese im letzten Teil dargestellte "Relational-regulative Psychotherapie" (Arbeitstitel...) hat nebst der Psychoanalyse vielerlei Quellen: Gestalttherapie nach Fritz Perls, Integrative Therapie nach Hilarion Petzold, Mentalisierungs-Konzept nach Fonagy und den von der universitären Forschung abgeleiteten kognitiven und systemischen Verhaltenstherapieansätzen (u.v.a. Klaus Grawe, Wolfgang Tschacher und Peter Fiedler).
Die Freudsche Psychoanalyse und das chaostheoretisch-systemische Denken dienen dabei v.a. als theoretischer Hintergrund, das Mentalisieren und die weiteren genannten v.a. kognitiven Verfahren erweisen sich als v.a. für die Praxis sehr wertvoll.
Biopsychosoziales Krankheitsmodell
Emergenz als natürliches Phänomen in der Entwicklung von Komplexität
"Der zentrale Begriff ist hier die Emergenz, also das Hervorbringen von Phänomenen, die auf der jeweils darunter liegenden Systemebene noch nicht vorhanden sind [vgl.Kap.1] und deswegen dort auch nicht als Erklärungsgrundlagen zur Verfügung stehen. Emergenz wird im Sinne der Evolutionstheorie (z.B. Riedl 1990, 1987) als ein durchgehendes Phänomen allen Biologischen gesehen; ohne sie wäre die oft sprunghafte Entwicklung konkreter Lebensformen auf unserem Planeten kaum verständlich. Konrad Lorenz hat dies als Fulguration beschrieben (vgl. Egger 2009a).
Die damit verbundene entscheidende und wichtigste Erkenntnis ist, dass eine noch so genaue Klärung der Bestandteile und ihrer Beziehungen untereinander auf jeweils einer Systemebene keine ausreichende Klärung der Phänomene auf der nächsthöheren Ebene
der Systemhierarchie erbringt. Oder anders formuliert: Die grössten Anstrengungen auf neurologischer oder biochemischer Ebene werden es nicht schaffen, die Erlebens- und Verhaltensphänomene aufzuklären und vice versa – und zwar aus prinzipiellen Gründen, da das jeweils höher liegende System Phänomene produziert, die auf der darunterliegenden Ebene noch gar nicht existieren.
Ein psychologisches Konstrukt wie etwa „Selbstunsicherheit“ oder „Feindseligkeit“ werden wir auf physiologischer Ebene vergeblich suchen. Was wir dort davon finden, sind vielfältige nervöse, humorale bzw. biochemische Erregungsmuster, die ohne Kenntnis der übergeordneten Funktion in ihrer psychologischen Bedeutung nicht zu verstehen sind [in unserem Modell 'Das REALE'].
Als eine wichtige Folgerung aus dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell gilt, dass jedes Ereignis oder jeder Prozess, der an der Aetiologie, der Pathogenese, der symptomatischen Manifestation und der Behandlung von Störungen beteiligt ist, folgerichtig nicht entweder biologisch oder psychologisch ist, sondern sowohl biologisch als auch psychologisch.
Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, dass jedes seelische Phänomen – also jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Handlungsimpuls und jedes Handeln – immer gleichzeitig auch als ein körperlicher Vorgang zu verstehen ist. Es ist unsere Sprache, die uns hier zwei verschiedene Welten vorgaukelt, tatsächlich handelt es sich immer um einen Prozess des gesamten Systems „Mensch“.
Seelische Phänomene stellen emergente Eigenschaften des komplexen Organismus – insbesondere des Nervensystems – dar. Verschiedene strukturelle oder funktionelle Zustände dieses Nervensystems bringen daher auch verschiedene seelische Phänomene hervor. Nach dem Prinzip der Emergenz sind diese seelischen Ereignisse allerdings auf der darunterliegenden physiologischen Ebene nicht ausreichend erklärbar, sie können dort phänomenologisch niemals ausreichend verstanden werden (s.a. Singer 2005, Roth 2003)". (Egger 2017 S.22-23)
Psychotherapeutisches Handeln als individueller Konstruktionsprozess
--> Caspar in Margraf: .....................
Fallbeispiele zu Narzissmus
Quelle: https://newswatch4u.wordpress.com/2017/08/20/ein-narzisst-erklaertnur-anerkennung-kann-den-selbsthass-daempfen/
„... Zunächst möchte ich mal eine Verallgemeinerung relativieren, denn Narzissmus hat wenig mit Selbstverliebtheit zu tun, vielmehr mit einem dauerhaften Selbsthass, ausgelöst durch dauerhafte Selbstzweifel. Nur die regelmäßige Fütterung mit Anerkennung schafft es, die Zweifel und den Hass auf sich selbst so sehr zu senken, dass man nicht elendig zu Grunde geht. Die Jagd nach Anerkennung raubt dabei beinahe jegliche Kraft und Zeit und lässt Dinge tun, die weit jenseits jeglicher Achtsamkeit und Selbstfürsorge liegen. Leider hinterlässt ein Narzisst dabei oft eine emotionale Spur der Verwüstung; bei sich selbst, wie auch in seinem Umfeld.
Wie viele andere auch, habe ich natürlich auch mal geschaut, was Wikipedia zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung sagt und ich war entsetzt. Einem Narzissten die Fähigkeit zur Empathie abzusprechen, ist nämlich schlicht totaler Unsinn. Es gibt Narzissten die durch gesteigerte Empathie nur noch mehr Baustellen zu bewältigen haben, denn auch der Druck helfen zu wollen und Anerkennung als guter Mensch zu erhalten, kann an die Grenzen der Lebensfähigkeit treiben. Ich strebte mein bisheriges Leben lang danach, „gut genug zu sein“. Gut genug für Andere, gut genug für etwas Anerkennung. Und da ich teilweise tiefen fast schon lähmenden Schmerz empfinde, wenn ich das Leid anderer wahrnehme, wehre ich mich massiv gegen die Aussage, es gehe mir nur um die Anerkennung. Nein, meine Empathie ist echt.
Obwohl sich meine narzisstische Persönlichkeitsstörung, sowie meine bipolare Störung (macht es noch etwas komplizierter und erklärt vielleicht manche Abweichung vom landläufigen Bild) schon früh in der Kindheit manifestiert haben, waren die Auswirkungen und negativen Konsequenzen für mich erst recht spät spürbar, und es brauchte einige Schicksalsschläge und eine tiefe Depression, bis meine Überlebensstrategien ihre Wirksamkeit verloren.
Der Verlust meines eigenen Unternehmens und der damit traurig verknüpfte Verlust meiner langjährigen Partnerin (ja ohne Geld, Macht und Status war ich nicht mehr gut genug) und später dann ein Déjà-vu, als ich einen guten Job und die nächste Partnerin verlor (sie war wenigstens so ehrlich und sagte mir, „was will ich denn dann noch mit dir“), führten zu einer kompletten Abschneidung von jeglicher Anerkennung. Meine Hobbies konnte ich mir nicht mehr leisten, ein Arbeitsumfeld gab es nicht mehr, Familie und Partnerin waren weg, einige Freunde distanzierten sich von mir, und von anderen zog ich mich aus Scham zurück, denn ich fühlte mich nicht wertvoll genug, noch Freunde zu haben. Todesfälle in der Familie verstärkten die Isolation. Entwertet und vom Selbsthass getrieben, nahm ich einen Suizidversuch vor. Ich erhängte mich in einer Kurzschlussaktion irgendwo im Wald, an einem planlos gewählten Ort, mit einem ungeeigneten Abschleppseil, an einem zu schwachen Ast… Dieser brach, und ich erwachte nach einer längeren Phase der Ohnmacht auf nassem, schlammigen Waldboden.
Dies brachte noch nicht die Wende. Obwohl ich mich vor mir selbst erschrocken hatte, bedurfte es eines „kleinen“ Wunders, bis ich mir Hilfe holte. Meine kleine Tochter wurde geboren, außerhalb einer Beziehung und ein wahres „One Hit Wonder“, denn sie war das Resultat eines kurzen Versuchs eine Beziehung aufzubauen, der leider scheiterte. Trotzdem führte dieses neue kleine Leben dazu, dass ich meines nicht mehr aufgeben konnte, denn in meiner Familie musste ich selbst erleben, was es bedeutet, wenn ein geliebter Mensch freiwillig viel zu jung geht und seine kleinen Kinder einfach zurücklässt. Das konnte ich mit meiner Moral nicht vereinbaren und meiner Tochter nicht antun und so lebte ich zunächst für meine kleine Tochter weiter, auch wenn ich selbst nicht mehr leben wollte und jeden Tag als Qual empfand.
Als sich in mir der Entschluss manifestierte, wieder leben zu wollen anstatt leben zu müssen, denn das war auf Dauer nicht aushaltbar, holte ich mir Hilfe und ließ mich behandeln. Umfassende Klinikaufenthalte, therapeutische Betreuung, Analyse und Reflektion halfen mir, meine Störungen zu verstehen. Ich habe den Kampf noch nicht gewonnen, aber genug Kraft um weiter zu machen.
Das ist alles vorher passiert:
Einfach nur an etwas teilzunehmen, mitzumachen oder mit dem Strom zu schwimmen, war mir nie genug. Ich gab alles, um eine Sonderrolle zu spielen, oder die Führung zu übernehmen oder wenigstens um einen gesonderten Ruf zu genießen. Gut war nie gut genug, entweder ich war in etwas sehr gut bis überragend oder ich hab es gemieden. Alles musste extrem und exzessiv sein. Das kostete Kraft und nahm mir irgendwann jede Freude an jeglicher Sache oder Handlung. Es ging nur noch um das Streben nach Anerkennung, Sieg, Ruhm und darum etwas besonderes zu sein.
Schul-/Ausbildung:
Da ich vor nichts mehr Angst habe, als zu scheitern oder nicht anerkannt zu werden, denn als Narzisst bezieht man die fehlende Anerkennung nicht etwa auf ein spezielles Scheitern, sondern immer auf sich als Person, wählte ich nie die Ausbildungswege, die mich gereizt oder gefordert hätten, sondern immer die Wege, in denen die Chancen am besten waren, wirklich herausragend abzuschneiden. Nie hätte ich eine Schule besucht, in der ich nicht hätte Klassenbester sein können und niemals hätte ich eine Ausbildung angefangen, in der ich durch meine Leistungen nicht für Aufsehen hätte sorgen können.
Fahrzeugwahl oder Gebrauchsgegenstände:
Wenn alle ein I-Phone oder alle einen Golf fahren wollten, dann wollte ich, nein MUSSTE ich mich abheben. Ich musste besser sein oder zumindest auf extreme Weise anders. Zu Zeiten, als mein Unternehmen sehr gut lief und ich mir eigentlich fast jedes halbwegs bezahlbare Fahrzeug leisten konnte, hätte ich mir einen dicken Audi oder einen sehr gut motorisierten BMW oder Mercedes kaufen können. Aber ich musste anders sein, ich musste einen Mini mit annähernd 300 PS fahren, denn da war mir mehr Anerkennung sicher.
Arbeit:
Es reichte mir nicht, einfach nur einen guten Job zu machen, ich wollte besser sein, ich wollte Anerkennung, ich brauchte Anerkennung, in der Selbstständigkeit von den Kunden oder in Form von Zahlen und im Angestellten-Verhältnis dann von Vorgesetzten. Nur das erfolgreiche Unterordnen als Narzisst ist schon wieder fast hoffnungslos. Daran scheiterte ich zuletzt. Als ehemaliger Unternehmer kannte ich Wege und hatte sowieso schon sehr sehr hohe Ansprüche an mich und meine Mitarbeiter. Später dann konnte ich meine Vorstellungen nicht umsetzen, was dazu führte, dass ich meinem Arbeitgeber schlicht zu anstrengend wurde. Ja da hab ich, durch Narzissmus getrieben, schrecklich versagt. Ich wollte mehr Überstunden machen, ich wollte bei den Mitarbeitern beliebt sein und sie entlasten. Für die Anerkennung meiner Auszubildenden stritt ich mich mit dem Eigentümer des Unternehmens und so weiter.
In meiner Selbstständigkeit war ich erst zufrieden, wenn ich so verdammt nah an der Perfektion war, dass mein Laden immer aussah wie bei einer Neueröffnung. Dafür arbeitete ich 80 bis 120 Stunden, 6 meist 7 Tage die Woche, 11 Jahre ohne einen Tag Urlaub. In einer kurzen Phase als Angestellter bei einem großen Warenhaus häufte ich in nur 9 Monaten 970 Überstunden an, um alle Ziele zu erreichen. Wenn ein nicht gestörter Mensch eine Aufgabe eine Zielvorgabe bekommt, die er nicht erreichen kann, dann findet er Wege damit klar zu kommen. Ich als Narzisst hätte mit einem Scheitern nicht leben können, also gab ich alles: Ich verzichtete auf Schlaf, ich ging weit über jede normale Grenze und wenn ich die Ziele dann doch irgendwie erreichte, legte ich selbst die Messlatte noch etwas höher, damit die Anerkennung nicht abriss.
Ausbildertätigkeit:
Ich suchte nie Auszubildende, die wirklich gut geeignet waren, sondern ich versuchte, fast hoffnungslosen Fällen die Ausbildung doch zu ermöglichen. Ich wollte die Anerkennung dafür, dass ich diesen Menschen helfen konnte. Damit lud ich mir mehr emotionalen Druck und so viel zusätzliche Arbeit auf, dass es mich fast innerlich zerriss. Ich brachte Auszubildende durch die Verkäuferausbildung, mit denen ich in meinen Mittagspausen (die ich immer mit irgendwas füllte, nur nicht mit Ruhe) lesen übte, in Grundschullesebüchern der 2. und 3. Klasse. Ich war so stolz, wenn sie es irgendwie schafften, nur was ich dafür alles vernachlässigte sah ich nicht. Ich war dauergestresst, kaum für Familie da und an mich und mein Wohlbefinden dachte ich nie, nur an den nächsten Anerkennungsschub.
Beziehungen:
Fakt ist, ich hatte sehr viele Beziehungen, und an jedem Verlust, an jedem Scheitern litt ich sehr. Vielleicht bin ich beziehungsunfähig, weil mir das Schicksal die ein große Liebe versagte, da ihre Familie (sie war Türkin) mich nicht akzeptierte und ich sie dann aufgeben musste, nachdem ihr Leib und Leben auf schlimmste Art und Weise bedroht wurde. Vielleicht bin ich danach auch gescheitert, weil ich falsche Prioritäten gesetzt hatte und weil mein Tag auch nur 24 Stunden hat. Jedenfalls konnte ich oft nicht meinen Perfektionismus im Job und in der Beziehung unter einen Hut bringen und spätestens wenn das Genörgel los ging, die Kritik und Unzufriedenheit immer größer wurden, gab ich auf und entzog mich. Entweder ich war gut genug und bekam Anerkennung oder zumindest Verständnis, oder ich wurde immer kälter. Ja in dieser Phase war ich manchmal kalt und ein Arschloch und manches, worum ich hätte kämpfen sollen, warf ich achtlos weg. Ich bereue das sehr, doch damals wusste ich keine anderen Wege damit umzugehen.
Als ich erkannte, dass ich in meiner Situation mit der Belastung der Selbstständigkeit eh kaum eine echte Beziehung führen konnte, ich aber trotzdem hungrig nach Anerkennung durch Partnerschaft war, sprang ich von einem Abenteuer und Versuch zum nächsten. Hier wählte ich meine Partnerinnen irgendwann gar nicht mehr danach, ob sie mir gefielen oder gut taten, ich wählte danach wie viel Aufsehen sie erregten an meiner Seite, was mir ja auch wieder Anerkennung verschaffte. Ja, kranker Mist, für den ich mich echt schäme. Zum Beispiel gab es eine wundervolle Frau, die selbst 192 cm groß ist und damit meine 170 cm bei weitem überragte. Ich liebte es, wenn die Leute sich daran ergötzten, denn ich stand im Mittelpunkt. Ich habe wundervolle Menschen ausgenutzt, statt mich ihren wirklichen Werten zu widmen, sie anzuerkennen und zu lieben.
Irgendwann verliebte ich mich wirklich, was ich später sehr bereute, denn sie war mindestens so narzisstisch wie ich und dazu noch kälter, berechnender und manipulativer. Vielleicht hab ich es auch nicht anders verdient, denn auch hier waren meine Motive wohl zunächst andere, denn jetzt suchte ich mir ausnahmslos Frauen, die irgendwie in Not schienen. Alleine mit Kindern, selbst geplagt von psychischen Störungen und Erkrankungen, Drogenprobleme etc. Ich wollte helfen und erhoffte mir etwas Anerkennung und Dankbarkeit. Dumm nur, dass ich mich wirklich verliebte und an Beziehungen festhielt, die mir nicht gut taten, da ich zum Beispiel auch die mitgebrachten Kinder zu sehr ins Herz geschlossen hatte. Da gab ich gab alles was ich hatte und noch mehr, ich ging über jede Belastungsgrenze, die Grenze meiner finanziellen Mittel eingeschlossen, nur um gut genug zu sein. Doch als meine Kraft am Ende und mein Konto leer war, wurde ich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Ein normaler gesunder Mensch hätte den Stecker vorher gezogen. Ich habe aus Angst nicht mehr anerkannt zu werden alles laufen lassen… viel zu lange. Und glaubt mir, ich schäme mich für meine Fehler.
Narzissmus bedeutet aber nicht, dass man innerhalb von Beziehungen nur an sich selbst denkt, im Gegenteil, oft übertreibt man beim Versuch, besonders gut für den anderen zu sein. Das Streben ein perfekter Partner zu sein, kann einen dabei auch komplett auffressen. Geschenke müssen immer wahnsinnig toll und übertrieben sein, damit die Anerkennung groß genug ist, Gemeinsame verbrachte Zeit, unterliegt immer Erfolgsdruck. Ich war ständig auf der Suche, neue Vorlieben zu entdecken, Wünsche zu erahnen oder irgendetwas zu finden, womit ich glänzen konnte.
Sexualität:
Eventuell gehe ich damit zu weit oder mache mich zur Zielscheibe von Spott und Verurteilung. Aber ich will ehrlich sein und es ist nun mal ein wichtiger Bestandteil von Beziehungen und Leben. Anerkennung meiner Leistungen waren mein Treibstoff, ohne extremen Zuspruch fühlte ich mich leer und als Versager. Ich bin nicht gesegnet mit dem Aussehen eines männlichen Supermodels, ich bin einfach ein eher kleiner, kräftiger Typ, der sich Anerkennung nicht über oberflächliche Komplimente sichern konnte. So wurde Sex für mich zum Job, ich wurde zum Callboy innerhalb von Beziehungen; meine Bezahlung war Anerkennung. Meine eigene Lust und Befriedigung verlor ich komplett aus den Augen, denn ich stand unter extremen Erfolgsdruck. Sex wurde zu einem professionell durchgezogenen Akt, Gefühle starben in mir und ich wurde zu einem Schauspieler. Bevor die Frage aufkommt: Nein keine der Damen wurde stutzig – und nur weil ein Mann einen Erguss hat, hatte er noch lange keinen Orgasmus. Trotzdem steht natürlich außer Frage, dass es mich und später dann auch die Partnerin belastete, wenn ich den Druck nicht mehr aushielt, immer kälter und irgendwann distanzierter wurde.
Ich habe mich immer wieder gefangen, immer wieder meine Rolle gespielt und wirklich übermäßig viel Sex gehabt, aber es war dann selbst in der Beziehung nur Sex, von Lieben konnte keine Rede sein. Ich habe den Sex studiert, in Theorie (Bücher etc. und Praxis), die Anatomie, die Praktiken, Stellungen, die Frauen gelesen und analysiert, ich arbeitete immerzu an mir und so wurde es zum Job. Wenn ich es nicht schaffte, sie zu befriedigen ging meine Welt unter. Viele Männer leiden unter so etwas, aber ich als hatte solch große Versagensangst, dass ich, als ich jünger war, wirklich Angst vorm Sex hatte. Später wuchs die Selbstsicherheit. So wurde Sex für mich immer mehr zum Werkzeug, um mir Anerkennung zu verschaffen, doch meine eigene Lust blieb auf der Strecke und ich litt darunter.
Umgang mit meiner Gesundheit und meinem Körper:
Hier hab ich alles durch, was Aufmerksamkeit und Anerkennung bringt: So war ich ein 130 kg schweres Muskelmonster, und als das niemanden mehr juckte und ich nur einer von vielen Hobbit-Hulkmischlingen war, nahm ich innerhalb von 7 Monaten von 130 auf 63 Kilo ab, nur um dafür Anerkennung zu bekommen. Alles was extrem war und Aufsehen erregte nutze ich, ich fraß bei Wettessen wie ein Schwein, ich machte die schlimmsten ungesündesten extremsten Diäten und mein Körper wurde allerhand Schandtaten unterzogen, nur um irgendwas an Anerkennung zu bekommen.
Sport:
Wenn ich nicht sehr gut war, machte ich es nicht. Als ich merkte, ich werde nie ein großer Fußballer, wurde ich wenigstens der härteste, um mir damit einen Ruf zu sichern. Als ich merkte, dass ich damit natürlich nicht weit kam, wechselte ich zum Rugby, Hauptsache anders – und ich hab es geliebt. Ich boxte und war extrem, erst als ich jemanden bei einem Amateurkampf schwer verletzte (ist fast 18 Jahre her) und meine Familie mich bat aufzuhören und mich daran erinnerte, dass ich nicht damit leben könnte, wenn ich da bei jemandem schweren Schaden anrichte, ließ ich es sein.
Alltägliches:
Kochen für Anerkennung, nicht für gesunde Ernährung, extreme Gartenprojekte, Feste die etwas besonderes sein mussten. So baute ich einmal einen Spezialgrill, nur um an meinem 30. Geburtstag einen ganzen 180 kg schweren Vogel Strauß am Stück zu grillen und ich badete in der Anerkennung der 150 Gäste, die mich für die abgefahrene Aktion lobten. Doch Freunde waren keine oder kaum welche da, denn echte Freunde hatte ich nicht. Echte Freunde sagen einem offen und ehrlich die Wahrheit. Meine Kritikfähigkeit ging gegen 0, auf Kritik reagierte ich mit sofortigem Rückzug oder scharfen Gegenangriffen. Ich konnte nie differenzieren, ob eine Kritik einer Tat oder Sache galt oder mir als Person. Jede Form von Kritik hat mich getroffen, wie eine Panzerabwehrgranate, und so verbannte ich die besten und ehrlichsten Menschen aus meinem Leben und umgab mich mit Speichelleckern.
Ja es gibt keinen einzigen Lebensbereich, in dem Narzissmus einen nicht zu selbstzerstörerischen Handlungen treibt.
Ich werde dieses Störungsbild für immer in mir tragen, wie ein Alkoholiker seine Sucht. Aber so wie ein Alkoholiker jahrelang trocken sein kann vom Alkohol, so kann ich mich so gut es geht von der Sucht nach Anerkennung distanzieren. Das bedeutet jeden Tag harte Arbeit, jeden Tag gegen sich selbst zu gehen, dem Alltag mit viel Struktur und Disziplin zu begegnen. Es bedeutet, Muster zu durchbrechen, sich Kritik zu stellen, Dinge zu tun, in denen man schlecht ist und mit denen es einem erstmal schlecht geht, sich mit Leuten umgeben die ehrlich sind und es aushalten. Es geht darum, die Belastungsgrenze durch Selbstzweifel zu steigern und die Entzugserscheinungen bei fehlender Anerkennung zu ertragen. Der Kopf begreift manches lange bevor es sich in der Gefühlswelt etabliert hat. So muss ich Tag für Tag damit leben, dass ich Dinge tue, die mein Kopf mir erlaubt, die mein Herz aber nicht will. Wenn ich meinem Herzen folge, renne ich grinsend in mein Verderben und reiße andere Menschen mit. Erst wenn ich meinem Herzen wieder trauen kann, ob es wirklich fühlt, dass etwas gut ist oder ob es doch nur wieder den narzisstischen Trieben folgt, kann mein Kopf etwas entspannen und ich meinem Herzen wieder folgen.
Familiärer Hintergrund
Als Kind von zwei Alkoholikern wurde in mir Urvertrauen nie ausgebildet. Gewalt und Gleichgültigkeit standen an der Tagesordnung. In der Scheidungsphase musste ich mit 8 Jahren viel zu jung Verantwortung für meine kleinen Schwestern übernehmen und so reifte ich wie ein holländische Tomate, sehr schnell zu einem offensichtlich sehr früh reifen Ergebnis, aber die wichtigsten Inhalte fehlten. Kritik an mir wurde nie geübt, denn meine Mutter war mehr mit sich und ihrer Suchtbekämpfung beschäftigt oder bei der Arbeit. Anerkennung musste ich mir immer irgendwo suchen.
Ich hoffe, ich konnte Euch einen kleinen Einblick in die Sichtweise eines Narzissten geben. Bitte vergesst nicht: Es ist eine ernste Störung die viel zu oft im (Frei-)Tode endet, weil der Narzisst darunter mindestens so sehr leidet wie sein Umfeld. Im Gegensatz zu diesem muss er eingesperrt mit seinem kranken Geist in seinem Körper leben.
Jedem von Euch, der unter einem narzisstischen Partner leidet, kann ich nur den Rat geben: Wenn er oder sie sich nicht helfen lässt, dann geht, seid es Euch selbst wert. Seid hart, ehrlich und offen, wenn sie oder er Euch schaden. Seid aber auch verständnisvoll und geduldig, wenn es eure Kraft und Liebe zulässt und Besserung in Sicht ist – aber NUR dann…“
Quelle: https://newswatch4u.wordpress.com/2017/08/20/ein-narzisst-erklaertnur-anerkennung-kann-den-selbsthass-daempfen/
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Teil II: ................
„über die Integrität eines jeden wacht ein jeder“ (ein ethisches Grundprinzip an der SEAG*)
Qualitäten, die einen guten Psychotherapeuten, eine gute Psychotherapeutin, ausmachen:
Ein guter Lehrtherapeut/ eine gute Lehrtherapeutin sollte in den folgenden Themenfeldern bzw. „Spektren“ dynamisch, kontext-sensitiv und pragmatisch sich erleben und sich verhalten können:
- Präsenz / Bewusstheit: aktives Zuhören im „Hier und Heute“: Präsent sein, d.h. (pro-)aktiv wach und aufmerksam, statt „nur“ achtsam-gewährend, will heissen auch mal intervenierend, bremsend, Korrektive setzend. „Geschulte Intuition“ und Empathie helfen dabei sehr.
- „Kairos“ – eines der generischen Prinzipien aus der Systemischen Therapie, neudeutsch: Timing, d.h. ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt, um zu intervenieren, um laufen zu lassen, um zu konfrontieren, um zu trösten, etc. etc. – das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun oder eben auch bewusst lassen, je nachdem...
- Relation / Begegnung: begegnungsorientertes, empathisches, menschen-liebendes Gewahrwerden von Person und Situation im Raum und in der Zeit (Petzold: „Kontext und Kontinuum“) – Idealisierungen/Abwertungen, Projektionen, Vorurteile und Klischées erkennend, zurücknehmen und ansprechen können.
- Vielfalt: den Menschen in seiner/ihrer Einzigartigkeit (auch in seinen Abgründen!) anerkennend und würdigend – nicht festlegend, sondern prozessorientiert: „ich bin viele“, flexibel, expressiv, laut, traurig, bedürftig etc.etc. „ein Gang durch viele Landschaften“.
- Regulation / Stabilität: bewusstes dynamisches Eintauchen-Können in hoch-emotionale Situa-tionen und komplexe kognitive Zusammenhänge, kombiniert mit aktivem Wieder-Zentrieren und professionellem Sich-Zurückhalten.
- Embodiment / Leiblichkeit: auf Expression und Impression, sowie Integrität achtend, weil: Bi-ographisches ist ver-leiblicht (über den physischen Körper hinausgehend) – zum Leib bzw. Körper gehört auch das Gehirn…
- Empowerment: ermutigend, stützend und schützend. Hoffnung vermittelnd und Vorbild sein in einer realistisch-optimistischen Grundhaltung des Gelingens und Grenzen überwinden-Könnens (Volition) – ein starker Glaube an die Veränderbarkeit des Menschen.
- Mentalisieren: „Ver-Sprachlichung“ – das psychoanalytisch-konstruktivistische „Symbolisieren“ (vgl. R-I-S bei Lacan) bedeutet u.a., dem Unaussprechlichen eine Stimme geben, Namen und Narrationen (er-) finden, auch für Schreckliches, Traumatisches – dient auch der Exzentrizität (Abstand zu Ereignissen, „kalte Erinnerungen“ statt „heissem Ueberwältigt-werden“).
- Regulation in Relation: Steuern bzw. Geschehenlassen des Therapieprozesses, sowohl in struk-turierend-regulatorischer Hinsicht als auch in dynamisch-relationaler Weise.
- Entwicklungsperspektive: life-span-development (Petzold) – punktuelle „Tiefenbohrungen in die Biographie“, wo indiziert. Kein „l‘art pour l’art“ sondern sinnvolles Mustererkennen in der historischen Perspektive des eigenen Geworden-Seins reflektieren – „woher komme ich und wo-hin will ich weitergehen“.
- Oekologische Kontext-Perspektive: kollektive, gesellschaftliche, religiöse und sogar politische Themen und Einflüsse besprechen können, um so eine allzu individualistische Sichtweise zu verhindern und das (systemische) Eingebettetsein in grössere Zusammenhänge sichtbar zu machen.
- Phänomenologie: beschreibend statt bewertend. Wahrnehmend in „herrschaftsfreien Diskursen“ (Habermas) Ereignisse und Geschehnisse zum kreativen (auch nonverbalen!) Ausdruck bringen können.
- Hermeneutik: prozessorientiertes Situieren, Einordnen, Vergleichen, Analysieren. „Strukturen hinter den Phänomenen“ thesengeleitet postulieren, ausprobieren und überprüfen können.
- Dialektik: andere Sichtweisen einnehmen können, Antithesen auch zu eigenen Positionen bilden können (kognitive Exzentrizität), kritische Rückmeldungen, auch mal spielerischer „advocatus diaboli“ sein können - Gegensätze integrierend, “Negation der Negation”, Aufheben in Synthesen welche neue Ausgangspunkte (Thesen) für die „hermeneutische Spirale“ bilden.
- Humor: auch und gerade angesichts schwerer Schicksale ist eine gewisse Leichtigkeit hilfreich, ein nicht-abwertendes Gemeinsam-Lachen-Können über nicht-lustige Situationen und Erlebnisse – paradoxe und provokative Interventionen.
- Umgang mit Macht: Nicht Uebergriffig werden: Grenzen, „Nein“, auch dysfunktional erschei-nende Widerstände respektierend sich des Machtgefälles und potentiellen –missbrauchs bewusst sein und dieses auch ansprechen wenn indiziert – Umgang mit Uebertragung und Gegenübertragung.
- Narzissmus des Therapeuten: Achtsamkeit bzgl. eigenen blinden Flecken und ev. triebhaften Bedürfnissen, welche bewusst gemacht zu einem souveränen Umgang mit eigener Bedürftigkeit nach Nähe, Anerkennung und Aufmerksamkeit führen können.
- Ideologische Festlegungen: diese sind zu vermeiden bzw. wo nötig anzusprechen, in Kenntnis eigener Einseitigkeiten wo diese sonst aus moralisch-ethischen Gründen zu Tabubildung führen. So können Themen auch mal bewusst und transparent nicht behandelt bzw. ausdiskutiert werden – „Konsens im Dissens“.
- Problem des sexuellen und emotionalen Missbrauchs und schulenspezifischer Normen
- Identifizierung / kritische Distanz zum Verfahren der Integrativen Therapie: sich nicht scheuen, persönliche Abweichungen vom Mainstream der IT auszusprechen und zu begründen – eigene Schwerpunkte, Interessen und (spätere) Spezialisierungen mit dem Kandidaten themati-sieren und entdecken.
- Persönliche Haltung, Weiterbildungsethik: transparenter Umgang mit eigenen Meinungen und Einstellungen, auch im Sinne einer Beispiel-Seins bzgl. Ehrlichkeit und Spürbarkeit
Markus Frauchiger, Bern den 3. Feb. 2019
Unspezifische oder Allgemeine Wirkfaktoren
"Pfeiffer (1991) listet mit Bezug auf Frank (1961), Sargant (1957) und Torrey (1972) folgende [Unspezifische Wirkfaktoren] auf:
1. Mobilisieren von Zuversicht und Veränderungsbereitschaft
2. Aufnehmen einer emotional bedeutsamen Beziehung [vgl.oben]
3. Interpretation des Leidens und der Therapie nach einem plausiblen, der kulturellen Situation entsprechenden Konzept
4. „Auftauen“ verfestigter Erlebens- und Verhaltensmuster
5. Korrigierende emotionale Erfahrungen mit Umstrukturierung zentraler Konzepte des Klienten (Haken/Schiepek 2010 S.450).
..............................
Teil III: Von der Psychoanalyse zur Dialektisch-Integrativen Psychotherapie
Dreischritt: Phänomenologie – WAS? – Hermeneutik – WARUM? - DIALEKTIK – WIE?
Diese drei geisteswissenschaftliche Methoden werden ergänzt durch die Empirie, welche meist nur unter laborbedingungen an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen betrieben weredn kann. Als Praxis-Forscher betreiben wir also den Dreischritt.
..........................
Teil IV: Kap.10.5. Spezifische Therapie des Narzissmus
Vom Klischee zur differenzierten Sichtweise
Heuristische Einstiege in die 'Dialektische Psychotherapie' des Narzissmus-Spektrums:
- Alice Millers "Drama des begabten Kindes"
- Haller's 5 E's: Kränkungsgeschichten
Narzisstische Themen
- Kränkung
- Neid, Missgunst
- Wut, Aerger
- Ungerechtigkeitsempfinden
- Hilflosigkeit
-
Ein grosses Problem bei vielen narzisstischen Mustern ist die grosse Stabilität derselben. Egal was passiert, alles wird "eingemeindet" und via Abwertung, Pseudo-Ernstnehmen, Opferhaltung, Gegenangriff etc.etc. zur Aufrechterhaltun des "narzisstischen Systems" genutzt - vergleichbar mit der Wachstums-Dynamik im Kapitalismus: Ferinde werrden zu Freunden umgedeutet, als Lernprozess, als Herausforderung etc. re-framed etc.
Therapeutisch-methodische Hauptschwierigkeit:
--> Destabilisieren des sich-aufrechterhaltenden Musters des "Künstlichen Selbst"
Generische Prinzipien: Zur Praxis der Selbstorganisation
Martin Rufer (2014) beschreibt diese "Phase V" in der Systemtherapie folgendermassen:
"Destabilisierung - Erkennen und Gestalten von Phasen der Instabilität [5]:
Psychotherapie eröffnet veränderte Erfahrungsmöglichkeiten. Bestehende Muster werden destabilisiert. Damit verbundene Inkongruenzen wirken zunächst irritierend, auch wenn Klienten oft schon vorher das Gefühl entwickeln, dass bisheriges Verhalten, Denken und Fühlen nicht (mehr) adäquat ist (»eigentlich habe ich es ja schon immer gewusst«).
Diese »inputsensiblen Phasen« werden therapeutisch in unterschiedlichen Techniken und Interventionen genutzt, um bestehende Muster zu unterbrechen oder zu destabilisieren sowie Differenzierungen, Unterscheidungen und neues, ungewöhnliches Verhalten einzuführen, zum Beispiel durch den Einbezug von »Dritten«, durch Reframing, Uebungen und Exposition.
- Wann und wie zeigt sich eine Phase »kritischer Instabilität« ?
- Wie künden sich »Ordnungsübergänge« an und wie reagiere ich darauf?
- Welche meiner Interventionen oder Techniken (Gesprächsführung, Metaphern, Aufgaben, Uebungen usw.) sind passend?
- Wie können Beziehungsressourcen (Support) dafür genutzt werden?" (Rufer 2014 S.38-39).
Im "Original", also bei Haken und Schiepek (2010) liest sich 'Phase V' der generischen Prinzipien wie folgt:
Bestahilisieniiig/l''lukliiiitions\’erstärkungen realisieren. Psychotherapie bedeute!.
den Klienten veränderte Erfnhrungsmögliehkeilen zu eröffnen. Bestehende KliV
Muster werden damit destabilisiert und es treten Inkongruenzen auf, die zunächst
uiitierend wirken, I liitifig bereiten sieh I Jeslahilisieriingen bestehender Muster odn
Sehenmla bereits innerlich vor, da die betroffene Person das ( ioftlhl entwickelt, da . ,
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i i . i I i I ...... I I . ....... ( I, . I, \ I
Psychotherapie 439
feld mehr oder weniger intentional und bewusst Bedeutung. Im Sinne eines „dcvial i
on amplifying feedback“ (abweichungsverstärkende Rückkopplung) befindet sich der
Patient zunehmend ausgeprägter und auch länger in anderen, mit neuen oder einol i«»
nal relevanten Erfahrungen assoziierten Zuständen. Die therapeutische Praxis nutzt
unterschiedliche Techniken, um bestehende Muster zu unterbrechen oder zu deslalü
lisieren, z.B. Übungen und Rollenspiele, Verhaltensexperimente, Fokussierung anl
die Ausnahmen von einem Problemmuster, Einführung bisher nicht benutzter l Inlei
Scheidungen und Differenzierungen, Erarbeitung von veränderten Verständnis/.iisam
menhängen und Deutungen (Reframing), konfrontative oder provokative Verfahren,
und viele andere” (Haken/Schiepek 2010 S.438-439)
..............................
Byung-Chul HAN, für einmal optimistisch Perspektiven aufzeigend:
Die Zeitkrise von heute heißt nicht Beschleunigung. Das Zeitalter der Beschleunigung ist bereits vorbei. Was wir derzeit als Beschleunigung empfinden, ist nur eines der Symptome der temporalen Zerstreuung. Die heutige Zeitkrise geht auf eine Dyschronie zurück, die zu unterschiedlichen temporalen Störungen und Mißempfindungen führt. Der Zeit fehlt ein ordnender Rhythmus. Dadurch gerät sie ausser Takt. Die Dyschronie läßt die Zeit gleichsam schwirren. Das Gefühl, das Leben beschleunige sich, ist in Wirklichkeit eine Empfindung der Zeit, die richtungslos schwirrt.
Die Dyschronie ist nicht das Resultat forcierter Beschleunigung. Verantwortlich für die Dyschronie ist vor allem die Atomisierung der Zeit. Auf diese geht auch das Gefühl zurück, die Zeit vergehe viel rascher als früher. Aufgrund der temporalen Zerstreuung ist keine Erfahrung der Dauer möglich. Nichts verhält die Zeit. Das Leben wird nicht mehr eingebettet in die Ordnungsgebilde oder Koordinaten, die eine Dauer stiften. Flüchtig und ephemer sind auch Dinge, mit denen man sich identifiziert. So wird man selbst radikal vergänglich. Die Atomisierung des Lebens geht mit einer atomistischen Identität einher. Man hat nur sich selbst, das kleine Ich. Man nimmt gleichsam radikal ab an Raum und Zeit, ja an Welt, an Mitsein. Die Weltarmut ist eine dyschronische Erscheinung. Sie läßt den Menschen auf seinen kleinen Körper zusammenschrumpfen, den er mit allen Mitteln gesund zu erhalten sucht. Sonst hat man ja gar nichts. Die Gesundheit seines fragilen Körpers ersetzt Welt und Gott. Nichts überdauert den Tod. So fällt es heute einem besonders schwer, zu sterben. Und man altert, ohne alt zu werden.
Das vorliegende Buch [Han: 'Duft der Zeit'] spürt historisch und systematisch den Ursachen und Symptomen der Dyschronie nach. Es wird aber auch über die Möglichkeiten einer Genesung nachgedacht. Dabei werden zwar Heterochronien oder Uchronien aufgesucht, aber auf die Auffindung und Rehabilitierung dieser außergewöhnlichen, außeralltäglichen Orte der Dauer beschränkt sich die vorliegende Studie nicht. Vielmehr wird vermittels einer historischen Rückschau prospektiv auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, daß das Leben bis in den Alltag hinein eine andere Form anzunehmen hat, damit jene Zeitkrise abgewendet wird. Nachgetrauert wird nicht der Zeit der Erzählung. Das Ende der Erzählung, das Ende der Geschichte muß nicht eine temporale Leere mit sich bringen. Es eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer Lebenszeit, die ohne Theologie und Teleologie auskommt, die jedoch einen eigenen Duft besitzt.
Sie setzt aber eine Revitalisierung der 'vita contemplativa' voraus.
Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Absolutsetzung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperativ zur Arbeit, der den Menschen zum 'animal laborans' degradiert. Die Hyperkinese des Alltags nimmt dem menschlichen Leben jedes kontemplative Element, jede Fähigkeit zum Verweilen. Sie führt zum Verlust von Welt und Zeit. Die sogenannten Strategien der Entschleunigung beseitigen diese Zeitkrise nicht. Sie verdecken sogar das eigentliche Problem. Notwendig ist eine Revitalisierung der 'vita contemplativa'. Die Zeitkrise wird erst in dem Moment überwunden sein, in dem die 'vita activa' in ihrer Krisis die 'vita contemplativa' wieder in sich aufnimmt.
Quelle: Han. Duft der Zeit. Bielefeld: Transcript, S.7-8
Kürzest-Zusammenfassung des Mittelteils des Buches bzw. der Kapitel 2-9 (ohne 1 und 10)
Das 'Triumvirat', die 'Dreieinigkeit' meiner Narzissmus-Konzeption als Zusammenspiel dreier Sichtweisen aus drei ganz verschiedenen Fachrichtungen:
Medientheorie (I), Soziologie (II) und Psychologie (III).
I. Narzissmus als "Extension of Man" (McLuhan)
II. Narzissmus als "Agonie des Realen" (Baudrillard)
III. Narzissmus als "Spiegelstadium als Bildner des Ich" (Lacan) im R-I-S
Diese drei Theorien bilden den Kern meiner Narzissmus-Konzeption:
LACAN – Kap 2 und 4 - Baudrillard – Kap 3, 5, 7 und 9 - McLuhan – Kap 6 und 8
a) Lacan: Das Symbolische (Sprache, Diskussion, Dialog, Kultur etc.) wird immer mehr abgelöst/ersetzt vom Imaginären (Bilder, Filme, Mythen, Werbung, Propaganda, Parolen, Regressives wie Tribalismus, Hooliganismus, Pegida etc.) – damit entfernt sich die Gesellschaft noch mehr vom Realen als es durch die Symbolisierungsfähigkeit (heute: Mentalisierung) sowieso gegeben ist durch die seit dem Spiegelstadium gegebene Ver-kennung und Ent-fremdung der Teilnehmer des Sozialen.
b) Baudrillard: anstelle von Simulationen sind Simulakra getreten, der Uebergang von der ersten Ordnung der Simulakra zur dritten wird gerade vollzogen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
c) McLuhan: durch die Dominanz des Visuellen, des Linkshemisphärischen und damit des Digitalen gegenüber dem Analogen (wo das Auditive überwog) entstand in der Tetrade eine Einseitigkeit, welche nun allmählich Chiasmus-bedingt in seiner Positiv-Utopie durch einen Umschlag in eine erneute Tribalisierung und Oralität einer Integration und Synästhesie der Sinne den Boden bereitet wo im ‘Global Village’ jeder mit jedem verbunden ist.
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